„Der menschliche Zustand ruft dauernd nach Verbesserung. Versuchen wir zu helfen. Versuchen wir zu verhüten, zu lindern, zu heilen. Aber versuchen wir nicht, an der Wurzel unseres Daseins, am Ursitz des Geheimnisses, Schöpfer zu sein.“ (Hans Jonas)
Zwei wissenschaftliche Begriffe sind in den letzten Jahren zu gesellschaftspolitischen Signalen geworden: die Gentechnik und die Fortpflanzungsmedizin. Sie stehen synonym für die Hoffnung Kranker und die Besorgnis einzelner sowie der Gesellschaft; sie stehen für Nobelpreiswürdigkeit wie rücksichtslosen Forschergeist.
Mit der Gentechnik ist es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich geworden, das zu manipulieren, was wohl am ehesten als Basis für Individualität und Originalität betrachtet werden kann, die Gen-Ausstattung. Mit der In-vitro-Fertilisation (IVF), der Befruchtung im Reagenzglas, wird dem Menschen jener Bereich zugänglich, der bisher weitgehend seiner Verfügbarkeit und direkten Planung entzogen war. Die Befruchtungsvorgänge der ersten Tage sind nunmehr nach kausal-mechanischen Gesichtspunkten zerlegt und damit auch der Manipulation von Drittpersonen ausgesetzt. Wenn es sich auch bei Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin methodisch um zwei völlig verschiedene Gebiete handelt, so gibt es trotz aller Verschiedenheit doch Zusammenhänge: Die IVF ist als Einstiegstechnik notwendige Voraussetzung für Teilbereiche der Genmanipulation, z. B. für die Gentherapie an Keimbahnzellen und für mögliches Klonen. Beides wiederum erfordert Experimente mit menschlichen Embryonen. Weil mit Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin wichtige anthropologische Dimensionen und Grundfragen der menschlichen Existenz berührt werden, stellen sie auch Anfragen an unser ethisches Bewußtsein. Diese beiden Bereiche können nicht allein naturwissenschaftsimmanent diskutiert werden, sondern fordern zur ethischen Stellungnahme heraus.
I. Humangenetik
Humangenetik ist ein weitgespannter Begriff. Man versteht darunter allgemein die Wissenschaft von den Vererbungsvorgängen beim Menschen. „Als Wissenschaft gehört sie zur allgemeinen Genetik, die ihrerseits ein wesentliches Teilgebiet der modernen Biologie ist. Als , Techne‘ (im Sinne Platons) gehört sie in die Medizin; es ist ihr Ziel, , Anweisungen zum zweckmäßigen Handeln 4 (W. Wieland) zur Vorbeugung und Heilung von Krankheiten zu erarbeiten.“ Im engeren Sinn und speziell für die ethische Betrachtung sind mit „Humangenetik“ jene Felder und Probleme gemeint, die mit der Anwendung solcher Methoden Zusammenhängen, bei denen die menschlichen Gene beobachtend oder verändernd angegangen werden. Die beiden wichtigsten und am häufigsten diskutierten Anwendungsfelder sind die Genomanalyse und die Gen-therapie. 1. Genomanalyse und prädiktive Medizin Das derzeit innerhalb der Humangenetik wohl am meisten umstrittene Projekt ist die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms und damit verbunden die prädiktive Medizin Das Genom eines Organismus umfaßt die Gesamtheit seiner Erbinformationen. Beim Menschen enthält es etwa 50 000 unterschiedliche Erbanlagen (Gene). Die Kombination der menschlichen Erbinformation umfaßt ca, drei Milliarden sogenannter Basen-paare. Die Genomforschung hat eine möglichst vollständige Aufklärung von Struktur, Funktion und Rei-henfolge (Sequenz) der chemischen Bausteine der Gene zum Ziel. Hierbei werden die Erbinformationen auf einer sogenannten Genkarte verzeichnet. Eine Vorstellung vom Umfang einer menschlichen Genkarte mag der folgende Vergleich vermitteln: Auf einer eng bedruckten Buchseite haben etwa 3 000 Buchstaben Platz. In einem dicken Buch finden sich ca. 1 000 Seiten. Stellt man nun 1 000 solcher Bücher in eine Bibliothek, dann hat man so viele Zeichen zusammen wie auch im menschlichen Genom vorhanden sind: etwa drei Milliarden. An der Erstellung einer Genkarte wird derzeit in fieberhaftem internationalen Wettbewerb gearbeitet. In Amerika gibt es ein auf 15 Jahre veranschlagtes Projekt (Mapping and Sequencing the Human Genom), für das jährlich 200 Millionen US-Dollar bereitstehen. Japan arbeitet im Rahmen des HFSP (Human Frontiers Science Program) an der Entwicklung von Maschinen, mit deren Hilfe eine Gen-karte erstellt werden soll. Die elektronische Datenverarbeitung spielt hier eine große Rolle. In der Sowjetunion läuft ein Projekt, für das zehn Millionen Rubel zur Verfügung gestellt werden sollen. Die Gemeinschaft finanziert Europäische derzeit ein Programm zur Untersuchung des Hefegenoms. Daran sind auch fünf deutsche Gruppen beteiligt. Ansonsten gibt es in der Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise wenige Aktivitäten auf diesem Gebiet. Unter dem Titel HUGO (Human Genom Organization) streben Wissenschaftler aus aller Welt eine internationale Kooperation an.
Die Analyse des menschlichen Genoms und die Erstellung einer Genkarte sind die Voraussetzung für die sogenannte prädiktive Medizin (von lat. praedicare = voraussagen, vorhersagen). Zu ihrer Entwicklung innerhalb der Gentechnik führen die Erkenntnis, daß bestimmte Krankheiten in den Genen, den Trägern der Erbinformationen, gewissermaßen vorprogrammiert sind, sowie die Tatsache, daß mehr Erkrankungen als bislang angenommen aus einer Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt entstehen. Die prädiktive Medizin zielt auf die Voraussage der Krankheitsbiographie eines Menschen sowie auf die Erkenntnis der genetischen Dispositionen für bestimmte Krankheiten, um so deren Ausbruch zu verhindern oder zumindest ihren Verlauf positiv zu beeinflussen. Auch will sie die Weitergabe genetisch bedingter Krankheiten verhüten.
Die ethische Bewertung von Genomanalyse und prädiktiver Medizin ist eng verknüpft mit der Abwägung ihrer Chancen und Risiken Zunächst zu den Chancen: Die Genomanalyse als Voraussetzung der prädiktiven Medizin wird unser Wissen über den Menschen erweitern. Sie ist Grundlagenforschung und hat als solche Bedeutung über ihre Anwendung in der prädiktiven Medizin hinaus. So erhofft man sich beispielsweise durch den Vergleich der Gene verschiedener Lebewesen Erkenntnisse über den Verlauf der Evolution. Aber auch als Grundlagenforschung ist die Genomanalyse nicht ethisch neutral. Die möglichen Anwendungen müssen immer im Blick bleiben.
Krankheiten, die auf einer Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt beruhen, könnten — frühzeitig erkannt — durch entsprechende Lebensführung des Betroffenen verhindert werden. So würde dann das Risiko einer Erkrankung vermindert. Zum Beispiel wäre Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch bewußte Ernährung und Sport vorzubeugen, Hautkrebs durch die Vermeidung zu intensiver Sonnenbestrahlung. Zumindest aber bestünde die Chance, genetisch bedingte oder mitbedingte Krankheiten in ihrem Verlauf zu lindem. Diese Möglichkeiten der prädiktiven Medizin sind ebenso zu begrüßen wie ihre Anwendbarkeit zur Vermeidung von solchen Krankheiten, die durch Vererbung weitergegeben werden. Gedacht ist hier an eine — von der herkömmlichen Familienberatung nicht grundsätzlich verschiedene — genetische Untersuchung und Beratung vor der Schwangerschaft. Bei einem genetischen Risiko müßten in jedem Einzelfall die Konsequenzen, etwa der Verzicht auf eine Schwangerschaft, mit den Betroffenen geklärt werden.
Doch nun zu den Risiken: Besonders dort, wo keine oder noch keine Therapie für eine Krankheit entwickelt ist, würde die Diagnose einer negativen genetischen Disposition sowohl den Arzt als auch den Patienten vor schwere Probleme stellen. Gibt es nicht so etwas wie ein „Recht auf Geheimnis“, ein Geheimnis gegenüber anderen und gegenüber sich selbst? Es ist zu fragen, was menschenwürdiger ist: von einer bevorstehenden unheilbaren Krankheit zu wissen oder ahnungslos zu sein.
Es steht zu befürchten, daß die Akzeptanz von Krankheit und Behinderung in unserer Gesellschaft durch die prädiktive Medizin weiter abnimmt. Krankheit und Behinderung, oder schärfer formuliert: Kranke und Behinderte, könnten ja verhindert werden. Schon heute kommt es aufgrund vorgeburtlicher Untersuchungen zu Abtreibungen.Ein krankes oder behindertes Kind wird von vornherein nicht akzeptiert. Dies ist aus ethischer Sicht eine äußerst bedenkliche Entwicklung, die nicht hingenommen werden darf. Für das Selbstverständnis der Behinderten wären die Folgen angesichts einer solchen Einschätzung durch die Mitwelt unabsehbar.
Mit der konsequenten Anwendung der prädiktiven Medizin wäre ein weiterer Anlaß geschaffen, das komplexe Geschehen von Krankheit auf wenige, im Individuum angesiedelte Faktoren einzuengen. Die Krankheitsursache würde in den einzelnen verlagert und Krankheit so zum persönlichen, privaten Schicksal. Andere Faktoren, wie eine krankmachende Umwelt, könnten vernachlässigt werden. Der Betroffene wäre an seiner Krankheit selbst schuld.
Es bestünde auch die Gefahr, Menschen nach bestimmten Gesichtspunkten zu klassifizieren und zu diskriminieren. Weiter stünde zu befürchten, daß der Mensch biologistisch gesehen wird, daß er allein auf seine genetische Ausstattung reduziert wird. Ein Widerspruch zu einem ganzheitlichen Menschenbild (wie dem christlichen) ist hier vorprogrammiert. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die prädiktive Medizin, verbunden mit der Analyse und Sequenzierung des menschlichen Genoms, ein hohes Machtpotential zur Verfügung stellt Wie jede Macht ist sie nicht nur zu Hilfe, sondern auch zu Zerstörung fähig. Biologische Forschung und deren Ergebnisse bestimmen heute schon weitgehend unsere Sicht vom Menschen. Zudem wird für das Überleben der Menschheit weitere Forschung wohl unerläßlich sein, selbst dann, wenn dieses Überleben von der Forschung potentiell bedroht wird. Aufgrund der aufgezeigten Chancen scheint es nicht sinnvoll zu sein, die prädiktive Medizin abzulehnen. Wohl aber wird man im Hinblick auf ihre Gesamtwirkung und bei all ihren Einzelschritten fragen müssen, inwieweit Leben geschützt, bewahrt, gerettet und dem Menschen zu einem menschenwürdigen Leben verhelfen wird. Überall dort, wo durch prädiktive Medizin Leben bedroht, gefährdet und unverantwortlichen Risiken ausgesetzt wird, darf sie nicht gebilligt werden. Bei all dem gilt es zu bedenken: Auch aus noch so vielen biologischen Daten über die Struktur des Menschen vermögen wir nicht, den Sinn unserer Existenz herauszulesen. Ihren Lebenssinn gewinnen Menschen nun einmal nicht aus ihren Genen, „sondern aus dem Umgang mit ihrer , Natur* in sozialen, persönlichen und religiösen Beziehungen“. Lebenssinn ist mehr als Funktionieren. Er ist nicht machbar, sondern Sache etwa des Glaubens. Begriffe wie „Gen“ oder auch „die Menschheit“ sind keine Subjekte, denen das Individuelle zu opfern wäre, sondern abstrakte Instrumente rationaler Verständigung. Biologisches Wissen mag zwar bewußteres menschliches Handeln ermöglichen, kann aber persönliche Lebensperspektiven nicht ersetzen 2. Pränatale Diagnostik Die pränatale Diagnostik, mit der bestimmte, insbesondere pathologische Eigenschaften des Kindes schon vor der Geburt festgestellt werden können, kann eine wichtige Hilfe für die Eltern sein. Mit dieser Methode ist die Möglichkeit gegeben, grundlos besorgte Eltern zu beruhigen, Risikopatientinnen, die früher bis zur Geburt des Kindes in Angst leben mußten, zu entlasten. Weiterhin können Eltern mit ihrer Hilfe darauf vorbereitet werden, sich auf die Geburt eines kranken oder behinderten Kindes einzustellen. Zugleich wird die Chance geschaffen, frühzeitig eine Therapie zu entwickeln. Pränatale Diagnostik kann aber auch dazu benutzt werden, den Tod des erwarteten Kindes zu planen, wenn es krank ist oder den Vorstellungen der Eltern nicht entspricht. Ethisch ist pränatale Diagnostik nur insoweit vertretbar, als sie der Gesundheitsvorsorge von Mutter und Kind dient und auch das Lebensrecht des ungeborenen behinderten Kindes achtet. Sie verbietet sich jedoch, wenn sie mit der Zielsetzung eines Schwangerschaftsabbruches durchgeführt wird. Angesichts eines weithin anzutreffenden Automatismus von pränataler Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch wird vielfach vor der Anwendung dieser Methode gewarnt 3. Genomanalyse an Arbeitnehmern Wenn im folgenden von Genomanalyse gesprochen wird, ist damit nicht, wie im Zusammenhang mit der prädiktiven Medizin, die Analyse des Gesamtgenoms des Menschen gemeint, sondern die Auf-gliederung lediglich eines kleinen Teils davon, oft nur eines einzigen Gens. Mit diesem Verfahren wird insbesondere nach genetisch bedingten Empfindlichkeiten gegenüber Umwelteinflüssen, z. B. gegen Schadstoffe, oder nach anderen spezifischen Merkmalen gesucht.
Genomanalyse an Arbeitnehmern dient der Feststellung berufsrelevanter genetisch bedingter Ge-fährdungen. Sie kann zur Verbesserung des individuellen Arbeitsschutzes sowie der arbeitsmedizinischen Vorsorge beitragen und Berufskrankheiten vermeiden helfen. Andererseits besteht auch die Möglichkeit, die Analyse gegen den Arbeitnehmer zu verwenden, indem die genetische Konstitution zum wesentlichen Auswahlkriterium gemacht wird und somit die Arbeitsplatzchancen deutlich gemindert werden. Auch ist die Gefahr zu sehen, daß die über den Arbeitnehmer gesammelten Informationen Verwendung finden, welche die Eignungsrelevanz für den Arbeitsplatz überschreiten.
Vom ethischen Standpunkt aus muß daher zunächst darauf hingewiesen werden, daß eine Genomanalyse nur nach vorheriger Einwilligung des Arbeitnehmers durchgeführt werden darf. Des weiteren dürfen genetische Dispositionen nur erfaßt werden, wenn eine schwerwiegende gesundheitliche Schädigung des Arbeitnehmers oder Dritter zu befürchten ist. Genomanalyse sollte auch nur zulässig sein, wenn andere diagnostische Methoden keine vergleichbaren Erkenntnisse ermöglichen. Zudem verbietet es das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers, ein umfassendes Profil seiner genetisch bedingten Eigenschaften zu erheben. 4. Genomanalyse zur Identifizierung von Personen und im Versicherungsbereich Inzwischen hat die Genomanalyse auch Eingang in gerichtliche Verfahren gefunden, und zwar zur Täteridentifizierung und zum Vaterschaftsnachweis (genetischer Fingerabdruck). Die Untersuchungsmethode, die ausschließlich verfahrensrelevante Tatsachen aufdeckt und keinen persönlichkeitsrelevanten Informationsüberschuß erzeugt, erscheint auch gegen den Willen des Betroffenen ethisch vertretbar, da hier das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt.
Diskutiert wird weiterhin der Einsatz der Genomanalyse im privaten Versicherungswesen. Zum Beispiel sollen vor Abschluß einer Kranken-, Lebens-oder Berufsunfähigkeitsversicherung mit Hilfe der Genomanalyse die Risiken möglichst genau eingeschätzt und dementsprechend der Versicherungsvertrag ausgestaltet werden. Aus ethischer Sicht sind genetische Analysen, die bei Vertragsabschluß die mögliche Lebenserwartung und mögliche Gesundheitsschäden des Versicherungsnehmers erheben, auszuschließen. Sie stehen im Widerspruch zum Sinn einer solchen Versicherung, die zukünftige Risiken auffangen und sie nicht möglichst geschickt ausschließen soll.
II. Gentherapie
Gentherapie verfolgt das Ziel, genetisch bedingte oder mitbedingte Krankheiten zu heilen oder gar nicht erst zum Ausbruch kommen zu lassen, und zwar nicht durch Beseitigung der Symptome, sondern durch Behebung der Krankheitsursache Derzeit eignet sich die Gentherapie lediglich für die Behandlung monogener Erbkrankheiten, welche auf der veränderten Struktur eines einzelnen Gens beruhen. Rührt die Erkrankung von mehreren defekten Genen oder einer Wechselwirkung von Gen-defekten und Umweltfaktoren her, spricht man von einer multifaktoriell bedingten Krankheit. Zum jetzigen Zeitpunkt und auch wohl in naher Zukunft ist es ausgeschlossen, multifaktoriell bedingte Krankheiten durch eine Gentherapie zu heilen.
Für die ethische Beurteilung der Gentherapie sind die beiden Therapieansätze von grundsätzlicher Bedeutung. Die somatische Gentherapie ist auf nicht ordnungsgemäß arbeitende Körperzellen gerichtet. Sie hat den Charakter einer Substitutionstherapie und bleibt auf die Person des behandelten Menschen begrenzt. Insofern wirft sie genau jene ethischen Fragen auf, die alle neuen Behandlungsmethoden mit sich führen, stellt aber kein qualitativ neues ethisches Problem dar. Ihre ethische Vertret-* barkeit ist an folgende Bedingungen geknüpft: Der genetische Defekt muß einen hohen Krankheitswert haben, andere nicht gentechnische Behandlungsmethoden dürfen nicht zur Verfügung stehen, das Risiko für den Patienten muß durch den angestrebten Nutzen gerechtfertigt sein.
Die Keimbahn-Gentherapie ist ein Eingriff in die Erbinformation solcher Zellen, aus denen die Keimzellen hervorgehen (Keimbahn); sie kann aber auch an den Keimzellen selbst, an befruchteten Eizellen und an frühembryonalen, noch totipotenten Zellen ansetzen. Ein solcher Eingriff bewirkt nicht nur eine Veränderung beim Menschen, bei dem er vorgenommen wird, sondern ist zugleich auch eine Festlegung der genetischen Eigenschaften der Nachkommen dieses Menschen. Keimbahntherapie ist derzeit und auch in naher Zukunft praktisch nicht durchführbar. Ihre ethische Unvertretbarkeit leitet sich zum einen aus pragmatischen und zum anderen aus kategorischen Argumenten ab. Pragmatische Argumente weisen vor allem auf die Risiken hin: Man könne nicht ausschließen, daß solche Eingriffe Anlaß zu irreparablen Schäden sind und sich sogar persönlichkeitsverändernd auswirken; ferner bestehe die Gefahr, daß diese Maßnahmen zur Menschenzüchtung mißbraucht würden, und schließlich seien zur Entwicklung dieser Therapie verbrauchende Experimente mit menschlichen Embryonen erforderlich, die man im Interesse des Vorrangs des Lebensschutzes gegenüber dem Schutz der Gesundheit ablehnen müsse. An kategorischer Argumentation wird gegen die Keimbahntherapie vorgebracht, daß damit die genetische Basis der Individualität und somit die persönliche Integrität geändert werde: „Jeder Mensch tritt ... als gezeugtes und geborenes, nicht als gemachtes und ausgewähltes Mitglied in die Gesellschaft ein. Er ergreift seine Rechte, ohne sie anderen verdanken zu müssen. Wenn an der befruchteten Eizelle ein gentechnologischer Eingriff erfolgt, und sei es mit medizinischer Zielsetzung, dann wird nicht eine existierende Person geheilt, sondern ihre Identität manipuliert. Generationen übergreifend könnte das gentechnische Wissen unserer Zeit zu einer ständig wachsenden Macht über kommende Generationen führen, und das heißt, von jenen aus gesehen: zu einer Herrschaft der Toten über die Lebendigen, der zudem die neue Qualität einer absoluten Irreversibilität eignete.“
III. Embryonenforschung
Experimente bzw. Forschung an menschlichen Embryonen zählen derzeit zu den heikelsten und umstrittensten Themen, die vor allem im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation, aber auch mit der Gentechnik erörtert werden. Zahlreiche internationale und nationale Gremien haben das Thema zum größten Teil kontrovers diskutiert Eine einvernehmliche Regelung ist derzeit auch auf nationaler Ebene noch nicht in Sicht. Wie in anderen Ländern ist in der Bundesrepublik Deutschland eine Polarisierung der Standpunkte festzustellen Auf der einen Seite wird jede Art von Versuchen mit menschlichen Embryonen abgelehnt und werden bei Verstößen strafrechtliche Maßnahmen für notwendig gehalten. Auf der anderen Seite steht die Auffassung, daß Versuche mit menschlichen Embryonen möglich sein müssen. Eine Einschränkung bzw. ein Verbot solcher Versuche würde zwangsläufig zu einem unverantwortlichen Wissensrückstand führen.
Während beispielsweise in Australien, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten bereits in großem Umfang an menschlichen Embryonen geforscht wird, haben die deutschen Wissenschaftler bislang auf solche Experimente verzichtet. Allerdings wird durch die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Forschung an frühen Embryonen die Tür bereits einen Schritt in Richtung Embryonenforschung aufgetan, was auch von den beiden großen Wissenschaftsgesellschaften unterstützt wird. Willkürliches Forschen wird aber auch künftig ausgeschlossen bleiben. Dazu werden in den Richtlinien zwei Wege beschritten, zum einen wird der Forschungszeitraum bis zum 14. Tag nach der Befruchtung eingegrenzt und zum anderen werden Forschungsziele formuliert. 1. Forschungszeitraum: 14 Tage?
Die 14-Tage-Grenze wurde deshalb gewählt, weil am 14. Tag die Einnistung des Embryos in die Gebärmutter abgeschlossen ist, die Omnipotenz des Vielzellers und die Möglichkeit der physiologischen Zwillingsbildung verloren geht und die normale fetale Entwicklung beginnt. Ob diese Grenze jedoch eine stabile ist, wird die Zukunft erweisen. Zweifel daran kommen auf, wenn man die Äußerungen Robert Edwards liest, der zusammen mit Patrick Steptoe 1978 die erste erfolgreiche IVF durchführte. Für den Beginn menschlichen Lebens und damit zusammenhängend die Zeitspanne für Experimente hat Edwards gleich mehrere Zeitpunkte zur Verfügung: den 16. Tag nach der Befruchtung (so auf dem 11. Weltkongreß für Gynäkologie 1985), aber auch den Zeitpunkt, ab dem der Embryo Schmerzen empfindet (die 6. Schwangerschaftswoche?) „Die Meinung der Absolutisten“, wonach „menschliches Leben . . . mit der Befruchtung beginnt“, kann Edwards sowieso nicht akzeptieren. „Es gibt gar keinen Beginn des Lebens — Leben ist ein kontinuierlicher Prozeß. Ich kann nicht finden, daß jeder Embryo ein Potential hätte, welches es zu respektieren gilt.“ Eine solche Sicht bestimmt bereits die Terminologie der Wissenschaftler. Auf dem 3. Weltkongreß für IVF in Melbourne (November 1985) hat man sich darauf geeinigt, bis zum 12. Tag der Schwangerschaft nicht mehr von Embryonen oder Präimplantationsembryonen zu sprechen, sondern von „Präembryonen“. Damit aber ist diesen Geschöpfen das Menschsein sowie der ethische und rechtliche Schutz abgesprochen. Hier ist höchste Achtsamkeit steht davor, - geboten. Menschheit ei nen ihrer Grundwerte endgültig aufzugeben: die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben. Inzwischen ist abzusehen, daß in der medizinischen Forschung Bedarf bestehen wird, Embryonen in vitro über die Phase der Einnistung hinaus zu entwikkeln. Wenn man Gentherapie an Embryonen anstrebt, erscheint es aus dem Blickwinkel der Forschung nicht von vornherein unvernünftig, Embryonen so weit zu entwickeln, bis man die Möglichkeiten und Grenzen von Therapieversuchen in vitro beurteilen kann. In Leitartikeln von „Nature“ (1984) wird daher auch die 14-Tage-Frist als „willkürlich“ und „unnötig unflexibel“ angesehen und gefordert, die Definition der Grenzen zulässiger Forschung den Wissenschaftlern selbst zu überlassen. 2. Forschungsziel: Klinisch relevante Forschung An Forschungszielen bietet sich eine breite Palette an. Die Richtlinien der Bundesärztekammer schränken hier schon sehr ein, wenn sie aus der Fülle der Möglichkeiten folgende nennen und zulassen: Entwicklung und Verbesserung von Methoden zur Behandlung der Infertilität, insbesondere zur Verbesserung der Erfolgsrate der IVF/ET; Erkennung und Verhütung anlagebedingter und erworbener Krankheiten oder Fehlbildungen; Untersuchungen, die der Verbesserung der Lebensbedingungen des jeweiligen Embryos und gleichzeitig dem Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnis dienen; Aufklärung der Mechanismen der Konzeption und ihrer Störung. Zu diesem letzten Forschungsziel heißt es im Kommentar: „Derartige Forschungen könnten aber auch Beiträge zur Entwicklung neuer, sichererer und wirksamerer Methoden der Kontrazeption liefern.“ Das heißt nichts anderes, als daß bei dieser Art von Forschung Embryonen verbraucht werden, um künftige Embryonen zu verhindern. Verboten wird in den Richtlinien die künstliche Mehrlingsbildung (Klonierung), die Vereinigung von mehreren Embryonen oder Teilen davon (Chimärenbijdung) sowie die Erzeugung von Mischwesen aus Mensch und Tier (InterspeziesHybridisierung). Weiterhin ist Forschung an Embryonen unzulässig, wenn Tierversuche möglich sind, wenn sie keinen unmittelbaren oder mittelbaren klinischen Nutzen haben und wenn sie nicht einem hohen wissenschaftlichen und methodischen Standard entsprechen. 3. Keine Embryonen für Laborzwecke Es bleibt nun weiter zu fragen, woher der Forscher sein Material erhält. Bei der IVF hat sich gezeigt, daß durch entsprechende Vorbehandlung der Frau (hormonelle Stimulation zur Superovulation) mehr Eizellen gewonnen und befruchtet werden, als sinnvollerweise zurückgesetzt werden sollen. Die übrig-gebliebenen Embryonen stehen somit der Forschung zur Verfügung. Mit zunehmender Verbesserung der IVF-Technik wird aber die Zahl der übrig-gebliebenen Embryonen weiter abnehmen. Es gibt bereits Teams, die keine überzähligen Embryonen haben. Die Forschung würde sich somit von selbst erledigen. Diejenigen Forscher, die dies nicht hinnehmen wollen, fordern daher die gezielte Herstellung von Embryonen für das Labor. Auch könnte durch Klonen die Zahl der für Experimente noch zur Verfügung stehenden Embryonen erheblich oder gar beliebig vermehrt werden. Das Klonen würde auch die Kontrollforschung an genetisch gleichen Individuen erlauben. Die genannten Möglichkeiten werden jedoch durch die Richtlinien der Bundesärztekammer ausgeschlossen. 4. Eckpunkte bei der Forschung an menschlichen Embryonen Die neuen potentiellen Maßnahmen der Manipulation haben auch die ethische Wissenschaft vor neue Fragen und Aufgaben gestellt. Sie muß zunehmend die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften auch auf dem Sektor des Manipulierens in ihre Überlegungen einbeziehen und sogenannte Eckpunkte oder Richtungskriterien formulieren. Dies ist um so dringlicher, als der Umgang mit menschlichen Embryonen nicht allein in das Belieben des Forschers gestellt werden und dieser sich hier nicht uneingeschränkt auf die ihm nach Artikel 5 Abs. 3 des Grundgesetzes gewährte Forschungsfreiheit berufen kann. Wenn solche ethischen Kriterien aus einem verständnisvollen Dialog mit den Naturwissenschaften erwachsen, hat der Forscher keinen Anlaß, in ihnen „grundsätzliche Technologiefeindlichkeit" zu vermuten. Freilich soll dabei nicht verkannt werden, daß bei diesem Dialog der Ethiker seinen Platz auf der Seite des Humanums hat und jederzeit und in jeder Situation für das Recht und Wohl des Embryos eintreten muß
Im folgenden mache ich den Versuch, aus der Vielfalt der Standpunkte und Auffassungen zur Embryonenforschung jene herauszustellen, die mir aus ethischer Sicht wesentlich erscheinen Ein weltanschauliches Vorverständnis läßt sich dabei nicht ausschließen, selbst bei jenen nicht, die meinen, dagegen gefeit zu sein. Die Eckpunkte bzw. Richtungskriterien stützen sich jedoch sowohl auf mancherlei Vorarbeiten als auch auf Erfahrungen aus verschiedenen interdisziplinär zusammengesetzten Gremien, wie etwa aus der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Chancen und Risiken der Gentechnologie“.
— Zum Zeitpunkt der Befruchtung einer weiblichen Eizelle durch eine männliche Samenzelle liegt artspezifisches menschliches Leben vor. Ihm kommt ab diesem Zeitpunkt — und zwar gleich, ob innerhalb oder außerhalb des Mutterleibes — ein moralischer Status zu. Menschenähnlichkeit und Personenqualitäten sind keine Bedingungen für den moralischen Status menschlichen Lebens.
— Die Anerkennung eines moralischen Status verlangt nicht, daß wir uns jeden Eingriff am Embryo versagen müssen; sie verlangt jedoch unbedingt, daß unsere Eingriffe durch gute Gründe gerechtfertigt sind. Experimente sind auf bestimmte inhaltliehe Ziele zu beschränken und dürfen nur dann durchgeführt werden, wenn die Forschung einen klaren und unmittelbaren medizinischen Bezug hat (Heilversuch).
— Grundlagenforschung mit menschlichen Embryonen ist auszuschließen. Die Tatsache, daß wichtige Forschungsergebnisse mit anderen Mitteln nicht erzielt werden können, ist keine Rechtfertigung für experimentelle Eingriffe. Die Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft sollten niemals Vorrang vor den das Wohlbefinden der Versuchsperson betreffenden Erwägungen haben. — Die Regeln der Deklaration von Helsinki/Tokyo (1975) über biomedizinische Forschung, vor allem die Grundsätze einer erst nach vollständiger Information abgebbaren Zustimmung und des Abbruchs des Versuchs für den Fall, daß er der Versuchsperson schadet, sind auch in der Embryonenforschung zu beachten. Da bei Experimenten an Embryonen eine Einwilligung des betroffenen Individuums nicht in Betracht kommt, sollten solche Experimente nur mit dem Ziel der Verbesserung der Chance des Embryos zur vollständigen menschlichen Entwicklung bzw.der Erhaltung seines Lebens durchgeführt werden.
— Embryonen dürfen weder für Laborzwecke erzeugt, noch im Rahmen von Experimenten vorzeitig abgetötet werden. Der Mensch würde nämlich damit zu einer jederzeit verfügbaren Sache degradiert. Auch der angeführte Tatbestand, daß die bei der IVF aus unvorhersehbaren Gründen übriggebliebenen Embryonen ohnehin dem Tod geweiht seien, ist kein hinreichender Grund dafür, daß mit ihnen experimentiert werden darf. Würde man solchen Bestrebungen stattgeben, so könnten auch gegen Experimente mit Sterbenden keine Bedenken mehr erhoben werden.
Die in unserer Gesellschaft nicht zu übersehende Tendenz zur Manipulierbarkeit des Menschlichen stellt eine ernst zu nehmende Gefahr dar. Ein mangelndes Verständnis für den Schutz ungeborenen und insbesondere künstlich gezeugten Lebens ist u. a. damit zu erklären, daß man das, was man geschaffen hat. auch nach Belieben’glaubt zerstören zu dürfen: der Mensch als Schöpfer, Herr und Richter — dies ist langfristig vielleicht die gefährlichste Einstellung, die sich aus ungebremster Biotechnologie ergeben kann und der mit wachem Problembewußtsein zu begegnen ist