Die Genetik und Gentechnologie der Gegenwart sind der Höhepunkt und Abschluß einer mit der Moderne einsetzenden Genetisierung der Wirklichkeit. Genetisierung heißt, daß alles Seiende, die Gesamtwirklichkeit, ausschließlich als Werden und Vergehen ohne Dauer und ruhendes Sein gedacht wird. Die moderne Genetik denkt das Leben als Resultat eines Zufallsprozesses von Mutation und Selektion und die Gene als die Informationsträger ausschließlich temporärer und sich wandelnder Ordnungsstrukturen. Die in den Genen zeitweilig fixierten Ordnungsstrukturen werden als beliebige gedacht, die durch neue Evolutionsprozesse, durch Prozesse der natürlichen Evolution und der künstlichen Evolution durch menschliche Manipulationen jederzeit gewandelt und in neue Strukturen überführt werden können. Es gibt für die Genetik keine in sich ruhende Gestalt der Art, keine vor anderen Gestalten ausgezeichneten Normalformen des Lebens, sondern nur den genetischen Code, die Buchführung des Lebens, und die aus den unterschiedlichen Zusammensetzungen dieses Codes sich ergebenden Zustandsweisen des Lebens.
Die molekulare Genetik ist der vollendete und konsequente Materialismus, weil sie es im Gegensatz zum mechanistischen Materialismus des 19. Jahrhunderts vermag, auch noch die Information und die „Form“ oder „Idee“ einer Art auf einen materiellen Code und die Entstehung dieses Codes wiederum auf materielle Zufallsprozesse zurückzuführen. Es entsteht daher mit der Genetik eine konsequent materialistische Deutung des Menschen und der Wirklichkeit, die Leben vollständig und ausschließlich auf materielle Prozesse des Stoffwechsels und der Reproduktion genetischer Information zurückführt. Die genetische Deutung des Menschen ist der konsequente materialistische Reduktionismus. Die gesamte Wirklichkeit wird in ausschließlich und restlos materialistischer Weise aus den Prinzipien der Mutation und Selektion und dem Sich-Durchhalten „erfolgreicher“ Typen von materieller genetischer Information in der Zeit hergeleitet. Die genetisch-evolutionistische Theorie der Gesamtwirklichkeit und des Menschen, die Ontologie und Anthropologie des genetischen Materialismus, ist derartig bestimmend geworden, daß wir uns kaum mehr fragen, ob sie in sich schlüssig ist und zu Recht die idealistische und idealrealistische Theorie der Gesamtwirklichkeit verdrängt hat. Aufgrund der technischen Erfolge der Naturwissenschaft und der Einfachheit des Gedankens eines genetischen Codes haben wir uns als politische Subjekte auch die Frage abgewöhnt, ob die Konsequenzen der genetischen Ontologie für die soziale und politische Wirklichkeit eigentlich von uns gewollt und bejaht werden können.
I. Die Ontologie der Genetik
Die molekulare Genetik und Genomanalyse werfen die Frage der Ontologie nach dem auf, was wir als die letzten Grundprinzipien des Seienden, des menschlichen und außermenschlichen Lebens, anzusehen haben. Ist, wie es die moderne Genetik behauptet, die Erhaltung von Partikeln der genetischen Information bei gleichzeitiger, ständig neuer Rekombination von Genen das Grundprinzip des Seins mit der Folge, daß wir als Menschen und Biotechniker mit den Informationsstücken des genetischen Codes machen können, was wir wollen, und uns berechtigt fühlen können, die Bestandteile der DNS beliebig zu verändern und zu rekombinieren? Oder bilden die Form oder Gestalt und ihre Verwirklichung die Grundprinzipien des Seienden, wie es sowohl die Substanzontologie der philosophi43 sehen Tradition seit Plato als auch die Schöpfungslehre der Theologie annehmen?
Die moderne Genetik und ihre Radikalisierung, die aus der Genetik abgeleitete und zur Sozialtheorie erweiterte, genetisch argumentierende Soziobiologie behaupten entweder implizit in ihrem Forschungshandeln oder explizit durch ihre Sozialtheorie wie die Soziobiologie, daß die Erhaltung von Stücken der genetischen Information die letzte Finalursache alles Seienden ist Nach Dawkins steht die Erhaltung von Bruchstücken der Gene über dem Zweck der Erhaltung des Individuums oder gar der Art und Gestalt. Nicht die Form des Organismus wird als Gesamtprogramm erhalten, sondern die Elemente des genetischen Codes zielen nach Dawkins unabhängig vom Ganzen des Organismus auf die Mehrung ihrer Überlebensfähigkeit. „Das etwas egoistische große Stückchen Chromosom und das sogar noch egoistischere kleine Stückchen Chromosom“ streben nach ihrer Erhaltung Nicht nur der Artenbegriff wird — wie im Darwinismus und Neodarwinismus — aufgelöst, auch der Individuumsbegriff verfällt der Auflösung in genetische Bruchstücke.
Die Identität dessen, das durch das genetische Programm erhalten wird, ist nicht mehr sprachlich oder empirisch zu bestimmen. Es macht weder Sinn, von der Geschichte der Gattung Mensch noch von einer solchen des individuellen Menschen zu sprechen. Man kann nur noch von der Geschichte von Gen-pools sprechen, die sich solcher Maschinen bedienen, die erstaunlicherweise eine hohe Gestalttreue aufweisen und von diesen Maschinen selbst mit einem Kunstwort, nämlich Mensch, benannt werden. Der Gattungs-und der Individuumsbegriff bezeichnen in der konsequenten Genetik nichts Wirkliches mehr. „Mensch“ ist nur noch eine Zusammenfassung für eine Symbiose von Maschinen, die der Erhaltung der Information kleiner Stückchen Gene und Chromosomen dienen 1. Genüberleben und Programmerhaltung als Zweck des Seienden?
Die genetische Soziobiologie von Dawkins führt die Auflösung der Art und des Individuums zu einem Aggregat von Überlebensmaschinen ad absurdum, indem sie selbst noch das Individuum zu einer Vielheit macht: vielleicht sind wir Menschen gar keine Individuen, sondern multiple Organismen, deren Gene sich unseres Identitätsbewußtseins bedienen, um in uns als Symbiose ihre Erhaltung zu sichern Der genetische Materialismus, nach welchem weder Arten noch Individuen, sondern kleine Einheiten genetischer Information die letzten ontologischen Bestimmungen des Wirklichen und Lebendigen sind, schlägt dialektisch in einen abstrakten Gen-Essentialismus um Das Sein und Überleben kleiner Informationseinheiten, die sich ihre leiblichen Träger suchen und diese „ausbeuten“, machen nach Dawkins das Wesen des Lebendigen aus. Das körperliche, gestalthafte Sein der Arten und Individuen wird dagegen zu einer nachgeordneten, akzidentellen Folge des eigentlichen Seins der Gene.
Gegen einen solchen genetischen Reduktionismus der Generhaltung drängt sich das Argument auf, warum überhaupt etwas gestalthaft wird und Sein annimmt, wenn sein teleologischer Zweck nur das Überleben von etwas ganz anderem, Nicht-Wahrnehmbarem und Nicht-Gestalthaftem, eben der Genbruchstücke, ist. Wenn das Überleben der Gene Zweck ist und dieses Überlebensprogramm die Wirklichkeit des Lebendigen steuert, dann ist die von uns wahrnehmbare Wirklichkeit in hohem Maße nicht funktional, sondern luxurierend, weil sie ja gestalthaft ist und auch wir Menschen auf Gestaltverwirklichung und nicht auf Gene aus sind. Es wäre für die Gene ökonomischer, ewig in einer Ursuppe zu schwimmen und ihren Informationsgehalt im Zustand der Möglichkeit zu bewahren, ohne diese Information je in gestalthafte Wirklichkeit umzusetzen. Die Verwirklichung der Information der DNS in der Gestalt des Individuums ist ontologisch überflüssig, wenn nur die Erhaltung dieser Information Zweck ist. 2. Vorrang des genetisch Möglichen vor dem gestalthaft Wirklichen?
Wenn allein der Bauplan erhalten bleiben soll, ist es überflüssig und unzweckmäßig, die Kathedrale tatsächlich zu bauen. In den Genen die eigentlichen Täter zu sehen und im einzelnen Gen die causa finalis und causa efficiens alles Seienden zu erkennen, verwechselt Buchführung mit Kausalität Die reduktionistische Definition des Lebens als Replikation von genetischer Information führt dazu, daß diese Theorie optimierungstheoretisch unplausibel ist. Leben und Information könnten weniger aufwendig erhalten werden, weil die Replikation von Information zweckmäßiger und ökonomischer ohne Organismen vollzogen wird. Warum zeugt der Mensch oder zeugen die Gene durch ihn einen Menschen und nicht die kleinen Stücke Chromosomen eben sich selbst? Der Zeugungsbegriff ist seit Aristoteles gestalthaft und artbezogen gedacht und darum auf Gene nicht anwendbar. Unsere Erfahrung unterscheidet ihn daher auch von den Weisen des Machens und des Kopierens oder Replizierens. Die radikale Genetisierung der Wirklichkeit müßte so übersetzt werden: Der Mensch zeugt einen Men-sehen, damit ein Gen sich repliziert. Das Gen repliziert sich, indem es einen Menschen veranlaßt, einen anderen Menschen zu zeugen, der zur Hälfte dieselben Gene aufweist. Es ist dies kein wirtschaftliches Verfahren. Es entspricht einer Kopieranstalt, die zur Anfertigung von Kopien den Kopierapparat immer gleich mitkopiert und dabei Kopien erhält, die nur zur Hälfte mit dem Original übereinstimmen
Das Gen als Idee und reiner Informationsgehalt kann ewig in potentia ohne Leib sein, ohne sich in der Gestaltwerdung in actu dem Untergang auszusetzen. Faßt man dagegen das Gen als entelechialen Gehalt, der wirklich werden muß, dann ist die Gestalt und ihre Verwirklichung, nicht aber das Überleben der potentiellen Information der Zweck des Lebendigen. Die Inversion der Entelechie von der Gestalt auf das Überleben der genetischen Information dieser Gestalt ist ontologisch nicht plausibel und in sich widersprüchlich. Es soll sich etwas Ewiges und Mögliches, das Gen, in einem Endlichen und Wirklichen, der Gestalt, realisieren, aber nicht das Endliche ist als Endliches und Verwirklichtes der Zweck, sondern das Überleben des Möglichen als Mögliches bleibt Zweck. In der radikalen Genetisierung der Wirklichkeit in der Genetik liegt die äußerste Umkehrung des Zweckes der Gestalt zum Zweck der Information, die Umkehrung von der Vollendung des Möglichen im Wirklichen (energeia) zur Erhaltung des Möglichen als Mögliches (dynamis) vor. Das Mögliche und Realisierbare strebt danach, sich als Mögliches und nicht als Wirkliches zu erhalten.
Es stellt sich die Frage, was genetische Information bedeuten kann, wenn nicht ihre gestalthafte Verwirklichung oder ihre Vergegenwärtigung für uns im Bewußtsein, in der vollendeten Form und Gestalt, als ihr eigentliches Worumwillen angesehen werden. Nicht die Gene sind die Entelechie, der Zweck des Seienden, sondern ihre Gestaltwerdung in der verwirklichten Form ist die entelechiale Struktur des Seienden.
Aus dieser zunächst abstrakt erscheinenden Theorie der Gesamtwirklichkeit oder Ontologie und aus der aus ihr abgeleiteten Umkehrung des Zweckes der Gestalterreichung und Gestalterhaltung der Organismen zum Zweck der Erhaltung von Teilen des Genoms und zur Freistellung für beliebige Rekombinationen folgen höchst bedeutsame soziale und ethische Schlußfolgerungen. Die Theorie der Gesellschaft und Politik, die aus dieser genetischen Ontologie abgeleitet werden muß, wird durch die Soziobiologie beschrieben: Die ontologische Umkehrung vom Zweck der Erhaltung der Gestalt zur Erhaltung von Genstücken führt zu einer Freigabe des menschlichen und außermenschlichen Genoms für beliebige Rekombinationen.
II. Kritik der Soziobiologie
Die Soziobiologie erweitert die Genetik zur Sozial-theorie. Als eine neue, aus der Synthese von Genetik und Populationsbiologie entstandene Wissenschaft erhebt sie den Anspruch, eine umfassende Theorie der soziokulturellen Evolution zu schaffen, i der die Gene die letzten Prinzipien sind, welche die Evolution und die menschliche Gesellschaft steuern. Nach dem Programm ihres systematischen Begründers, E. O. Wilson soll sie eine neue Synthese zwischen der genetisch fundierten Biologie, — der Anthropologie und den Sozialwissenschaften leisten. Aus den einfachen, beobachtbaren Verhaltensphänomenen der Tierwelt, die als durch natürliche Selektion entstandene Strategien der Maximierung des Überlebens der eigenen Gene verstanden werden, sollen die komplizierten Formen menschlichen Sozialverhaltens erklärt und ebenfalls auf Grundfunktionen der Maximierung des Überlebens des Genoms zurückgeführt werden 1. Maximierung des Überlebens von Genteilen als Endzweck des Menschen und der Gesellschaft?
Die Evolution wird als ein Prozeß verstanden, in welchem diejenigen Individuen genetisch selektiert werden, deren Verhalten am besten an ihre Umwelt angepaßt ist, deren genetische Eignung und Reproduktionserfolg daher am größten sind. Die genetische Information der „tauglichsten“ Individuen er-hält sich am umfassendsten im Evolutionsverlauf. Lebewesen folgen nach diesem neo-darwinischen Ansatz nicht dem „Zweck“ der Art-oder Gruppen-erhaltung, sondern allein dem „reproductive imperative“ der Erhaltung ihrer eigenen genetischen Information. Sie versuchen, ihre eigene genetische Eignung (fitness) zu maximieren und die Gesamt-eignung ihrer unmittelbaren Abkömmlinge (inclusive fitness) zu sichern, wobei die Priorität in der Sicherung des Überlebens von Verwandten mit der Nähe des Verwandtschaftsgrades korreliert
Soziobiologische Ansätze schließen jede Art von Gruppenselektion aus. Die Lebewesen handeln nicht zum Guten ihrer Art oder Gruppe, sondern allein zum Nutzen ihrer eigenen Gene oder derjenigen ihrer unmittelbaren Verwandten (Individualund Verwandtschaftsselektion). Das Verhalten der Lebewesen wird als Ergebnis von Strategien, die den genetischen Eigennutz maximieren, erklärt. Indem diejenigen Strategien rekonstruiert werden, die die umfassendste und längste Erhaltung der genetischen Information ermöglichen, ist eine Erklärung von Verhalten in genau spezifizierten Umwelt-kontexten möglich.
Aus der Annahme eines einheitlichen Evolutionsprozesses und der Gültigkeit genetisch-physiologischer Gesetze auch beim Menschen folgt, daß in menschlichen Gesellschaften dieselben Gesetze gelten wie in tierischen. Alle menschlichen Gesellschaften folgen nach diesem Ansatz dem Imperativ der Reproduktion und der Maximierung der genetischen Gesamteignung. Soziale Institutionen können vollständig als zweckdienliche Mittel auf diesen Zweck zurückgeführt und durch ihn erklärt werden (Reduktionismus). Phänomene des Geistigen und Sozialen sind nur abgleitete Phänomene der genetisch-physiologischen Basis der Genmaximierung. Die Bereiche des Sozialen und Kulturellen werden durchgängig funktional auf die biologischen Zwecke bezogen. Die kulturellen und sozialen Normen sind als Produkt der biologischen Evolution zu begreifen. 2. Soziobiologie als soziale Biologie, als Sozial-theorie oder als Ontologie?
Allerdings ist dieser Typus von Soziobiologie in der Biologie nicht unumstritten. Viele empirisch orientierte Forscher sind in ihren theoretischen Ansprüchen zurückhaltender. Sie räumen eine Differenz von tierischer und menschlicher Soziobiologie ein und gehen von einer Pluralität der Phänomenbereiehe, von einer Differenz zwischen den genetisch-physiologisch bedingten Phänomenen und den durch die begrifflichen und sprachlichen Fähigkeiten des menschlichen Geistes bestimmten Phänomenen aus „Soziobiologie“ ist kein einheitlicher methodischer Ansatz, sondern ein Programm mit unterschiedlichen ontologischen und epistemologischen Ausgangspositionen. Dieses Programm kann reduktionistisch-monistisch als materialistisch-evolutionistische Theorie der Gesamtwirklichkeit mit Weltanschauungsansprüchen vertreten werden. Es kann aber auch als pragmatisch-hypothetisches Forschungsprogramm einer genetisch-evolutionsbiologischen Erforschung tierischer und menschlicher Gesellschaften begründet werden, bei dem man noch nicht weiß, wie weit es im Humanbereich fruchtbar sein wird. Auf den Anspruch, eine angemessene Ontologie des Sozialen mit evolutionsgenetischen und -ökologischen Theorien zu begründen, wird dann verzichtet oder diese Ontologie zurückgehalten, bis die empirische Forschung weiter fortgeschritten ist.
Die Abgrenzung zwischen der „weltanschaulichen“, monistischen Soziobiologie einer Totalgenetisierung der Wirklichkeit und der Soziobiologie als Forschungshypothese und -Strategie einer Verhaltenserklärung mit Hilfe von Argumenten aus der Genetik ist aus zwei Gründen nicht immer einfach. Einmal explizieren nur wenige Autoren wie Wilson, Dawkins und Lumsden ausdrücklich ihre ontologischen Grundlagen und ihre Ansprüche auf die Erklärung der Gesamtwirklichkeit und vertreten explizit die monistische Ontologie eines einheitlichen Evolutionsprozesses. Die meisten Autoren verzichten auf den Anspruch der Totalerklärung. Sie beschränken sich auf Partialmodelle der soziobiologischen Erklärung bestimmter menschlicher Verhaltensformen wie Sexualität oder Territorialität.
Zum anderen wird von einigen Autoren die These der Identität von tierischem und menschlichem Sozialverhalten und die Einheit der soziobiologischgenetischen Erklärung nur indirekt durch den Gebrauch von Metaphern aus dem menschlichen Sozialbereich für die soziobiologische Beschreibung und Erklärung von tierischem Verhalten eingeführt. So beschränkt sich beispielsweise Dawkins weitgehend auf Andeutungen und Anspielungen in der Übertragung soziobiologischer Untersuchungsergebnisse und Theoreme auf den Menschen, behauptet aber nie explizit, daß Human-und Veterinärsoziobiologie den gleichen Gesetzen folgen. Da jedoch die soziobiologische Beschreibung und Erklärung tierischen Verhaltens ständig in anthropomorphen Kategorien und mit Metaphern aus dem menschlichen Sozialverhalten vorgeht, wird dem Leser die Übertragung des über das Tierverhalten Gesagten auf die menschliche Gesellschaft nahegelegt.
Der Verzicht auf das Offenlegen und Begründen der Analogien zwischen Veterinär-und Humansoziobiologie, zwischen tierischer und menschlicher Genetik ist ontologisch und epistemologisch unbefriedigend. Er hat aber auch soziologisch-ideologische Nebenwirkungen, weil Sozialtheorien immer zugleich legitimatorische Funktion in einer Gesellschaft ausüben und eine Weise der Selbstinterpretation und des Selbstentwurfs einer Gesellschaft sind. Sozialtheorien sind nie bloße Beschreibungen, sondern immer zugleich Interpretationen und Definitionen der sozialen Welt, die nicht selten selbst-realisierend im Sinne einer self-fulfilling prophecy sind Dies gilt auch für die Humansoziobiologie und die Übertragung von evolutionsgenetischen und evolutionsökologischen Forschungsergebnissen auf den Menschen. Wenn sich die menschliche Gesellschaft nach dem Modell der Soziobiologie und Genetik interpretiert und den Reproduktionsimperativ zum Endzweck ihrer Sozialteleologie macht, so bleibt dies nicht ohne Folgen für das Bewußtsein der Mitglieder der Gesellschaft.
Die Einführung von Sozialtheorie in soziale Systeme unterscheidet sich von der Einführung physikalischer Theorien über die außersoziale Wirklichkeit in eine Gesellschaft, weil deren Rückwirkungen auf die Selbstdefinition der Gesellschaft geringer sind. Daher gilt es, bei einer Untersuchung der sozialen Tragweite der Genetik und Soziobiologie deren praktisch-soziale Rückwirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen mit zu berücksichtigen. Die Übernahme der soziobiologischen, evolutionistischen Theorien in unserer Kultur ist nicht nur eine naturwissenschaftliche Frage der Richtigkeit ihrer Hypothesen, sondern zugleich auch eine normativ-sozialphilosophische Frage, ob wir uns nach dem Modell der Soziobiologie selbst verstehen wollen und sollen.
Die Frage, ob die genetische Soziobiologie ein angemessenes Selbstverständnis menschlicher Gesellschaften begründen kann, ist weder eine rein normative oder moralische noch eine rein empirisch falsifizierbare. Die Weise, wie sich eine Gesellschaft selbst definiert, ist zugleich ein Moment der Wirklichkeit dieser Gesellschaft. Definitionen der sozialen Wirklichkeit sind real in ihren Konsequenzen Das Problem jedes soziobiologischen und genetischen Reduktionismus ist, daß er die gesellschaftliche Realität so wahmimmt, wie er sie zuvor definiert hat, und daß die Gesellschaft bei allgemeiner Übernahme der reduktionistischen Sichtweise so wird, wie sie der Reduktionismus methodisch definiert hat.
Die Soziobiologie und genetische Deutung der Gesellschaft und des Menschen stellt eine Herausforderung an die Philosophie und Theologie auch und gerade dort dar, wo ihre Ansprüche über die empirisch gesicherten Forschungsergebnisse hinausgehen und ihre metaphysischen Schlußfolgerungen vielleicht nicht von allen Soziobiologen geteilt werden. Die weltbildkonstituierenden naturwissenschaftlichen Theorien entfalten jedoch große soziale und ideolögiebildende Wirksamkeit als ontologische und soziale Weltorientierungen Daher geraten auch die ontologisierenden Theorien der Genetik und der auf ihr gründenden Soziobiologie in Konkurrenz zur Philosophie und Theologie, die sich unumgänglich mit der Genetik und der Soziobiologie auseinandersetzen müssen.
III. Der Untergang der Gestalt als Wende zum nachhistorischen Zeitalter
Eine der tiefgehendsten Wirkungen der Genetik, der genetisierenden Ontologie und der Soziobiologie ist der bereits beschriebene Verlust des Gestalt-begriffs und der aus der Gestalt hervorgehenden Normativität der Formen des Lebens. Mit der Genetisierung der Gestalt zu einem bloß vorläufigen und beliebig zu variierenden genetischen Code verlieren die Formen des Lebens ihren begrenzenden, normativen Gehalt und werden zu manipulierbaren Substraten der „Entwicklung“, der natürlichen und künstlichen Evolution. Damit sind der künstlichen Evolution keine intrinsischen Grenzen der Manipulierbarkeit des außermenschlichen Lebens aus dem Objekt, dem lebendigen Organismus, mehr gezogen, sondern die Grenzen der Manipulierbarkeit, wenn es solche gibt, entstehen nur durch die Nutzenerwägungen und mögliche Gefahren für den Menschen. Neuschöpfungen von Tieren und Pflanzen durch Variierung des genetischen Codes verursachen in einer genetisierenden Ontologie keinerlei Kopfzerbrechen mehr.
Der Verlust der Gestalt und das Beliebig-Werden der Lebensformen werden nicht nur vom religiösen Gemüt und der Schöpfungsontologie des Christentums und Judentums als abgründige Gefahr gesehen, sondern auch von der Substanzontologie der Philosophie und von einem dem Mythos verbunde-47 nen Denken, die beide wie die Theologie in den Gestalten des Lebens Werte in sich erkennen, die leichtsinnig zu zerstören Frevel an der Natur ist. Man muß sich vergegenwärtigen, daß es in der Frage des intrinsischen Wertes der Schöpfungsgestalten ein breites Bündnis von der Religion über die Philosophie bis zum Mythos gibt. Die genetisch-materialistische Ontologie, welche die Formen des Lebens als im Verhältnis zur Dauer und Variabilität des Genpools beliebige Zustandsformen des Gen-pools ansieht, ist nur eine von zwei möglichen Ontologien. Sie kann daher nicht einfach soziale Dominanz einfordern und die Ontologie der Gestalt in die Rolle der sozialen und intellektuellen Minderheitenmeinung drängen.
Den Übergang von der Gestaltontologie zur Ontologie der beliebigen Verfügung über den genetischen Code hat Ernst Jünger bereits 1959 erkannt und als Grundzug einer großen Menschheitswendezeit beschrieben. Der Mensch steht nach Jünger im Zeitalter des Verlustes der Gestalt an einer Wende seines Geschicks, an der Schwelle zur Nachgeschichtlichkeit und an der Zeitmauer, von der er in die Nacht des nachhistorischen Zeitalters blickt. Mit der Technik und dem Nihilismus der totalen Manipulierbarkeit hat der Mensch nach Jünger die Götter angegriffen: „Die Welt als brennbares Haus, als große Scheuer, die Menschen als Kinder mit Streichhölzern darin — auch das gehört zum Austritt aus dem historischen Raum, zu seinen Indizien.“
Daß sich die Zahl der natürlichen Arten, der Schöpfungsideen und -gestalten, die der Gott oder die Götter erdachten, verringert, daß ganze Gattungen verschwinden, ist ein Anzeichen für eine Revolte gegen den Schöpfer und für die anbrechende Herrschaft der Erde
„Offenbar ist der Prozeß der Hominisation nicht abgeschlossen, sondern gerade jetzt in eine Krisis eingetreten, in der Geschichte und Naturgeschichte, Welt-und Erdhistorie, Freiheit und Determination in Kollision kommen. Der Strom beschleunigt sie, und unerwartete Figuren, auch , Ungeheuer aus der Tiefe 4, tauchen auf.“ Die Momente der Krise sind Folge immer neuer Aufstände der Erde gegen die Götter, bei denen der Mensch nicht mehr auf Seiten der Götter, sondern der Erde steht. Der Mensch wechselt die Fronten im Kampf zwischen Göttern und Titanen, Geist und Erde. „Es ist ein großer Zug des Mythos, daß er den Kampf (der Titanen) gegen die olympischen Götter nicht in vormenschliche Zeiten verlegt, sondern den Menschen, vertreten durch Herakles, entscheidend an ihm teilnehmen läßt.“ Die Götter konnten nur mit Hilfe des Menschen die Erdtitanen besiegen und das paternitäre Prinzip und die Grenzmarken der Gestalt und der Freiheit gegen das tellurischmaternitäre Prinzip durchsetzen.
In der Mobilmachung der Moderne wendet sich jedoch der Mensch zum Aufstand gegen die Götter: „Nun steht der Mensch zum ersten Male wieder in diesem Aufstand, diesmal antaiisch, als klügster Sohn der Erde und Vernichter der Grenzmarken, deren letzte die Zeitmauer ist. Dem mußte der Göttersturz vorausgehen. In diesem Sinne ist Nietzsches , Gott ist tot 4 mehr als ein Urteil, es ist ein Postulat.“
Die Mobilmachung der Erde durch die Technik ist der Versuch, zum Goldenen Zeitalter vor dem Mythos, der Theologie und der Geschichte, in den vor-geschichtlichen Äon zurückzukehren. Voraussetzung für diese Rückkehr ist die Vernichtung der Grenzmarken, des Horos (griech. = Grenze), zwischen Mensch und Gott. Nietzsche hatte ebenso gesehen, daß diese Grenzüberschreitung die Voraussetzung für die Verwirklichung des Übermenschen der Moderne ist, wie er ahnte, daß der Mensch an dieser Verwirklichung zugrunde gehen kann: „An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde!“ Und: „Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: So will es mein ewiges Los — als Verkünder gehe ich zu Grunde.“
Wenn Gott tot ist, schwinden die Grenzen: Wenn der Horos, der Schirmer der Grenzen, nicht mehr gilt, tritt der Mensch als Proteus und Antäus, als ein Wesen, das seine Gestalt und Form beliebig zu ändern vermag und seine Kraft dazu aus der Berührung der Erde zieht, an die Stelle des Menschen als des herakleischen Beschützers der Grenzen.
Jünger ist sich der prometheischen Gefahr des Auf-standes gegen Gott durchaus bewußt. Aus dem Aufstand der Moderne folgt, „daß die Erde grenzenlos wird und götterloser Grund. So wird auch der Grenzschutz gegenüber der Vorweisung, die Unterscheidung zwischen Erlaubtem und Uner-laubtem, nachlässig. Sie kann nur getroffen werden, wenn Orte bestehen, wo der Zweifel schweigt. — Wo die Vorweisung als ärgerlich empfunden wird, indem sie etwa einen Hund ohne Hirn oder mit zwei Köpfen vorführt, lebt das Ärgernis von kultischen Rückständen. Die Götter sind ja nicht nur die Schutzherren territorialer Grenzen, vor allem des Vaterlandes, sondern auch der Gestalt, die, wo sie als göttlich begriffen wird, Wohlgestalt ist. Sie dulden daher auch nicht das chaotische und das chthonische Wesen, die gigantische Mißgestalt. — Hier ist wiederum Herakles zu nennen . . .der Ingrimm, mit dem er die vielgestaltige Brut des fischschwänzigen Proteus verfolgt und ausrottet, Justiz an ihr übt. — Herodot sagte, daß jedes Volk seinen eigenen Herakles besitze, und Vico hat es wiederholt.“
Am Herakles-Motiv wird allerdings auch die Gefahr der heidnischen Überhöhung der Gestalt erkennbar. Die Gestalt ist nicht selbst göttlich, auch dort nicht, wo sie Wohlgestalt ist. Die Gestalt ist vielmehr Geschöpf und bleibt es, auch dort, wo sie die Vollgestalt durch Privation nicht erreicht. Der Horos, die Grenzmarken, hegen nicht primär zwischen Gestalt und Ungestalt, sondern zwischen sittlicher Gestalt und unsittlicher Gestalt.
Die Mobilmachung der Erde gegen die Götter löst die Grenzen und Gestalten auf. Emst Jünger sieht die Gefahr der proteischen Verwischung der Grenzen bereits 1959 mit großem Weitblick in der neuen Biotechnik und Genmanipulation: „Die Grenzen schwinden offensichtlich . . . Mit ihnen schwindet der Nomos, die grenzwahrende Macht. Hier, und nicht in der physischen Bedrohung, ist die Tiefe des Schauders zu suchen, die den Menschen angesichts der proteischen Bildung ergreift. Er ahnt in ihr mehr als die bloße Zerstörung geprägter Form, die ja auch der Tod vernichtet, er ahnt in ihr die Vorboten eines Angriffs aus dem gebärenden Urgrunde.“ Die Geringfügigkeit des Widerstandes gegen die künstliche Befruchtung und gegen gentechnische Veränderungen zeugt für einen bereits weit fortgeschrittenen Nomos-Schwund. Daß damit eine neue Abstammung möglich wird, gehört zur Weltwende, zum Eintritt in ein neues Haus: Eine neue Menschenkategorie entsteht, für die nicht mehr der Satz der Stoiker gilt, daß die Natur verpflichtet ist, uns einen Vater zu geben. Ansprüche auf den Vater gehören nicht mehr zu den natürlichen Voraussetzungen der Kategorie von Menschen, die künstlich gezeugt wurden „Offensichtlich besteht ein starkes Interesse daran, den Betroffenen, also vor allem den Kindern, die spezifische Deszendenz zu verheimlichen. Das ist verständlich, obwohl es gegen einen Grundanspruch verstößt.“
Hinter den biotechnischen Experimenten steht nach Jünger die proteushafte, titanische Macht, die dieses Denken bewegt. Daß das Experiment verhindert wird, ist „zwar nicht möglich, aber vorstellbar. Die Kirche sieht hier mit Recht eine ihrer Aufgaben, wie denn überhaupt ihr Schicksal davon abhängt, inwieweit sie sich von den Ergebnissen der Wissenschaft imponieren läßt.“ Wenig später heißt es: „Auch hier spielt ein von letzten Hemmungen befreiter Liberalismus die Rolle des Türöffners; die er dann freilich bald mit der des Leidtragenden vertauscht.“
Man wird ergänzen müssen, daß nicht nur das Schicksal der Kirche, sondern auch das Schicksal der Gestalten des Lebens davon abhängt, ob sich die Kirche und die Öffentlichkeit von der Wissenschaft imponieren lassen. Philosophisch und theologisch gesehen kommt alles darauf an, die Ontologie der Gestalt gegen die Ontologie der Beliebigkeit des genetischen Codes festzuhalten und das Bedürfnis nach genetischer Manipulation in seine Grenzen zu weisen.
IV. Philosophische und theologische Reflexionen zur Gentechnik und zur Analyse des menschlichen Genoms
Die Ambivalenz der genetischen Forschung zeigt sich exemplarisch an dem Projekt der Analyse des menschlichen Genoms als dem Träger der menschlichen Erbinformation, das es in seinem Text, in der Sequenz der Zuordnung von äußeren Merkmalen und genetischem Substrat, nach Ansicht der Genetiker aufzuklären gelte. An sich ist gegen eine Aufklärung der biochemischen Struktur der menschlichen Erbsubstanz nichts einzuwenden. wenn sie in der Achtung vor der Gestalt des Menschen und seiner Individualität und ausschließlich zum Zweck der Heilung von Erbkrankheiten unternommen wird und wenn unzulässige, weiterreichende ontologische Schlußfolgerungen auf einen universalen Evolutionismus und soziobiologischen Materialismus aus der Genomanalyse nicht gezogen werden.
Für beide Einschränkungen gilt jedoch, daß sie von der genetischen Forschung meist nicht anerkannt werden. Die Gentechnologen lehnen im allgemeinen die Forderung nach immanenten Grenzen der Genforschung ab. und sie sind meist bereit, weitreichende ontologische Schlußfolgerungen auf eine evolutionistische Ontologie und eine Kritik sowohl der Substanzontologie wie der Schöpfungsontologie zu ziehen. So vertrat etwa die „International Conference on Bioethics“, die 1988 in Rom über das Thema „The Human Genome Sequencing: Ethical Issues" stattfand, die Ansicht, daß es „keine immanenten Grenzen für die Erforschung des Genoms“ gebe Daß der Evolutionismus die einzig überhaupt vertretbare Ontologie sei, liegt den meisten Arbeiten der Genetik und Soziobiologie als feststehende Einsicht zugrunde.
Die Substanzontologie der Philosophie und die Schöpfungsontologie der Theologie reagieren deshalb auf das Programm einer vollständigen Erforschung des menschlichen Genoms zögerlich, und sie drängen auf Zurückhaltung der genetischen Forschung dort, wo weitreichende Schlußfolgerungen aus der Genomanalyse für die Selbstdeutung des Menschen und für die Theorie der Gesamtwirklichkeit gezogen werden. Die genetisch-biologische Anthropologie und die Soziobiologie sollten nicht in der Genomanalyse antizipieren, daß diese eo ipso das evolutionistische vor dem gestaltzentrierten Weltbild bestätige. 1. Das Genom und die Konstanz der Gestalt Die Genetik muß nicht notwendig als Bestandteil und Bestätigung des evolutionistischen Weltbildes verstanden werden. Das Genom als „Informationsund Datenbank“ ist zunächst indifferent gegenüber den Theorien über sein Gewordensein und über die Phylogenese. Das Genom stellt die Informationsstruktur des tierischen oder menschlichen Organismus als Gattungs-und Einzelwesen dar. Ob die Gattung ewig oder entstanden ist und ob sie, wenn sie entstanden ist, durch Schöpfung als überzeitliche Idee oder durch evolutionäre Mutation und Selektion als der Zeit unterworfener genetischer Codes ihre heutige Form gewonnen hat, kann aus der Struktur des Genoms ebensowenig erschlossen werden, wie aus der Anatomie des Menschen erschlossen werden kann, ob er Geschöpf oder Evolutionsprodukt ist. Die Frage nach Ursprung und Genese des Seienden und des Seins ist eine ontologische oder metaphysische, nicht aber eine empirisch überprüfbare Frage. Wir können den Prozeß der Gesamtevolution und der Genese des menschlichen Genoms nicht experimentell reproduzieren oder „simulieren“. Für die Genomanalyse des Menschen folgt daraus, daß die Genomanalyse den Konflikt zwischen dem Evolutionismus einerseits und der Schöpfungs-und Substanzontologie andererseits nicht zu entscheiden vermag.
Das Vorhandensein und die Konstanz des Genoms als der sich intergenerational und in der individuellen Lebensgeschichte durchhaltende Informationsträger für die Bausteine des Organismus kann ebenso gut als Argument für das philosophische Weltbild einer Substanzontologie und das religiöse Weltbild der Schöpfungstheorie genommen werden. Beide hängen ja in sich zusammen, weil die ewigen Gattungsideen der Substanzontologie von der Schöpfungsontologie als überzeitliche Ideen begriffen werden, die jedoch nicht ewige, sondern geschaffene Ideen sind. Daß sich die Information der Gattung und des Individuums in der Zeit durch-hält und nicht durch Außeneinwirkung oder Zufallsmutation ständig verschwindet oder sich wandelt, beweist, daß die Gestalt und Form des Organismus eine Ganzheit und zeitlich stabile Wesenheit darstellt. Diese Konstanz der Einheit der Art ist durch den Evolutionismus nur schwer zu erklären, wird aber als Faktum im allgemeinen anerkannt Auch die im Genom erkennbar werdende teleologische, auf Gestalt gerichtete Einheit der Art und des einzelnen Organismus ist schwer mit dem den Zufall als generierenden Faktor in das Zentrum des Denkens stellenden Weltbild des Evolutionismus vereinbar 2. Genomanalyse und Einheit des Lebens Die Verwandtschaft der Genome zwischen Mensch und Tier, die in der Genomforschung sichtbar wird, widerspricht nicht der Substanz-und Schöpfungsontologie von Philosophie und Theologie, da diese stets die Einheit des Lebens in den Unterschieden seiner Erscheinungsformen betont hat. Die Ge-nomanalyse kann deshalb zeigen, daß die Bausteine des Lebens identisch sind, daß aber die ontologisch verschiedenen Ausgestaltungen des Lebens aus unterschiedlichen Kombinationen dieser Bausteine hervorgehen. Die Wesensunterschiede der Arten des Lebens beruhen auf der unterschiedlichen Information, die in den Genomen in unterschiedlichen Formen gespeichert sind. Die Einheit des Lebens gründet auf seinen gemeinsamen genetischen Bausteinen.
Die Genomanalyse stellt deshalb auch keine weitere Kränkung des menschlichen Selbstbewußtseins und des philosophischen und religiösen Weltbildes nach den Kränkungen der kopernikanischen unds darwinistischen Revolution des Weltbildes dar. Sie ist durchaus mit der Substanz-und Schöpfungsontologie vereinbar, ja eine Chance, zu ihnen zurückzukehren. Der dialektische und der evolutionistische Materialismus behaupten, daß Tier und Mensch aus demselben dialektischen oder darwinistischen Prozeß der Evolution entstanden seien, und sie vertreten zugleich die damit an sich unverträgliche These, daß eine wesentliche Differenz von menschlichem und tierischem Leben bestehe. Im dialektischen wie evolutionistischen Materialismus tritt die Verwandtschaft der Lebensformen, weil es keine gemeinsame Geschöpflichkeit von Mensch und Tier gibt, hinter der Vielfalt der Entwicklungswege zurück. Der Materialismus vertritt die Getrenntheit der evolutionären Entwicklungswege des Lebens.
Die Substanzontologie des philosophischen Realismus stellt dagegen die Einheit des Lebens in seinen Grundfunktionen und in seiner Gegründetheit auf natürliche Arten heraus. Die religiöse Weltdeutung oder Schöpfungslehre schließlich betont die Einheit der Lebewesen in ihrem Geschöpfsein und die aus ihr folgende Solidarität des Lebens. Die Einsichten der Genetik und Genomanalyse sind, soweit sie die Einheit des Lebens in seinen Formen zur Darstel-Ilung bringen, mit der Ontologie, welche die Philosophie und Theologie entwickeln, durchaus vereinbar.
Mit der Einheit des Lebens ist für die Theologie I meist die Frage nach dem Monogenismus, nach der Abstammung aller Menschen aus einem Menschen, verbunden. Während der Evolutionismus mehrere unabhängig voneinander durch Zufallsselektion entstandene Menschenrassen annimmt, hält die Schöpfungsontologie am Monogenismus, an der Abstammung aller Menschen aus einer Quelle fest.
Es wäre eine wichtige Aufgabe für die neuere genetische Forschung, zu untersuchen, inwieweit der Monogenismus durch die Genomanalyse bestätigt wird oder nicht, weil diese Frage für die Begründung der Einheit des Menschengeschlechtes von Bedeutung ist.
Das Genom des Menschen kann in substanzontologischer und theologischer Sicht als der Bauplan der Gestalt des Menschen angesehen werden, der göttlichen Ursprunges ist. Es spricht aus theologischer Sicht daher zunächst nichts gegen eine so weit wie möglich gehende Aufklärung dieses Bauplanes. Ein Erkenntnisverbot besteht hier nicht. Eine immer tiefere Erkenntnis der Schöpfung ist vielmehr eine Aufgabe des Menschen. 3. Immanente Grenzen der Genomanalyse In der Theologie bestehen allerdings zwei Grenzlinien der Forschung, die nicht übertreten werden dürfen. Die eine Grenze besteht in dem Verbot, in die Weise einzudringen, mit der Gott schafft, die andere in dem Verbot, in den innersten Kem des menschlichen Personzentrums einzudringen, zu dem jedem außer Gott der Zugang verwehrt ist. Theologisch ist das Wissen der Weise, in der Gott schafft, ein Prärogativ Gottes. In dieses Geheimnis einzudringen ist nur möglich, wenn man selbst zum Schöpfer wird. Nach der christlichen Theologie sind die Folgen eines Eindringens in dieses Prärogativ Gottes für den Menschen schrecklich, weil er der Rolle des Schöpfers nicht gewachsen ist Die Genomanalyse muß sich dieser Grenze bewußt sein. Die Theologie muß der Forschung zwei Grenzen ziehen. Aus theologischer Sicht muß es dem Forscher verboten sein, neue Lebensformen schaffen und das individuelle Genom des Menschen in seiner Genese vollständig aufklären zu wollen.
Es ist sowohl von der Schöpfungsontologie der Theologie als auch von der Substanzontologie der Philosophie her dem Menschen untersagt, völlig neue Lebewesen zu erzeugen, weil der Forscher als Schöpfer gar nicht wissen kann, an welchem Vorbild er sich hier orientieren soll. Mit diesem Verbot der Neuschöpfung ist theologisch die Warnung vor übermäßigen Hybridbildungen bei der Neuzüchtung und dem genetic engineering verbunden Das biblische Verbot der Mischung der Arten stellt die Achtung vor dem Eigenwert der Arten und Formen des Lebens über das Manipulationsinteresse und die Manipulationsbegierde des Menschen. Wo diese Grenzen der Manipulation liegen, ist im einzelnen schwer zu definieren. Aus dieser Schwierigkeit folgt theologisch jedoch keine völlige Freigabe der genetischen Manipulation an Tieren.
Einer völligen Neuschöpfung von Arten ist der Mensch nicht gewachsen, weil er die neuen Arten als Arten nicht zu benennen weiß, weil er diese neuen Arten nur in Konkurrenz zu den alten Arten erzeugen kann und weil unter den Menschen keine Einigkeit zu erreichen ist, nach welchen Zielen und Werten diese „Neuschöpfungen“ von Arten ausgerichtet sein sollten
Das theologische Verbot, in die Weise, wie der Schöpfer schafft, einzudringen, beinhaltet für die Genomanalyse die Voraussage und die Grenzziehung, daß die Genomanalyse die Ganzheit des individuellen Genoms eines menschlichen Genoms deshalb nicht wird aufklären können und dürfen, weil eine Aufklärung der letzten Geheimnisse der Entstehung des menschlichen Lebens und seiner Individualität nur durch die Verletzung des Rechtes eben dieses Lebens möglich ist Es gibt, theologisch und philosophisch gesehen, Wissensformen, die dem Menschen verwehrt sind, weil das Wissen, das in ihnen enthalten ist, zu erwerben nur durch unmoralische Mittel möglich ist. Die zum Wissens-erwerb nötigen Mittel können aber nach der Regel, daß ein guter Zweck nicht in sich schlechte Mittel heiligt, den Erwerb von bestimmtem Wissen als unethisch dauerhaft ausschließen. Auch die wissenschaftliche Neugierde ist nicht ethisch vollständig neutral, so daß jede Form des Wissenserwerbs durch den Hinweis gerechtfertigt werden könnte, daß dadurch die wissenschaftliche Neugierde befriedigt werde.
Aufschlüsse über das menschliche Genom, die etwa nur durch Experimente an der menschlichen Keim-bahn oder an menschlichen Foeten zu erwerben sind, müssen deshalb rechtlich und ethisch verboten werden, auch wenn damit nicht verhindert werden kann, daß es immer einige Forscher oder Länder geben wird, die solche Experimente trotzdem durchführen werden. Es gibt durchaus unethische Weisen des Wissenserwerbs, und es gilt auch, daß menschliches Leben niemals nur als Mittel für andere Zwecke — und seien es jene der Wissenschaft — eingesetzt werden darf. Auch die Produktion menschlicher Foeten für die Genomanalyse und das Heranziehen zufällig entstandener und abgetriebener Foeten für gentechnische Experimente sind daher zu verbieten
In theologischer und philosophischer Sicht sind die Genome und der Genpool der Lebewesen weder völlig heilig und tabu noch völlig freigegeben für menschliche Manipulationen. Die genetische Information ist noch nicht das Leben selbst, sondern nur der Bauplan des Lebens. Das Genom als solches für unantastbar zu erklären bedeutete, die Buchführung des Lebens, den Informationsträger, für das Leben selbst zu nehmen. Das Genom ist ontologisch gesehen nicht das Leben selbst oder der Ursprung des Lebens, sondern es ist die informationeile Expression des Lebens in chemischen Strukturen, die als Träger der Information dienen. Nicht das einzelne Gen, sondern die Gestalt und Form als Entelechie, als der Zweck des Genoms, ist das eigentlich schutzwürdige Gut, das nicht verändert werden darf. Gentechnische Schritte und genetische Veränderungen, die zur Wiederherstellung der Gestalt des Genoms oder des Lebewesens nach Störungen in der genetischen Information führen, müssen daher theologisch und philosophisch ausdrücklich begrüßt werden. 4. Genetische Heilung statt genetischer Manipulation In der Sicht einer philosophischen und theologischen Ontologie haben die Lebewesen eine Gestalt oder Entelechie, die aber wegen Störung oder Zufall nicht immer erreicht wird. Privation, Mangel der Gestalterreichung, ist möglich. In der christlichen Lehre von der Erbsünde wird sogar angenommen, daß nach der Sünde die Vollgestalt des Menschseins überhaupt nicht mehr erreicht wird. Die Aufhebung einer Privation, einer Beraubung der Gestalterreichung, ist daher nicht nur möglich, sondern oft sogar geboten. In den Grenzen des ethisch Erlaubten ist daher die Heilung genetischer Mängel (Privationen) oder Krankheiten nicht nur erlaubt, sondern geboten, weil sie zur Linderung von Leiden führt. Aus dem Gedanken der Privation läßt sich als Regel der genetischen Manipulation und der Genomanalyse ableiten, daß Veränderungen der genetischen Struktur eines Genoms dort erlaubt und unter Umständen sogar geboten sind, wo Privationen, Mängel und Nichterreichung der an sich angelegten genetischen Gestalt vorliegen. Genetische Manipulation ist dagegen nicht erlaubt, wo eine vollständige Gestalt und Entelechie beliebig verändert werden soll. Genetic engineering ist theologisch dort erlaubt, wo nicht Neuschöpfung von Gestalt, sondern Heilung oder Kompensation einer Privation oder eines Mangels der Gestalt vorliegen. Damit weisen die theologische und philosophische Ontologie auch jenen ontologischen Nihilismus ab, wie er aus bestimmten Formen des genetischen Evolutionismus und der Soziobiologie abgeleitet wird Die eine Form dieses evolutionistischen, ontologischen Nihilismus hält die Gene einerseits für die letzten und unveränderlichen Strukturen des Seienden und ordnet sie den Gestalten über, so daß jede Veränderung genetischer Strukturen, auch der nur heilende und wiederherstellende Eingriff in die Erbsubstanz, abgewiesen wird und in einer Art von genetischem Essentialismus die Bestandteile des faktisch vorhandenen Genoms zu den höchsten zu schützenden (Rechts-) Gütern werden
Die andere Ausprägung des ontologisch-nihilistischen Evolutionismus sieht dagegen die Genome nur als Produkte eines Zufallsprozesses an, in dem jedes Genom an sich so gut und zufällig ist wie jedes andere herausgebildete und evolutionär erfolgreiche Genom. In dieser Ausprägung des genetischen ontologischen Nihilismus sind alle sich evolutionär ergebenden und erfolgreich erhaltenden Genome sowie auch alle menschlichen Genommanipulationen so gut und wertvoll wie alle anderen.
Das streng evolutionistische Weltbild erlaubt keine Auswahl zwischen genetischen Qualitäten und Würdigkeiten, weil für es ein Evolutionsprodukt so gut wie jedes andere ist. Der Evolutionismus als Ontologie vermag keine ethischen Kriterien für die Abgrenzung dessen zu bieten, was in der Genforschung ethisch erlaubt und was zu untersagen ist. Die Evolutionstheorie, die Erklärung des Evolutionsprozesses, ist weder identisch mit der Rechtfertigung dieses Prozesses noch vermag sie eine Kritik des tatsächlich eingetretenen Evolutionsverlaufes zu begründen. Aus der Evolutionstheorie folgt weder, daß alles, was evolutionär entstanden ist, auch gut ist, noch daß etwas anderes als das, was evolutionär entstanden ist, hätte entstehen sollen 5. Die Gefährdung der Einheit der Gattung Mensch durch Genmanipulationen Die vorliegenden Überlegungen zur Gentechnik haben nicht so sehr von der Ethik, sondern von der Selbstdeutung des Menschen und der Ontologie her die Chancen und Grenzen der Gentechnik zu beleuchten versucht. Die Rückwendung zur Theorie der Gesamtwirklichkeit und ontologischen Deutung des Menschen geschah aus der Einsicht heraus, daß vor der Frage, was der Fall sein soll, die Erkenntnis dessen liegt, was der Fall ist, was die Wirklichkeit ist. Jeder Praxis liegt eine Ontologie zugrunde, der Praxis der totalen Manipulation des genetischen Codes die Ontologie des Evolutionismus, der Praxis der Achtung vor der Buchführung des Lebens im menschlichen und außermenschlichen Genom die Ontologie des intrinsischen Wertes der Gestalt.
Wenn wir das menschliche Genom als das beliebige Substrat von Manipulierbarkeit ansehen, zerstören wir nicht nur die Gestalt des Menschen, sondern auch die Einheit der Gattung und damit die Basis der Grundprinzipien der Ethik, die Basis des Verallgemeinerungsprinzips und der Menschenwürde. Wenn durch genetische Manipulierbarkeit die Einheit der Gattung aufgehoben würde, weil es verschiedene Gattungen Mensch gäbe, und wenn dann solche Menschen existierten, die einen Vater haben, und solche, die einmal einen Klonierer oder genetischen Ingenieur zum Urheber hatten, würde auch die Einheit des Rechtssystems und der Ethik aufgehoben. Die Normen könnten sich nicht mehr an alle richten, weil nicht mehr klar wäre, wer mit „allen“ gemeint ist. Die Gattung der nicht genetisch manipulierten Menschen wäre mit der Gattung der genetisch neu geschaffenen Menschen nicht mehr identisch. Beide könnten nicht mehr als Adressat desselben ethischen und rechtlichen Allgemeinheitsprinzips angesehen werden.
Das Verallgemeinerungsprinzip und das Prinzip der Rechtsgleichheit erfordern die Einheit der Gattung und Gestalt des Menschen. Wo die Einheit der Gattung untergeht, wird, wie der Rassismus zeigt, auch die Einheit des Rechts und der Ethik vernichtet. Die beliebige genetische Manipulation des Erbgutes des Menschen würde zu einem neuen Rassismus führen, weil sie neue und viele Gattungen Mensch erzeugte.
Die der Gentechnologie zugrunde liegende materialistische Ontologie kann nicht die in einer Gesellschaft ausschließlich gültige Ontologie sein. Sie ist normativ unterbestimmt, weil sie keine intrinsische Normativität der Gestalten des Lebens gelten läßt. Die materialistisch-evolutionistische Ontologie der Naturwissenschaften muß durch die Gestaltontologie ergänzt werden, die zugleich mit der hohen Bewertung der Gestalt auch eine Wertrangordnung des Seins vom unbelebten und anorganischen Sein über das organische, vegetabilische und animalische Sein bis zum geistigen Sein des Menschen kennt. Die Gestalt-und Schöpfungsontologie weiß deshalb auch und hält bewußt, daß die Gefahren und Möglichkeiten des Mißbrauches mit zunehmender Höhe der Seinsstufe vom bloß Organischen bis zum bewußten Leben zunehmen. Die Möglichkeiten und die Schwere des Mißbrauchs wachsen mit dem zunehmend geistigeren, informationaleren Charakter der Seinsstufe an, auf der gehandelt wird.
In der Sphäre des bloß Materiellen und Anorganischen bleibt den Mißbrauchsmöglichkeiten eine gewisse Gutmütigkeit, während die Schärfe des Miß53 brauchs in dem Maße zunimmt, in welchem die Manipulation in das Innere des Organismus und den Informationsgehalt der Zelle und der Gestalt des Organismus eingreift. Die Furcht der Öffentlichkeit vor der Gentechnik hat hierin ihren Ursprung und ihre Berechtigung, und die Gentechnik tut gut daran, sich der ethischen Herausforderung, die darin besteht, daß sie in das Innere der Natur eingreift, zu stellen. Die Besinnung auf die Grundstrukturen des Seins, auf die Deutung der Gesamt-wirklichkeit in der Ontologie, zeigt, daß die Mißbräuche der materiellen Basis der Natur nicht die gefährlichsten sind. Gefährlicher sind die Mißbräuche der informationalen Basis der Natur und des Organismus. Die Öffentlichkeit des demokratischen Gemeinwesens und die Natur haben ein Anrecht darauf, daß diese Einsicht in die Theorie und Praxis der Gentechnologie eingeht.