I. Die besondere Situation der DDR
In den Diskussionen über Erscheinungsformen und Ursachen der Revolution der DDR im Herbst 1989 taucht häufig der mit offener oder verdeckter Kritik eingefärbte Hinweis auf, die Intellektuellen hätten sich nicht rechtzeitig zu Worte gemeldet und so keine herausragende politische Rolle beim politischen Umsturz gespielt. Am schärfsten hat Joachim Fest diese Kritik in seinen „Überlegungen zu einer Revolution ohne Vorbild“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Dezember 1989 formuliert Er behauptet, „daß es sich erstmals um eine Revolution ohne Vordenker, überhaupt ohne intellektuelle Beteiligung“ handelt. Er konstatiert einen tiefen Bruch, weil bisher alle Revolutionen gedankliche Vorläufer gehabt hätten, die Alternativen erdacht, begründet oder organisiert hätten. Der vergleichende Blick auf Polen, die Tschechoslowakei und Rumänien dient als Beleg für diese These. Auch die heftig und emotional geführte Debatte um Christa Wolf hat mehr oder minder den gleichen Vorwurf zum Hintergrund
In der Tat hat es in der DDR vergleichbar profilierte oppositionelle Köpfe und intellektuelle Bewegungen wie die um Adam Michnik u. a. in Polen oder die Bürgerrechtler der „Charta 77“ um Väclav Havel in der Tschechoslowakei nicht gegeben. Dennoch läßt sich Fests These — und sie steht nur exemplarisch für eine verbreitete Intellektuellen-schelte — nachdrücklich in Frage stellen. Dies kann in zweifacher Hinsicht geschehen. Zum einen ist sozialgeschichtlich die Intelligenz der slawischen Nachbarländer nicht ohne weiteres vergleichbar mit den Intellektuellen als sozialer Gruppierung in der DDR. Zum anderen hat politisch die Teilung und Zweistaatlichkeit Deutschlands nach 1945 Chancen und Grenzen jeder Opposition in der DDR maßgeblich geprägt.
Ein Blick in die Geschichte intellektueller Opposition und Dissidenz seit den Anfängen der DDR kann dieses spezifische Profil deutlich machen und zeigen, daß es inhaltlich durchaus Kontinuitätsstränge bis 1989 gibt. Aus beiden Gründen — aus einer anders gelagerten nationalen Tradition und aus den besonderen politischen Bedingungen der deutschen Nachkriegszeit — ist daher der zum Maßstab der Kritik herangezogene Vergleich schief und trifft die These nicht die besondere Situation der DDR. Damit soll die Kritik an „den Intellektuellen“ nicht durch ihre Apologie ersetzt werden, an die Stelle politischer Polemik aber historische Differenzierung treten.
Die erste Linie kann hier nicht genauer erörtert werden, weil sie vor allem auf Besonderheiten der polnischen und tschechischen Geschichte, nicht zuletzt auf die Erfahrungen aus der Besatzungszeit, verweist. Die zweite soll im Längsschnitt von rund 40 Jahren DDR-Geschichte detaillierter verfolgt werden. Ziel ist es nicht, eine Erklärung des revolutionären Umbruchs in der DDR zu liefern, sondern lediglich, aus einer aktuellen Gegenwartsperspektive die politische Rolle oppositioneller Gruppierungen zu analysieren und damit ein Traditionselement zu verfolgen, das auch in die jüngste Vergangenheit führt. Der historische Rückblick vermag auch dazu beizutragen, die Spezifika der Situation der achtziger Jahre deutlicher zu machen. Die Grundzüge dieser Geschichte sind in der Bundesrepublik bekannt. Eine unzensierte öffentliche Diskussion in der DDR hat jedoch in den letzten Monaten bereits viel neues Material zutage gefördert. Die Öffnung der Archive wird in Zukunft zusätzliche Quellen verfügbar machen, so daß nicht nur die Geschichte der SED-Herrschaft, sondern auch die ihrer Gegner präziser darzustellen sein wird.
Unter politischer Opposition verstehe ich hier im Anschluß an Günter Minnerup eine zumindest ansatzweise organisierte Form der Abweichung von der herrschenden politischen Linie mit erkennba-ren ideologischen und politischen Alternativkonzepten. Dissidenz dagegen ist ein eher diffuses und schwer faßbares Phänomen. Der Vergleich mit dem großen Forschungsprojekt „Bayern in der NS-Zeit“, in dem der von Martin Broszat erläuterte Begriff der „Resistenz“ eine zentrale Rolle spielt, macht dieses Problem deutlich Dissidenz ist bewußte, wenn auch partielle Verweigerung und Abweichung. Sie ist daher etwas anderes als Resistenz gegenüber der Durchsetzung eines umfassenden politischen und ideologischen Herrschaftsanspruchs, die es als Flucht in die gesellschaftlichen Nischen im Nationalsozialismus ebenso wie in der 40jährigen DDR-Geschichte überall gab. Gerade diese Flucht in die Nischen wirkte jedoch auch herrschaftsstabilisierend. Den Kem von Dissidenz in ihrer konsequentesten Form hat dagegen Väclav Havel als Zielsetzung der Gruppe „Charta 77“, die aus unbekannten jungen Musikern hervorging, treffend beschrieben: „Leben in Wahrheit“ als moralischer Akt
Entsprechend diesem Begriffsverständnis gab es nach 1956/57 bis in die späten achtziger Jahre hinein kaum noch Opposition in der DDR, sondern nur Dissidenz einzelner oder mehr oder minder kleiner Gruppen. Drei Gründe sind dafür vor allem maßgeblich
1. Reformkommunistische Ansätze scheiterten zwar in erster Linie an politischen Konstellationen, die außerhalb der DDR lagen, aber auch an der fehlenden nationalen Identität der DDR. 2. Der Reformdruck ökonomischer Krisen blieb der DDR im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten relativ gering dank der durch den deutsch-deutschen Handel sich ergebenden Privilegierung der DDR. 3. Die Konsolidierung eines Dissidentenmilieus und seine Ausweitung zur politischen Opposition wurde bis zum Mauerbau 1961 durch die Fluchtmöglichkeit, seit den siebziger Jahren durch die Abschiebung unliebsamer Kritiker in die Bundesrepublik immer wieder verhindert oder erschwert.
Alle drei Gründe, deren Gewicht nach Zeitpunkt und politischer Konstellation sehr unterschiedlich war, beziehen sich auf das Problem des „Sozialismus in einem halben Lande“ und somit auf konkrete Teilaspekte der „Deutschen Frage“. Es gab in allen Phasen der DDR-Geschichte Oppositionsoder Dissidenzbewegungen. Sie hatten alle direkt oder indirekt mit der Spaltung Deutschlands zu tun, aber auch ihre Erfolglosigkeit stand in unterschiedlichen Formen mit der Teilung, der fehlenden nationalen Identität und der unmittelbaren Nähe der Bundesrepublik im Zusammenhang.
II. Außen-und innerparteiliche Opposition bis zum 17. Juni 1953
Die ersten Nachkriegsjahre waren von vielfältigen Konflikten um die vor allem von der SED verfolgte politische Linie geprägt. Zu nennen wären u. a.: Opposition der CDU gegen die Bodenreform (Andreas Hermes und Walther Schreiber wurden von der SMAD abgesetzt); Widerstände gegen die Fusion von KPD und SPD; Ablehnung der entschädigungslosen Enteignung der großen Industriebetriebe Gegen diese breite, wenn auch diffuse Opposition gingen SMAD und KPD/SED mit verschiedenen Mitteln vor, die von Privilegierung über Drohungen bis zu Verhaftungen und Internierungen reichten. Die vor allem von den CDU-Vorsitzenden Jakob Kaiser und Ernst Lemmer getragene Opposition gegen die Volkskongreßbewegung 1947 wurde von der SED agitatorisch massiv bekämpft und von der SMAD schließlich durch Absetzung der beiden Parteiführer ausgeschaltet Heftig und anfangs erfolgreich war auch der Widerstand der 1945 im Umbruch entstandenen Betriebsräte gegen die von der SED gewünschte Unterordnung unter die zentralistisch organisierten und von der Partei abhängigen Gewerkschaften. Erst 1948 gelang mit Nachhilfe der SMAD die Auflösung der Betriebsräte und ihre Überführung in die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) Aber auch in diesen gewerkschafts-und parteiabhängigen Institutionen hielt sich noch ein beträchtliches Oppositionspotential, das sich unter anderem am 17. Juni 1953 spontan entlud.
Die SED war anfangs keine stalinistische Partei, sondern hatte ein reformkommunistisches Pro-gramm. Solche reformkommunistischen Ansätze aus der Frühphase der SBZ konnten zunächst durchaus auf eine relativ breite, wenn auch bislang nicht genau quantifizierbare Resonanz rechnen. Ihre Träger waren in der Regel Intellektuelle, zum Teil Leute aus der Spitze des Parteiapparats. Vor allem Anton Ackermann und Rudolf Hermstadt sind hier zu nennen. Anton Ackermann, seit 1926 Mitglied der KPD, Teilnehmer am spanischen Bürgerkrieg, Emigrant und Chef des Senders „Freies Deutschland“ in Moskau, im Frühjahr 1945 Leiter einer der drei Initiativgruppen, dann bis 1953 in führenden Funktionen der SED, entwickelte im Vorfeld der SED-Gründung das programmatische Konzept eines „eigenen deutschen Weges zum Sozialismus“ Dieses entsprach einer internationalen kommunistischen Strategie und fand Parallelen sowohl in Ost-wie in Westeuropa. Daß dieses Konzept 1948 im Zuge der Eskalation des Kalten Krieges überall scheiterte und dem stalinistisch-uniformen Modell mit der SED als leninistischer Kader-partei an der Spitze weichen mußte, ist noch kein schlüssiger Beweis für die lediglich taktische Motivation des „eigenen Weges“. Unstrittig hat dieses Programm nicht nur auf unorthodoxe Kommunisten und vereinigungswillige Sozialdemokraten einen beträchtlichen Einfluß ausgeübt, wie aus vielen zeitgenössischen Zeugnissen (z. B. Wolfgang Leonhard) belegbar ist es blieb auch trotz oder gerade wegen der offiziellen Verdammung ein ideologischer Stachel im Fleisch der SED. Die programmatische Argumentationsfigur vom „eigenen Weg“ und die verwandte Vorstellung vom „dritten Weg“ haben bis 1989 die Diskussionen und die Arbeit politischer Oppositionsgruppen immer wieder bestimmt. Die Nähe der Bundesrepublik mag der Grund dafür gewesen sein, daß DDR-Intellektuelle noch von diesem „dritten Weg“ träumten, als er in Polen schon längst nicht mehr aktuell war
In der ersten Entstalinisierungskrise im Umfeld des 17. Juni 1953 entwickelten solche Vorstellungen besondere politische Brisanz. Die von der Sowjetunion zeitweise gestützte parteiinterne Opposition gegen Ulbricht orientierte sich an gesamtdeutsch ausgerichteten Alternativen zum Stalinismus Ulbrichtscher Prägung, und Anton Ackermann gehörte trotz seines Widerrufs von 1948 im ZK zu ihren Anhängern. Daß 1953 — anders als in späteren Konstellationen — eine schwere ökonomische Krise zu den wichtigsten Voraussetzungen innerund außerparteilicher Opposition und Dissidenz zu rechnen ist, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Einer der profiliertesten Wortführer der Opposition in der Parteispitze war Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ und Prototyp des kommunistischen Intellektuellen Herrnstadt war ab 1928 Korrespondent für das „Berliner Tageblatt“ gewesen, dessen Chefredakteur „sein Lehrer und väterlicher Freund“ Theodor Wolff war. 1929 trat Herrnstadt der KPD bei und wurde später Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Roten Armee. Chefredakteur der Wochenzeitung „Freies Deutschland“ des gleichnamigen Nationalkomitees, Redakteur der sowjetischen „Täglichen Rundschau“ und der „Berliner Zeitung“ 1945 waren weitere Stationen, bevor er 1949 die Leitung des „Neuen Deutschland“ übernahm. In dieser Funktion setzte er sich 1949 in einer scharfen Polemik mit Ackermann auseinander, der inzwischen einen gründlichen Positionswechsel hatte vornehmen müssen. So kam es zu einer kurios anmutenden Vertauschung der Fronten. Herrnstadt warf Ackermann eine „Bagatellisierung der konkreten nationalen Besonderheiten“ in Deutschland vor, Ackermann bescheinigte Herrnstadt dagegen ein „Abgleiten vom Internationalismus in den bürgerlichen Nationalismus“
Verschiedene publizistische Aktivitäten der folgenden Jahre lassen erkennen, daß für Herrnstadt die nationale Einheit und die Veränderung des politischen Systems in der DDR gleicherweise hohe Bedeutung besaßen. Besonders scharfe Töne fanden sich in seinem Leitartikel unter der Überschrift „Heraus mit der Sprache“ im „Neuen Deutschland“ vom 11. Februar 1952, d. h. einen Monat vor Stalins berühmter Deutschlandnote und möglicherweise auch im Zusammenhang mit dieser außenpolitischen Initiative. Herrnstadt griff das Thema der „innerparteilichen Demokratie“ als brennendes Problem auf, kritisierte die „Nichtachtung der Initiative der Massen bei uns“ und unterzog die Parteibürokratie einer schneidenden Kritik: „Wir sind schuld, die Parteiorganisation von unten bis oben. Und je weiter nach oben, desto mehr.“
Im Vorfeld des 17. Juni 1953 gehörte Herrnstadt sowohl parteiintern wie publizistisch zu den Schlüs-selfiguren der ersten großen Krise der DDR. Nach den Erinnerungen von Heinz Brandt, dem Sekretär für Agitation und Propaganda der Bezirksleitung Berlin der SED, wurde Hermstadt von den Sowjets beauftragt, personelle Vorschläge für eine neue Parteispitze zu unterbreiten Auch der für die Vorgeschichte des Aufstandes wichtige Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 14. Juni: „Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen“, geht vermutlich auf ihn zurück Die inhaltliche Linie der vor allem nach innen gerichteten Kritik blieb auch nach dem gescheiterten Aufstand und der Propagierung des „Neuen Kurses“ die gleiche.
Seine Hoffnungen auf eine „Erneuerung“ erwiesen sich jedoch als ein großer Irrtum. Ende Juli 1953 schloß das ZK Herrnstadt zusammen mit Wilhelm Zaisser, dem Chef des Staatssicherheitsdienstes und ebenfalls Wortführer der Opposition in der Parteispitze, aus Herrnstadt schob man nach seinem Parteiausschluß ins Zentralarchiv nach Merseburg ab. Er schrieb in dieser Zeit Bücher über Themen des 19. Jahrhunderts und unter einem Pseudonym eine brillante Satire mit dem Titel „Die Beine der Hohenzollern“ Der Intellektuelle Herrnstadt hatte seinen beißenden Sarkasmus im Exil der Archivverwaltung offensichtlich noch nicht verloren: Das Buch beschäftigte sich mit vier tatsächlich geschriebenen Primaneraufsätzen von 1901 über das Thema „Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee“. Sie waren ins Archiv gelangt, weil Kaiser Wilhelm sie zensiert und mit seinen berühmten Randbemerkungen versehen hatte. Das Grundmuster dieser Persiflage auf den Hohenzollernstaat, aus der Beinstellung auf den Charakter der Herrscherfiguren zu schließen, ließ sich zumindest zwischen den Zeilen auch als verkappte Satire auf den ideologischen Byzantinismus im Ulbricht-Regime lesen, dessen politische Grundlagen Herrnstadt jedoch niemals prinzipiell in Frage gestellt hatte. Über die Opposition in der Machtelite hinaus gehört zum Gesamtbild des Aufstandes vom 17. Juni auch eine offenbar stark im alten sozialdemokratischen Milieu verwurzelte Opposition und Dissidenz unter den Industriearbeitern. Dieser für die politische Geschichte der DDR besonders wichtige und die hysterische Reaktion der SED-Spitze zum Teil erklärende Aspekt ist in der historischen Forschung der Bundesrepublik erst erstaunlich spät entdeckt worden Die historiographische Kanonisierung als „Volksaufstand“ hat offenbar lange Zeit verdeckt, daß große Teile der Arbeiterschaft den von der SED vorgezeichneten sowjetsozialistischen Weg ablehnten, ohne damit einfach den westlichen Weg übernehmen zu wollen. Sie brachten diese Ablehnung während des Aufstandes, aber auch noch Tage danach in Formen zum Ausdruck, die sich auf tradierte Muster der deutschen Arbeiterbewegung aus den ersten Nachkriegsjahren, aber auch noch aus der Zeit vor 1933 bezogen. In der Organisation des innerbetrieblichen Protests, in der Solidarität der Belegschaften bei der Abwehr der Verhaftung von sogenannten „Rädelsführern“ und in den Parolen und Liedern, die den Aufstand bestimmten, kam viel von jenem „Sozialdemokratismus“ zum Ausdruck, gegen den sich in den folgenden Monaten und Jahren die ideologischen Kampagnen und Repressionen der SED besonders richteten
Zu den wichtigsten institutionellen Trägern ideologischer Dissidenz mit Ansätzen zur politischen Opposition gehörte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre besonders die evangelische Kirche. Hier gibt es zumindest eine institutioneile Kontinuität bis 1989, als die zentrale Rolle der Kirche im Vorfeld der Revolution offenkundig wurde. 1950 gab es noch ca. 14 Millionen getaufte DDR-Bürger Die Landeskirchen der DDR hatten starke institutionelle Bindungen an die Bundesrepublik, insbesondere über die gemeinsame EKD. Prominente Kirchenführer stammten aus der „Bekennenden Kirche“, so Otto Dibelius als Ratsvorsitzender der EKD und Bischof von Berlin-Brandenburg. Sie besaßen damit nicht nur eine besondere Legitimation, sondern auch konkrete Erfahrungen im Umgang mit den Mächtigen. Nach einem anfänglich erträglichen Modus vivendi führte die Stalinisierung der DDR zur Konfrontation: Marxismus-Leninismus in den Lehrplänen, Abschaffung des Religionsunterrichts in den Schulen, Diskriminierung kirchlicher Jugendarbeit, insbesondere Verfolgung der „Jungen Gemeinden“ und Studentengemeinden an den Universitäten, intensive atheistische Propaganda im öffentlichen Leben — dies alles konnten die Pfarrer und die Kirche als Institution nicht schwei-gend hinnehmen, ohne ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Parallelen zur Zeit des „Kirchenkampfes“ drängten sich auf. Proteste, hartnäckige Verweigerung und zahlreiche Interventionen aus der Bundesrepublik und dem Ausland blieben schließlich nicht ohne Wirkung. Die Diskriminierungen und Schikanen wurden mit dem „Neuen Kurs“ zunächst eingestellt Später brachen im Zusammenhang der 1954 eingeführten Jugend-weihe jedoch neue heftige Konflikte auf. Anders als in den achtziger Jahren war die Haltung der Kirche in den frühen fünfziger Jahren mehrheitlich von einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates geprägt, der einen dezidierten Atheismus propagierte und praktizierte. Die Grenzen zwischen weltanschaulicher Dissidenz und politischer Opposition qua Institution Kirche waren daher fließend.
Nur äußerlich ist in diesem kirchlichen Milieu die CDU als wichtigste Blockpartei einzuordnen.
Gleichwohl bleibt interessant, daß es bis 1952 innerhalb der CDU noch deutlich identifizierbare unterschiedliche Flügel und Zielsetzungen gab. So versuchte Otto Nuschke, der Nachfolger Jakob Kaisers im Parteivorsitz, zunächst noch ein Höchstmaß an Eigenständigkeit gegenüber der SED zu wahren. Er erneuerte Kaisers Bekenntnis zum „christlichen Sozialismus“ und votierte gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Er strebte ebenso wie der sächsische Landesvorsitzende Hugo Hickmann eine Wiedervereinigung Deutschlands durch freie Wahlen an. Demgegenüber erwies sich der spätere langjährige CDU-Vorsitzende Gerald Götting ab 1949 als willfähriger Vertreter der Interessen der sowjetischen Besatzungsmacht in seiner Partei. Aber erst 1952 war der Gleichschaltungsprozeß abgeschlossen, und die Partei begann, ihren Part als monotone „Blockflöte“ zu spielen
III. Die Wirkungen der Entstalinisierungskrise von 1956
Auf die erste, eher DDR-spezifische und ohne Parallelen in Osteuropa verlaufende punktuelle Entstalinisierung 1953 folgte 1956 die weltweite Erschütterung des stalinistischen Systems nach dem 20. Parteitag der KPdSU. Sie verlief in der DDR — anders als in Polen und Ungarn — bemerkenswert undramatisch. Im Unterschied zu 1953 blieb die Arbeiterschaft weitgehend ruhig, steckte ihr doch der Schock des gescheiterten Aufstandes noch unmittelbar in den Knochen. Überdies versuchte die Ulbricht-Gruppe mit einer Mischung aus verbaler Distanzierung von Stalin und Demonstration der Stärke (besonders durch den Aufmarsch von Betriebskampfgruppen) eine Destabilisierung der eigenen Herrschaft bereits im Ansatz zu verhindern.
Martin Jänickes Untersuchung hat detailliert zu belegen versucht, wie tief die Entstalinisierungskrise die DDR-Gesellschaft dennoch betraf Intellektuelle in nahezu allen Zweigen von Kultur und Wissenschaft waren vom Bazillus der ideologischen Dissidenz so infiziert, daß sich die Partei in den folgenden Jahren vorrangig bemüßigt fühlte, ihre Immunisierungsstrategie in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen. Die besondere Brisanz bestand auch noch 1956/57 darin, daß eine breite Dissidenz unter den Intellektuellen sich mit einem bis heute nicht genau zu qualifizierenden parteiinternen Konflikt verband, deren Spitzenrepräsentanten der Staatssicherheitschef Ernst Wollweber und der für Kaderpolitik zuständige Politbüro-Funktionär Karl Schirdewan waren, zu denen aber auch die Wirtschaftsfunktionäre Gerhart Ziller (er beging 1957 Selbstmord) und Fritz Selbmann gehörten. Schirdewan verlor nach seiner Entmachtung 1958 seinen Posten in ZK und Politbüro, erhielt eine „strenge Rüge“, wurde jedoch nicht aus der Partei ausgeschlossen. Er übte 1959 Selbstkritik und war bis 1965 Leiter der staatlichen Archivverwaltung in Potsdam.
Schirdewans inhaltliche Vorstellungen sind bislang nur in Umrissen bekannt geworden. Aus den Hinweisen von Heinz Brandt geht hervor, daß Chruschtschow in der Entstalinisierungskrise 1956 in Schirdewan den „deutschen Gomulka“ gesehen und eine Ablösung Ulbrichts erwogen haben soll Wenn es solche Überlegungen gab, so wurden sie nach dem Ungarn-Aufstand hinfällig. Es wiederholte sich somit eine prinzipiell ähnliche Konstellation wie die vom Juni 1953. Schirdewans Kritik richtete sich jedoch vor allem gegen den Stil des „politischen Feldwebels“, wie Ulbricht einmal von Georgi Dimitroff genannt worden war. Eine fraktionelle Plattform, wie man ihm später vorwarf, hat er offenbar nicht ausgearbeitet. „Ich kritisierte Ulbricht zwar“, stellte er im Februar 1990 in einem Interview fest, „wollte ihn aber nicht stürzen. Ich wollte eine Demokratisierung, die Aufhebung der Alleinherrschaft eines Mannes im Politbüro.“
Damit ging er weniger weit als Hermstadt 1953, und der Begriff „Demokratisierung“ entsprang eher der Situation von 1990 als der von 1957. Trotzdem traf ihn, der 1954 auf dem IV. Parteitag der SED noch triumphierend den Sieg über „die parteifeindliche Fraktion“ verkündet hatte, das gleiche Los wie Herrnstadt, dessen Vorgesetzter er nun als Chef der staatlichen Archive wurde
Wenig ist bislang auch über Wollwebers Rolle bekannt. Die im Sommer 1990 veröffentlichten Erinnerungen an Ulbricht (1964 verfaßt), sind nur begrenzt ergiebig In jedem Falle spielten, wie diese Erinnerungen deutlich machen, zwei wichtige Elemente für die Gegner Ulbrichts in der Partei-spitze eine Rolle: die Einschränkung der „Republikflucht“ durch politische Maßnahmen und die Frage nach den Ursachen für den ständig schwindenden kommunistischen Einfluß in der Bundesrepublik. „Ich war der Meinung“, schreibt Wollweber, „daß wir nicht dazu kommen, konkret die Frage der Wiedervereinigung zu stellen, wenn es uns nicht gelingt, den Einfluß der Kommunisten in Westdeutschland zu stärken. Das bedeutete praktisch, die sozialdemokratischen Betriebs-und Gewerkschaftsfunktionäre für eine Linie zu gewinnen, die von uns entwickelt werden mußte. Um diese Frage handelte es sich.“ Immerhin dauerte es bis 1958, bis Ulbricht die endgültige Ausschaltung seiner Gegner gelungen war.
Die ideologische Dissidenz in der künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Intelligenz der DDR entwickelte in den Jahren 1956/57 ihre größte Bandbreite. Neben den bekannten Namen wäre auch auf die an verschiedenen Universitäten entstandenen studentischen Diskussionszirkel nach ungarischem Vorbild zu verweisen, so in Halle, Jena, Dresden. Soweit sie bekannt wurden, wurden sie alle zerschlagen und ihre Mitglieder zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt
Ob sich unter der Intelligenz auch eine organisierte Opposition entwickelt hat, wie die Parteiführung später behauptete, ist sehr fraglich. In Gustav Justs Tagebuch (1990 erschienen) heißt es am 13. Februar 1957: „Die Wendung bereitet sich vor. Die Opposition in der Partei hat keine Form, keine Führung, kein Programm, aber sie ist da und wächst.“ Mit Sicherheit stellte sich aus der Perspektive Ulbrichts die Situation viel dramatischer dar, als sie wirklich war. Drei Namen sind hier vor allem zu nennen, die dieser Dissidenz den Anstrich spektakulärer politischer Opposition gaben: Wolfgang Harich, Chefredakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, Walter Janka, Leiter des Aufbau-Verlages, und Gustav Just, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Sonntag“. Alle sind 1990 zusammen mit anderen Dissidenten wie Manfred Hertwig, Richard Wolf und Heinz Zöger rehabilitiert worden. In ihren Umkreis gehört auch Bernhard Steinberger, ein jüdischer Emigrant, der mehrere Jahre in einem Arbeitslager in der Schweiz interniert war, 1945 nach Deutschland zurückkehrte, der KPD beitrat und im Mai 1959 zusammen mit seiner ungarischen Frau verhaftet wurde. Er verbrachte sechs Jahre in einem sowjetischen Straflager, kehrte im März 1956 zurück. Nachdem ihn Wolfgang Harich gebeten hatte, Vorstellungen zu einer alternativen Wirtschaftspolitik für die DDR zusammenzustellen, wurde er zusammen mit Harich verhaftet und saß bis 1960 im Gefängnis. „Seine Biographie ist mindestens so eindrucksvoll wie jene von Walter Janka“, hat der ehemalige DDR-Schriftsteller Rolf Schneider festgestellt, „doch kaum jemand kennt sie. Die Zeitgeschichte ist launisch.“
Harichs programmatische „Plattform“ vom Herbst 1956 hat außerhalb der DDR den größten Bekanntheitsgrad erreicht, während Janka und Just erst durch ihre offizielle Rehabilitierung wieder ins öffentliche Bewußtsein gerückt sind. Jankas 1989 veröffentlichter Bericht „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ und Justs Buch „Zeuge in eigener Sache“ sind beklemmende Reportagen über die Praktiken eines stalinistischen Polizeistaates und geben aufschlußreiche Hinweise zum Umfeld des Prozesses gegen Harich Auch der schon 1974 in der Bundesrepublik erschienene autobiographische Bericht „Der Widerspruch“ von Gerhard Zwerenz einem Schüler Ernst Blochs, dem noch rechtzeitig die Flucht in die Bundesrepublik gelang, gibt einen plastischen Eindruck in das Dissidentenmilieu in Leipzig nach dem 20. Parteitag. In Harichs Konzept verbanden sich — z. T. konfuse — reform-kommunistische Vorstellungen, die noch weit über das polnische Vorbild hinausgingen, mit gesamtdeutschen Überlegungen, die den politischen Führungsanspruch der SED ins Mark treffen mußten und die Existenz der DDR mehr oder minder deutlich in Frage stellten. Zur historischen Wahrheit gehört aber offensichtlich auch ein sehr zwielichtiges Verhalten Harichs, durch das Walter Janka im Prozeß schwer belastet wurde
Der Name Harich repräsentierte jedenfalls 1956/57 die Spitze eines Eisbergs ideologischer Dissidenz mit dilettantischen Ansätzen zur politischen Organisation. Der gemeinsame Nenner der heterogenen Dissidentengruppen ohne Verbindungen zum proletarischen Milieu war die Ablehnung des stalinistischen Systems und der auf konsequente Abgrenzung orientierten Deutschlandpolitik der SED-Spitze. Antistalinismus und Rekurs auf die „Deutsche Frage“ ergaben damit eine brisante Mischung, auf die die Ulbricht-Gruppe mit drakonischen Sanktionen reagierte. So wurde neben den genannten Personen auch an dem Leipziger Schriftsteller Erich Loest in diesem Zusammenhang ein Exempel statuiert Er wanderte wegen des völlig haltlosen Vorwurfs „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ für sieben Jahre ins Zuchthaus.
Die schnelle und harte Bestrafung Harichs und anderer hat ihre abschreckende und demoralisierende Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Seit der Ausschaltung der angeblichen „Fraktion“ in der Parteispitze gelang Ulbricht die volle Wiederherstellung der Kontrolle. Die Kulturpolitik wurde in Bitterfeld 1959 an neuen Zielen ausgerichtet. Mit den Parolen „Greif zur Feder, Kumpel“ und „Stürmt die Höhen der Kultur“ sollten einerseits proletarische Eigeninitiativen gefördert und andererseits die Orientierung am „klassischen Erbe“ gestärkt werden. Ulbrichts persönliche Stellung war gefestigter denn je, und der 22. Parteitag der KPdSU mit der zweiten Entstalinisierung entwickelte 1961 in der DDR nur noch geringe substantielle Wirkung. In diese Phase fällt auch eine für die weitere Entwicklung des Systems wichtige Entscheidung: der Beschluß des Politbüros von 1960, der den Staatsapparat ausdrücklich zur unmittelbaren Ausführung aller Parteibeschlüsse verpflichtete, und die erhebliche Ausweitung des Parteiapparats
IV. Das Scherbengericht über Schriftsteller und Künstler
In anderer Form, aber von der „strategischen Clique“ (Ludz) als kaum weniger gefährlich eingestuft, tauchte der Konflikt mit den Intellektuellen knapp zehn Jahre nach dem 20. Parteitag unter den veränderten Bedingungen einer durch den Mauerbau gewaltsam stabilisierten DDR erneut auf. Der Mauerbau ist auch für die Oppositionsgeschichte ein wichtiges Datum. Die offene Grenze zwang die Parteiführung einerseits zu gewisser Rücksicht aus Eigeninteresse. Die relative Privilegierung der Fach-intelligenz war ein Indiz dafür. Andererseits konnte Oppositionspotential durch die offene Grenze abgebaut werden, weil Flucht eine Möglichkeit der Konfliktlösung bot. Insofern ist von der Fluchtbewegung trotz aller wirtschaftlichen Destabilisierung auch eine „latente Stabilisierungswirkung“ ausgegangen, wie Ralf Dahrendorf schon 1960 feststellte Nach 1961 war dies anders. Beide Seiten waren gehalten, neue Formen des Arrangements zu suchen. Dies ist der Hintergrund für die Formveränderung oppositioneller und reformerischer Tendenzen in den sechziger Jahren.
Zwar demonstrierte die Partei-und Staatsführung noch unmittelbar nach dem Mauerbau ihre Macht, danach jedoch bemühte sie sich verstärkt um Zustimmung und Loyalität in der Gesellschaft. Partiell avancierten jetzt sogar „revisionistische“ Konzepte von 1956/57 zur offiziellen Linie der Wirtschaftspolitik. Das Gefühl des „dauernden Ausnahmezustandes“ (Staritz) nahm sowohl in der Machtelite wie in der Gesellschaft ab. Statt dessen gab es mehr Anpassungsbereitschaft und Aufstiegsorientierung innerhalb der besonders im Bildungswesen gebotenen Möglichkeiten, aber auch die Forderung nach mehr Spielraum und Erweiterung von individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Symptomatisch dafür war der massive Konflikt der Partei mit ihren Schriftstellern und Künstlern Mitte der sechziger Jahre Auch dieser Konflikt erreichte schnell eine politische Dimension, weil Lite-ratur und Kunst in der DDR stets eine besondere Qualität hatten und insofern als „politische Institution“ fungierten Insbesondere die Literatur war in der DDR in einen umfassenden Kontroll-und Lenkungsapparat eingespannt, da die SED ihr stets wesentliche politische Aufgaben zugedacht hatte. Andererseits entwickelte sich Literatur mangels anderer Artikulationsmöglichkeiten zugleich auch immer wieder zum Medium kritischer und abweichender Tendenzen. Dieses Muster blieb prinzipiell in allen Phasen der DDR-Geschichte bis 1989 gleich, aber im „Kulturkampf“ Mitte der sechziger Jahre trat es besonders deutlich hervor. Vor allem kamen hier die spezifischen Bedrohungsängste der SED gegenüber der Bundesrepublik wieder krass zum Vorschein.
Das 11. ZK-Plenum vom Dezember 1965 inszenierte ein großes Scherbengericht über die unliebsamen Schriftsteller und Künstler der DDR. Zuvor hatte es bereits eine Kampagne gegen „bürgerliche Relikte“ gegeben, deren Opfer Peter Hüchel als Herausgeber von „Sinn und Form“ war. Er verabschiedete sich 1962 mit der letzten von ihm selbst redigierten Nummer, die unter anderem Brechts „Rede über die Widerstandskraft der Vernunft“ enthielt. Im Zentrum des Konflikts von 1965 stand aber nicht der bürgerliche Hüchel, sondern der unorthodoxe Kommunist Wolf Biermann. Seine Lieder bedeuteten in den Augen der Parteiführung Verrat an sozialistischen Grundpositionen, weil sie „Unmoral und Skeptizismus“ verbreiteten. Erich Honecker als Berichterstatter des ZK-Plenums setzte mit biedermännischer Geste seine sozialistische Variante viktorianischer Moral dagegen: „Die DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte.“
Die Attacken richteten sich einerseits gegen Einflüsse „westlicher Dekadenz“ in der Literatur jüngerer Schriftsteller und in der Beatmusik andererseits gegen die darin enthaltenen Abweichungen vom Pfad der Tugend des „sozialistischen Realismus“. In gradueller Abstufung wurden die Schriftsteller Stefan Heym, Stephan Hermlin (der Mentor Biermanns), Peter Hacks, Heiner Müller, die Filmregisseure Frank Beyer und Kurt Maetzig und viele andere einer scharfen politischen Kritik unterzogen. Maetzigs Filmtitel „Das Kaninchen bin ich“ — künstlerisch keineswegs eine Spitzenleistung — avancierte zum Symbol der verbotenen Filme: der „Kaninchenfilme“. Frank Beyers temperamentvoll-kritischer Film „Spur der Steine“ mit Manfred Krug in der Hauptrolle wurde nach geplanten FDJ-Störaktionen wieder abgesetzt; Frank Vogels „Denk bloß nicht, ich heule“ ebenso. Fast die gesamte Jahresproduktion der DEFA verschwand in den Schränken der Zensur Es waren realistische und gesellschaftskritische, aber keineswegs oppositionelle Filme. „Die DEFA konnte sich von diesem Schlag nie erholen“, stellte rückschauend ein Filmemacher fest, „zerstörte Kontinuität, verlorene Energien, Entmutigung und Verwirrung, auch Abbau künstlerischer Maßstäbe und Kreativität waren die Folge“
Unter einigen der Kritisierten — besonders bei Biermann und Stefan Heym — gab es deutlich radikalere Formen indirekter Stalinismuskritik, zugleich verbunden mit Vorstellungen eines „dritten Weges“. So vage diese auch sein mochten, sie entwickelten in der DDR stets eine besondere Brisanz, weil sie aus der Sicht der „strategischen Clique“ immer ein Stück Annäherung an die Bundesrepublik bedeuteten und damit die Abgrenzung als Staatsraison der SED-DDR in Frage stellten. So wurde Stefan Heyms Rede auf dem Internationalen Schriftstellerkongreß in Berlin vom Dezember 1964 in der DDR nicht publiziert, sondern erschien unter dem Titel „Stalin verläßt den Raum“ 1965 in der ZEIT in Hamburg Ebenso konnte Wolf Biermanns erste Liedersammlung „Die Drahtharfe“ 1965 nur in West-Berlin publiziert werden
Schon für die Konfliktkonstellation von 1965 ist nun aber charakteristisch, daß der Parteiführung eine konsequente Gleichschaltung und Kontrolle der Dissidenten nicht mehr voll gelang. Dazu trug ohne Zweifel der Reform-und Modernisierungsdruck bei, dem sich die Führung vor allem mit der Einführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖSPL) selbst ausgesetzt hatte. Die wesentlichen Elemente dieser Wirtschaftsreform (wie Dezentralisierung und stärkere Eigenverantwortung der Betriebe) deckten sich mit Konzepten, die 1956/57 Wirtschaftswissenschaftler wie Fritz Behrens, Arne Benary und Gunther Kohlmey vorgeschlagen hatten, von der SED aber damals verdammt worden waren Auch Ansätze einer offiziösen, wenngleich esoterischen Demokratiediskussion wie bei Uwe Jens Heuer fehlten 1965 nicht Ein verändertes innenpolitisches Klima schränkte die Instrumentarien der Repression ein. So erschienen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine Reihe belletristischer Publikationen, die nach dem Scherbengericht von 1965 eigentlich nicht hätten erscheinen dürfen, z. B. Jurek Beckers „Jakob, der Lügner“ und insbesondere Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“. In diesem Beispiel von „reflexiver Literatur“ und radikalem Subjektivismus, dem Beispiele aus der Lyrik von Volker Braun, Karl Mickel und anderen zur Seite zu stellen wären, war literarische Dissidenz gegenüber den Maximen des „Bitterfelder Weges“ quasi zum Programm erhoben worden
Scheinbar literaturästhetische Debatten erhielten so eine unübersehbare politische Dimension, die noch dadurch verschärft wurde, daß einerseits Autoren verboten oder ausgegrenzt wurden, andererseits die gleichen Autoren eben deswegen in der Bundesrepublik auf besondere Resonanz rechnen konnten. In diesem Sinne polemisierte z. B. Dieter Noll vom Schriftstellerverband 1966 im Zusammenhang einer plumpen Invektive gegen Hans Mayer, der in die Bundesrepublik geflüchtet war, gegen den „Fetisch eines verabsolutierten Qualitätsbegriffs“ und beschwor die Gefahr, „dem gesamtdeutschen Reich des ästhetischen Scheins“ zu erliegen
V. Die Entstehung der Dissidentengruppen
In der Ära Honecker sollte sich zeigen, daß die Partei gerade den Konflikt mit den Schriftstellern und seit Ende der siebziger Jahre mit neu entstehenden Dissidentengruppen nie mehr voll unter Kontrolle bekam und daß dieser Konflikt ein Element im Prozeß des Niedergangs der SED-Herrschaft wurde. Die neue Lage nach der internationalen Anerkennung der DDR und der Intensivierung der deutsch-deutschen Beziehungen trug dazu wesentlich bei und erschwerte es, die alten Methoden der offenen Unterdrückung unvermindert weiter anzuwenden. Honeckers kulturpolitische Liberalisierung der frühen siebziger Jahre schuf eine gewisse Entspannung, ermunterte aber damit indirekt Schriftsteller und Künstler um so mehr, ihren Anspruch auf Autonomie wahrzunehmen und auszubauen. Der harte Konflikt um die Ausbürgerung Biermanns und die relativ breite Solidarisierung mit ihm 1976/77 signalisierten, daß der Bruch zwischen Parteibürokratie und vielen Schriftstellern kaum noch zu kitten war
Nur am Rande sei erwähnt, daß in diese Phase auch die Auseinandersetzung um Rudolf Bahros Buch „Die Alternative“ und das in der Bundesrepublik im „Spiegel“ veröffentlichte angebliche Manifest oppositioneller SED-Mitglieder fiel, die sich als „Bund demokratischer Kommunisten“ bezeichneten Mittlerweile spricht alles dafür, daß es sich dabei um eine Fälschung, von welcher Seite auch immer produziert, handelte. Hätte dahinter eine relevante Gruppe gestanden, so hätten die Autoren sich heute offen dazu bekennen können und müssen, läßt sich doch kaum eine schärfere und schonungslosere Kritik des SED-Regimes der siebziger Jahre denken, als sie in diesem Manifest formuliert wurde
In die Linie marxistisch motivierter Kritik und Dissidenz gehören auch die kurz-und langfristigen Wirkungen des „Prager Frühlings“ von 1968. Daß dieses Jahr — anders als für Polen — in der DDR-Geschichte keine sichtbare Zäsur darstellt, ist offenkundig. Dennoch hat es möglicherweise innere Erosionserscheinungen verstärkt. In Polen, wo die Bezeichnung „Dissidenten“ sich niemals eingebürgert hat, weil die oppositionellen Gruppen und ihre Normen in sehr engem Zusammenhang mit der Gesellschaft standen, wurde das Jahr 1968 besonders folgenreich, als nach den brutal zusammengeknüppelten Studentendemonstrationen zwei bislang eher getrennte Milieus enger zusammenwuchsen: die revisionistische Intelligenz und die katholische Laienbewegung. Dieser Brückenschlag, für den Adam Michniks Buch „Die Kirche, die Linke — ein Dialog“ (1976) symptomatisch war, prägte die gesellschaftliche Opposition der siebziger und achtziger Jahre
Formal lassen sich hierzu in der DDR erst für die achtziger Jahre Parallelen ziehen. Dennoch hat das Jahr 1968 auch für viele Intellektuelle in der DDR neue Impulse ausgelöst. Karl Wilhelm Fricke schätzt, daß die Zahl derer, die demonstrativenProtest gegen die Vergewaltigung der Tschechoslowakei gewagt hatten, in die Hunderte ging Es dominierten die typischen Formen des „kleinen“ Protests: handgeschriebene Flugzettel, Parolen an Häuserwänden, tschechoslowakische Fahnen, Sprechchöre. Für Rudolf Bahro, ehemals stellvertretender Chefredakteur der FDJ-Zeitschrift „Forum“, wurde der Einmarsch in Prag der Anstoß zur Revision seines bisher heilen marxistisch-leninistischen Weltbildes, deren Ergebnis das Buch „Die Alternative“ war Vor allem aber sorgte Robert Havemann, für den der „Prager Frühling“ ein überzeugendes Modell der Überwindung des Stalinismus darstellte, dafür, daß dieses für die SED traumatische Thema aktuell blieb
Seit seinen Vorlesungen von 1963/64 über „naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ aus der Partei ausgeschlossen, später auch aus der Liste der Akademiemitglieder gestrichen, prägte Havemann als überzeugter Kommunist und glaubwürdiger Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus einen neuen Stil zivilen Muts und politischer Dissidenz, der in den siebziger Jahren nicht ohne eine gewisse Breitenwirkung blieb. Unter Wahrung strikter formaler Legalität suchte er für seine Thesen und Schriften konsequent die Öffentlichkeit, die ihm zwar nur in der Bundesrepublik zur Verfügung stand, aber indirekt über die Medien in die DDR zurückwirkte. So wurde Ende der siebziger Jahre der „Sokrates von Grün-heide“ wie man ihn genannt hat, nicht nur individuell für viele zur Verkörperung einer sozialistischen Alternative, sondern vor allem seine Methode machte Schule: sich offen und mit persönlichem Risiko zur Herausforderung der SED und zum „Leben in Wahrheit“ zu bekennen. Viele Wehrdienstverweigerer-, Bürgerrechts-, Friedens-und Ökologiegruppen taten dies seit Ende der siebziger Jahre
Eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit und Wirksamkeit einer solchen Herausforderung bildete die veränderte gesellschaftliche Funktion der evangelischen Kirche. Sie wuchs seit Honeckers historischem Gespräch mit Bischof Schönherr 1978 auf der Basis eines wechselseitigen Arrangements in eine neue politische Rolle hinein Sie thematisierte zunächst in sehr vorsichtiger Form, später immer nachdrücklicher die Fragen einer neuen Generation in der DDR, die an die alten Antworten der SED, sofern diese überhaupt Antworten gegeben hatte, nicht mehr glaubte, der das Aufbau-pathos der Ulbricht-Ära nicht mehr zu vermitteln war und die im Zuge intensivierter deutsch-deutscher Kommunikation andere Lebensentwürfe als frühere Generationen in der DDR entwickelte. Lutz Niethammers lebensgeschichtliche Interviews in der DDR haben diesen generationsspezifischen Erklärungsansatz bekräftigt
Auf die zahlreichen Gruppen ist hier im einzelnen nicht einzugehen. Auch die Rock-Szene als jugendliche Massenkultur mit Ansätzen einer Subkultur wäre dazuzurechnen die anders als zu Ulbrichts Zeiten nicht mehr massiv eingeschränkt werden konnte, obwohl sie politisch nicht ohne Brisanz war. Überall in der DDR entstanden seit Ende der siebziger Jahre die genannten Gruppen unter schwierigen Bedingungen, oft ohne Kontakt miteinander, personell und programmatisch häufig nur in Umrissen im Westen bekannt Als eindeutig erscheint jedoch, daß es überwiegend junge Leute waren, die hier mitmachten, und daß zu ihren Initiatoren und Mentoren viele Künstler. Pfarrer und Intellektuelle gehörten.
Die Gruppen in der DDR der achtziger Jahre besaßen nie das organisatorische und programmatische Profil der polnischen Opposition. Sie waren insofern echte Dissidenten, als sie nur auf eine begrenzte Unterstützung durch die Gesellschaft rechnen konnten. Ihr Kennzeichen war überdies die Ausrichtung auf einzelne Schwerpunktthemen, nicht auf grundsätzliche politische Opposition Darin werden wesentliche Unterschiede zu den kirchlichen und kommunistischen Oppositionellen der fünfziger Jahre deutlich. Auch die evangelische Kirche hat nicht annähernd die gleiche gesellschaftliche und politische Bedeutung gehabt wie die katholische in Polen. Gleichwohl ließe sich insofern eine Parallele ziehen, als auch die Kirche als einzige autonome Organisation das Dach für die Annähe-rung zweier unterschiedlicher Milieus bot und damit zur Transformation von Dissidenz in politische Opposition wesentlich beitrug. Freya Kliers Tagebuch „Abreißkalender“ gibt — ähnlich wie Zwerenz für 1956 — einen sehr plastischen Einblick in die Spezifika dieses Dissidentenmilieus
Der Weg von dieser verbreiteten, wenn auch marginalisierten Dissidenz — die Ostberliner Historikerin Ulrike Poppe nennt 325 Gruppen für 1988 — zur Revolution im Herbst 1989 war weder geradlinig noch zwingend. Vor allem gehören zu den Bedingungen eine Reihe wichtiger Faktoren, auf die hier nicht eingegangen wurde, weil sie allgemein bekannt sind: die tiefgreifende Veränderung des internationalen Umfeldes durch Gorbatschows Perestroika, die vorangegangenen Reform-prozesse in Polen und Ungarn, die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze mit der einsetzenden Massenflucht und nicht zuletzt die völlig bornierte und im Sinne der eigenen Herrschaftssicherung geradezu selbstmörderische Strategie der SED und ihres Polizeiapparats. Aber das Dissidentenmilieu, das sich im wesentlichen aus Intellektueilen rekrutierte, war eine wichtige zusätzliche Voraussetzung, die den Stein ins Rollen brachte.
Der historische Längsschnitt zeigt das spezifische Profil und die Formveränderung von Opposition und Dissidenz in der Geschichte der DDR. In der SED gab es in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zwar große Unzufriedenheit und innere Empörung — so insbesondere nach dem Verbot des „Sputnik“ 1988 —, aber keine manifeste Opposition. Diese hätte — anders als 1953 und 1956 — nun optimale Chancen gehabt, da das osteuropäische Umfeld völlig verändert war. Auf der anderen Seite hatten als politisches Gegenstück zur Ausreisewelle oppositionelle Bewegungen in „personellen Zusammenschlüssen“ (so die Stasi-Bezeichnung) erstmals so breite Formen angenommen, daß der „führenden Partei“ und ihrem Sicherheitsapparat die Kontrolle und Unterdrückung nicht mehr gelangen — es sei denn durch eine „chinesische Lösung“. Die programmatischen Vorstellungen der Initiatoren der Revolution vom Herbst 1989 waren uneinheitlich. Die Reformkonzepte erscheinen aus heutiger Sicht illusionär, weil in ihnen kaum das Problem der nationalen Einheit, sondern eher der „dritte Weg“ als tiefgreifende Reform der DDR thematisiert wurde. Gerade in dieser Akzentuierung gehören sie aber auch in die von Kontinuitäten und Brüchen geprägte lange Geschichte von Opposition und Dissidenz in der ehemaligen DDR.