In den ersten Jahren der Existenz der DDR offenbarte wohl nichts in so nachdrücklicher Weise die Instabilität des SED-Regimes wie die Vorgänge im Juni/Juli 1953. Der 17. Juni wurde zum Symbol des Widerstandes gegen das Herrschaftssystem im so-genannten ersten deutschen Arbeiter-und Bauernstaat. Jegliche Beschäftigung der DDR-Historiker mit diesem Ereignis hatte nach Maßgabe der führenden SED-Ideologen auf die Deutung hinauszulaufen, daß es sich um einen von westlichen Provokateuren gesteuerten konterrevolutionären Putsch gehandelt habe. Dieser Vorgabe ordnete sich die offizielle DDR-Geschichtsschreibung willig unter. Demgegenüber widmeten die Historiker im anderen Teil Deutschlands, trotz der schwierigen Quellenlage, diesen Vorgängen weit größere Aufmerksamkeit -Dabei stellten sie nahezu einhellig heraus, wie absurd die Einschätzung der DDR-Historiker war. Zu Recht betonte Christoph Kießmann, daß die stereotype Wiederholung der These vom konterrevolutionären Putsch in der DDR offenbarte, „wie traumatisch belastet dieses Datum für den , ersten deutschen Arbeiter-und Bauernstaat 4 nach wie vor ist“ Nicht von ungefähr fragte der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, am 31. August 1989 seine Untergebenen: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?“
Die Untersuchung der Vorgeschichte der Ereignisse im Juni/Juli 1953 zeigt, daß die Zuspitzung der
I.
politischen und wirtschaftlichen Lage nach der Verkündung des Überganges zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus auf der 2. Parteikonferenz der SED 1952 entscheidend für den Ausbruch des Aufstandes war. Die Weisung der Parteiführung Mitte Mai 1953, die für die Produktion wichtigsten Arbeitsnormen um durchschnittlich zehn Prozent bis zum 1. Juni zu erhöhen, brachte das Faß zum überlaufen. Die Hauptursache für die Aktionen im Juni/Juli lag jedoch, wie Karl Wilhelm Fricke feststellte, „in der planmäßigen, zielbewußten Errichtung eines politischen Regimes begründet, das — dem Schein nach ein Mehr-Parteien-System — tatsächlich auf eine Diktatur der SED hinauslief und das alle politischen Freiheiten und Bürger-rechte einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung durch freie Wahlen verweigerte“ ).
Die Tatsache, daß die einschlägigen Bestände in den DDR-Archiven wie Staatsgeheimnisse gehütet wurden und damit für „bürgerliche“ Historiker unzugänglich blieben, beeinflußte die Bewertung der Aktionen im Juni/Juli 1953 allerdings wesentlich. So betonte noch jüngst Lutz Niethammer, daß im Gegensatz zu den Ereignissen in Ungarn und Polen 1956 sowie in der CSSR 1968 „dieser ein-bis zweitägige Protest in der DDR in seinem Charakter undeutlich und umstritten (ist); jedenfalls war er kurz aber früh“
II.
Über den Verlauf und den Umfang der Aktionen im Juni/Juli 1953 findet sich gerade in den Beständen des ehemaligen MfS reichhaltiges Material. Obwohl die Führung dieses Ministeriums der Ausbruch des Aufstandes völlig unvorbereitet traf, wurde sie ziemlich schnell handlungsfähig. Zwar können aus dem bisher nur bruchstückhaft durchgesehenen Materialien noch nicht alle Maßnahmen zur Niederschlagung des Widerstandes am 17. Juni sowie den darauffolgenden Tagen und Wochen rekonstruiert werden. Als sicher darf jedoch gelten, daß 1953 neben dem Eingreifen der sowjetischen Truppen insbesondere die Aktivitäten des MfS maßgeblich dazu beitrugen, den Widerstand gegen das SED-Regime zu brechen. „Die Lage ist außerordentlich ernst. Es geht jetzt darum, wir oder sie“, soll nach Angaben eines Mitarbeiters der damalige Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, am Nachmittag des 17. Juni geäußert haben, als die sowjetischen Panzer bereits im Einsatz waren Begonnen hatten die Streiks auf der Baustelle am Krankenhaus Berlin-Friedrichshain am 15. Juni. Einen Tag später folgten nahezu sämtliche Baustellen und eine Vielzahl von Betrieben in Berlin. Am 17. Juni brach dann der Aufstand im ganzen Land aus. Über den Verlauf der Aktionen während dieser Tage gibt es mittlerweile eine breite Literatur Es begann mit Streiks in den Betrieben, die am 17. Juni in Aktionen einmündeten, an denen sich die breite Bevölkerung beteiligte. In den Betrieben wurde zunächst die Abschaffung der Normerhöhung verlangt und auch die weiteren Forderungen waren vor allem ökonomischer Natur. Bei der Formulierung der Forderungen spielte die Tätigkeit von Gewerkschaftsfunktionären der unteren Ebene eine wichtige Rolle. Bis zu einem gewissen Grad geht dies auch aus der Urteilsbegründung des Berliner Stadtgerichtes im Prozeß gegen vier Hauptangeklagte am 25. Mai 1954 hervor, die zu den Initiatoren des Streiks auf der Baustelle am Krankenhaus Friedrichshain gehört hatten. Die Angeklagten Fettling und Floth beschuldigte das Gericht, sie hätten als „langjährige Mitarbeiter der Gewerkschaft“ wissen müssen, „daß bei Reibungen und Konflikten zwischen Arbeitern und einzelnen Organen des Arbeiter-und Bauernstaates oder der volkseigenen Betriebe, es Aufgabe der Gewerkschaft ist, und somit auch der Funktionäre in den Betrieben, zu denen die Angeklagten gehörten, an der schnellen und schmerzlosen Beseitigung mitzuwirken“
Ganz bewußt wurde vermieden, die Rolle der Gewerkschaft bei der Organisierung des Streiks näher zu beleuchten. Aus den Berichten des MfS, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch die Grundlage für die Anklagebegründung bildeten, wird ersichtlich, daß die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) unter dem Druck der Belegschaft auf der Baustelle am Krankenhaus Berlin-Friedrichshain den Streik beschloß. Fettling war BGL-Vorsitzender. Er gehörte der Delegation an, die am 15. Juni im Sekretariat des Ministerpräsidenten eine Resolution übergab, in der die sofortige Herabsetzung der Normen verlangt und ultimativ eine Antwort des Ministerpräsidenten, Otto Grotewohl, bis zum 16. Juni 12. 00 Uhr gefordert wurde
Nicht nur auf der Baustelle des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain vertraten Mitglieder der BGL konsequent die Interessen der Arbeiter: „Es wurde durch Vernehmungen festgestellt, daß die Mitglieder der Gewerkschaftsleitung in den Betrieben zum größten Teil die Organisatoren waren oder mitmachten“, hieß es in einem ersten zusammenfassenden Bericht des MfS am 19. Juni 1953 Zu diesem Zeitpunkt schien die Lage zumindest wieder unter Kontrolle zu sein, nachdem am 17. Juni über 167 von 217 Stadt-und Landkreisen der DDR durch sowjetische Militärkommandanten der Ausnahmezustand verhängt worden war. Aus einer internen Zusammenstellung des MfS geht hervor, daß im Zusammenhang mit dem 17. Juni in mehr als 300 Orten Aktionen der Bevölkerung stattfanden. Dabei handelte es sich unbestritten nur um die wichtigsten Zentren, denn in den Akten fanden sich noch weit mehr Namen, die in der Zusammenstellung fehlen. Es wurde darin nach Orten unterschieden, in denen „Streiks“ (157), „Zusammenrottungen zur Demonstration“ (82), „Faschistische Provokationen“ (49) und „Gefangenenbefreiungen“ (22) stattfanden
Am 18. Juni leitete die Führung des MfS eine massive Verhaftungswelle ein. Durch einen von Erich Mielke unterzeichneten Befehl erhielten die Bezirksverwaltungen folgende Anweisung: „Wo Ausnahmezustand verhängt, sind Streikleitungen, die Streiks organisiert haben, a) unter Losungen: Nieder mit der Regierung, nieder mit der SED, ohne vorherige Prüfung, b) unter ökonomischen Losun-gen: wie Lohnerhöhungen, Herabsetzung der Normen, niedrigere Preise, allgemeine geheime Wahlen, nach Überprüfung der einzelnen Mitglieder, festzunehmen , . Allein in Berlin wurden durch die Volkspolizei (VP) und das MfS bis zum 19. Juni 1 744 Personen verhaftet. Darunter befanden sich zwei komplette Streikleitungen und fünf weitere, die „die Funktion einer solchen ausübten“. Was die Bezirke anbetraf, so betrug die Zahl der von den dortigen MfS-Dienststellen in der Zeit vom Mittag des 19. Juni bis zum Mittag des 20. Juni festgenommenen Streikleitungsmitglieder 263. Der weitaus größte Teil entfiel davon auf die Juni 1 744 Personen verhaftet. Darunter befanden sich zwei komplette Streikleitungen und fünf weitere, die „die Funktion einer solchen ausübten“. Was die Bezirke anbetraf, so betrug die Zahl der von den dortigen MfS-Dienststellen in der Zeit vom Mittag des 19. Juni bis zum Mittag des 20. Juni festgenommenen Streikleitungsmitglieder 263. Der weitaus größte Teil entfiel davon auf die Bezirke Magdeburg (83) und Halle (80) 13). Am 23. Juni waren 6 325 Personen inhaftiert, ungefähr zwei Drittel davon in den Dienstellen des MfS, davon wiederum mehr als ein Drittel in der Berliner Zentrale 14). Umso bemerkenswerter ist es, daß noch am 21. Juni beispielsweise nur die Hälfte der Belegschaften der Bau-Unionen arbeitete 15). Die andauernde Verhaftungswelle hatte aber dazu beigetragen, daß — insgesamt gesehen — nur noch vereinzelt gestreikt wurde. Aber noch zu diesem Zeitpunkt befürchtete man in der Zentrale des MfS den Ausbruch von erneuten Streiks. Erst im MfS-Tagesbericht vom 24. Juni stand: „Die Lage in Berlin und in der Deutschen Demokratischen Republik war am 24. Juni 1953 absolut ruhig. Irgendwelche Ereignisse, Streiks, Demonstrationen usw. sind nicht vorgekommen.“ 16)
III.
Parallel zu den Repressivmaßnahmen gegen wirkliche und vermeintliche Initiatoren der Aktionen um den 17. Juni suchte die SED-Führung ideologisch wieder in die Offensive zu gelangen. Am 22. Juni erschien in einer einseitigen Extra-Ausgabe des Neuen Deutschland (ND) eine Erklärung des Zentralkomitees (ZK) der Partei unter der Überschrift „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei“. Darin wurde über die auf der 14. Tagung des ZK gefaßten Beschlüsse berichtet. Unter anderem verkündete die Parteiführung, „daß die Funktionäre auf allen Ebenen, die Funktionäre des zentralen Apparates, in den Betrieben und in den Kreisen mit dem morgigen Tage in die Betriebe gehen“ 17).
Bereits zwei Tage später begann das ND in großen Lettern Erfolgsmeldungen vom Auftreten der Spitzenfunktionäre zu drucken, bei denen „Tausende einstimmig und kategorisch von den Provokateuren abrückten und den von ihnen und ihren Westberliner Hintermännern inszenierten Putsch als einen Versuch der Faschisten verurteilten, die Verwirklichung der neuen Beschlüsse der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik unmöglich zu machen und die Brandfackel des Krieges zu entzünden“. Die Wirklichkeit sah in der Regel anders aus. Abgesehen davon, daß es sich oft um einen vorher ausgewählten Teil der Belegschaften handelte — zumindest, wenn Spitzenfunktionäre auftraten —, dominierte weitestgehend Kritik am Kurs der Regierung die Diskussionen. In den Stellungnahmen offenbarte sich zudem eindeutig die Politisierung breiter Teile der Bevölkerung nach dem 17. Juni.
Zwar nahmen bestimmte betriebsspezifische Mängel und die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation breiten Raum in den Diskussionen ein — darauf konzentrierte sich aus naheliegenden Gründen auch die SED-Berichterstattung, wenn überhaupt auf kritische Äußerungen der Werktätigen eingegangen wurde. Mehr oder weniger offen standen jedoch politische Forderungen im Mittelpunkt. Damit sah sich auch Walter Ulbricht am 24. Juni in den Leuna-Werken konfrontiert. In einer „Besprechung zwischen den geladenen Gästen und dem stellv. Ministerpräsidenten, Gen. Walter Ulbricht“, hieß es im MfS-Bericht, stand im „Vordergrund die Forderung nach Redefreiheit, die sie schriftlich bescheinigt haben wollten, Entlassung der politischen Häftlinge, Trennung der Gewerkschaft von der Partei, Neuwahl der BGL usw.“ 18). Noch ernüchternder müssen die Eindrücke des Politbüromitgliedes Fred Oelsner gewesen sein, der in einer Versammlung am 26. Juni im Buna-Werk in Schkopau auftrat, an der 600 Arbeiter teilnahmen. Lapidar, aber vielsagend meldete das MfS: „Die Versammlung artete in eine wüste Provokation aus.“ Eine vom Parteisekretär des Werkes verlesene Resolution, in der sich die Teilnehmer der Veranstaltung von den „Provokateuren“ des 17. Juni distanzieren sollten, wurde „mit großer Stimmenmehrheit nicht angenommen“ 19).
Unbestritten war die Radikalität, mit der die Belegschaft des Buna-Werkes in Schkopau reagierte, nicht die Regel. Aber die Berichte über die Veranstaltungen mit führenden Parteifunktionären zei-gen deutlich, daß sich die Mehrheit der Bevölkerung keineswegs mit der offiziell vorgegebenen Deutung der Ereignisse um den 17. Juni identifizierte. Damit scheiterte die von der Parteiführung eingeleitete ideologische Offensive ebenso wie die mit der Propagierung des Neuen Kurses getroffenen Maßnahmen, durch Zugeständnisse auf wirtschaftlichem Gebiet den Widerstand gegen das politische System einzudämmen. Zu Recht haben Klaus Ewers und Thorsten Quest gegen die These polemisiert, daß die Beteiligung an den Streiks um den 17. Juni, die nach offiziellen Angaben etwa sieben Prozent der gesamten Arbeiterschaft betrug, das gesamte Widerstandspotential gegen das SED-Regime widerspiegle. Als zutreffend erweist sich im Lichte der Stasi-Akten auch ihre Feststellung, daß bei den Aktionen nach dem 17. Juni weitgehend die Grenzen zwischen Streikbeteiligten und Nichtbeteiligten entfielen und „wie sehr viel größer das Potential an Unzufriedenheit, Protest und Widerstand in den Betrieben war, als es die Zahl der tatsächlich Streikenden vermuten ließ“
Zweifellos mußte die politische Führung immer mehr erkennen, daß nur durch Repressivmaßnahmen der Ausbruch erneuter Unruhen verhindert werden konnte. So wurden beispielsweise nach der Veranstaltung in Schkopau vier „Rädelsführer“ sofort verhaftet. „Es wird immer noch beobachtet, daß sich ein großer Teil der Bevölkerung in öffentlichen Diskussionen zurückhält oder sehr vorsichtig diskutiert. Stimmen, die sich in gemeinster Art und Weise gegen die Regierung richten, werden dem Anschein nach geringer. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, daß Gerüchte im Umlauf sind, die von schweren Strafen sprechen.“ Daß es sich nicht nur um Gerüchte handelte, dürfte dem Verfasser des zitierten MfS-Berichtes vom 1. Juli 1953 sicherlich bekannt gewesen sein. Nach einer ersten Schätzung geht schon aus den Materialien des MfS hervor, daß zwischen dem 17. Juni und 1. Juli 1953 8 000 bis 10 000 Personen inhaftiert gewesen sein müssen. Darüber, wieviele Verhaftungen sowjetische Organe vomahmen, fanden sich in den bisher durchgesehenen Akten keine genauen Angaben.
IV.
Nicht nur in den Städten offenbarte sich nach dem 17. Juni die Unzufriedenheit breiter Teile der Bevölkerung mit den politischen Zuständen in der DDR, sondern auch auf dem Land. Im Zusammenhang mit den Aktionen des 17. Juni wurden nach Angaben des MfS zwar nur 401 Personen aus der ländlichen Bevölkerung festgenommen, aber besonders in den Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) kam es zu zahlreichen Streiks und Demonstrationen. „Bei den Festgenommenen handelt es sich zum größten Teil um Einzelhändler, ambulante Gewerbetreibende, Schmiede, Gastwirte, Versicherungsangestellte und einige Traktoristen, also nicht um ausgesprochene Landarbeiter“, hieß es in einem zusammenfassenden Bericht des MfS Die geringe Zahl der Festnahmen und die Tatsache, daß sich unter den Verhafteten nur sehr wenig unmittelbar in der Landwirtschaft Beschäftigte befanden, bedeutet allerdings keineswegs, daß sich die Land-bevölkerung im Juni/Juli 1953 weitgehend ruhig verhielt. Mit gutem Grund gelangte Hermann Matern, der Vorsitzende der Parteikontrollkommission (ZPKK), am 11. November in einer Dienstbesprechung des MfS zu dem Schluß: „Ihr wißt, in den Tagen des 17. Juni war auf dem Lande im wesentlichen Ruhe. Es gab keine Unruheherde. Es wäre aber falsch, anzunehmen, daß der Feind dort keine Positionen hat.“
Die Ereignisse um den 17. Juni und die dabei zutage tretende Krise des politischen Systems in der DDR veranlaßte große Teile der Landbevölkerung vor allem in den Tagen und Wochen danach, heftige Kritik an der Partei-und Staatsführung zu üben. Vor dem 17. Juni hatte die forcierte Kollektivierung zu einer Massenflucht der ländlichen Bevölkerung geführt Aus diesem Grund sah sich die Regierung auch veranlaßt, mit der Propagierung des Neuen Kurses bestimmte Benachteiligungen von Einzelbauern gegenüber den Mitgliedern von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) aufzuheben, die insbesondere nach der 2. Parteikonferenz eingeleitet worden waren. Wenige Tage nach dem 17. Juni erfolgte eine Verminderung der Soll-Abgaben für Einzelbauern. Diese Maßnahmen sollten zweifellos dazu dienen, einer Zuspitzung der Lage auf dem Lande entgegenzuwirken. Sie konnten jedoch nicht verhindern, daß die angestaute Unzufriedenheit massiv zum Ausbruch kam.
Bereits Anfang Juni äußerte sich diese Unzufriedenheit darin, daß nach der Propagierung des Neuen Kurses verstärkt Anzeichen sichtbar wurden, daß sich LPG auflösten. Dazu kam es jedoch erst nach den Ereignissen Mitte des Monats. Am 25. Juni hatten sich 0, 3 Prozent der LPG aufgelöst und bei zwei Prozent wurde d Juni hatten sich 0, 3 Prozent der LPG aufgelöst und bei zwei Prozent wurde davon ausgegangen, daß sie sich bald auflösten. Nach der bereits erwähnten Verminderung des Abgabesolls steigerte sich die Zahl bis zum 1. Juli auf 1, 1 Prozent. Zu diesem Zeitpunkt wurde im MfS davon ausgegangen, daß die „Gesamtzahl der aufgelösten LPG die Zahl von 2 Prozent von den bestehenden LPG unter keinen Umständen übersteigen“ werde: „Es ist sogar zu erwarten, daß von den bevorstehenden Auflösungen von 113 LPG sich die Mehrzahl dieser auf Grund des jetzt verstärkten Einsatzes des Partei-und Staatsapparates nicht auflösen werden. In der Mehrzahl haben sich die LPG auf Grund der letzten Ereignisse ideologisch und organisatorisch “ 24 gefestigt. )
Auch in dieser Einschätzung kommt zum Ausdruck, welche Hoffnungen die Partei-und Staats-führung an die verkündete ideologische Offensive knüpfte. Ebenso wie in den Industriebetrieben scheiterten jedoch die Bemühungen, durch Überzeugungsarbeit die Landbevölkerung für den Neuen Kurs zu gewinnen, der zwar ein gemäßigteres Vorgehen bei der Kollektivierung versprach, aber eindeutig auf die „sozialistische Umgestaltung“ auf dem Lande hinauslief. Letzterem sollte ja gerade der „verstärkte Einsatz des Partei-und Staatsapparates“ dienen.
Die dabei gehegten Hoffnungen erwiesen sich jedoch bald als völlig unbegründet. Vielmehr verlief die Entwicklung in entgegengesetzter Richtung. Am 18. Juli konstatierte das MfS: „Bisher haben sich also 4, 3 % der LPG’s aufgelöst. Weitere 5, 3 % von allen LPG’s beabsichtigen sich noch aufzulösen. Damit wird die Zahl der aufgelösten LPG auf 10% gesteigert. In weiteren 10% von allen LPG’s haben zahlreiche Mitglieder ihren Austritt erklärt und ihren Betrieb wieder in Einzelbewirtschaftung übernommen.“ 25) Der Auflösungsprozeß der LPG vor allem im Juli 1953 vermittelt aber nur indirekt einen Aufschluß über die Stimmung der Landbevölkerung. Der Austritt aus einer LPG muß auch als Reaktion der Bauern auf den Neuen Kurs gesehen werden, indem sie die sich bietende Möglichkeit nutzten, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern.
Weitaus deutlicher kam die Protesthaltung breiter Teile der Landbevölkerung in Bauern-und Gemeindeversammlungen zum Ausdruck, die ebenfalls im Zusammenhang mit der ideologischen Offensive der SED durchgeführt wurden. In den Beständen des MfS finden sich eine Vielzahl von Berichten, in denen sich die Gegnerschaft zur Regierung in geradezu drastischer Weise offenbart. Um zu verdeutlichen, wie derartige Versammlungen ab-liefen,sollen einige Auszüge aus dem MfS-Bericht über die am 15. Juli 1953 in Kribitz, Kreis Plauen, durchgeführte Bauernversammlung zitiert werden: „Zu Anfang der Versammlung machte der Polit-Leiter der MTS einige Ausführungen über den Druschplan. Der Bauer H. leitete die Provokation ein und schrie: , Halt die Gusche, Du Specker'. Nach dem Referat über den neuen Kurs unserer Regierung, sprach H. in der Diskussion folgendes:
Der neue Kurs der Regierung ist falsch, was der Kremei sagt, bringt Unglück, kehrt um vielleicht ist es jetzt noch Zeit, ihr seid die falsche Straße gelaufen. Wir brauchen keinen Pieck und Grotewohl, die sollen abtreten. In drei Monaten ist Adenauer hier, dann sind wir befreit’. Der Bauer R. äußerte: , Die Ernte soll verfaulen und die Pferde sollen sich zusammentreten*. Zum Bürgermeister sagte er: . Zieh Deine Schuhe aus, die sind verkehrt, Eure Partei verrät Euch, sie hält nicht was sie verspricht*. Der Malermeister F. stand auf und rief: . Meine Herren es ist fünf Minuten nach 12, der Tag der Abrechnung ist bald da. Der RIAS, das ist der Sender. Alle Menschen die in der Ostzone für die Menschenrechte kämpfen, werden eingesperrt, fünf Jahre Zuchthaus hat meine Frau dafür bekommen* . . . Der Bauer R. stand zum Schluß der Versammlung auf und sagte:, Los jetzt steht auf und wir singen das Lied, Deutschland, Deutschland über alles*. Der Rentner S. stimmte nachdem das Lied: Freiheit die ich meine, an.“
Der Verlauf der Versammlung in Kribitz bildete durchaus keinen Einzelfall. In einer Vielzahl ähnlicher Zusammenkünfte äußerten sich die Bauern noch weitaus drastischer, wobei insbesondere Walter Ulbricht die Zielscheibe heftigster Kritik bildete: „Warum sperrt man Ulbricht nicht ein? Wir brauchen nicht solche Pappfiguren, wie er eine ist, wir wollen uns selbst eine Regierung wählen“, äußerte beispielsweise unter tosendem Beifall ein Bauer am 7. Juli in Lindenberg, Kreis Potsdam
Trotz der Anfang Juli unter der Landbevölkerung herrschenden aggressiven Stimmung ließen sich Fälle von offenem Widerstand nur sehr vereinzelt in den Akten feststellen. „Am heutigen Tage (gemeint ist der 13. Juli, A. M.) legten fünf Gemeindevertreter von Paplitz ihre Arbeit nieder und forderten Rücktritt der Regierung. In beiden Fällen wurde eindeutig Kr. als Rädelsführer festgestellt. Von Kr.selbst ist bekannt, daß er in der Gemeinde das große Wort führt und sämtliche Maßnahmen der Regierung versucht mit Argumenten des Hetzsenders RIAS zu diskreditieren. Besonders enge Verbindungen unterhält Kr. mit dem Pfarrer des Or-tes“. meldete ein MfS-Bericht. Kr. hatte bereits wenige Tage zuvor auf einer Bauernversammlung die Regierung heftig kritisiert und eine Resolution unterbreitet, in der die Freilassung von drei Einwohnern aus Paplitz verlangt wurde, die die Ver-sammelten einstimmig annahmen Aktionen wie in Paplitz bildeten jedoch, wie bereits erwähnt, die Ausnahme. Demgegenüber kam es Anfang Juli wieder zu Streikandrohungen und Streiks in den Industriebetrieben.
V.
Es handelte sich dabei zunächst um Streiks von nur wenigen Stunden, in deren Mittelpunkt ökonomische Forderungen wie Lohnerhöhungen, Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsorganisation standen. So wurde beispielsweise im Klement-Gottwald-Werk in Schwerin am 9. Juli die Arbeit niedergelegt. Tags darauf erschien immerhin der Staatssekretär für Schwermaschinenbau, Lunkewitz, mit einem Vertreter des ZK sowie einem Vertreter des Ministeriums für Arbeit und Löhne im Werk. Lunkewitz erklärte in einer Belegschaftsversammlung, daß die geforderte Erhöhung der Löhne nicht erfolgen könne, versprach aber andere, die Arbeitsorganisation im Betrieb betreffende Probleme zu klären. Darauf verweigerten 25 von 70 Arbeitern in der folgenden Nachtschicht am 10. Juli erneut die Arbeit. Der anwesende Parteisekretär forderte die Streikenden erfolglos zur Arbeitsaufnahme auf. Kurzerhand ließ er die beiden Wortführer, den Schlosserbrigadier P. und den Schlosser W. „in Anwesenheit der streikenden Arbeiter“ festnehmen, die dadurch offenbar so eingeschüchtert wurden, daß sie die Arbeit Wiederaufnahmen. Interessant erscheint, was die Staatssicherheit in bezug auf W. berichtete: „W. war im Jahre 1952 im Werk unter dem Spitznamen , RIAS‘ bekannt und hat sich schon vor den Ereignissen durch reaktionäre Auffassungen hervorgetan. So z. B. schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief: . Wenn wir den Frieden und die Einheit Deutschlands haben wollen, gibt es nur eins, unsere Volkspolizei und die Grenze weg, eine geheime, ehrliche Wahl durchführen und nicht eine solche Schiebung wie im Oktober 1950, und dann werden wir weiter sehen 4.“
Unbestritten stand hinter den ökonomischen Forderungen der Streikenden Anfang Juli 1953 das Verlangen nach politischen Veränderungen. Denn erst politische Veränderungen ließen die Verbesserung der ökonomischen Situation erwarten. Das zeigte sich in den wesentlich umfangreicheren Streiks am 10. Juli in Jena und vom 15. bis 17. Juli in Buna. Beide Aktionen waren zweifellos der Höhepunkt der zweiten Streikwelle, die Anfang Juli eingesetzt hatte. Der Schwerpunkt lag dabei im mitteldeutschen Industriegebiet. Zwar sind diese Aktionen von der Anzahl her nicht mit denen um den 17. Juni vergleichbar. Die Hauptursache für die erneuten Streiks war, daß nach dem 17. Juni keine durchgreifenden politischen und ökonomischen Veränderungen erfolgten. Zumindest entsprachen die von der Parteiführung propagierten und teilweise auch eingeleiteten Maßnahmen durchaus nicht den Erwartungen eines erheblichen Teils der Bevölkerung.
Um die Aktionen in Jena und Buna richtig einordnen zu können, ist es notwendig, näher auf deren Entstehungsgeschichte einzugehen. Im VEB Carl-Zeiß-Jena deuteten sich künftige Auseinandersetzungen bereits am 7. Juli an, nachdem Belegschaftsversammlungen in 50 Gewerkschaftsgruppen des Werkes stattgefunden hatten. Der Forderungskatalog der Abteilung Mikro-Oberflächen-Behandlung (MOB) spiegelte dies beispielsweise deutlich wider. Der erste von 33 Punkten lautete: Freie, geheime Wahlen für die Einheit Deutschlands; der letzte: Abbau der zu hohen Gehälter. Das sehr weit gefächerte Spektrum von politischen und ökonomischen Forderungen zeigte die Spontanität der Diskussion. Aus dem Kommentar des MfS wird ersichtlich, daß es sich um ein durchaus typisches Beispiel handelte. Zu diesem Zeitpunkt, hieß es darin, hätten der Betriebsgewerkschaftsleitung „noch ca. 250 Protokolle mit ähnlichen Forderungen, die aus vorhergegangenen Versammlungen stammen“, vorgelegen. Am 9. Juli tagte dann das Gewerkschaftsaktiv des Betriebes. Daran nahm auch der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall, Schmidt, teil. Er erklärte, „daß die gestellten Forderungen von zentraler Stelle überprüft werden und in 4 Wochen das nächste Gewerkschaftsaktiv stattfindet, wo zu diesen Fragen nochmals Stellung genommen wird“. Offensichtlich sollte im Laufe dieser Zeit massiv auf die Belegschaft eingewirkt werden, um die Rücknahme der Forderungen zu erreichen. Wohl die wichtigste Ursache dafür, daß Schmidt sie nicht sofort zurückwies, war, daß es dann wahrscheinlich sofort zu Streiks gekommen wäre. Denn der größte Teil von 50 an der Diskussion beteiligten Belegschaftsangehörigen sprach sich für die gestellten Forderungen aus; „Diskussionsredner der SED wurden mit Johlen und Pfeifen empfangen“.
Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es im Betrieb eine Unterschriftensammlung für die Haftentlassung ei-B nes der Streikführer vom 17. Juni, Norkus, der zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Am 9. Juli hatten 1 300 Betriebsangehörige unterschrieben. Die Forderung nach Haftentlassung von Norkus war dann auch der Ausgangspunkt des Sitzstreikes, an dem sich am 11. Juli mehr als 2 000 Arbeiter des Zeiß-Werkes in Jena beteiligten. Zwar gelang es durch massiven Einsatz des Repressivapparates eine Ausweitung auf andere Betriebe der Stadt zu verhindern und bereits nach wenigen Stunden den Abbruch durchzusetzen, aber aus der Vorgeschichte wird ersichtlich, wie stark der Protest gegen das politische System war. In dem Bericht des MfS über die Vorgänge in Jena wurde resümierend festgestellt: „Immer wieder ist zu bemerken, daß dort, wo reaktionäre Elemente in Versammlungen gegen die Regierung und deren Maßnahmen auftreten, diese einen großen Teil der Belegschaft für ihre Ziele gewinnen.“ Zweifellos sollte dadurch zum Ausdruck gebracht werden, daß es in erster Linie darauf ankam, das Auftreten von „Provokateuren“ zu verhindern und gleichzeitig die Bedeutung der Tätigkeit der Staatssicherheit bei der Unterdrükkung weiterer Protestaktionen hervorgehoben werden
In Buna zeigte sich, welche Folgen es hatte, wenn der Repressivapparat die Situation nicht vollständig kontrollierte. Denn dort kam es in der Zeit vom 15. Juli bis zum 17. Juli zu Protestaktionen, die „größere Ausmaße als am 17. 6. erreichte(n) . .
Zu berücksichtigen bleibt dabei, daß am 17. Juni 38 Mitglieder der gemeinsamen Streikleitung von Buna und Leuna in Merseburg festgenommen worden waren. Weitere Organisatoren konnten sich wenig später einer Verhaftung nur durch Flucht entziehen. Insofern mußte sich die Streikführung in den darauffolgenden Tagen und Wochen völlig neu organisieren. Die Tatsache, daß dies unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes und der damit verbundenen verschärften Überwachung durch die Sicherheitsorgane geschah, unterstreicht die Bedeutung des Streiks Mitte Juli.
Auch in Buna kündigten sich die Streikaktionen bereits zu Beginn des Monats in den Betriebsgewerkschaftsversammlungen an. So informierte die Abteilungsgewerkschaftsleitung (AGL) des Betriebsteils Elektrowerkstätten in Schkopau die BGL der Chemischen Werke Buna über eine auf der Belegschaftsversammlung am 8. Juli angenommene Resolution „an den Hohen Kommissar der SU, Semjonow . . .“. Sie enthielt 28 Punkte mit überwiegend politischen Forderungen. Aus den ersten sieben wird die Grundtendenz deutlich sichtbar: „ 1) Beschleunigte Maßnahmen, die zur Beseitigung der Zonengrenze und den Gegensätzen zwischen Ost und West und damit zur Einheit Deutschlands führen. — Freie, geheime gesamtdeutsche Wahlen unter Zulassung sämtlicher demokratischen Parteien. — Nach Abschluß eines Friedensvertrages Abzug aller Besatzungstruppen. 2) Sofortige Freilassung aller politisch Inhaftierten. Nichtfreilassung und weitere Verhaftungen aus ungerechtfertigten politischen Gründen werden mit Streik beantwortet. 3) Umgehend Benachrichtigung (innerhalb 24 Stunden) der Angehörigen von Verhafteten, aus welchem Grunde die Inhaftierung erfolgte und wo der Häftling sich befindet. 4) Zulassung von Kommissionen, die sich ohne vorherige Anmeldung zu jeder Zeit über die Zustände in den Gefängnissen informieren können. 5) Wegfall der Schweigepflicht für entlassene Inhaftierte über Geschehnisse und Behandlung während der Haft. (Überbleibsel aus der Nazizeit.) 6) Reduzierung der kasernierten Volkspolizei auf ein Mindestmaß, da wir z. Zt. noch eine Besatzungsmacht haben; junge, gesunde Kräfte zum Wiederaufbau dringend benötigt werden und darüber hinaus erhebliche Mittel unseres Staatshaushaltes für andere Zwecke frei werden. 7) Umorganisierung der Gewerkschaft in eine Kampforganisation aller Werktätigen. Loslösung der Gewerkschaft von einseitiger Parteipolitik.“
Bei der BGL und der Betriebsparteileitung in Buna gingen in dieser Zeit offensichtlich eine Vielzahl derartiger Forderungskataloge ein, ohne daß ihnen größere Bedeutung beigemessen wurde. Auch die Tatsache, daß vom 17. Juni bis 15. Juli 1953 70 Parteimitgliedsbücher abgegeben oder vernichtet wurden, rief keinerlei Aktivitäten hervor. Immerhin befanden sich darunter sieben Genossen, die vor 1945 der KPD oder SPD angehört hatten, zwei davon sogar seit 1918 bzw. 1919. Offenbar wurde davon ausgegangen, daß die Belegschaft nach dem rigorosen Vorgehen der sowjetischen Besatzungstruppen und der Sicherheitsorgane am 17. Juni keine Aktionen mehr wagte, zumal die Kasernierte Volkspolizei (KVP) und Beauftragte des MfS im Betrieb stationiert blieben. Auch als die Mitglieder der Belegschaft vom Bau G 32 am 10. Juli eine Resolution verfaßten, in der sie den 1. Sekretär der Betriebsparteiorganisation, Rinkel, ultimativ aufforderten, seine Behauptung zurückzunehmen, daß im Bau G 32 nur Provokateure beschäftigt seien und mit Streik drohten, geschah zunächst nichts. Am 15. bis 17. Juli streikte dann mindestens ein Drittel der 16 000 Beschäftigten des Buna-Werkes. Das ursprüngliche Verlangen an Rinkel spielte dabei keine Rolle mehr und tauchte auch nicht im Forderungskatalog der Streikenden auf, der 30 Punkte überwiegend politischen Inhalts enthielt. Die wichtigsten waren: „ 1. Freie, allgemeine, gesamtdeutsche Wahlen schnellstens durchführen. 2. Freilassung sämtlicher politisch Inhaftierten. 3. Neuwahl der Gewerkschaftsleitung von der Gruppe bis zur BGL im Werk. 4. Bis zur Neuwahl keine Zahlung der Gewerkschaftsbeiträge. 5. Loslösung der Gewerkschaft von der Partei, damit die Gewerkschaft ein wirkliches Kampforgan der Arbeiter wird . .
Offensichtlich hofften die Streikenden, daß sich weitere Betriebe ihnen anschlossen. Am 16. Juli kam es aus diesem Grund zu Auseinandersetzungen an der Straßenbahnhaltestelle Merseburg-Halle: „Leuna-Arbeiter (wurden) von den Buna-Arbeitern beschimpft, weil sie sich mit dem Sitzstreik nicht solidarisch erklärten.“ Lediglich in einer Abteilung des Leuna-Werkes wurde versucht, einen „Sympathiestreik mit Buna“ auszulösen, der aber, wie es im MfS-Bericht heißt, „im Keime erstickt (werden) konnte, weil diese Personen merkten, daß sofort von Seiten aller Organisationen eingeschritten wurde“.
Massiv eingegriffen wurde auch in Buna. Bereits am 15. Juli bildete die SED-Kreisleitung einen so-genannten Kampfstab, dem der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, zwei Instrukteure des ZK der SED, der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und jeweils ein Vertreter der KVP, des Betriebs-schutzes und des MfS angehörten. Der Einsatz von mindestens hundert Parteiinstrukteuren, die am Nachmittag des 15. Juli mit den Arbeitern diskutierten, und auch ein Gespräch einer Abordnung der Streikenden mit dem Vertreter der sowjetischen Besatzungstruppen, dem Gardeoberst Rodjonow, hatten keinen Erfolg. Rodjonow erklärte der Abordnung, daß es sich um „faschistische Forderungen“ handele und drohte damit, „daß, wer bis 17. 00 Uhr die Arbeit nicht aufnimmt, das Werk verlassen soll und als gekündigt gilt“.
In der Nacht vom 15. zum 16. Juli erfolgten 18 Festnahmen durch das MfS, wobei es sich offensichtlich um die Organisatoren des Streiks handelte. Außerdem traf Fritz Selbmann, der Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen, in Buna ein. Selbmann war bei der Niederwerfung des Widerstandes gegen das SED-Regime im Juni/Juli besonders aktiv. In Buna übergab er am 15. Juli um 24. 00 Uhr den Mitarbeitern der Staatssicherheit eine Liste mit den Namen von 16 Arbeitern, „die festzunehmen sind, da es sich um Provokateure handelt und ausreichend Material vorliegt“. In den Vernehmungen von zwölf daraufhin Verhafteten fanden die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Behauptungen des Ministers. Als sie sich bei Selbmann erkundigten, „warum er diese Personen festnehmen ließ, erklärte dieser, daß dies Vorsichtsmaßnahmen gewesen seien“. Das MfS nutzte jedoch die einmal Verhafteten auf ihre Weise, indem sie unter entsprechendem Druck als sogenannte Geheime Informanten — d. h. Spitzel — angeworben wurden: „Da es sich bei diesen Personen um Arbeiter aus verschiedenen Betrieben handelte, wurden diese verpflichtet und entlassen. Es hat sich gezeigt, daß diese Personen bis zum heutigen Tage ihre Treffs einhielten und wertvolle Hinweise gaben.“
Selbmann traf wohl deshalb Vorsichtsmaßnahmen, weil er am 17. Juli im Buna-Werk sprechen sollte. Sein Auftritt endete mit einem völligen Eklat — obwohl in der Nacht zuvor durch umfangreiche Repressivmaßnahmen die Belegschaft eingeschüchtert und damit gefügig gemacht werden sollte. An allen wichtigen Stellen des Werkes wurde KVP stationiert. Am Morgen verhinderten Mitarbeiter der Staatssicherheit und Einsatzkräfte der Partei, daß die Karbidöfen — das „Herz“ des Betriebes — gelöscht wurden, die die Nachtschicht unter Druck hatte wieder in Betrieb nehmen müssen. Trotz der faktischen Besetzung des Werkes durch Sicherheitskräfte ging der Streik aber weiter. 500 Personen nahmen an der Versammlung teil, auf der Selbmann sprach. Die Rede des Ministers wurde mehrfach durch Beifall unterbrochen, „aus Ironie“, wie die Beobachter vom MfS feststellten. Die sich anschließende Diskussion wurde wegen „provokatorischer Reden“ abgebrochen. Daraufhin verließen 80 Prozent der Anwesenden die Versammlung, als Selbmann das Schlußwort hielt, und er mußte seinerseits abbrechen. Durch den massiven Druck der Sicherheitskräfte gelang es schließlich im Laufe des Tages, den Streik niederzuschlagen. Eine der wichtigsten Ursachen, weshalb der Widerstand der Belegschaft in Buna überhaupt solange anhielt, war, daß zwar überwiegend Arbeiter streikten, aber die Angestellten und vor allem die technische Intelligenz sich mit ihnen solidarisierte. „Es kann gesagt werden, daß die Intelligenz des Werkes Buna überwiegend die Losungen der Arbeiter unterstützt“, hieß es im zusammenfassenden Bericht des MfS Ähnlich war es bei den Ereignissen einen Monat zuvor auch in den Leuna-Werken gewesen
VI.
Die Ereignisse Mitte Juli in Buna spiegelten die angespannte politische Lage in der DDR zu diesem Zeitpunkt deutlich wider. Die Tatsache, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht mehr bereit war, die uneingeschränkte Herrschaft des SED-Regimes hinzunehmen, mußte sich auch auf die innerparteilichen Auseinandersetzungen auswirken. So benutzte Walter Ulbricht die anhaltenden politischen Spannungen dazu, um die Kritiker seiner politischen Linie, insbesondere den Chefredakteur des ND, Rudolf Hermstadt, und den Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, aus dem unmittelbaren Führungszentrum zu eliminieren. Über die diesbezüglichen Auseinandersetzungen in der Parteispitze der SED bietet das von Nadja Stulz-Herrnstadt herausgegebene „Herrnstadt-Dokument“ eine Fülle von Informationen Weniger aufschlußreich ist diese Veröffentlichung dagegen in der Frage, wie die Hauptkritiker Ulbrichts sich zum 17. Juni verhielten und vor allem, welche Schlußfolgerungen sie aus den Ereignissen im Juni/Juli zogen. Das erscheint auch insofern von Bedeutung, weil aufgrund von Materialien aus dem noch immer keiner uneingeschränkten wissenschaftlichen Nutzung zugänglichen SED-Archiv die These aufgestellt wurde, daß mit „dem jähen Abbruch der Diskussion alternativer konzeptioneller Ansätze und der massiven politischen Verurteilung von Rudolf Hermstadt, Wilhelm Zaisser und anderer Parteifunktionäre wegen Kapitulantentum, Gefährdung der Einheit der Partei und innerparteilicher Putschabsichten . . . 1953 eine historische Chance verspielt (wurde)“
Hier ist jedoch festzuhalten, daß — wie für alle Spitzenfunktionäre — auch für Herrnstadt und Zaisser die Brechung des Widerstandes gegen das SED-Regime nach dem 17. Juni vordringlichste Aufgabe war. Auch sie agitierten in den Betrieben und suchten die Arbeiterdavon zu überzeugen, daß sie sich für einen faschistischen Putsch hätten mißbrauchen lassen. Wilhelm Zaisser stand zudem an der Spitze eines der wichtigsten Repressivinstrumente, über das die SED verfügte. Bis zu seiner Absetzung, also auch im Juni/Juli 1953, ist Zaisser voll verantwortlich zu machen für das brutale Vorgehen der Staatssicherheit Herrnstadt übte nach den gegen ihn und Zaisser auf dem 15. Plenum vorgebrachten Vorwürfen zunächst Selbstkritik In seinen Memoiren distanzierte er sich später aus verständlichen Gründen von seiner Erklärung an die zentrale Parteikontrollkommission vom 31. August 1953. Es spricht vieles dafür, daß Herrnstadt zu diesem Zeitpunkt unter dem Eindruck des breiten Widerstandes gegen das SED-Regime stand. Möglicherweise war er durch Zaisser über die Situation genau informiert. In seiner Erklärung räumte Herrnstadt ein, die „faschistische Provokation“ in ihrer Tragweite nicht voll erkannt zu haben: „Da diese Orientierung fehlte, konnte es dazu kommen, daß in einer Reihe von Aufsätzen eine objektiv falsche und kapitulantenhafte Linie vertreten wurde, und daß dem Feind Versuche gelangen, die Zeitung auszunutzen (Fechner).“
Abgesehen davon, daß Herrnstadt damit die Verurteilung Fechners, des ehemaligen Justizministers, rechtfertigte, zeigte sich in diesen Ausführungen, wie begrenzt seine Vorstellungen in bezug auf „alternative konzeptionelle Ansätze“ waren. Fechner hatte in einem ND-Artikel, der zu seiner Verhaftung führte, lediglich für rechtsstaatliche Grundsätze in den Gerichtsverfahren gegen Personen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni verurteilt wurden, plädiert Ausdrücklich sprach sich Herrn-stadt in der Erklärung auch gegen die Trennung von Partei und Gewerkschaft aus. Eine solche Auffassung war ihm ebenfalls unterstellt worden: „Niemals bin ich dafür eingetreten, daß die Gewerkschaften das Forum der offenen Aussprache sein sollen, d. h., daß die Agenten des Ostbüros (der SPD, A. M.) bei uns die Freiheit der Aussprache haben sollen. Ich habe im Gegenteil solche Auffassungen überall, nicht nur hinsichtlich der Gewerkschaften, auf schärfste bekämpft und Agenten, wo ich dazu Gelegenheit hatte, an Ort und Stelle entlarvt. Und nichts habe ich zu tun mit der Perspektive von Schmidt (ich kenne weder ihn noch seinen Fall), die doch offenbar die Perspektive der Preis-gabe der Gewerkschaften als einer Organisation der revolutionären Klasse ist; den gegenteiligen Standpunkt habe ich vertreten und begründet.“ Das mehr oder weniger offen formulierte Bekenntnis von Herrnstadt zur Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei hing möglicherweise auch damit zusammen, daß gerade eine der Haupt-forderungen in den Betriebsversammlungen die Trennung zwischen Partei und Gewerkschaft war. Im Gegensatz zu Herrnstadt und Zaisser, die sich aktiv an der Niederschlagung des Widerstandes gegen das SED-Regime beteiligten, zog ein beträchtlicher Teil von Genossen andere Konsequenzen aus den Ereignissen im Juni/Juli 1953: „Nach den Ereignissen in Berlin vom 17. 6. 1953 machte sich eine Welle von Austritten aus unserer Partei bemerkbar. Zuerst wurde bekannt, daß im Reichsbahnamt Kirchmöser mehrere Genossen ihren Austritt aus der Partei erklärten.
Eine dadurch veranstaltete Umfrage zeigte, daß dies kein vereinzelter Fall war, sondern in allen Bezirken in Erscheinung trat“, wurde in einem MfS-Bericht bereits am 1. Juli festgestellt. Darin war von insgesamt 803 Austritten die Rede, darunter nur von sieben Ausschlüssen. Gleichzeitig wurde eine Fülle von Beispielen dafür angeführt, daß bei „einem großen Teil der Mitglieder unserer Partei eine feindliche Einstellung gegenüber der Partei“ bestand
VII.
Die Forderung der SED-Spitze, die Geschlossenheit der Partei zu stärken, resultierte sicherlich auch daraus, daß innerhalb der Blockparteien nach dem 17. Junj zunehmend Tendenzen nach einer eigenständigeren Politik gegenüber der SED und, damit verbunden, das Bemühen um eine stärkere Beteiligung an der Macht sichtbar wurde. Vor allem die Vorstände der Christlich Demokratischen Partei (CDU) und der Liberaldemokratischen Partei (LDP) gerieten im Juni/Juli unter den wachsenden Druck ihrer Basis. Spätestens Ende Juni kam es deshalb innerhalb der Führung der CDU zu Auseinandersetzungen über die Haltung der Partei zum Neuen Kurs. In einer Hauptvorstandssitzung am 26. Juni suchten Otto Nuschke und Gerald Götting trotz verhaltener Kritik an der bisherigen Politik der SED deren Neuen Kurs zu rechtfertigen. Über die Reaktion der übrigen Teilnehmer hieß es in dem Bericht des MfS, „daß fast alle einberufenen Funktionäre der CDU mit der Stellungnahme ihres Vorsitzenden (Nuschke, A. M.) und ihres Generalsekretärs (Götting, A. M.) nicht einverstanden waren“. Zweifellos spiegelte dies die Meinung eines beträchtlichen Teils der Mitglieder wider, die „die Leitung ihres Parteivorstandes als , Ja-Sager‘ und ihre Parteiführung als Anhängsel der SED“ betrachteten. Unter diesem Eindruck beschloß Götting, in verschiedenen Bezirken die Stimmung an der Basis zu erkunden. Besonders beeindruckt zeigte sich der Generalsekretär unter anderem über das Ausmaß der „Streikstimmung“ im Bezirk Halle. Die Folge seiner Rundreise war eine „ziemlich schnelle Wendung in seiner Einstellung und Handlungsweise . . .“. Dies kam, so der MfS-Bericht, besonders auf einer Sekretariatssitzung am 6. Juli 1953 zum Ausdruck: „Während Götting in der Hauptvorstandssitzung am 26. 6. 1953 den neuen Kurs der Regierung vertrat und verteidigte, hat er auf dieser Sitzung eine völlig andere, zum Teil die Blockpolitik gefährdende Haltung eingenommen." Die Bestrebungen Göttings liefen letztlich darauf hinaus, daß er mehr politisches Gewicht für seine Partei innerhalb des demokratischen Blocks zu erreichen hoffte.
Die gleiche Situation wie in der CDU herrschte in der LDP. Auch in dieser Partei wurden nach dem 17. Juni breite Teile der Mitgliederschaft wesentlich aktiver als zuvor. Ähnlich wie bei der CDU hofften auch hier die Spitzenfunktionäre mehr Einfluß in der Regierung zu gewinnen. Offenbar bemühten sich beide Parteien sogar um ein koordiniertes Vorgehen: „In den Reihen des Vorstandes (der LDP, A. M.) sowie in Kreisen der Mitgliedschaft besteht die Tendenz, durch ein Konformgehen mit der CDU in wirtschaftlichen Fragen diesen gegenüber der SED mehr Nachdruck zu verleihen (Eisenacher Koalitionsprogramm).“ Aus den MfS-Berichten wird aber deutlich, daß die Vorstände beider Parteien keine grundlegende Änderung der Parteilinie beabsichtigten. Es handelte sich lediglich darum, die bestehende Krise des SED-Herrschaftssystems auszunutzen, um mehr politischen Einfluß gewinnen zu können. In dem Maße, wie es der SED gelang, mit Hilfe des Repressionsapparates das politische System wieder zu stabilisieren, lenkten die Führungen der Blockparteien ein.
Die SED-Führung mußte aus den Ereignissen im Juni/Juli 1953 den Schluß ziehen, daß nur durch die Verstärkung des Repressionssystems sich ihre absolute Herrschaft aufrechterhalten ließ. Insbesondere der Staatssicherheitsdienst wurde danach auf allen Ebenen dem Parteiapparat unterstellt. Seine Reorganisation in dieser Richtung ging mit einer massiven personellen Vergrößerung einher, wobei ein Schwergewicht die Gewinnung Geheimer Informanten bildete.
Die MfS-Berichte über die Vorgänge im Juni/Juli 1953 zeigen die Tiefe und Breite des Widerstandes innerhalb der DDR-Bevölkerung gegen das SED-Regime. Gerade die Geschehnisse nach dem 17. Juni machen deutlich, daß zwar das Schwergewicht des Protestes bei den Arbeitern lag, aber auch in den anderen sozialen Schichten massive Unzufriedenheit über die politischen Zustände in der DDR herrschte, die auch in direkte Aktionen einmünden konnte.
Bereits im Juni/Juli 1953 mußte die SED-Herrschaftsoligarchie erkennen, daß sie keinen Rückhalt mehr innerhalb der Bevölkerung besaß. Um so wichtiger wurde der Ausbau eines kompromißlos agierenden Unterdrückungsapparates, dessen Kern die Staatssicherheit wurde. In diesem Sinne wies Herrmann Matern die führenden Mitarbeiter des MfS am 11. November 1953 an, die entsprechenden Schlußfolgerungen aus den Geschehnissen im Juni/Juli zu ziehen: „In den Reihen der Staatssicherheit darf es keinen Liberalismus geben gegen die Feinde unserer Republik. Wir müssen hart und rücksichtslos zuschlagen. Für knieweiche Pazifisten oder Mondgucker ist in unseren Reihen kein Platz. Genosse Walter Ulbricht hat einmal auf einer ZK-Sitzung erklärt: , Wir müssen die Deutsche Demokratische Republik zu einer Hölle für die feindlichen Agenten machen.“