I. Der Europäische Binnenmarkt und die Sozialpolitik
Das Projekt 1992
Am 31. Dezember 1992 soll der europäische Binnenmarkt vollendet sein. Bei dem Binnenmarkt-projekt handelt es sich um die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten, der Freizügigkeit von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Bereits die Römischen Verträge aus dem Jahre 1957 enthielten dieses Ziel neben anderen, die Art. 3 EWG-Vertrag nennt: z. B. gemeinsamer Außenzolltarif, gemeinsame Verkehrs-, Landwirtschafts-und Außenhandelspolitik. Freihandel und Freizügigkeit stellen daher einen Teilbereich des Gemeinsamen Marktes dar.
Der wird Binnenmarkt den Wettbewerb auf Güter-, Kapital-und Arbeitsmärkten verstärken. Auf eine „soziale Flankierung“ der Folgen dieses Wettbe -
bezieht sich Forderung werbs die nach einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik. 1. Gütermärkte: In dem Maße, in dem die Handelshemmnisse im europäischen Warentausch fortfallen, werden auch die Arbeitskräfte einem stärkeren internationalen Wettbewerb ausgesetzt sein. 2. Kapitalmärkte: Mit der Freiheit des Kapitalverkehrs werden die Unternehmen mobiler. Standortentscheidungen werden daher in zunehmendem Maße von arbeits-und gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen sowie von Sozialabgaben der Unternehmen im jeweiligen Land abhängen. 3. Arbeitsmärkte: Die Mobilität von Arbeitskräften wird die nationalen Arbeitsmärkte verschmelzen; eine direktere Konkurrenz unter den Arbeitgebern, aber auch unter den Arbeitnehmern in der EG wird die Folge sein.
Zu untersuchen ist, ob das Binnenmarktprojekt von einer Harmonisierung des nationalen Arbeitsrechts und der sozialen Mindestleistungen auf europäischer Ebene begleitet werden darf (rechtliche Frage), inwieweit dies bereits geschieht (politisch-institutionelle Frage) und ob es sich dabei um einen effizienten Weg handelt (ökonomische Frage). 2. Die Sozialpolitik im EWG-Vertrag Die Römischen Verträge aus dem Jahre 1957 1) zielten auf die Errichtung eines gemeinsamen Marktes (Art. 2 EWGV), d. h. sie waren in erster Linie wirtschaftspolitisch motiviert. Die eigentliche soziale Errungenschaft der Gründungsverträge wurde in verbesserten Lebens-und Arbeitsbedingungen als Ergebnis einer international arbeitsteiligen Wirtschaft gesehen.
Die im weiteren Sinne sozialen Vorschriften des EWG-Vertrages befinden sich in den Artikeln 117 bis 128 („Die Sozialvorschriften“ und „Der Europäische Sozialfonds“) und 48 bis 58 (Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Niederlassungsfreiheit). Zu unterscheiden ist zwischen zwingenden und nicht zwingenden Vorschriften. Bei letzteren handelt es sich um reine Programmsätze, welche keine Gemeinschaftskompetenz begründen, so z. B. Art. 117: „Die Mitgliedstaaten sind sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken . . .“ Erstere dagegen werden in der Regel einstimmig beschlossen und stellen eine Ermächtigungsgrundlage für gemeinschaftliches Sekundärrecht dar, beispielsweise Art. 51: „Der Rat beschließt einstimmig auf Vorschlag der Kommission die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen . . .“. Das Einstimmigkeitserfordernis verdeutlicht den Wunsch der Vertragspartner — entgegen vielfach anderslautender „Lippenbekenntnisse“ —, den zwischenstaatlichen Charakter der EG nicht zugunsten einer supranationalen Organisation aufzugeben. So hebt auch der Grundsatz der Einzelermächtigung den qualitativen Unterschied zwischen dem EWG-Vertrag und einer nationalen Verfassung hervor: „Zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe dieses Vertrages erlassen der Rat und die Kommission Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen . . .“ (Art. 189 Satz 1; Hervorhebung durch die Verfasserin). Ein gewisses Maß an Flexibilität bieten allerdings die Artikel 100 (Richtlinienkompetenz zur Angleichung solcher nationaler Rechtsvorschriften, welche sich „unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes aus-wirken“) und 235 (Erlaß von Vorschriften seitens der Gemeinschaft für unvorhergesehene Fälle, „um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen“).
Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) sollte dreißig Jahre nach Gründung der EWG neue integrationspolitische Impulse geben. Die politische Stagnation der siebziger und frühen achtziger Jahre wurde nicht zuletzt mit der Ausdehnung der Gemeinschaft von sechs auf nunmehr zwölf Mitglieder erklärt. Die zunehmende Vielfalt der Interessenslagen erschwerte den Entscheidungsprozeß im Rat. Der Zusatz zum EWG-Vertrag sah daher auf einigen für die Verwirklichung des Binnenmarktes wichtigen Gebieten den Übergang von der Einstimmigkeit zu qualifizierten Mehrheiten vor.
Die Mehrheitsregel bewirkt eine Stärkung des supranationalen Moments. Dies ist aus ökonomischer Sicht jedoch nur dann wünschenswert, wenn die Präferenzen zwischen Mehrheit und Minderheit
II. Die Sozialpolitik der EG-Organe
1. Der Europäische Gerichtshof (EuGH)
Dem EuGH obliegt die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“ (Art. 164 EWGV). Problematisch ist nun vor allem die Auslegung des EWG-Vertrages: Fast immer wurde einer „integrationsfreundlichen“ (d. h. zentralistischen) Auslegung der Vorzug gegeben, wobei der Übergang zur Rechtsfortbildung als fließend bezeichnet werden muß. Die „Dynamisierung“ des EWG-Vertrages durch den EuGH läßt sich anhand der sozialen Sicherung von Wanderarbeitnehmern veranschaulichen 1. „Positive Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern“: Die EG-Verordnung 1408/71 sieht in Verbindung mit Art. 51 EWGV für Arbeitnehmer, die in mehreren Ländern der Gemeinschaft gearbeitet haben, eine anteilige Rentenberechnung „nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften“ (Art. 51) entsprechend der Versicherungszeit vor. Damit sollte vermieden werden, daß diese Personen schlechter oder besser gestellt werden als die international nicht mobilen Arbeitskräfte. Der EuGH vertrat die Ansicht, daß mobile Arbeitskräfte durch Antikumulierungsvorschriften gewisse nationale Vergünstigungen verlieren, was einer Einschränkung der Freizügigkeit gleichkomme. kaum divergieren. Diese Bedingung scheint jedoch nur dort erfüllt zu sein, wo es um die Integration der Märkte geht. Was die Integration und Zentralisierung der Politik angeht, hat die Bandbreite der Präferenzen in der Gemeinschaft eher zugenommen.
Auf dem Gebiet der Sozialpolitik interessieren vor allem die neuen Artikel 118 a und 100 a EEA. Ersterer betrifft den Erlaß von Mindestvorschriften im Bereich der „Arbeitsumwelt . . ., um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen“ (Abs. 1). Letzterer bezieht sich in Abs. 1 auf eine Rechtsharmonisierung zum Zwecke der Vollendung des Binnenmarktes bis 1993. Diese Sonderregelung zu Art. 100 findet ihre Grenze aber in Abs. 2, welcher die Bestimmungen über die Freizügigkeit und über die „Rechte und Interessen der Arbeitnehmer“ ausdrücklich von Art. 100al ausnimmt. Das Einstimmigkeitserfordernis bleibt also im Bereich der Sozialpolitik scheinbar erhalten mit Ausnahme des Art. 118 a.
Er bewirkte durch seine ständige Rechtsprechung, daß die international mobilen Arbeitskräfte tatsächlich besser gestellt sind als die immobilen. So erhält ein Arbeitnehmer, der in der Bundesrepublik und den Niederlanden beschäftigt gewesen war, nach Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit zwei volle Invaliditätsrenten: eine beitragsabhängige deutsche und die von der Versicherungsdauer unabhängige niederländische (Fall Besem 2. „Sozialexport“: Finanziell noch folgenreicher ist die Neigung des EuGHs, bei sozialen Leistungen wie etwa dem Kindergeld vom Territorialitätsprinzip abzuweichen. So verpflichtete der EuGH die Bundesrepublik, Kindergeld an die in Italien lebenden Kinder eines von dort stammenden Arbeitnehmers zu zahlen, nachdem dessen berufstätige Frau es versäumt hatte, einen entsprechenden Antrag in Italien zu stellen (Fall Salzano Die Bundesrepublik befürchtet, wenn dieses Beispiel Schule macht, einen umfangreichen Export deutscher Sozialleistungen, da diese meist höher als in den anderen EG-Staaten sind. 2. Die Kommission Die Kommission ist das Exekutivorgan der Gemeinschaft. Ihr obliegt zum einen die Anwendung des Vertrages (Art. 1511. Spiegelstrich, in Verbindung mit Art. 169 EWGV). Zum zweiten hat sie das alleinige Vorschlagsrecht (Art. 155, 2. bis 4. Spiegelstrich, in Verbindung mit Art. 152, 149 und 189 EWGV). Zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedient sich die Kommission eines rapide wachsenden Beamtenapparates. Die Kommission hat ein Interesse daran, ihr Initiativrecht weit auszulegen. Die Möglichkeit dafür bietet vordergründig der Auftrag des Art. 155 EWGV, „Empfehlungen oder Stellungnahmen auf den in diesem Vertrag bezeichneten Gebieten abzugeben, soweit der Vertrag dies ausdrücklich vorsieht oder soweit sie es für notwendig erachtet“ (Hervorhebung durch die Verfasserin). Zwar entfalten Empfehlungen und Stellungnahmen selbst nach ihrer Verabschiedung durch den Rat keine rechtsverbindliche Wirkung (Art. 189; anderes gilt für Richtlinie und Verordnung). Doch forciert die Kommission Gemeinschaftsinitiativen zur „sozialen Flankierung des Binnenmarktes“ in zunehmender Anzahl und Reichweite. Sie erweckt so in der europäischen Öffentlichkeit den Eindruck, als unterliege die Sozialpolitik in weiten Teilen gemeinschaftlicher Kompetenz. Bis 1987 konzentrierte die Kommission ihre sozialpolitischen Initiativen auf eine faktische Durchsetzung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit. Die nationalen, zum Teil abgeschotteten Arbeitsmärkte sollten in einem europäischen Arbeitsmarkt verschmolzen werden. So wurden einmal bereits 1958 sozialversicherungsrechtliche Koordinierungsregelungen für Wanderarbeitnehmer geschaffen, um deren Gleichstellung mit inländischen Arbeitskräften zu erreichen. Zum zweiten versuchte die Kommission im Rahmen des Strukturfonds (Sozial-, Regional-und Agrarfonds), den Anpassungsprozeß am Arbeitsmarkt zu erleichtern. Neben den — nur im weiteren Sinne sozialpolitischen — regionalen Finanzhilfen betrieb die Kommission gemäß Art. 123 EWGV eine aktive Beschäftigungspolitik über die von ihr verwalteten Mittel des Sozialfonds. Seit 1984 werden rund 75 Prozent der Fondsmittel dafür verwendet, die Jugendarbeitslosigkeit in den strukturschwachen Gebieten zu mildern. Die Fondsmittel werden ständig aufgestockt, denn die Kommission neigt dazu, die Arbeitsmarktprobleme nicht an der Wurzel zu bekämpfen: Anstatt Inflexibilitäten im privaten Bereich zu beseitigen, werden deren Kosten (nämlich erhöhte Arbeitslosigkeit) der Allgemeinheit angelastet
Ein drittes Betätigungsfeld stellt die Arbeitsschutzpolitik dar. Auf der Grundlage des „Sozialpolitischen Aktionsprogramms“ aus dem Jahre 1974 ergab sich die Möglichkeit, zahlreiche Richtlinien zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu erlassen. Hier wurde erstmals eine Politik der Mindeststandards betrieben, die allerdings insofern wenig Aufsehen erregte, als sie a) dem Einstimmigkeitserfordernis unterlag und b) eng umgrenzte Hygiene-und Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz betraf.
Das Aktionsprogramm von 1974 öffnete viertens den Weg zu einer Einflußnahme auf die Unternehmensverfassung. So wurden im Zuge einer Verstärkung der Beteiligungsrechte von Arbeitnehmern und Sozialpartnern Richtlinien verabschiedet, die sich auf Massenentlassungen, Unternehmensübertragungen und den Schutz des Arbeitnehmers bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers beziehen.
Weitere Initiativen der Kommission hatten zum Ziel, die Gleichstellung von Mann und Frau beim Arbeitsentgelt zu erreichen (Art. 119 EWGV) und das Ursprungslandprinzip bei der Anerkennung von Diplomen und sonstigen Berufsabschlüssen durchzusetzen (Art. 57 EWGV).
Seit Inkrafttreten der EEA verfügt die Kommission nicht nur formell über zusätzliche Kompetenzen. Sie versucht darüber hinaus, durch fragwürdige Auslegung der neuen Rechtsnormen noch weiter sozialpolitische Zuständigkeiten verbindlich auf Gemeinschaftsebene zu verlagern. Im Vordergrund ihrer Bemühungen steht nun weniger die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, als vielmehr eine umfassende Regulierung des Arbeitsrechts. Die nationalen Rechtsvorschriften sollen harmonisiert und auf einen möglichst großen gemeinsamen Nenner gebracht, d. h. erweitert werden.
So wurde den Regierungschefs der EG Mitte Dezember 1989 eine „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte“ als „feierliche Erklärung“ zur Verabschiedung vorgelegt. Die Grundrechte erstrecken sich auf Freizügigkeit, Beschäftigung und Entlohnung, Verbesserung der Lebens-und Arbeitsbedingungen, sozialen Schutz, Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen, Berufsausbildung, Gleichberechtigung, Beteiligungsrechte von Arbeitnehmern, Arbeitsumwelt, Kinder-und Jugend-schutz, Alte und schließlich Behinderte. Der Leerformelcharakter zahlreicher Bestimmungen (z. B. „angemessenen sozialen Schutz“, Art. 10) sollte dazu dienen, die Erklärung für möglichst viele Mitgliedsländer konsensfähig zu machen. Die Kommission vertritt die Ansicht, soziale Grundrechte auf europäischer Ebene seien „für den reibungslosen Ablauf des Binnenmarktgeschehens“ unabdingbar (Art. 27). „Damit soll verhindert werden, daß die Mitgliedstaaten im Zuge der Vollendung des Binnenmarktes soziale Maßnahmen ergreifen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Mitgliedstaaten verbesssern. (Hervorhebung durch die Verfasserin). Fände diese Äußerung allgemeine Zustimmung, so könnte die Kommission versuchen, weite Teile der Sozialcharta über verschiedene rechtliche „Tricks“ in verbindliches Recht umzusetzen: 1. Sie würde die Charta als Beitrag zur „Arbeitsumwelt“ (Art. 118 a EWGV) interpretieren und die Einstimmigkeitsregel von Art. 100 a II EWGV umgehen. 2. Sie könnte versuchen, das Ziel des „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts“ (Art. 130 a EWGV) zum allgemeinen Gestaltungsauftrag der Gemeinschaft in Fragen der Sozialpolitik zu erheben.
3. Schließlich wäre eine „dynamische“ Nutzung der Lückenvorschrift 235 in Verbindung mit Art. a EWGV (Binnenmarkt) denkbar.
Im ersten Entwurf der Charta war das an die Kommission gerichtete Mandat des Rates enthalten, ein Aktionsprogramm zu erstellen, aufgrund dessen ein Sockel sozialer Mindeststandards rechtsverbindlich in die Gemeinschaftsgesetzgebung übertragen werden könnte. Das Aktionsprogramm enthält zwar ein einleitendes Bekenntnis zum Subsidiaritätsprinzip 8). Gleichzeitig werden jedoch Thesen vertreten, die hierzu in krassem Widerspruch stehen, so etwa die Notwendigkeit, „das Problem der Arbeitslosigkeit . . . auf Gemeinschaftsebene zu lösen“ In Verfolgung einer „Gesamtpolitik“ plant die Kommission Arbeitsbeschaffungsprogramme, eine Koordination der nationalen Arbeitsvermittlungsmonopole auf Gemeinschaftsebene und ausgeweitete Interventionen im Rahmen des Europäischen Sozialfonds, um eine eigenständige, aktive Beschäftigungspolitik zu betreiben.
Die Kommission will ihre Initiativen als Beitrag zur „Arbeitsumwelt“ verstanden wissen. Damit beschreitet sie den ersten der drei oben skizzierten Wege. So legte sie im Juni 1990 drei Richtlinienvor-Schläge zur Reglementierung „atypischer“ Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, befristete und Leiharbeitsverhältnisse) vor. Sie zielen darauf ab, solche Beschäftigungsverhältnisse finanziell unattraktiv zu machen und so vom Markt zu verdrängen. Weitere Einschränkungen der Vertragsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt befinden sich in der Vorbereitung.
Ein gesondertes Kapitel der Kommissionsarbeit liegt schließlich in dem Versuch, ein europäisches Tarifvertragsrecht auf der Grundlage des Artikels 118 b EEA (Dialog zwischen den Sozialpartnern) sowie ein gemeinschaftliches Unternehmens-verfassungsrecht über Art. 235 EWGV zu schaffen. Beides sei angesichts des Vorhandenseins transnationaler Unternehmen erforderlich.
Während europäische Tarifverträge vor allem von Arbeitgeberseite abgelehnt werden, wird die Absicht, die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer am Unternehmen zu vereinheitlichen, durch unterschiedliche nationale Traditionen erschwert. Zur Diskussion steht daher eine Europäische Aktiengesellschaft, welche die Wahl Heße zwischen 1.dem deutschen Mitbestimmungsmodell, 2.dem französischen Modell (gewählter Betriebsrat ohne Arbeitnehmerkontrolle), 3.dem skandinavischen Unternehmensmodell des individuellen Aushandelns der Mitbestimmungsform
Auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts sind die politischen Mißerfolge der Kommission besonders offensichtlich. Zahlreiche Vorschläge wurden mehrfach aufgelegt, scheiterten aber vorläufig oder endgültig im Rat. Ein Paradebeispiel in diesem Zusammenhang stellt der Werdegang der Vredeling-Richtlinie (Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern in Unternehmen mit transnationaler Struktur) aus dem Jahre 1980 dar. Sie führte schließlich zu einem Zerwürfnis der Sozialpartner und liegt nun wohl endgültig bei den Akten.
III. Sozialunion in Europa durch Harmonisierung der Sozialpolitik?
In den bisherigen Ausführungen standen rechtliche und institutionelle Gesichtspunkte im Vordergrund. Im folgenden soll die Sozialpolitik der EG aus ökonomischer Sicht betrachtet werden. Die Gemeinschaft strebt in zunehmendem Maße eine Harmonisierung des Arbeits-und Sözialrechts an. Harmonisierung bedeutet hier eine Ausweitung der Regulierungstätigkeit. 1. Harmonisierung und individuelle Präferenzbefriedigung Die Wünsche der Bürger können umso eher berücksichtigt werden, je weniger sie sich innerhalb eines Gemeinwesens unterscheiden. Die EG ist dagegen durch die Süderweiterung heterogener geworden. Dies legt somit eher eine Dezentralisierung oder einen Abbau von Regulierungen nahe als deren Ausbau: Angesichts größerer regionaler Unterschiede können die Präferenzen der Bürger umso besser befriedigt werden, je dezentraler entschieden wird. 2. Harmonisierung und internationaler Wettbewerb In Mode gekommen ist der Begriff des „Sozialdumpings“. Dahinter steht die Vorstellung, daß die niedrigeren Sozialleistungen der Unternehmen in den „Billiglohnländern“ diesen einen nicht gerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschaffen. Gleichzeitig weisen unsere Sozialpolitiker regelmäßig auf den hohen Wert deutscher Sozialleistungen (inklusive Mitbestimmung) für den Standort Deutschland hin. Problematisch an dieser Argumentation ist ihre Widersprüchlichkeit.
Sozialleistungen, die ihre Kosten wert sind, setzen sich auch ohne staatliche Interventionen auf dem Arbeitsmarkt durch. Wären die südlichen EG-Mitglieder an einem hohen sozialen Schutzniveau interessiert, so würden die Arbeitnehmer eine entsprechende Senkung der Nettolöhne in Kauf nehmen. Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit bliebe davon unberührt.
Eine Harmonisierung der Sozialleistungen auf hohem Niveau bezweckt dagegen eine Verteuerung des Faktors Arbeit in den weniger entwickelten Ländern der Gemeinschaft: Bei konstanten Nettolöhnen sollen zusätzliche Sozialleistungen eingeführt werden. Die Verteuerung des Faktors Arbeit schadet vor allem schlecht ausgebildeten Arbeitnehmern in arbeitsintensiven Sektoren. Sie können mangels Produktivität nicht weiterbeschäftigt werden. Die sogenannten „Billiglohnländer“ würden ihren Spezialisierungsvorteil bei der Herstellung arbeitsintensiver Güter verlieren. Daneben würden die überhöhten Arbeitskosten ausländisches Kapital abschrecken, welches den wirtschaftlichen Aufholprozeß beschleunigen könnte. Die Folge wären eine Flucht in die (nicht regulierte) Schattenökonomie, verstärkte Regionalhilfen durch den Europäischen Sozial-oder Regionalfonds sowie Wanderungen der Arbeitslosen in die nördlichen Industriezentren.
Die Nutznießer harmonisierter Sozialleistungen wären vor allem Arbeitnehmer in den importkonkurrierenden Sektoren der nördlichen EG-Staaten (z. B. Agrar-oder Textilbranche). Das Kapital bliebe im Land und vergrößerte dort den Spielraum für Lohnerhöhungen. 3. Harmonisierung und Zentralisierung „Binnenmarkt bedeutet ganz allgemein den Transfer von Souveränitätsrechten auf die Gemeinschaft.“ Diese Aussage des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zeigt, welch fortgeschrittenes Stadium die Irrmeinungen um den Europäischen Binnenmarkt erreicht haben. Fast geht es nur noch um ein Mehr an Regulierungen auf Gemeinschaftsebene.
Harmonisierung bedeutet Zentralisierung in all jenen Fällen, in denen sozialpolitische Entscheidungskompetenzen nach oben verlagert werden. Genau dieses wäre bei einer Durchsetzung europäischer Mindeststandards der Fall. Ökonomisch gerechtfertigt wäre eine solche Zentralisierung nur, wenn die auftretenden sozialen Probleme nicht auf unterer Ebene zu bewältigen wären (Subsidiaritätsprinzip). Zwei Beispiele mögen diesen Zusammenhang verdeutlichen. 1. Seuchenschutz: Seuchen machen vor Grenzen nicht halt. Ihre Bekämpfung kann daher im nationalen Alleingang nicht effizient erfolgen. Daß daraus allerdings eine Gemeinschaftskompetenz zur Seuchenbekämpfung abgeleitet werden muß, erscheint nicht als zwingend. Ebenso könnten sich die Mitgliedsstaaten in Verhandlungen einigen, koordinierte Maßnahmen in Verbindung mit Finanzausgleichszahlungen zu ergreifen. 2. Sozial-und Arbeitsmarktstatistiken: Die Transparenz des Sozialraumes Europa kann, was zum Teil bereits geschieht, durch die Veröffentlichung vereinheitlichter Statistiken auf Gemeinschaftsebene erhöht werden. Statt einer EG-zentralen Produktion wäre aber auch denkbar, daß die EG lediglich die Erhebungstechniken normierte, sich im übrigen darauf beschränkte, Sozialstatistiken von nationalen und privaten Anbietern zu kaufen. Dieser Weg zentraler Bereitstellung bei dezentraler Produktion stellte den geringeren Eingriff dar.
Mindeststandards auf Gemeinschaftsebene entziehen sich in aller Regel einer solchen Begründung. Zwar empfinden inländische Arbeitneh-mer eine „Mitfreude“ an überhöhten Löhnen im Ausland, weil diese ihre eigene Position am Arbeitsmarkt stärken. Doch handelt es sich dabei um ganz normale Marktinterdependenzen, nicht um externe Effekte im Sinne der ökonomischen Theorie.
IV. Sozialunion in Europa: Einheit durch Vielfalt
Im folgenden sollen aus marktwirtschaftlicher Sicht Vorschläge unterbreitet werden, wie eine europäische Sozialunion ausgestaltet werden könnte. Angesichts zuweilen gewichtiger institutioneller und/oder politischer Hindernisse bei der Durchsetzung der (aus ökonomischer Sicht) optimalen Lösung werden auch „Minimalstrategien“ angeboten, welche dem Beharrungsvermögen traditioneller Strukturen eher Rechnung tragen. 1. Die Zukunft der nationalen Systeme sozialer Sicherung a) Minimallösung Es erscheint nicht nur aus ökonomischen Erwägungen unzweckmäßig, die europäischen Sozialversicherungssysteme harmonisieren zu wollen. Angesichts der zu erwartenden politischen Widerstände wird dies auch von keiner Seite ernsthaft versucht. Die nationalen Systeme könnten daher beibehalten und lediglich um eine europäische Dimension erweitert werden. Eine Besserstellung von Wanderarbeitern gegenüber immobilen Arbeitskräften müßte dabei unmöglich gemacht werden, um Wanderungen ohne ökonomische Funktion („ÜberWanderungen“ oder „Sozialtourismus“ zu verhindern. Ein entsprechendes Regelwerk könnte auch durch zwischenstaatliche Abkommen erstellt werden, welche — im Gegensatz zu einer europäischen Normierung — den Besonderheiten jeweils nur zweier nationaler Versicherungssysteme gerecht werden müßten. Das Problem der Gleichstellung mobiler und immobiler Arbeitskräfte und ihrer Familien würde auf diese Weise vereinfacht, aber nicht aus der Welt geschafft: Denn die nationalen Sozialversicherungssysteme enthalten in sehr unterschiedlichem Maße Umverteilungselemente. 1. Auf zwischenstaatlicher Ebene erschwert dieser Umstand die Umsetzung des Ursprungslandprinzips, d. h. die volle Anerkennung der von einem Wanderarbeitnehmer im Ursprungsland A erworbenen Sozialversicherungsansprüche im Beschäftigungsland B: Die Höhe der von A an B zu leisten-den Finanzausgleichszahlungen wäre um so eher strittig, je mehr das eine Land dem Versorgungsprinzip (soziale Sicherung erfolgt beitragsunabhängig aus Steuermitteln), das andere dagegen dem Versicherungsprinzip (beitragsabhängiger Leistungsanspruch) folgte (vgl.den „Fall Besem“). 2. Auf der individuellen Ebene würden die internationalen Unterschiede in den Umverteilungswirkungen der nationalen Sozialversicherungen Wanderungsbewegungen hervorrufen, wie sie bereits aus steuerlichen Erwägungen zu beobachten sind: Der Wettbewerb der Sozialversicherungssysteme würde finanzstarke Beitragszahler in jene Länder ziehen, in denen das Versicherungsprinzip vorherrscht. Die Umverteilungsmasse für finanzschwache Bevölkerungsgruppen würde dadurch entsprechend geschmälert. Dieser Effekt wäre zwar insofern zu begrüßen, als er das Umverteilungselement in der Sozialversicherung schwächen würde. Der Wettbewerb der nationalen Sozialversicherungen würde jedoch längere Anpassungszeiten und größere Wanderungsströme erfordern als eine direkte Stärkung des Versicherungsprinzips in allen Mitgliedsländern. b) Optimallösung Das Versicherungsprinzip könnte dadurch gestärkt werden, daß die Sozialversicherungssysteme in ganz Europa für private Anbieter geöffnet werden. Die privaten Versicherungen würden die nationalen Sozialgesetzgeber stark entlasten, ganz zu schweigen von EuGH und Kommission. Vorzuschreiben wäre lediglich eine nach Ländertarifen differenzierte Mindestversicherungspflicht. Mobile Arbeitskräfte könnten unabhängig von ihrem Wohnort Ansprüche erwerben. Im Zuge der Dienstleistungsfreiheit würden auch internationale Versicherer auf den Plan treten, welche konzernintern ohne Einschaltung der nationalen oder europäischen Verwaltung abrechnen. Auch diejenigen Versicherungspflichtigen, die ihr Heimatland nicht verlassen, könnten frei entscheiden, ob sie staatliche und halbstaatliche „historisch gewachsene“ Sozialsysteme oder private Versicherungen vorziehen. 2. Die Zukunft des nationalen Arbeits* und Gesellschaftsrechts a) Minimallösung Die nationalen Bestimmungen des Arbeits-und Gesellschaftsrechts gehen innerhalb der EG weit auseinander. Die Vielfalt und der Wettbewerb der Institutionen könnte im Binnenmarkt auch als Entdeckungsverfahren dienen.
Beispiel Mitbestimmung: Daß die deutsche Mitbestimmung ihre Kosten wert ist bzw. ein Modell wie das britische dem „sozialen Frieden“ abträglich wäre, ist nicht mehr als eine Vermutung. Transnationale Unternehmen könnten daher eine „Vorhut“ darstellen beim Vergleich verschiedener Arten der Arbeitnehmerbeteiligung. Der Richtlinienentwurf der Kommission bezüglich einer Europäischen Aktiengesellschaft mit drei Wahlmöglichkeiten geht in diese Richtung. Noch weitreichender wäre die Möglichkeit, sämtliche in der EG existierenden Beteiligungsmodelle zuzulassen. Damit würden allerdings transnationale Unternehmen gegenüber innerstaatlichen Unternehmen bevorzugt. Es wäre daher noch günstiger, wenn die gleichen Möglichkeiten auch den nationalen Unternehmen eröffnet würden. b) Optimallösung Was exemplarisch anhand der Mitbestimmung aufgezeigt wurde, kann auf das Arbeitskampfrecht, die Arbeitszeiten, den Kündigungsschutz, die Tarifverträge und alle Formen sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse übertragen werden: eine Stärkung der Vertragsfreiheit brächte weitreichende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in den Unternehmen mit sich. So könnten die heute durch ein restriktives Arbeitsrecht benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Behinderte, Frauen, Unter-qualifizierte) in frei ausgehandelten Arbeitsverträgen ihre Attraktivität erhöhen und wieder in den Markt integriert werden. Gleichzeitig könnten neue Beschäftigungsformen erprobt werden. Je höher die Flexibilität, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß Lösungen gefunden werden können, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Arbeitskräfte gerecht werden. Die Harmonisierungsbemühungen der Kommission würden sich als weitgehend überflüssig erweisen. 3. Die Zukunft der gemeinschaftlichen Sozialpolitik Die Europäische Gemeinschaft hat die Aufgabe, auf die Verwirklichung der Freizügigkeit in allen Mitgliedsländern hinzuwirken — nicht durch mehr, sondern durch weniger Regulierungen. Sie könnte z. B. darauf drängen, daß die gegenseitige Anerkennung fachlicher Qualifikationen nach dem Ursprungslandprinzip faktisch in allen Mitgliedsländern vollzogen wird.
Daneben könnte die Kommission dafür zuständig sein, den Mitgliedsstaaten bei der Errichtung multilateraler Finanzausgleichssysteme zu helfen, ohne diese unbedingt selbst zu verwalten. Sie wäre darüber hinaus geeignet, als Informations-Pool zu fungieren, also nach Regionen und Branchen differenzierte Informationen anzukaufen und europaweit zur Verfügung zu stellen. Im Vordergrund stünden hierbei Arbeitsmarktstatistiken. Die Harmonisierung würde sich darauf beschränken, daß die Kommission die Information zur besseren Vergleichbarkeit standardisiert.
Der Europäische Sozialfonds könnte reformiert werden. Seine Gelder wären auf Darlehensbasis zu gewähren, um den Projektverantwortlichen einen Anreiz zu erfolgreicher Mittelverwendung zu bieten. Schließlich bestünde ein gemeinschaftlicher Handlungsbedarf bei der grenzüberschreitenden steuerlichen Anerkennung privater Spendentätigkeit. Die Kommission könnte eine Liste der gemeinnützigen Institutionen zusammenstellen, die in allen Ländern der Gemeinschaft als steuerbegünstigt anzuerkennen sind.
Die Aufzählung läßt sich erweitern, doch sollte die Richtung der Gemeinschaftstätigkeit dabei nicht aus den Augen verloren werden. Die Sozialunion in Europa muß darauf hinwirken, daß die Bürger mehr Möglichkeiten erhalten, ideelle und materielle Befriedigung zu finden, als dies im Nationalstaat der Fall wäre. Es gilt, Barrieren zu beseitigen und nicht — unter dem Vorwand der „sozialen Flankierung“ — das Leben der Bürger noch stärker zu reglementieren.