I.
Am 30. Oktober 1956 ereignete sich im Magdeburger VEB Schwermaschinenbau „Georgij Dimitroff" ein Vorfall, der dem Ministerium für Staatssicherheit wichtig genug schien, ihn bis zum Politbüro der SED weiterzumelden Zu Beginn der Frühschicht um sechs Uhr morgens legten dreißig jugendliche Arbeiter der Mechanischen Abteilung des Werkes B die Arbeit nieder. Als Ursache nennt der Bericht der Staatssicherheit einen Zeitungsartikel, der am Vortag im Magdeburger SED-Bezirksorgan „Volkstimme“ erschienen war. Dort war eine Grußadresse des FDJ-Kollektivs des Georgij-Dimitroff-Werkes an die Jugendleitung der Waggonfabrik „Wilhelm Pieck“ in Györ in Westungarn abgedruckt worden In diesem „brüderlichen Solidaritätsschreiben“, wie es in der Zeitung genannt wurde, hatte es geheißen: „Liebe Freunde! Wir haben zu den Vorkommnissen in Eurer Heimat Stellung genommen und erklären uns mit allen fortschrittlichen Werktätigen Eures Landes solidarisch, die unter Führung der Partei den konterrevolutionären Kräften ein Ende bereiten. Wir versichern Euch, daß wir, die Jugend des Georgij-Dimitroff-Werkes, fest an Eurer Seite, an der Seite aller Volksdemokratien und der Sowjetunion stehen und es nicht zulassen werden, daß es den Feinden unserer Völker gelingt, ihre Pläne zu verwirklichen.“
Offenbar war die Solidaritätsadresse in die Welt gesetzt worden, ohne daß man die Jugendlichen, in deren Namen das Papier unterzeichnet worden war, befragt hatte. Dies war gemeinhin so Brauch, und in der Regel scherte sich niemand um die . brüderlichen Kampfesgrüße’, die permanent rund um den Globus geschickt wurden. Doch diesmal kam es anders.
Aus den westlichen Rundfunkmeldungen war bekannt, daß am gleichen Tag das Volk auf den Straßen von Budapest und den anderen ungarischen Städten seinen Sieg feierte. Daß es ein trügerischer Sieg war, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. Jedenfalls war die Regierung Imre Nagy praktisch auf alle Forderungen der Aufständischen eingegangen, und die sowjetischen Truppen hatten ihren Rückzug angekündigt. Bekanntlich war die In-dustriestadt Györ eines der Zentren der Aufstandsbewegung gewesen. Weder dort noch woanders konnte die Rede davon sein, daß „die Werktätigen unter Führung der Partei den konterrevolutionären Kräften ein Ende bereitet“ hätten, wie es in der Magdeburger Grußadresse hieß. Im Gegenteil, die Arbeiter der großen Industriebetriebe waren in Györ, wie überall im Lande, das Rückgrat der ungarischen Volkserhebung. Die stereotypen Phrasen der Solidaritätserklärung standen also in deutlichem Gegensatz zu den offensichtlichen Tatsachen. Während dies im allgemeinen stillschweigend hingenommen wurde, hatten diesmal die Funktionäre offenbar den Bogen überspannt. „Die Jugendlichen verlangten eine Klärung, wer die Grußadresse abgefaßt hat“, heißt es in dem Bericht des MfS, „und außerdem seien sie mit dem Inhalt nicht einverstanden“ Die eilig zusammengerufenen Vertreter von FDJ, Partei und Staatssicherheit versuchten, die Arbeiter zu beruhigen. Dabei brachten die Streikenden zum Ausdruck, „daß die FDJ-Funktionäre des Betriebes von ihnen nicht anerkannt werden“. Der Bericht endet mit dem etwas dubiosen Zitat: „Außerdem hätten die konterrevolutionären Elemente in Ungarn gesiegt.“ Kurz vor der Mittagspause wurde schließlich die Arbeit wieder aufgenommen. Es wäre interessant zu erfahren, mit welchen Argumenten, vielleicht auch Drohungen oder Versprechungen, die Arbeiter zum Einlenken bewegt worden waren. Auch wäre es aufschlußreich zu wissen, ob diese Arbeitsniederlegung vom 30. Oktober 1956 ein strafrechtliches Nachspiel hatte. Bekanntlich sind in jenen Monaten für weitaus geringfügigere . Vergehen Menschen für Jahre hinter Gittern verschwunden. Bekannt ist nur, daß es Anfang November in Magdeburg zu einer großen Zahl von Verhaftungen kam
Die Vorfälle in Magdeburg sollen bei den folgenden Überlegungen lediglich exemplarische Bedeutung haben. Insofern würden weitere Einzelheiten, so illustrativ sie immer sein mögen, keinen entscheidenden Beitrag für die Lösung des zentralen methodologischen Problems mehr leisten können. Die Frage lautet: War der fünfeinhalbstündige Streik von dreißig Betriebsangehörigen am 30. Oktober 1956 objektiv ein Bagatellvorgang, der lediglich durch das überzogene Sicherheitsdenken des MfS zu einem berichtenswerten Vorgang hochstilisiert wurde, oder aber war der Streik im Magdeburger Schwermaschinenbau Symptom einer allgemeineren schwelenden Krise? War er möglicherweise sogar Teil einer untergründigen Protestbewegung, der die Gefahr in sich barg, der zündende Funke im offenen Pulverfaß einer unzufriedenen Arbeiterschaft zu werden?
Für den Historiker lautet die Frage generalisierend: Besteht die Gefahr, daß die Geschichtswissenschaft nachträglich zum Opfer der Praktiken eines allgegenwärtigen Spitzel-und Repressionssystems wird, indem sie die Einzelereignisse durch das Vergrößerungsglas einer politischen Geheimpolizei sieht, die ihre Existenzberechtigung ja nicht zuletzt aus solchen Vorfällen wie in Magdeburg zog? Sind also die Berichte des MfS Ausdruck eines neurotischen Sicherheitswahnes, der die kleinsten Regungen von Opposition und Widerstand schon als Bedrohung ansah, oder eine relativ objektive Widerspiegelung der Situation im Lande? Das Problem beschränkt sich nicht auf den Herbst 1956, und es ist — um dies vorauszuschicken — nicht ganz leicht zu lösen.
Der zitierte Bericht wurde in der Abteilung Information angefertigt, der späteren Zentralen Auswertungs-und Informationsgruppe (ZAIG), und ist damit Teil eines umfassenden Quellenbestandes, der zunächst einmal ganz deutlich von den soge-nannten operativen Akten zu trennen ist. Letztere sind ihrem Wesen nach Polizeiakten. Sie enthalten Observationsberichte sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter (IM), kriminaltechnische Analysen, Vernehmungsprotokolle, Ermittlungsergebnisse und anderes mehr. Die meisten dieser Akten sind unter dem Namen der betreffenden Person abgelegt und unterliegen auch in Zukunft einem strengen Personen-und Datenschutz. Abgesehen von einigen interessanten Ausnahmefällen ist die Masse dieses Aktenmaterials für die historische Forschung belanglos.
Einen ganz anderen Charakter tragen die Berichte und Analysen der Abteilung Information, die von Anbeginn für die Leitung des MfS sowie für die Führungsspitze der SED angefertigt wurden. Diese Berichte enthalten Material zur Stimmung der Bevölkerung, zur Versorgungslage, zum Umfang der Republikflucht, zur Tätigkeit der SPD in Ostberlin, zu westlichen Flugblattaktionen und zu vielen anderen Themen. Ein Teil der Berichte ist nach einem festgelegten Schema angefertigt: 1. Die Lage in Industrie und Verkehr. 2. Versorgung der Bevölkerung, 3. Die Lage in der Landwirtschaft, 4. Ereignisse von besonderer Bedeutung, 5. Anlagen. Das Schema wurde oft durchbrochen und hat sich im Laufe der Jahre gelegentlich geändert.
Nicht alle dieser Informationsberichte haben den gleichen Quellenwert. Oft handelt es sich nur um seitenlange Aufreihungen von Einzelvorfällen, die in Rubriken untergliedert sind (antidemokratische Tätigkeit, Feindpropaganda, Hetzschriftenverteilung u. a.). Oft sind ganze Informationen einem speziellen Thema gewidmet, und es finden sich darunter hochinteressante Analysen zu den unterschiedlichsten Themen der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Auch der Umfang der Informationen ist ganz unterschiedlich. Viele der Berichte umfassen nur zwei bis drei Seiten, gelegentlich finden sich auch Berichte von dreißig oder vierzig Schreibmaschinenseiten; sie wurden aufgrund einer großen Zahl von Einzelberichten erstellt. Oft enthalten sie Beispiele aus einzelnen Bezirken der DDR, die von den Verfassern der Informationen aus den eingehenden Berichten ausgewählt wurden. Dieser Zwang zur Zusammenfassung und Abstraktion bot der Subjektivität des Verfassers einen breiten Spielraum. Demgegenüber stand die Forderung, Tatsachen zu berichten und sich wertender Äußerungen zu enthalten. Hinzu kam, daß eine individuelle Meinung natürlich auch Risiken in sich barg, gerade in Zeiten sich schnell wandelnder politischer Rahmenbedingungen. Was heute noch richtig war, konnte morgen schon grundfalsch sein. Bedingt durch diese Widersprüche entstanden oft lange und unkommentierte Aufreihungen von besonderen Vorkommnissen der unterschiedlichsten Wertigkeit. Wirklich wichtige Vorgänge werden neben offenbaren Nebensächlichkeiten berichtet, etwa die Inschrift „Weg mit Spitzbart“ auf der Bahnhofstoilette in Eilenburg Offensichtlich war die Furcht groß, durch die Unterlassung einer Meldung nach oben sich dem Vorwurf mangelnder Wachsamkeit gegenüber den „Machenschaften des Klassenfeindes“ auszusetzen.
Es hat sich ein bemerkenswertes Dokument erhalten, das Aufschluß über die Unannehmlichkeiten gibt, die es nach sich ziehen konnte, wenn man einen „Anschlag des Gegners“ nicht ernst genug genommen hatte. Gleichzeitig wirft dieser Vorgang ein Schlaglicht auf die Situation des Jahres 1956.
Am 16. Juli 1956 verschickte Generalleutnant Erich Mielke, damals noch Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, ein Schreiben an alle Leiter der Bezirksverwaltungen sowie alle Leiter der Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen des MfS Allen Untergebenen zur Warnung wird darin ein Vorkommnis in der kleinen Landgemeinde Cotta (Kreis Pirna) am Rande des Elbsand-Steingebirges geschildert, welches in der Bezirks-verwaltung Dresden zunächst nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hatte. Als Anlage schickte Mielke die Information Nr. 67/56 mit, in welcher die Ereignisse im Landkreis Pirna ausführlich geschildert werden. Zunächst aber wird die Bezirksverwaltung Dresden in scharfer Form abgekanzelt: „Die Ereignisse hatten ihren Ausgangspunkt bereits am 7. 6. 1956 . . . Jedoch hat das Ministerium erst auf Umwegen — nicht über die zuständige Bezirksverwaltung — von den Ereignissen in Cotta, die weit über den Rahmen dieser Gemeinde hinausgehen, am 12. 7. 1956 Kenntnis bekommen. Die Gründe, die zur Unterlassung dieser Meldung führten, werden durch das Ministerium untersucht . . . Das Ministerium hat bereits am 12. 6. eindringlichst darauf hingewiesen, daß alle wichtigen Ereignisse — selbst unüberprüfter Art —, wenn sie von Bedeutung sind, sofort zu melden sind. Ferner hat die Leitung des Ministeriums in diesem Schreiben alle leitenden Funktionäre und Mitarbeiter darauf hingewiesen, wie der Feind, wenn er auch anfangs nicht der Organisator ist, sich einschalten und aus den Ereignissen eine feindliche Provokation machen kann. Die Bezirksverwaltung hat in diesem ernsten Fall nicht rechtzeitig erkannt, welche Gefahren politischer und operativer Art sich aus den Ereignissen in Cotta entwickeln können. Es wird nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß sowohl auf operativer wie auch Parteilinie alle Mitarbeiter anhand dieser Vorkommnisse geschult und belehrt werden, damit bei ihnen das Verständnis entwickelt wird, welche Bedeutung einzelne lokale Vorkommnisse bekommen können. Es kann nicht immer dem Sachbearbeiter, auch nicht einmal nur der Leitung der Bezirksverwaltung allein überlassen bleiben, zu beurteilen, welche Bedeutung solche Vorkommnisse haben können.“
Klarer kann man den Befehl zum Verzicht auf eigenständiges Denken kaum formulieren. Die hier eingeforderte strenge Subordination war eine der Ursachen für den ständigen Verfall der Effizienz dieses riesigen und allgegenwärtigen Apparates. Die konsequente Durchführung des oben geschilderten Prinzips mußte zwangsläufig dazu führen, daß der Informationsdienst an den eigenen Informationen erstickte.
Doch zurück zu den Ereignissen in Cotta. Am 7. Juni 1956 fand dort eine Versammlung des Vereins der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) und der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft (BHG) statt. Bereits am Vortage wurde während einer „Blaufahrt“, wie es der MfS-Bericht nennt, „von den Bauern ... in provokatorischer Art und Weise auf die DDR geschimpft . . .“ Einer der Bauern forderte, man müsse die Sollrückstände von 1955 erlassen. Falls dies nicht geschehen würde, meinte er laut Bericht: „. . . müssen wir es wie im Bauern-krieg machen. Jeder Bauer muß ein Gewehr in die Hand bekommen. Sobald es wieder einen 17. Juni gibt, müssen wir Bauern zusammenhalten.“ Besagter Bauer führte dann auch auf der erwähnten Versammlung vom 7. Juni das Wort. Bereits bei der Verlesung des Referates „Die Aufgaben des 2. Fünfjahresplanes in der Landwirtschaft“ kam es zu ironischen Zwischenrufen und Gelächter. Dann wurde ein Brief an die Volkskammer mit der Forderung nach Streichung der Sollrückstände von 42 Anwesenden unterschrieben. Im Verlaufe des Juni kam es zu weiteren Versammlungen, auf denen die Forderungen wiederholt wurden. Auf einer Veranstaltung am 10. Juli schließlich wurde gedroht, falls bis zum 21.des Monats keine Antwort aus Berlin eingegangen sein sollte, würden die Bauern in die Kreisstadt Pirna ziehen und dort auf dem Emst-Thälmann-Platz demonstrieren. Weiter werden in dem Bericht zahlreiche Einzelstimmen zitiert. Beispielsweise meinte der Wirt der örtlichen Gastwirtschaft, „daß die Stimmung unter den Bauern wie vor dem 17. Juni sei“. Auch der erwähnte Wortführer des bäuerlichen Unwillens nahm auf den 17. Juni und auf die Situation in Polen Bezug: „Wir sind nicht gewillt“, meinte er öffentlich, „einen 17. Juni oder ein Poznan ... zu machen, indem wir uns vor die Panzer stellen. Wir haben andere Mittel.“ Die Pointe der Geschichte besteht darin, daß das 28. Plenum des Zentralkomitees der SED Anfang September 1956 schließlich die Streichung der sogenannten Sollrückstände den örtlichen Behörden freistellte.
Der Drang zur vollständigen Erfassung der soge-nannten Feindtätigkeit trieb seltsame Blüten. So war es üblich, in seitenlangen Listen das Auftauchen von westlichen Flugblättern nach Herkunftsorganisation, Anzahl, Ort des Auffindens usw. minutiös zu erfassen. Diese Flugzettel und deren zumeist recht simple Botschaft wurden von der Führung des MfS offenbar sehr ernst genommen. So ist es bei der Arbeit an den Akten des Staatssicherheitsdienstes weniger der Mangel an Quellen, der den Historiker vor Probleme stellt, als deren Überfülle. Zurück aber zu der Ausgangsfrage: War der Streik der dreißig jungen Arbeiter am 30. Oktober 1956 — während des Höhepunktes des ungarischen Aufstandes — ein bedenküches Warnsignal für die Parteiführung oder ein an sich bedeutungsloses Randereignis? Weiter gefragt: Ist also das bisher allgemein verbreitete Bild von einer politisch inaktiven und schweigenden Arbeiterschaft im Herbst 1956 grundsätzlich zu revidieren?
II.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Situation des Jahres 1956. Ende Februar war während des XX. Parteitages der KPdSU in Moskau Stalin vom Sockel einer nahezu gottgleichen Verehrung gestoßen worden. Aber nicht nur die Plötzlichkeit und Radikalität dieses Vorgangs trug Verwirrung in die Reihen der Parteigenossen, sondern mindestens ebenso sehr der offenbare Widerwille der SED-Führung, diesen Erneuerungsprozeß mitzutragen. Auch in den Berichten des MfS wird dieser Zustand ausführlich und präzise reflektiert: „Immer wieder wird zum Ausdruck gebracht“, heißt es in einem Bericht vom 14. März 1956, „daß Genossen unserer Partei unklar sind und nicht wissen, wie sie diskutieren sollen. Dabei bilden selbst Funktionäre keine Ausnahme.“ An anderer Stelle heißt es: „Arbeiter (darunter auch Genossen der Partei) . . . stellten die Frage, ob denn jetzt die ganze Lehre von Stalin hinfällig sei und ob es denn überhaupt noch einen Sinn habe, am Parteilehrjahr teilzunehmen, da sich doch die politische Situation laufend verändert.“ Im gleichen Bericht wird geschrieben: „Über den XX. Parteitag der KPdSU wird rege diskutiert . . . Hauptsächlich beschäftigt man sich dabei mit der Rolle Stalins. Neben der Fragestellung, ob man hätte Stalin nicht schon früher kritisieren können, gibt es vereinzelt Äußerungen, daß es auch bei uns Personenkult gibt, wobei die Genossen Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck genannt werden.“
Die letzte Bemerkung stammt übrigens von Magdeburger Bauarbeitern. Insgesamt entspricht die Einschätzung dem Bild, das man aus der zeitgenössischen westdeutschen Presse und aus der Memoiren-literatur kennt. Keinesfalls wirkt die Darstellung des MfS zugespitzt oder künstlich dramatisierend. Auffallend ist lediglich, daß sich die Diskussionen über Stalin und den XX. Parteitag offenbar durchaus nicht auf Studenten und Intellektuelle beschränkten, wie dies oft behauptet wird.
Neben der Verunsicherung, die durch den Kurs der Entstalinisierung ausgelöst wurde, war es besonders der Arbeiteraufstand in Poznan (Posen), der bereits im Frühsommer 1956 wie ein Wetterleuchten die Ereignisse des Herbstes vorausahnen ließ. Im Juni kam es hier während der internationalen Messe zu Streiks und Demonstrationen, die schließlich nur noch unter Einsatz von Panzern niedergeschlagen werden konnten. Wieder hatten sich Arbeiter erhoben gegen die angebliche Arbeiter-macht — diesmal in Polen. Auch die Reaktionen auf diese Vorfälle wurden vom MfS genau registriert. In einer speziellen Analyse mit dem Titel „Stimmung zu den Provokationen in Poznan“ vom 30. Juni 1956 heißt es dazu: „Wie aus vorliegendem Material ersichtlich, wurde bisher unter allen Schichten der Bevölkerung noch nicht in großem Maße zu den Provokationen in Poznan Stellung genommen. In den bekanntgewordenen Stellungnahmen bringt jedoch die Mehrheit der Beschäftigten in der Industrie und Landwirtschaft, wie auch der übrigen Bevölkerung, ihre Abscheu gegenüber den Machenschaften der Provokateure zum Ausdruck.“ 14) Im Anschluß daran werden eine ganze Reihe positiver Stellungnahmen zitiert, die der offiziellen Parteipresse entstammen könnten. Es wurden allerdings auch „vereinzelt Provokationen und Feindtätigkeit . . . bekannt, die jedoch keine Unterstützung fanden“ Trotzdem wird auch hier wieder die Parallele zum 17. Juni gezogen: „In einigen Bezirken wurden vereinzelt auch die Ereignisse von Poznan zum Anlaß genommen, Vergleiche zur DDR zu ziehen und aufgrund bestehender Schwierigkeiten oder eingeleiteter Maßnahmen von einem neuen 17., 6. 1953 zu sprechen. So erklärte ein Schleifer, Mitglied der SED, im VEB Roter Stern Leipzig: , Man hat den Aufstand nur mit Panzern und Tieffliegern niederschlagen können. Dieser Aufstand kam nur zustande, weil die Versorgungslage in Polen schlecht ist. Bei uns kann die schlechte Versorgung mit Mangelware wie HO-Butter usw. auch Anlaß zu einem neuen 17. Juni werden.“ *
Im Oktober 1956 spitzten sich die Ereignisse im sowjetischen Machtbereich dramatisch zu. In Polen konnte man eine allgemeine Volkserhebung durch die Ernennung von Gomulka zum Generalsekretär der Partei gerade noch abwenden. Einige Tage später explodierte die Situation in Ungarn. Die Ereignisse sind oft geschildert worden, auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die DDR. Eine große Rolle in den wissenschaftlichen und literarischen Schilderungen dieser Monate spielt die Unruhe an den Universitäten der DDR. Es wird berichtet von stürmischen Studentenversammlungen, von Aufrufen zu Demonstrationen, die nur durch den massierten Aufmarsch von Kampfgruppen abgewendet werden konnten, von kritischen Intellektuellenzirkeln, von Diskussionen über einen demokratischen und humanen Sozialismus, von der Hoffnung auch vieler SED-Mitglieder auf eine solche Entwicklung, schließlich sogar von Flügelkämpfen innerhalb der Parteiführung. Die Verhaftung und Verurteilung von Wolfgang Harich und anderen jungen Intellektuellen fand eine breite Darstellung in der damaligen Publizistik. Viele der Beteiligten haben später die Ereignisse in Memoiren und Erinnerungsbü-ehern verarbeitet So blieb dieser Teil der Geschichte von Opposition und Widerstand über die Jahre hinweg im öffentlichen Bewußtsein präsent.
Auch die Geschichtsschreibung hat sich vorrangig mit der intellektuellen und parteiinternen Opposition dieser Zeit beschäftigt. In Bezug auf die Entstalinisierung heißt es bei Dietrich Staritz in seiner „Geschichte der DDR“: „Die Arbeiter nahmen von diesen Debatten kaum Notiz. Von der Wirtschaftspolitik der SED seit 1953 eher begünstigt, durch die Erinnerung an die Juni-Niederlage nur wenig motiviert, von der Intelligenz durch deren Privilegien sozial getrennt, kamen Kontakte nicht zustande.“ Im gleichen Zusammenhang schreibt der Autor: „Anders als in Polen und Ungarn . . ., wo die Stalin-Kritik bald alle Gesellschaftsschichten bewegte . . ., blieb sie in der DDR zunächst ein nahezu isoliertes Überbauphänomen.“ Auch Christoph Kießmann äußert sich ganz ähnlich: „Da die Arbeiterschaft — anders als in Polen und in Ungarn — ruhig blieb und das Regime durch seine Betriebskampfgruppen für eine Demonstration der Stärke sorgte, entwickelte die Situation in der DDR nur geringe Brisanz.“ Eine Ausnahme bildet lediglich Karl Wilhelm Frickes materialreicher Band „Politik und Justiz in der DDR“. Dort wird neben den Prozessen gegen sogenannte Revisionisten auch ausführlich der Versuch einer Gruppe Jugendlicher dokumentiert, im November 1956 in Dresden einen Verkehrsarbeiterstreik zu organisieren Natürlich wurde dieser Versuch im Keime erstickt; er endete für die sieben Jugendlichen mit harten Zuchthausstrafen. So dilettantisch derartige Unternehmen in Angriff genommen wurden und so traurig es war, daß sie scheiterten — schon allein die Tatsache, daß der Fall in der Dresdener Lokal-presse breit dargestellt wurde, ist ein Hinweis darauf, daß man seitens der Parteiführung auf eine abschreckende Wirkung Wert legte. Denn ungewöhnlich für die Situation im Herbst 1956 war die Aktion der Dresdener Jugendlichen keineswegs.
Neben den ausführlichen Berichten über die Unruhe an nahezu allen Universitäten der DDR, neben den Hinweisen auf Diskussionen unter Intellektuellen und Parteifunktionären finden sich in den Akten des MfS zahlreiche Informationen, die sich auf die Stimmung unter den Arbeitern in Industrie und Landwirtschaft beziehen. Es wird im Sommer und Herbst 1956 zunehmend von Streiks und Streikdrohungen, von Flugblattaktionen in Betrieben und von nächtlich angebrachten Aufrufen berichtet. Spätestens seit den Ereignissen in Poznan ging auch in der DDR das Gespenst eines allgemeinen Volksaufstandes wieder um. So heißt es in einer MfS-Information vom 21. Juli 1956: „Es werden vorwiegend in Industriebetrieben . . . gedruckte Flugblätter ausgelegt, Hetzlosungen angeschmiert und feindliche Argumente weitergegeben, die auf den Einfluß westlicher Rundfunkstationen hinweisen.“
Der Informationsbericht stellt ausdrücklich den Zusammenhang zu der beginnenden Entstalinisierung her, wenn er auch die Verantwortung für die Unruhe in gewohnter Manier westlichen Agentenzentralen zuschiebt: „Die feindliche Argumentation stützt sich in erster Linie auf die Kritik am Personenkult, auf die Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit — sogenannte Rechtsstaatlichkeit — und auf ökonomische Fragen in Industrie und Landwirtschaft. Der Gegner nutzt diese Umstände zu dem Versuch, einen Schlag gegen die Ideologie des Marxismus-Leninismus zu führen.“ Zusammenfassend meint der Bericht: „In der Deutschen Demokratischen Republik gibt es noch eine Reihe von Umständen in Wirtschaft und Verwaltung — vor allem in der Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütem —, die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung hervorrufen und eine provokatorische Ausnutzung durch gegnerische Elemente ermöglichen. Es treten teilweise die selben Schwerpunkte wie im Juni 1953 auf.“
Wie ein tiefes Trauma durchzieht der 17. Juni alle diese Berichte. Die beiden folgenden Beispiele sind, obwohl sie eher in den Bereich historischer Kuriositäten gehören, dafür symptomatisch. Da es sich herumgesprochen hatte, daß die Idee zu dem Streik der Bauarbeiter der Stalinallee vom 16. Juni 1953 zum ersten Mal während einer sonntäglichen Dampferfahrt wenige Tage vor Ausbruch der Unruhen besprochen wurde, waren für das MfS betriebliche Dampferfahrten ein besonders neuralgischer Punkt. Angesichts des Herannahens des inkriminierten Datums ließ man sich Listen anfertigen über alle Betriebe, die für diesen Sonntag Dampferfahrten gebucht hatten. So konnte der sorgengeplagte Minister für Staatssicherheit bereits am 14. Juni 1956 erfahren, daß beispielsweise die 120 Mitarbeiter der Trabrennbahn Karlshorst den Plan gefaßt hatten, am 17. Juni mit dem Ausflugsdampfer „La Paloma“ ins Blaue zu fahren. Der Kammerchor Treptow hatte vor, den Sonntag für eine Dampfer-fahrt nach Alt-Buchhorst zu nutzen, und die katholische Pfarrgemeinde Buch hatte zum gleichen Termin das Motorschiff „Delphin“ gechartert, um der beliebten Ausflugsgaststätte „Ziegenhals“ einen Besuch abzustatten Man kann sich vorstellen, wie an jenem Sonntag die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes ausschwärmten, um die Ausflugs-lokale der Berliner Umgebung „operativ abzusichern“. Auch die Kleingartenkolonie „Grüne Aue“ im Berliner Stadtbezirk Köpenick gab Anlaß zur Sorge, zumal — wie berichtet wird — im Vorstand lediglich ein einziger Genosse war, sonst aber „nur negative Personen“ Die Kleingärtner sollten ihr Gelände zum Zwecke des Wohnungsneubaus räumen, was begreiflicherweise auf wenig Begeisterung stieß. Nun hatte man zu diesem Thema eine Versammlung der Kleingartensparte einberufen und zwar „provokatorischerweise“ zum 17. Juni. „Als der Genosse L.“, die erwähnte einzige Bastion der Partei im Vereinsvorstand, „auf die politische Tragweite des 17. Juni aufmerksam gemacht wurde, erklärte dieser, daß er daran gar nicht mehr gedacht habe.“ In welcher Form Genosse L. zur Verantwortung gezogen wurde und auch den weiteren Verlauf der Ereignisse um die Kolonie „Grüne Aue“, verschweigt der Bericht. Insgesamt jedenfalls verlief der dritte Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in sonntäglicher Ruhe. Bei der Lektüre solcher Berichte stellt sich erneut die Frage: Sind sie Produkt eines paranoiden Sicherheitswahnes oder Ausdruck einer realen Lageeinschätzung? Immerhin gab es im Sommer 1956 für die SED-Führung ausreichend Grund zu echter Sorge. Seit dieser Zeit scheinen sich die Versorgungsprobleme gehäuft zu haben. Am 30. Juni 1956 wird von der Staatssicherheit eine ausführliche „ Analyse zur Versorgungslage“ angefertigt In dieser Analyse dominieren deutlich die negativen Erscheinungen.
So wird berichtet: „In den Bezirken Rostock, Neu-brandenburg, Schwerin, Cottbus, Frankfurt/Oder, Potsdam, Magdeburg, Halle, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Gera besteht ein erheblicher Mangel an HO-Butter und HO-Magarine. Besonders schlecht ist die Versorgung im Bezirk Schwerin, wo die Lage äußerst gespannt ist und einer schnellen Änderung bedarf. Bei der Anlieferung dieser Waren kommt es vor den Geschäften zu Schlangenbildung sowie negativen Diskussionen und Empörung unter der Bevölkerung. Die Bezirke klagen darüber, daß die Kontingente bei weitem nicht ausreichen und zum Teil wesentlich niedriger liegen als sie zum gleichen Zeitpunktim Vorjahr lagen . . . Dadurch kommt es auch vielfach unter Arbeitern z. B. zu solchen Diskussionen, daß sie immer schwer arbeiten müßten und trotzdem mit Marmeladenstullen zur Arbeit gehen müßten. Die Hausfrauen sagen dann, daß sie, wenn sich die Lage nicht bald ändern werde, nicht mehr wüßten, was sie ihren Männern auf das Brot streichen können.“ 29)
Zur gleichen Zeit häufen sich Berichte über Arbeitsniederlegungen. Es geht dabei, zumindest vordergründig, um rein wirtschaftliche oder innerbetriebliche Probleme. In allen Fällen dauerten diese Streiks nur wenige Stunden, und es waren im Höchstfälle einige hundert Arbeiter beteiligt. Als charakteristisch kann folgender Bericht vom Juni 1956 gelten: Im Hafen Brandenburg führten zwölf Arbeiter einen einstündigen Sitzstreik durch. „Der Anlaß dazu war, daß die Hafenarbeiter an den Gleisen Pflegearbeiten für Bezahlung im Stundenlohn ablehnten. Die Ursache, daß es zu diesem Sitzstreik kam, war, daß einer der Arbeiter aus Brandenburg aufgewiegelt hat und die anderen Arbeiter ansprach, in den Sitzstreik zu treten. Bis auf einen Arbeiter sind alle dieser Aufforderung nachgekommen.“
Bereits am 11. Juni war vom MfS eine Sonderinformation erstellt worden, in welcher insgesamt zehn • derartige Vorfälle aus dem Zeitraum vom 12. Mai bis 8. Juni zusammengefaßt wurden. Zwei Beispiele aus dem Bericht: Auf der Baustelle der Reichsbahn-Union Seelingsstadt-Schmierchau verweigerten ungefähr dreißig Kraftfahrer und Baggerführer die Arbeit. Als Grund wurde angegeben, daß der Heimatbetrieb mit der Lohnzahlung in Verzug sei. „Durch das Eingreifen der Reichsbahn-Bauunion wurde den Kraftfahrern und Baggerführern Vorschuß gewährt, was zur Folge hatte, daß die Arbeit von einem Teil wieder aufgenommen wurde. Warum der andere Teil seine Arbeit nicht aufgenommen hat, wird noch geklärt.“ Bei einem Streik im Bezirk Dresden ging es offenbar nicht nur um ökonomische Forderungen. „Am 2. 6.
legten im VEB Grau-und Temperguß Heidenau/Pirna von 220 Beschäftigten 120 für eine Stunde die Arbeit nieder. Der Grund der Arbeitsniederlegung war die falsche Meinung, daß dem Produktionsleiter M. vom Betrieb aus gekündigt sei. Die Arbeiter wollten mit dieser Arbeitsniederlegung zum Ausdruck bringen, daß sie mit der Kündigung von M.
nicht einverstanden sind. Erst nachdem eine Belegschaftsversammlung einberufen wurde und die Betriebsleitung den Arbeitern erklärte, daß M.seine Kündigung eingereicht hat, wurde die Arbeit wieder aufgenommen.“
In einer Übersicht vom 8. Oktober 1956 wurden sämtliche Arbeitsniederlegungen vom 1. Juli bis zum 7. Oktober in einer Liste erfaßt und territorial aufgeschlüsselt. Es handelte sich dabei um insge-samt 44 Fälle. Erfaßt wurde fürjeden Vorfall neben dem Datum, dem Ort und dem Betrieb die zeitliche Dauer der Arbeitsniederlegung und die Zahl der Beteiligten sowie die Ursache des Streiks. Als Hauptursache werden Lohndifferenzen genannt (14 Fälle) sowie Normenfragen (10 Fälle). Ausgesprochen politische Forderungen treten nicht auf. In der zusammenfassenden Einleitung des Berichtes heißt es: „. . . die Aufstellung . . . zeigt ein Ansteigen der Arbeitsniederlegungen im letzten Quartal. Die wesentlichen Ursachen liegen in Lohn-und Normenfragen . . . Die Arbeitsniederlegungen fanden vorwiegend in Industriebetrieben statt.“
Es ist offensichtlich, daß der Parteiführung nicht die Arbeitsniederlegungen an sich bedrohlich erschienen. Ihr Ausmaß war bescheiden, die Zeitdauer gering und die Forderungen der Arbeiter praktisch auf unterster Ebene zu klären. Es ging offensichtlich um die befürchtete politische Sprengwirkung solcher Aktionen. Übrigens sind in der Liste vom 8. Oktober auch die Streiks vom 4. Oktober in Magdeburg erwähnt, die damals schon öffentlich bekannt wurden, von der DDR-Seite aber als Erfindung des RIAS bezeichnet wurden. Karl-Eduard von Schnitzler nahm während einer Fernsehdiskussion am 30. Oktober auf diese Ereignisse Bezug, indem er von den „Lügen über Magdeburg“ sprach Wie jetzt aus den Unterlagen des MfS zu ersehen ist, hatte es sich keineswegs um Lügen gehandelt. Bereits am 1. Oktober hatten die Arbeiter der Stahlgießerei des Magdeburger Ernst-Thälmann-Werkes die Arbeit niedergelegt. Anlaß hierfür war die Nachricht, daß die Verwaltung eine Neufestsetzung der Normen plane. Der Bericht vermerkt noch, daß als Wortführer der Arbeiter zwei Betriebsangehörige aufgetreten seien, die bereits am 17. Juni 1953 „negativ in Erscheinung getreten sind“ Drei Tage später traten ungefähr hundert Arbeiter des Georgij-Dimitroff-Werkes in den Streik. Als Ursache wird die Unzufriedenheit über Lohndifferenzen genannt. Streikdrohungen werden in diesen Tagen auch aus anderen Magdeburger Betrieben gemeldet.
Die Informationsberichte vom 17. Oktober melden mehrere kleinere Streiks: zunächst einen — bereits in der oben erwähnten Aufstellung erfaßten — Streik von Dresdener Bandarbeiterinnen in einem Textilbetrieb sowie für den 15. Oktober Aktionen einer Maurerbrigade bei Ribnitz (Bezirk Rostock), einer Schicht des Reichsbahnbetonwerkes in Redwisch (Bezirk Neubrandenburg), der Belegschaft einer Privatdruckerei in Blankenstein bei Weimar und schließlich einer Brigade der MTS Isserode in Thüringen. Im letzteren Fall ging es um die Entlassung eines Brigadiers wegen „provokatorischer Äußerungen“
Gegen Mitte Oktober verdichten sich die Streik-meldungen ganz deutlich. Welche Rolle dabei die Meldungen aus Polen spielten, ist schwer auszumachen. In einem Bericht vom 24. Oktober 1956, der sich speziell mit der „Stimmung zu den Ereignissen in Polen“ beschäftigt, heißt es sehr abwägend und differenzierend: „Bisher haben die Diskussionen über die gegenwärtige Lage in Polen und deren Auswirkungen noch keinen allzugroßen Umfang angenommen. Der Inhalt der bekanntgewordenen Argumente spiegelt meistens die westliche Propaganda wider . . . Vereinzelt gibt es in diesem Zusammenhang Spekulationen, daß es in der DDR bestimmt auch anders kommt, weil auch in der DDR viele Arbeiter unzufrieden sind.“ Auch jetzt gab es wieder, wie beim Poznaner Aufstand, antipolnische Stimmungen. So wird „gehofft, daß die Oder-Neiße-Grenze liquidiert wird“. Und es wird die Äußerung zitiert: „Jetzt haben sich die Russen und die Polen in den Haaren, dadurch werden wir wieder in den Besitz der Ostgebiete kommen.“
Bereits einen Tag später, am 25. Oktober, heißt es in einem zusammenfassenden Bericht über die „Situation in der DDR“: „Die Situation in der Industrie zeigt im Monat Oktober 1956 bis jetzt ein häufiges Auftreten von Arbeitsniederlegungen bzw.deren Androhung. Besonders seit den Veröffentlichungen der Westsender über Magdeburg nahmen die Diskussionen zu, in denen bei Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten in den Betrieben von einem neuen 17. Juni gesprochen bzw. mit Arbeitsniederlegungen gedroht wird. Gleiche Anzeichen gibt es auch in der Landwirtschaft.“ Es werden Streiks aus dem Holzhafen Wismar, aus einem Industrie-betrieb in Ludwigsfelde u. a. gemeldet. Auch hier standen Lohnforderungen im Vordergrund, doch in dem Bericht wird ein Arbeiter mit der Meinung zitiert, „daß dieser Zustand einem neuen 17. Juni entgegenführen kann“. Aus der Bahnmeisterei Brandenburg wird ähnliches gemeldet. In einem Betrieb in Luckenwalde weigerten sich die Beschäftigten, die Nachtschicht einzuführen. In einem Ingenieurbüro in Potsdam-Rehbrücke fand eine Unterschriftensammlung wegen der fünfzehnminütigen Frühstückspause statt, welche die Betriebsleitung auf die Arbeitszeit aufschlagen wollte. In einer Diskussion in Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt), bei der es um Normenfragen ging, wurde geäußert: „Es brennt schon überall, wann geht es bei uns los, wie in Magdeburg.“ Ein anderer Arbei-ter wird mit der Äußerung zitiert: . diesmal geht es besser, dann knallt es“. In der Straßenbahn in Magdeburg sagte ein Arbeiter auf dem Weg zur Schicht zu seinen Kollegen: . die haben bereits die VP in Bereitschaft hegen. Auch in anderen Betrieben soll wegen Herabsetzung des Lohnes Krach sein. Die Gewerkschaft hat versucht, die Angelegenheit bei uns in der Formerei zu schlichten, aber bloß mit Worten können sie bei uns nichts erreichen.“ Am 19. Oktober wurde auf einer Diskussion in der Erzverladung Ronneburg gesagt, „daß es Zeit wird, daß hier ebenfalls etwas passiert, denn nach dem 17. 6. 1953 hat man sehr schnell vieles geändert, was die Arbeiter wollten“ Die kritische Stimmung, die sich in solchen Meinungsäußerungen kundtat, schien im Oktober 1956 in der DDR weite Kreise der Arbeiter erfaßt zu haben. Aus allen Teilen der Republik wurden solche erregten Diskussionen, kleinere spontane Arbeitsniederlegungen oder angedrohte Streiks gemeldet.
Die vielen Einzelvorkommnisse, die von den Verfassern der Informationsberichte als charakteristisch ausgewählt wurden, erhalten ihren wirklichen Stellenwert jedoch erst vor dem Hintergrund der Nachrichten aus Ungarn und Polen sowie den Berichten über die wachsende Unruhe unter den Studenten und den Intellektuellen, die weit bis in die Reihen der SED hineinreichte. Zunehmend bekamen auch Aktionen in Industriebetrieben einen deutlich politischen Charakter. Auf dem Omnibus-bahnhof Berlin-Weißensee hatte sich, so meldet ein Bericht vom 25. Oktober, eine organisierte Gruppe gebildet, die den Plan gefaßt hatte, zu einem geeigneten Zeitpunkt „unter dem Vorwand von Lohnforderungen“ den gesamten Ostberliner Omnibusverkehr lahmzulegen. Geplant war die Aktion für den 7., 8. oder 9. November 1956 Im Feinstrumpfwerk Oberlungwitz im Erzgebirge legten die Lehrlinge „unter Hinweis auf die Ereignisse in Ungarn“ die Arbeit nieder. Es gelang dem Partei-sekretär des Werkes und dem Lehrausbilder, die Lehrlinge zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen In der Betriebsverkaufsstelle des VEB Berggold in Pössneck meinte eine Arbeiterin zu ihren Kolleginnen: „Deckt euch nur genügend mit Lebensmitteln ein, denn es wird nicht mehr lange dauern, dann wird es auch bei uns zum Aufstand kommen. Die Regierung ist selber daran Schuld, denn 12 Jahre nach Kriegsende müßte der Lebensstandard viel besser sein.“ Zusammenfassend heißt es in dem Bericht: „Die Diskussionen über die Ereignisse in Polen nehmen einen immer größeren Umfang ein und sind meistens negativ. Positive Meinungen gibt es nur vereinzelt . . . Die meisten negativen Diskussionen beinhalten, daß Polen richtig handelt, denn der Lebensstandard in Polen sei sehr niedrig. Vereinzelt gibt es sogar Stimmen, daß es richtig ist, wenn Polen sich nicht mehr von der Sowjet-Union kommandieren läßt. Verschiedentlich gibt es Tendenzen, ähnliches in der DDR zu verlangen.“
Ende Oktober ging es bei der Registrierung der Mißstimmung der Arbeiter nicht mehr nur um kleine Betriebe in abgelegenen Gegenden der DDR. Am 27. Oktober eröffnete eine Nachricht aus Rostock den Reigen der täglichen Meldungen: „In der Neptunwerft herrscht seit einigen Tagen große Unzufriedenheit aufgrund des Materialmangels sowie über die durch Stromsperren notwendig gewordenen Nachtschichten.“ Am gleichen Tage wird berichtet: „Unter den Bauarbeitern der Magdeburger Baustellen (besonders der Wohnungsbauten) wird in den letzten Tagen die Diskussion geführt, von den übergeordneten Leitungen Material, besonders Zement zu fordern . . . Einige Bauarbeiter erklärten, bei Nichtanlieferung von Material auf der Straße zu demonstrieren.“ Aus dem VEB Stern-Radio in Berlin wurde gemeldet, daß der „größte Teil der Beschäftigten . . . infolge Materialmangels nicht mehr (arbeitet) . . . Unter den Arbeitern werden Vergleiche zur Lage in Polen gezogen.“ Unter der Rubrik „Stimmung zu den Ereignissen in Polen und Ungarn“ wird gemeldet: „Die Stimmung der Bevölkerung hat sich nicht verändert. Den größten Raum nehmen weiterhin RIAS-Argumente ein. Es mehren sich die Äußerungen, daß es bei uns auch allmählich Zeit würde, daß Walter Ulbricht abgelöst wird.“
III.
Wenn man den Berichten des MfS Glauben schenken darf — und es gibt keinen Grund, an ihrem Wahrheitsgehalt zu zweifeln — braute sich in der DDR Ende Oktober 1956 ein Unwetter zusammen, das die SED-Führung Schlimmes befürchten ließ. In dieser Situation trat die Partei die Gegenoffensive an. Am 28. Oktober berichteten die DDR-Zeitungen auf den Titelseiten über eine , Fernsehdiskussion’ zwischen den Genossen Walter Ulbricht und Otto Grotewohl sowie Berliner Arbeitern. Die Sendung wurde von Karl-Eduard von Schnitzler moderiert. „Wir gehen zielbewußt unseren Weg“ lautete im „Neuen Deutschland“ die Schlagzeile über das im Wortlaut abgedruckte Femsehgespräch. Als Unterzeile standen darunter einige Kernsätze der obersten Staatsfunktionäre. Unter anderem ein Satz von Grotewohl: „Liberalisierung bedeutet Restaurierung des Kapitalismus“. Neben der Lage in Polen und Ungarn wurde im Verlauf des Gesprächs auch die Situation in der DDR angesprochen. Grotewohl meinte dazu: „Die mit den großen amerikanischen Monopolen verbundene Nachrichtenagentur United Press hat in einem Rundschreiben ihre Korrespondenten in Europa aufgefordert, über Streikkrawalle in der Deutschen Demokratischen Republik zu berichten.“ Ulbricht wußte noch einzuflechten: „Übrigens, der englische Spionage-dienst hat dieselbe Anweisung gegeben.“ Worauf Grotewohl den Gedanken vollendete: „. . . Daran sehen Sie, wie alles vorbereitet, organisiert wird, sogar die Vorgänge, die kommen sollen.“
Bereits am Vortage waren die Mitglieder der Parteiführung in die Berliner Betriebe gegangen, um mit den Arbeitern zu diskutieren. Dabei hatte es nicht an eindeutigen Drohungen gefehlt. Ulbricht hatte im Berliner Werk für Fernsehelektronik (WF) laut Bericht des „Neuen Deutschland“ erklärt: „Aus den Ereignissen in Ungarn muß man die Lehre ziehen, daß die Werktätigen und ihre Staatsmacht wachsam sein müssen, um die Zersetzungsarbeit, die von bürgerlichen und faschistischen Elementen unter der Losung der . Freiheit* durchgeführt wird, zu unterbinden und die wirkliche Demokratisierung und Freiheit des Volkes weiterzuentwickeln.“ Einem angeblichen Arbeiter wird der Ausspruch in den Mund gelegt: „Die Konterrevolutionäre mucken überall auf, wo sie können. Man hätte ihre Vorstöße gleich im Keime ersticken müssen. Gibt es denn dort in Ungarn in den Betrieben keine Kampfgruppen?“ Am folgenden Tag wird eine Rede des damaligen Bezirkssekretärs von Berlin, Alfred Neumann, in der Zeitung zitiert: „Wer da glaubt, das Budapester Verbrechen auf Berlin übertragen zu können, der irrt sich gewaltig. Jeder Mißbrauch der demokratischen Freiheiten wird an der geschlossenen Kraft der Arbeiterklasse zerbrechen.“
Auch in Magdeburg erging sich die SED-Führung in deutlichen Drohgebärden. Noch am Tage des eingangs geschilderten Streiks im Georgij-Dimitroff-Werk marschierten dort die Kolonnen der Kampfgruppen in feldmäßiger Ausrüstung auf. Die „Volkstimme“ berichtet davon auf der ersten Seite unter der Überschrift „Treuebekenntnis zur Arbeiter-und-Bauem-Macht“. Ein Bild zeigt die Kämpfer der sogenannten Betriebskampfgruppen in geschlossener Formation mit umgehängten Maschinenpistolen. Darunter liest man den Text: „Kampfgruppen des VEB Schwermaschinenbaus Georgij Dimitroff . . . bekunden ihre Bereitschaft zur Verteidigung unserer Republik. In einem . . . Treuebekenntnis schreiben sie an das ZK der SED: , Mit unserem heutigen Appell der Kampfgruppen unseres Betriebes bringen wir zum Ausdruck, daß wir fest hinter dem Zentralkomitee unserer Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und hinter der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik stehen.“
Gleichzeitig begann die Jagd des Staatssicherheitsdienstes auf angebliche Agenten des Imperialismus. Am 1. November 1956 berichtet die Magdeburger „Volkstimme“ ausführlich über die Verhaftung von 73 „feindlichen Agenten“, die Unruhen in der DDR provozieren wollten In der Manier eines billigen Spionageromans wird über die finsteren Machenschaften westlicher Agentenzentralen in Magdeburg berichtet. Der Tonfall des Berichtes erinnert an die schlimmsten Zeiten stalinistischer Schauprozesse. Ob sich unter den Verhafteten und als „bezahlte Agenten“ Verleumdeten auch die Wortführerjenerjungen Arbeiter befanden, die am 30. Oktober aus Protest gegen die verlogene Solidaritätserklärung der FDJ-Leitung in den Streik getreten waren, entzieht sich gegenwärtig einer genaueren Prüfung. Man kann davon ausgehen, daß das MfS sie nicht , vergessen* hat.
Zweifellos ist es richtig, daß es im Herbst 1956 nicht zu einer breiten Massenbewegung gegen das SED-System gekommen ist. Die schroffe Ablehnung jeglicher Reform des Systems — wie sie in den Äußerungen von Ulbricht und Grotewohl zum Ausdruck kam — und die eindeutigen Drohungen, selbst mit Waffengewalt gegen Streikende vorzugehen, schließlich das tragische Ende des ungarischen Auf-Standes ließen in dieser Situation den offenen Widerstand als sinnlos erscheinen. Hinzu kam, daß die offenen Grenzen jedem die Möglichkeit boten, sich dem Druck des SED-Staates zu entziehen. Die steigenden Flüchtlingszahlen des Jahres 1956 sprechen eine deutliche Sprache.
Trotzdem scheint aufgrund der Akten des MfS die Aussage berechtigt, daß der Unwille unter den Arbeitern weit größer war, als man dies bisher angenommen hat. Durch eine gründliche und systematische Erforschung des gewaltigen Quellenmaterials des MfS wird man zweifellos in vielen weiteren Punkten bisherige Forschungsergebnisse überprüfen können. Insofern haben die hier vorgelegten Ergebnisse — die angesichts der jetzt noch unübersichtlichen Aktenlage nur vorläufigen Charakter tragen können — vor allem exemplarische Bedeutung. Sie weisen auf die Bedeutung eines Quellen-bestandes hin, der von der Öffentlichkeit bisher fast ausschließlich nur unter dem Aspekt der Enthüllung der Vergangenheit einzelner Politiker gesehen wird und deswegen in Gefahr gerät, aufgrund der politischen Interessenlage sekretiert zu werden.
Weitaus wichtiger und interessanter als das Vorleben einzelner Politiker oder die Überprüfung künftiger Beamter ist jedoch das historische, speziell das sozial-und kulturgeschichtliche Material, das in den Archiven des MfS lagert. Nicht zuletzt, weil dort den vielen namenlosen Menschen, die sich auf ihre Weise gegen den übermächtigen Staat wehrten und bisher keinen Platz in Memoiren oder Geschichtsbüchern fanden, ein Denkmal gesetzt ist.