Gentechnologie zwischen Biologie und Politik. Interdisziplinarität und didaktische Struktur
Heinz-Georg Marten
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Zusammenfassung
Zunächst die Ignorierung und dann — 1989/90 — die plötzliche Berücksichtigung der Ergebnisse und der umfangreichen Empfehlungen der Enquete-Kommission des 10. Deutschen Bundestages „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ (1987) für ein Gentechnik-Gesetz (1. Juli 1990) belegen eindringlich vielfache politikwissenschaftliche Defizite, die auch die Embryonenschutzgesetzgebung (24. Oktober 1990) kennzeichnen: Die politischen Entscheidungen der legislativen, exekutiven und judikativen Institutionen der Gesellschaft hinken der naturwissenschaftlich-biologischen Forschungsentwicklung reagierend hinterher (Verspätung der Politik). Insofern ist es kaum überraschend, daß auch eine kritisch-politische Bildungsreflexion dieser Prozesse sowie — noch gravierender — entsprechend umfassende didaktische Operationalisierungsversuche in der Schule gleichermaßen zeitversetzt verlaufen, wenn sie diese Prozesse überhaupt berücksichtigen (Verspätung der integrativen Didaktik). Für einen interdisziplinär konzipierten Biologie-und Politikunterricht „Gentechnologie und Politik“ bedeutet das: Es müssen unter Beachtung der seit langem vorliegenden Forschungsergebnisse (EnqueteKommissionsbericht), des gegenwärtigen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der entsprechenden aktuellen politischen (Weiter-) Entwicklung (Gentechnik-Gesetz; Folge-Gesetzgebung; Folge-Rahmenverordnungen) biologisch-politische Zusammenhänge für Lernprozesse aufbereitet und fächerübergreifende Kontroversen und Leitvorstellungen didaktisch strukturiert bzw. konzipiert werden. Noch immer sind die diesbezüglichen Grundlagen der Biologie-und der Politik-Didaktik, sind die geltenden Schulrichtlinien, Schulbücher und didaktischen Materialien gleichermaßen defizitär, weil überholt (Verspätung der interdisziplinären Unterrichtspraxis).
I. Der Streit um die Gentechnologie: Politische Konfliktlinien und didaktische Fragestellungen
Am 1. Juli 1990 trat das „Gesetz zur Regelung der Gentechnik“ in Kraft, nachdem der Bundesrat mit seiner Mehrheit der unionsregierten Länder am 11. Mai das nicht nur unter Naturwissenschaftlern, sondern auch unter Politikern und Beteiligten einer kritischen Öffentlichkeit heftig umstrittene Gesetz gebilligt und verabschiedet hatte.
Abbildung 4
Schaubild 4: Interdisziplinäre Leitthemen einer „Didaktik des Gentechnologie-und Politik-Unterrichts“, die sich auf die fünf biologisch-politischen Lehr-und Lembereiche „Humangenetik/Gentechnologie“, „Politik/Herrschaft“, „Arbeit/Produktion“, „Politik/Recht" und „Politisches Bewußtsein/Sprache" konzentrieren:
Schaubild 4: Interdisziplinäre Leitthemen einer „Didaktik des Gentechnologie-und Politik-Unterrichts“, die sich auf die fünf biologisch-politischen Lehr-und Lembereiche „Humangenetik/Gentechnologie“, „Politik/Herrschaft“, „Arbeit/Produktion“, „Politik/Recht" und „Politisches Bewußtsein/Sprache" konzentrieren:
Kontroversen, politische Auseinandersetzungen, Widersprüche und parlamentarische Gegensätze begleiteten ebenso die ab 1989 im Bundestag, seinen Ausschüssen und Unterausschüssen laufende Diskussion, wie bereits die seit 1984 erarbeiteten Empfehlungen der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“, deren über 170 Vorschläge in einem umfangreichen Bericht zur Grundlage weiterer vorbereitender Erörterungen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde.
Abbildung 5
Schaubild 5: Struktur Quelle: G. Thoma (Anm. 20), S. 151.
Schaubild 5: Struktur Quelle: G. Thoma (Anm. 20), S. 151.
Mit diesem Gentechnikgesetz erhielt die Bundesrepublik als erste führende Industrienation eine breite Rechtsgrundlage für eine — aus der Sicht der Biologie und der Industrie — zukunftweisende Schlüsseltechnologie. Das Gesetz verfolgt die interdisziplinären Zwecke (§ 1, GenT), — Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen, die Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge sowie Sachgüter vor möglichen Gefahren gentechnischer Verfahren und Produkte zu schützen und dem Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen und — den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Gentechnik zu schaffen.
Hinter diesen — auch unter didaktischem Aspekt interessanten — biologisch-politischen, rechtlichen und erkenntnistheoretischen Zweckbestimmungen, die zugleich mit den Kategorien „Leben“, „Gesundheit“, „Umwelt“, „Gefahren“, „vorbeugender Schutz“, „Nutzung“ und „Förderung“ von „Möglichkeiten“ wissenschaftlich intendierte Zielsetzungen und Zielrichtungen widerspiegeln, verstecken sich jedoch auch sicherheitsrelevante Gesichtspunkte, die die Frage nach den „Maßstäben für verantwortliches Handeln“ (Catenhusen) aufwerfen.
Wenn aber — so Forschungsminister Riesenhuber — der wissenschaftlich-technische Entwicklungsprozeß immer stärker, schneller und umfassender unsere Gesellschaft beeinflußt, wenn mit der Gentechnologie der Mensch auf qualitativ neue Weise die Natur und seine eigene Spezies gezielt verändern kann und wenn letztlich Parlamente — politische Entscheidungsinstanzen — auf solche naturwissenschaftlich-technische Entwicklungen lediglich reagieren und die Fragen nach den Maßstäben für verantwortliches politisches Handeln ausblenden, dann entstehen möglicherweise politische Legitimationsprobleme für die parlamentarische Demokratie. Technikbezogene politische Entscheidungsprozesse benötigen als unverzichtbare Entscheidungshilfe nicht nur Kriterien der Technikbewertung und Technikfolgenabschätzung, sondern auch im Hinblick auf politisches und biologisch-naturwissenschaftliches Lernen und Handeln interdisziplinär strukturierte und kontrovers angelegte Problem-und Konfliktfelder — hier der Gentechnik —, die Lehr-und Lernmöglichkeiten (didaktische Relevanz) bieten.
So war beispielsweise der das politisch-parlamentarische Handeln vorbereitende Auftrag an die Enquete-Kommission klar umrissen: „Die Kommission hat die Aufgabe, gentechnologische und damit im Zusammenhang stehende neue biotechnologische Forschungen in ihrer sich zur Zeit abzeichnenden schwerpunktmäßigen Anwendung vor allem in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Rohstoff-und Energiegewinnung sowie Umweltschutz in ihren Chancen und Risiken darzustellen. Dabei sollen ökonomische, ökologische, rechtliche und gesellschaftliche Auswirkungen und Sicherheitsgesichtspunkte im Vordergrund stehen.“ Ferner waren — „Kriterien und Maßnahmen zur Förderung gentechnologischer Forschung für sinnvolle Anwendungsgebiete vorzuschlagen, — Kriterien und Empfehlungen für Richtlinien und Sicherheitsstandards beim industriellen Einsatz von gentechnologischen Verfahren aufzuzeigen, und — Kriterien für die Grenzen der Anwendung neuer gentechnologischer und zellbiologischer Methoden auf menschliche Zellen und den Menschen insgesamt zu erarbeiten.“
Die politischen Kontroversen und naturwissenschaftlichen Grundsatzdiskussionen über „Chancen“ und „Risiken“ der Gentechnologie, über ihr gleichsam inniges — dialektisches — Wechselverhältnis, wurden zum Leitthema einer breiten öffentlichen Sicherheitsdebatte, schlugen sich in gesellschaftskritischen Zukunftsentwürfen nieder lenkten den Blick auf Überlebensfragen, erörterten Sicherheitsgefahren und spiegeln in ihrem Theorem von der „Risikogesellschaft“ in teilweise pessimistischer Diktion gesellschaftliche Zukunftsängste wider, die beharrlich den dialektisch mitschwingenden fortschrittsoptimistischen Chancencharakter einer Gesellschaft negieren
Welche „Chancen“ und welche „Risiken“ können benannt werden? „Auf der einen Seite werden die möglichen Chancen der Gentechnologie hervorgehoben: — Es wird die Erwartung geäußert, die Gentechnologie biete als Schlüsseltechnologie, vergleichbar mit der Mikroelektronik oder der Raumfahrt, ein erhebliches Innovationspotential für unsere Volkswirtschaft. — Damit verbunden werden von der Gentechnologie wichtige Beiträge zur Lösung wesentlicher Probleme, etwa der Bekämpfung von Krankheiten, des Welthungers oder der Umweltzerstörung erwartet.
— Insbesondere in der Medizin erhofft man sich von der Gentechnologie entscheidende Erkenntnisse für das Verständnis der Entstehung, der Diagnose und Therapie so wichtiger Krankheiten wie beispielsweise Krebserkrankungen, Infektionserkrankungen, chronische Erkrankungen und auch AIDS.
— Von der Aufklärung der Struktur und Funktionsweise lebender Zellen wird ein weiterer schneller Erkenntniszuwachs in der Grundlagenforschung erwartet. Auf der anderen Seite werden Risiken in den Vordergrund gerückt, die mit der Nutzung der Gentechnik verbunden sein können:
— So wird gefragt, ob die Anwendung der Gentechnik technische Risiken mit sich bringt, die bisher nur unzureichend bekannt und beachtet werden, und die möglicherweise nicht ausreichend beherrschbar sind oder mit nicht korrigierbaren ökologischen Folgen verbunden sein können.
— Wie bei anderen Technologien wird die Frage nach ihrem Mißbrauch zu militärischen Zwecken gestellt.
— Nicht nur in den Kirchen wird die Sorge geäußert, daß den Menschen mit der Gentechnologie die Fähigkeit zuwachse, den Menschen nach dem Bilde des Menschen „züchten“ zu können, und daß künftig der Wert menschlichen Lebens immer stärker an seinen genetischen Merkmalen gemessen werden könnte.
— Es wird gefragt, ob der zivilisatorische Fortschritt immer nur mit Hilfe neuer Techniken, wie der Gentechnologie, oder besser durch Verhaltensänderungen des Menschen angestrebt werden sollte.
— Nicht zuletzt werden auch grundsätzliche Zweifel an der ethischen Legitimität der Anwendung einer Technologie geäußert, die in die genetischen Grundlagen des Lebens in einem bisher nicht bekannten Ausmaß eingreift und sie nach menschlichen Ziel-und Wertvorstellungen verändert.“
Um das Problem — auch in didaktischer Hinsicht — noch schärfer zu kennzeichnen: Die spannungsreichen Auseinandersetzungen zwischen „Chancen" -
und „Risiko“ -Anhängem haben zu einer Dichotomisierung der öffentlichen Debatte geführt. Die Kontroversen markieren Konfliktlinien, die kaum überwindbar erscheinen: „Es gibt einen Diskurs der , Chancenapostel‘ und einen solchen der Kritiker der Chancen, und beide scheinen miteinander kaum vermittelbar zu sein.“ Genau hier liegt aber das interdisziplinäre Aufgabengebiet der integrativen Didaktik, vor dem Hintergrund der benannten biologisch-naturwissenschaftlichen Kategorien und Leitthemen sowie den sie beeinflussenden politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen operationalisier-bare Konzepte zu entwickeln: Die wissenschaftlichen Kategorien, Begriffe, Leitthemen und politischen Konflikte sind das Didaktikum.
Die zunächst jahrelang folgenlose und dann — 1989/90 — plötzliche Berücksichtigung der systematischen Ergebnisse und der umfangreichen Empfehlungen des Enquete-Kommissionsberichts für das Gentechnik-Gesetzgebungsverfahren belegen eindringlich ein mehrfaches Defizit: — Die politischen Entscheidungen der legislativen, exekutiven und judikativen Institutionen der Gesellschaft hinken der biologisch-naturwissenschaftlichen Forschungsentwicklung, ihren technischen Anwendungsmöglichkeiten, den wirtschaftlich-industriellen Nutzungskapazitäten und den sie bewertenden Technikfolgenabschätzungen re-agierend hinterher (Verspätung der Politik). — Insofern ist es kaum überraschend, daß auch kritisch-politische Bildungsreflexion dieser Prozesse sowie — noch gravierender — entsprechend umfassende didaktische Operationalisierungsversuche in der Schule gleichermaßen zeitversetzt verlaufen, wenn sie überhaupt stattfinden (Verspätung der integrativen Didaktik).
Daraus ergibt sich die Forderung: Für die interdisziplinär konzipierte Aufarbeitung von „Gentechnologie und Politik“ müssen unter Beachtung der seit langem vorliegenden Forschungsergebnisse (Enquete-Kommissionsbericht), des gegenwärtigen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der entsprechenden aktuellen politischen Entwicklung (Gentechnik-Folge-Gesetzgebung) biologisch-politische Zusammenhänge thematisiert sowie fächerübergreifende Kontroversen und Leitvorstellungen didaktisch strukturiert bzw. konzipiert werden. Noch immer sind die diesbezüglichen Grundlagen der Biologie-und der Politik-Didaktik, sind die geltenden Richtlinien, Schulbücher und didaktischen Materialien gleichermaßen defizitär und unvollständig ausgearbeitet. Zukünftig gilt es, einer Verspätung der interdisziplinären Unterrichtspraxis entgegenzuwirken.
Welche politischen Bildungshorizonte, welche politisch-didaktischen Blickwinkel können benannt werden, um „neuartige Unsicherheiten“ mit Hilfe von Claußens Risiko-Fragestellungen zu bearbeiten? Didaktische Leitfragen beziehen sich auf: 1. die wichtigsten gegenwärtig und demnächst möglichen Praktiken und Anwendungsfelder der Biound Gentechnologie samt ihrer Nachfrage, ihrer ökosozialen Verträglichkeit und ihren Folgen bzw. ihrer (verfassungsrechtlichen Stellung; 2. die Möglichkeiten und Grenzen alternativer Legitimationen, Steuerungs-bzw. Kontrollmechanismen sowie die damit verknüpften Wertsysteme, Weltanschauungen und Menschenbilder; 3.den im Einzelfall variierenden zugrundeliegenden historisch-gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von Zeitgeist und materieller Lebensrealität; 4. ihre in akuten menschlichen Existenzproblemen und/oder privaten, nationalen und gesellschaftssystembezogeneri Zwecksetzungen und -Prioritäten wurzelnden humanitären, ökonomischen und herrschaftlich akzentuierten Motivations-und Interessenhintergründe; 5.den aktuellen Stand der Gesetzgebungen, Parteiprogrammatiken, Förderungs-und Widerstands-initiativen einschließlich der Möglichkeiten und Konsequenzen der Einflußnahme darauf als Einzelperson und gesellschaftliche Gruppierung
II. Gentechnologie und Biologie(-Didaktik) — Die interdisziplinären Grundzüge des biologischen Genetik-Unterrichts
Abbildung 2
Schaubild 2: Themenbereiche der Biologie und Möglichkeiten ihrer Verknüpfung Quelle: Vgl. Anm. 16, S. 8.
Schaubild 2: Themenbereiche der Biologie und Möglichkeiten ihrer Verknüpfung Quelle: Vgl. Anm. 16, S. 8.
1. Interdisziplinärer Anspruch und curricularer Zusammenhang Wenn Hans Jonas in seinen philosophisch-technischen Reflexionen berechtigt behauptet, daß die neuen Entwicklungstendenzen in der Technik, auch in der Bio-und Gentechnik, eine völlig andersartige, revolutionäre Qualität widerspiegeln (aus Gründen 1.der Ambivalenz der Wirkungen; 2.der Zwangsläufigkeit der Anwendungen; 3.des globalen Ausmaßes in Raum und Zeit; 4.der Durchbrechung der Anthropozentrik; 5.der Aufwerfung der metaphysischen Frage dann stellt sich die Frage nach einer Selbsterkennung, auch nach einer Selbstkontrolle der wissenschaftlich-technischen Welt. Die notwendigen Antworten finden sich in interdisziplinärer Forschung, in interdisziplinär-didaktischer, integrativer Lehr-und Lernstruktur, gleichgültig, ob nun auf universitärer, schulischer oder außerschulischer Ebene: „Interdisziplinäre Forschung ist Medium der Selbst-reflexion des Wissens in der spezifischen Weise, daß sie . . .den Blick auf die , Grenzen der disziplinären Zuständigkeiten (Immelmann) eröffnet. Damit entspricht sie einer säkularen Veränderung der gesellschaftlichen Verfassung wissenschaftlichen und technischen Wissens, der vor allem durch die Fortschritte der Biowissenschaften wieder zunehmenden Reflexion auf die Grenzen zwischen Wissenschaft und Ethik bzw. auf die den Wissenschaften inhärenten . . . Wertsetzungen. Diese offenzulegen und als solche bewußt zu machen, um sie eben der Autorität der (scheinbaren) Naturgesetzlichkeit zu entheben, ist m. E. die bedeutsamste Funktion des interdisziplinären Diskurses.“
In dieser Hinsicht — und für den zu diskutierenden Zusammenhang — erscheint es sinnvoll, theoretisch-didaktisch anzuknüpfen an einen erweiterten gesellschaftskritischen, interdisziplinär konzipierten Wissenschaftsbereich „Politische Anthropologie“ mit den fünf Konfliktfeldern Humanmedizin, Humanevolution, Humangenetik, Humanethologie und Humanökologie. Seine biologisch-naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Leitthemen spiegeln sowohl fachwissenschaftliche als auch fachdidaktische Kontroversen wider. Ferner wird hier versucht, unter Beachtung der Verfassungsnormen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland spezifische historisch-politische, pädagogisch-psychologische und sozio-ökonomische Dimensionen einer ungleichen Betroffenheit des Menschen in seiner Doppelstellung als gesellschaftliches Naturwesen und zugleich als naturhaftes Gesellschaftswesen zu charakterisieren. Dabei liegt die abgeleitete These zugrunde, daß die anthropologische Dominanz des „homo sociologicus“ über den „homo biologicus" die eigentliche Definitionsgrundlage der Existenz des Menschen darstellt
Die hierzu entwickelte didaktische Leitkonzeption „Politische Anthropologie“ formuliert im Hinblick auf sozialbiologistische Denkmuster der Biologie interdisziplinär fünf konfliktfeldorientierte anthropologisch-politische Grundfragen (vgl. Schaubild 1):
Welche biologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen, Bedingungen und Einflüsse können 1. die Materialität des Menschen, seine medizinisch-anatomische Existenz als biologisches (Natur) -Wesen definieren? (Konfliktbereich „Humanmedizin“); 2.den anthropologischen Dualismus „biologische Gleichheit“ versus „gesellschaftliche Ungleichheit“ oder „biologische Ungleichheit“ versus „gesellschaftliche Gleichheit“ kennzeichnen? (Konfliktbereich „Humanevolution“);
3. eine — durch Vererbungsgesetze . legitimierte 4 — genetisch fixierte Vererbbarkeit intellektuell-psychischer Eigenschaften des Menschen . beweisen 4, deren genmanipulatorische Veränderbarkeit zukünftig gentechnologisch gar nicht einmal mehr ausgeschlossen werden kann? (Konfliktbereich „Humangenetik“);
4. die spezifische Doppelstellung des Menschen und besonders sein Verhalten als gesellschaftlich-ökonomisches Wesen — im Gegensatz zum Tier — determinieren? (Konfliktbereich „Humanethologie“); 5. die politische und naturwissenschaftlich-technische Verantwortung des Menschen für seine Existenzsicherung durch die Erhaltung bzw. auch Neu-schaffung natürlicher oder künstlicher Ressourcen mobilisieren? (Konfliktbereich „Humanökologie").
Diese fünf konfliktfeldorientierten anthropologischen Grundfragen definieren durch die Einbeziehung verschiedener Wissenschaftsdimensionen interdisziplinäre Leitthemen. Deren jeweils zu konkretisierende politische Kategorien umreißen biologie-und sozialwissenschaftsdidaktische Problembereiche und fächerübergreifende Fragestellungen. Im Gegensatz zu Waßongs vereinfachender Darstellung kommt es darauf an, die immer gesellschaftlich intendierten wissenschaftlichen Ergebnisse der biologischen Forschung, denen durch praktische Nutzungsmöglichkeit, kommerzielle Verwertbarkeit — besonders für den produktiv/reproduktiven Bereich der menschlichen Arbeitskraft —, aber auch aufgrund hoher sicherheitsrelevanter Risiken zentrale gesellschaftliche Bedeutung zukommt, ins Zentrum biologiedidaktischer und politikdidaktischer Überlegungen und Reflexionen zu stellen. Und das bedeutet ferner: Die historischen und politisch-gegenwärtigen, sozialbiologistischen Konturen des je vertretenen Menschenbildes bleiben Ziel kritischer Auseinandersetzungen, um zu verhindern, daß — bezogen auch auf den traditionellen Genetik-Unterricht und eine nachweisbare einseitige Sozialisationsfunktion des schulischen Biologieunterrichts — biologische Erkenntnisse als rechtfertigende und stabilisierend-unkritische Momente für politisch unkontrollierbare Herrschaftsausübung, also in undemokratischem Sinne, instrumentalisiert werden können 2. Genetik-Unterricht und traditionelle Biologie-Didaktik Überraschenderweise war die traditionelle Biologiedidaktik, angeführt von den didaktisch-methodischen Forschungs-und Praxisreflexionen des IPN in Kiel, immer an Interdisziplinarität interessiert, wenngleich in einem engeren, naturwissenschaftsimmanenten Sinne. Jene aus den siebziger Jahren stammenden integrativen Entwürfe formulierten zwar naturwissenschaftlich-technisch orientierte Strukturierungsprinzipien und Leitthemen einer humanzentrierten Konzeption, blieben jedoch den benannten engeren Integrationsverfahren insgesamt verhaftet. Die damalige Forderung — „Eine Neustrukturierung der naturwissenschaftlichen Fächer könnte so zur Integration dieser Fächer in das Gesamtcurriculum der Schule bezogen auf sozialwissenschaftlich bestimmte Bereiche führen und Grundlinien einer Didaktik der Naturwissenschaften bezeichnen“ — blieb nicht nur auf dieser Ebene uneingelöst, sondern ihr affirmativer Charakter, der eine politisch-didaktische Erweiterung der Interdisziplinarität negiert, kann bis heute, abgesehen von der Integration ethisch-philosophischer Argumentationen, nachgewiesen werden Dies gilt auch — und gerade — für den Genetik-Unterricht, wie sich unschwer durch einen Blick auf Richtlinien, Schulbücher, didaktische Materialien und Unterrichtsentwürfe in Zeitschriften der Biologie-Didaktik belegen läßt. So fordern u. a. Rahmenrichtlinien (Fach Biologie/gymnasiale Oberstufe)
auch die Erarbeitung fachstruktureller Zusammenhänge, die sich an aktuellen Bezügen, an Problemen der Gesellschaft und der Umwelt orientieren, um den Schülern gegenwärtige und zukünftige Verantwortung bewußt zu machen, denn:
„Gegenstand der Biologie sind Lebenserscheinungen . . . Bei ihrer Erforschung ist der Mensch zugleich Subjekt und Objekt und gerät über den Rahmen einer naturwissenschaftlichen Sichtweise hinaus in Grenzbereiche anderer Wissenschaften wie Psychologie, Philosophie oder Soziologie. So liefert die Biologie einen besonderen Beitrag zur Formung eines umfassenden Weltbildes.“
Einsicht in Lebensprozesse, die Bedeutung der Biologie für die Gesellschaft, Verhinderung einseitig technischen Denkens und die Bereitschaft, sich auch über den Unterricht hinaus mit biologischen Phänomenen auseinanderzusetzen — all dies soll zur Selbstbestimmung des Schülers im gesellschaftlichen Leben führen. Mit Nachdruck verweisen die Richtlinien darauf, daß die Materie der Genetik in der Vorstufe grundlegend unterrichtet und in der Kursstufe vertiefend beleuchtet wird: „Sie kehrt vielmehr mit speziellen Fragestellungen in allen Themenbereichen wieder und kann hier in eine übergeordnete Thematik eingebunden werden.“
Es handelt sich dabei um Themenbereiche, wie sie im Schaubild 2 mit ihren wechselseitigen Bezügen dargestellt sind.
Die Erkenntnisse der Genetik — so die Richtlinien — führen zu Grundeinsichten, ohne die ein Verständnis biologischer Vorgänge und ökologischer Abhängigkeiten nicht möglich sei. Erst in der engeren Verknüpfung der Genetik mit den anderen Themenbereichen können die dann molekulargenetischen, chemischen und auch physikalischen Betrachtungen einen Einblick in das Wirkungsgefüge biochemischer Abläufe vermitteln.
Wo aber bleibt der von den Richtlinien geforderte Gesellschaftsbezug? Er entfällt, wird auf der inhaltlichen Ebene noch nicht einmal thematisiert: damit bleibt es dem Lehrer überlassen, ob er ihn operationalisiert oder ob er mangels Ausbildung, Interesse oder Kenntnis darüber hinweggeht.
Auch didaktische Materialien — u. a. die Zeitschrift „Unterricht Biologie“ mit einem Themen-heft zur Biotechnik — verharren insgesamt in einem engeren Verständnis von Integration, in der Genetik teildisziplinär-naturwissenschaftlich eingeordnet wird. Zugleich wird aber erstmals ein industrieller Verwertungszusammenhang aufgezeigt, so in dem in diesem Themenheft publizierten Beitrag von H. Bayrhuber Der Autor kommt jedoch bei seinen inhaltlichen Systematisierungen nicht über den Horizont einer „primären Interdisziplinarität“ hinaus 18). Für eine weitere, didaktisch vertiefende Vernetzung mit Fragestellungen, die sich aus der geforderten Gesellschaftsrelevanz der Genetik-Gentechnologie-Materie ergeben, bedarf es einer entsprechenden Ergänzung durch Kategorien und neuen thematischen Schwerpunktbildungen, die sich aus einer „Befragung der Sozialwissenschaften“ ergeben und zu Zuordnungen führen, auf die eingangs hingewiesen wurde. Diese Erweiterung belegt den kategorialen Übergang von einer primären zu einer sekundären Interdisziplinarität (Schaubilder 3 und 4): Die Genetik bzw. Gentechnologie-Thematik wird in ihrem interdependenten Wirkungsgefüge von sozialwissenschaftlichen Dimensionen begleitet, die zugleich fachwissenschaftliche und damit auch fach-didaktische Kategorien der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Ökonomie, des Rechts und der Pädagogik darstellen.
III. Gentechnologie und Politik (-Didaktik) — Die interdisziplinären Grundzüge des biologisch-politischen Gentechnologie-Unterrichts
Abbildung 3
Schaubild 3: Primäre Interdisziplinäre Leitthemen einer „Didaktik des Genetik-Unterrichts“, die sich auf die fünf biologischen Lehr-und Lembereiche „Humanmedizin“, „Humanökologie“, „Humanevolution“, „Humanethologie“ und „Humangenetik“ konzentrieren
Schaubild 3: Primäre Interdisziplinäre Leitthemen einer „Didaktik des Genetik-Unterrichts“, die sich auf die fünf biologischen Lehr-und Lembereiche „Humanmedizin“, „Humanökologie“, „Humanevolution“, „Humanethologie“ und „Humangenetik“ konzentrieren
1. Didaktisches Strukturgitter für den Politik-Unterricht Wie kann vor dem Hintergrund der bisherigen Konzeptentwicklung die Integration der politischen Bildungsabsicht in den biologisch-naturwissenschaftlichen Genetik-Unterricht erfolgen? Wie könnte kategorial jene .sekundär-interdisziplinäre Verzahnung*, also der konzeptionelle Umgang mit der politisch-didaktischen Zielsetzung, strukturiert werden? Es erscheint durchaus sinnvoll und begründbar, im Zusammenhang mit der Genetik-und Gentechnologie-Problematik, ihrer an anderer Stelle dargelegB ten Chancen-und Risiko-Dichotomie auf die Ausführungen und Prämissen hinzuweisen, die Jürgen Habermas in „Technik und Wissenschaft als , Ideologie*“ zur Diskussion stellte und die zu dem „Strukturgitter für den Politik-Unterricht“ (Schaubild 5, S. 41) zusammengefaßt wurde
Habermas unterscheidet neben drei Medien der Vergesellschaftung — Arbeit: durch gesellschaftli-ehe Produktionsleistungen hergestellte rationale Verfügung über gegenständliche (natürliche) und vergegenständlichte (gesellschaftliche) Prozesse; Sprache: durch Kommunikation hergestellte Interaktion/rationale Verständigung zwischen Personen unter gemeinsam anerkannten Normen; Herrschaft: Konstituierungsprozeß, durch Arbeit und Sprache historisch bedingt; ferner drei Erkenntnis-interessen oder Grundorientierungen: das technische Erkenntnisinteresse (Verfügungsinteresse über Natur und Mensch); das praktische Erkenntnisinteresse (Verständigungsinteresse) und das emanzipatorische Erkenntnisinteresse (Interesse an Reduktion unnötiger Herrschaft). Durch die Kombination der jeweils drei Determinanten entstehen Handlungszusammenhänge, also zugleich Argumentationsebenen, die nun — bezogen auf den Unterrichtsgegenstand „Gentechnologie“ — thematisch gefüllt werden können.
Bevor dies erfolgt, soll — in starker Vereinfachung — auf den grundlegenden biologisch-politischen Sinn der Habermas’schen Sichtweise hingewiesen werden: „Den im Blick auf das gesellschaftliche Gesamtobjekt formulierten drei Medien der Reproduktion entsprechen auf der Ebene des Einzelsubjekts Lebensbedingungen, die durch den historisch bestimmten Zusammenhang von Arbeit, Sprache und Herrschaft definiert werden. Die Er-41 kenntnisinteressen können deshalb als , Medien der Definition des Lebens 1 bezeichnet werden; sie definieren, inwieweit der Erkenntnisfortschritt des Einzelsubjekts als Fortschritt der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung (Reproduktion) interpretiert werden darf . . ,“
Ordnet man die Kategorien und Erkenntnisinteressen einzelnen politischen Konfliktfeldern zu, die sich aus der sehr kontroversen naturwissenschaftlichen, politischen und ethischen Diskussion in der Öffentlichkeit ergeben, dann definieren die durch Handlungszusammenhänge und Argumentationsmuster strukturierten Leitthemen einer „Politischen Gentechnologie“ gleichwohl didaktische Lehr-und Lerninhalte. 2. Biologisch-politische Leitthemen einer „Didaktik des Gentechnologie-und Politik-Unterrichts“
Die Integration politischer Bildungsansprüche in den biologisch-naturwissenschaftlichen (Fach-) Unterricht kann gelingen, wenn — mit Sander — die politische Dimension der Naturwissenschaften im Unterricht auf drei Ebenen reflektiert wird: — „Die tatsächlichen und möglichen Folgewirkungen der Anwendung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen müssen durchgängig zur Sprache kommen — Die gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen des Forschungsprozesses und die auf ihn einwirkenden Interessen müssen herausgearbeitet werden . .
— Der Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften darf nicht einfach vorausgesetzt, sondern muß im Unterricht problematisiert werden . . ."
Mit diesen Empfehlungen ist — letztlich auch — die bisher bewußt ausgeklammerte Frage nach dem Lernort, an dem die interdisziplinär strukturierte Gentechnologie-Problematik didaktisch/methodisch operationalisiert werden soll, eindeutig zu beantworten. Da selbst Rahmenrichtlinien für das Gymnasium — Fach Gemeinschaftskunde — z. B, in Niedersachsen defizitär und relativ vage die Erörterung naturwissenschaftlich-technischer Inhalte verbindlich verlangen, vorliegende didaktische Materialien für den Chemie-Unterricht das Gentechnik-/Biotechnologie-Thema insgesamt aus einem chemieorientierten Blickwinkel diskutieren sollte unter Beachtung der benannten primären und sekundären interdisziplinären Bezüge der Biologie-unterricht für die integrative Aufgabe in Frage kommen, gleichsam in einer Nukleus-Funktion Kooperation mit anderen Fächern, also auch mit dem Fach Politik, anstrebend. Oder aus der Sicht der Politik-Didaktik formuliert: „Fortschritte in Richtung auf eine fächerübergreifende Theorie und Praxis politischer Bildung (dürften) am ehesten zu erreichen sein, wenn sich die Politische Didaktik um ein Konzept der Zusammenarbeit mit anderen Fächern jenseits des beziehungslosen Nebeneinanders, aber unterhalb der vollständigen Integration des Politikunterrichts mit anderen Fächern zu neuen Lembereichen bemüht.“
So gesehen schließt sich der interdisziplinär angelegte Gedankengang. Zugleich werden auf der programmatischen Ebene zukünftiger Bio-und Gen-technologie-Entwicklung neue Horizonte im Spannungsverhältnis von „Chancen und Risiken“ sichtbar, wenn — so das Programm der Bundesregierung „Biotechnologie 2000“ — „aus dem Zusammenspiel von Physik, Chemie und Biologie . . . sich . . . neue technologische Perspektiven zur Gestaltung unseres Lebens (ergeben) . . . Die Ambivalenz der technischen Nutzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse verlangt auch hier, daß über spezielle Anwendungen des biologischen und biotechnologischen Wissens ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt wird. Das zu beurteilen und zu erreichen ist ein fortwährender Prozeß, in den politische, rechtliche, sozial-und geisteswissenschaftliche Untersuchungen einfließen müssen. Ethische Fragen stellen sich vornehmlich im Zusammenhang mit den Anwendungen neuer biologischer Methodik am Menschen . . . Auf allen diesen Gebieten besteht unverändert ein hoher politischer Handlungsbedarf.“
Das aber setzt bei allen mit der Materie befaßten bzw. von ihr betroffenen Beteiligten notwendigerweise voraus, daß die hohe, unverändert bestehende Komplexität der Gentechnik-Materie durch naturwissenschaftlich-politische Bildung reflektiert wird. Erst die so gewonnene Kritikfähigkeit ermöglicht, zwischen „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ zu differenzieren sowie einer irrationalen Technikangst durch eine sachliche, politisch-aufklärerische und rationale Diskussion zu begegnen
Heinz-Georg Marten, Dr. disc. pol. habil., geb. 1943; Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt 1983; zahlreiche Aufsätze in Periodika und Fachzeitschriften.
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