Sozialpolitik im vereinigten Deutschland Probleme und Herausforderungen
Gerhard Bäcker
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Zusammenfassung
Mit der Vereinigung Deutschlands ist die soziale Einheit zwischen den Bürgern im Osten und Westen noch nicht hergestellt. Die neue Bundesrepublik ist derzeit eine „Zweidrittelgesellschaft", deren Trennlinie an den alten Grenzen verläuft. Neben der Wirtschaftspolitik ist nun vor allem die Sozialpolitik gefordert, um diese tiefe Kluft möglichst bald zu überwinden. An der Schwelle zur Jahrtausendwende steht damit die Sozialpolitik im vereinigten Deutschland vor großen Herausforderungen. Die zentrale Aufgabe wird sein, die sozialen Folgen des ökonomischen und gesellschaftlichen Umbruchs im Osten — der aber auch auf den Westen zurückwirkt — zu begrenzen. Das betrifft vor allem das Problem der hohen und anwachsenden Arbeitslosigkeit. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist mit der gesamten Rechtsordnung auch die Sozialordnung auf den anderen Teil Deutschlands übertragen worden. Nun muß sich erweisen, ob das aus dem Westen — mit all seinen Vorzügen, aber auch Schwächen — übernommene soziale Sicherungssystem in der Lage ist, die im Osten aufgetürmten sozialen Probleme zu lösen. Sozialpolitik wird darüber mitentscheiden, mit welcher Lastenverteilung sich der Umbruch vollzieht. Dies wird nicht zuletzt mit finanziellen Belastungen der Bürger im Westen verbunden sein.
I. Ein Staat — zwei Gesellschaften
Seit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland vereinigt. Die DDR ist gemäß Art. 20 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Mit dem Beitritt gilt nun die Sozialordnung der alten Bundesrepublik auch im Gebiet der ehemaligen DDR. Die Modalitäten des Übergangs des DDR-Sozialsystems auf das in der Bundesrepublik sind durch den Einigungsvertrag geregelt. Damit sind die Weichen für die Sozialpolitik nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern im gesamten Deutschland gestellt. Die staatsrechtliche Vereinigung schafft aber noch keine Einheit zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Die ökonomische, soziale und kulturelle Einheit zwischen Ost und West muß erst noch geschaffen werden. Denn die vierzigjährige Trennung Deutschlands in zwei sehr unterschiedliche Staaten mit abweichenden Wirtschafts-, Sozial-und Gesellschaftssystemen und auch mit abweichenden Lebensweisen, Mentalitäten und Sozialcharakteren läßt sich nicht durch einen Hoheitsakt von einem Tag auf den anderen überwinden. Die Bürger in den neuen Bundesländern sind faktisch von den Bürgern im Westen getrennt und werden dies zunächst auch noch bleiben. In einem Staat finden sich zwei Gesellschaften.
Der Vollzug der staatlichen Einheit hat die tiefe Kluft zwischen Ost und West, die nach vier Jahrzehnten getrennter ökonomischer und politischer Entwicklung aufgerissen worden ist, unmittelbar sichtbar und erfahrbar gemacht. Nun zeigt sich mit aller Deutlichkeit (und ohne geschönte Statistiken), wie gering die Substanz der DDR-Wirtschaft ist (Kapitalstock, Wohnungswesen, Infrastruktur) und welche ökologischen (Alt-) Lasten sich aufgetürmt haben. Die Wirtschaft in der ehemaligen DDR befindet sich insgesamt in einem desolaten Zustand, das Produktivitätsniveau erreicht wohl nur knapp 50 Prozent des Niveaus im Westen. Das (1: 1 umgestellte) Einkommens-und Lohnniveau liegt ebenfalls um mehr als die Hälfte niedriger als im Westen und entspricht damit dem Produktivitätsgefälle in etwa. Die Sozialleistungen sind zwar (nach den Modalitäten des Einigungsvertrages) zwischen Ost und West im Grundsatz einheitlich, aber nur hinsichtlich der Organisationsstrukturen und Leistungsprinzipien, nicht hinsichtlich ihres absoluten Leistungsniveaus. Die lohn-und beitragsbezogenen Sozialversicherungsleistungen (wie Renten und Arbeitslosenunterstützung) orientieren sich am ostdeutschen Lohnniveau und liegen deshalb ebenfalls um mehr als die Hälfte niedriger als im Westen. Zugleich gilt aber, daß sich in dem (seit 1. Juli 1990)
einheitlichen Währungs-und Wirtschaftsgebiet die Preise weitgehend angeglichen haben und daß das Preisniveau in West und Ost mehr oder minder identisch ist. Die noch stark subventionierten Mieten, Energiekosten und Verkehrstarife werden ab Jahresanfang 1991 ebenfalls nach oben treiben. Bei einem einheitlichen Preisniveau (und Preissteigerungsraten!) läßt sich dann aus Sicht des Westens gut beurteilen, was es heißt, von einem Durchschnittsnettoiohn von 960 DM, einer Durchschnitts-rente (Standardrente) von 672 DM oder von einem Sozialzuschlagsniveau von 495 DM leben zu müssen! Im Westen beträgt demgegenüber der Durchschnittsnettolohn 2 300 DM und die Durchschnitts-rente (bei 45 Versicherungsjahren) 1 662 DM.
Wenn man diesen tiefen Riß betrachtet, kann von einer ökonomischen und sozialen Einheit oder Einheitlichkeit keine Rede sein. Den im Schnitt wohlhabenden Westbürgern stehen die zwar formal gleichgestellten, real in vielfacher Hinsicht aber schlechter gestellten Ostbürger gegenüber — sie drohen zu Bürgern zweiter Klasse zu werden. Die neue Bundesrepublik ist derzeit eine Zweidrittelgesellschaft, in der neben die gewohnten Abgrenzungsmerkmale wie Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau und Geschlecht nun regionale Abgrenzungen in einer unbekannten Schärfe und Tiefe hinzutreten. Die offene Grenze macht die ungelöste soziale Frage der vormaligen DDR nun zur sozialen Frage in der neuen Bundesrepublik.
Die Einheit Deutschlands wird erst dann verwirklicht sein, wenn vergleichbare Lebensverhältnisse im gesamten Land bestehen. Der Verfassungsauftrag des Artikels 106 des Grundgesetzes, einheitliche Lebensbedingungen herzustellen, gilt auch und gerade für die Bürger in den neuen Bundesländern. Das Tempo des staatlichen Einigungsprozesses hat gezeigt, wie vehement die Menschen in der ehemaligen DDR diese Gleichstellung einfordem und erwarten. Die großen sozialen und regionalen Disparitäten in der „alten“ Bundesrepublik, die sich nach 40 Jahren sozialer Marktwirtschaft eher verschärft als eingeebnet haben, lassen jedoch erkennen, wie entfernt schon bislang die Realität vom Verfassungsanspruch liegt. Die für die Zukunft entschei3 dende Frage ist nun, ob es bei der gegenwärtigen West-Ost-Spaltung bleibt, in deren Folge sozial-regionale Konflikte in völlig neuer Dimension entstehen dürften, oder ob ein Annäherungsprozeß einsetzt und in welchem Zeitraum eine Angleichung erreicht wird, die in etwa den regionalen Disparitäten, wie sie in der alten Bundesrepublik bestehen, entspricht. Die Erfahrung im In-und Ausland zeigt, daß eine solche Angleichung der Einkommens-, Wohlstands-und Lebensverhältnisse nicht im Selbstlauf erfolgt und nicht dem Markt und seinen vermeintlichen Selbstheilungskräften überlassen bleiben kann. Sozialpolitik ist gefordert, um die östlichen Bundesländer nicht zum ökonomischen Hinterhof werden zu lassen, um in Deutschland Verhältnisse wie im südlichen Italien zu vermeiden. Nach der nationalen Frage muß die soziale Frage in den Mittelpunkt gestellt werden; nur durch konkretes sozialstaatliches Handeln, nicht durch nationale Sinnstiftung, lassen sich die anstehenden Probleme bewältigen.
Die Problematik läßt sich zuspitzen: Wäre nach 40 Jahren Realsozialismus das ökonomische und soziale Gefälle zwischen den beiden deutschen Staaten nicht so groß gewesen, dann wäre es möglicherweise erst gar nicht zur staatlichen Einheit nach der langen Zeit getrennter Existenz gekommen. Aber die nunmehr verwirklichte staatliche Einheit wird wiederum gefährdet, wenn dieses Gefälle nicht bald überwunden wird, sondern andauert. Die ökonomischen und sozialen Probleme werden sich langfristig nicht auf die neuen Bundesländer beschränken; sie wirken auf das gesamte ) Deutschland zurück.
An der Schwelle zur Jahrtausendwende steht damit die Sozialpolitik im vereinigten Deutschland vor schwierigen Aufgaben und großen Herausforderungen
— Die Integration der neuen Bundesländer muß sozialpolitisch gestaltet und flankiert werden.
— Die damit verbundenen hohen Finanzierungsanforderungen müssen erfüllt werden. — Unverändert steht auch die neue Bundesrepublik vor dem Problem des gravierenden demographischen Umbruchs. Die Gesellschaft altert und wird ihr Angesicht verändern. Die etwas günstigere Altersstruktur in den neuen Bundesländern ändert daran nur wenig.
— Im Zusammenhang mit der demographischen und ökonomischen Entwicklung haben sich (zumindest im Westen) Lebensweisen und -Stile plurali-siert und differenziert. Sozialpolitik muß den Wunsch nach individueller Lebensplanung und -gestaltung abstützen. — Die gesellschaftliche wie auch sozialpolitische Trennung von anerkannter und sozial abgesicherter Erwerbsarbeit einerseits und privater und sozial ungesicherter Reproduktionsarbeit wie Kindererziehung, Pflegetätigkeiten und anderer Sozialzeiten läßt sich weder rechtfertigen noch auf Dauer ohne negative Rückwirkungen auf den Bestand und die soziale Weiterentwicklung der Gesellschaft durchhalten. — Frauen fordern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und zwar nicht nur zeitlich nacheinander, sondern auch parallel. Sozialpolitik wird zu einer wichtigen Voraussetzung, um die Kindererziehung zurück ins gesellschaftliche und Erwerbsleben zu holen. — Angesichts des demographischen und sozialen Wandels wird der Bedarf an professionellen wie freiwilligen sozialen Diensten weiter anwachsen. Der eigentliche „Pflegenotstand“ steht erst noch bevor.
II. Ökonomische Probleme in den neuen Bundesländern und ihre sozialen Folgen
Es ist richtig, die Teilung Deutschlands kann nur durch Teilen überwunden werden. Die sozialstaatliche Umverteilungspolitik erhält eine neue Dimension. Das gilt so lange, bis die neuen Bundesländer die gleiche wirtschaftliche Leistungskraft und das gleiche Einkommensniveau wie der Westen erreicht haben. Doch selbst unter den günstigsten ökonomischen Bedingungen wird dies viele Jahre dauern. Eine Angleichung binnen weniger Jahre, vor der Vereinigung immer wieder verheißen und versprochen, bleibt irreal; auf Wunder — auch auf Wirtschaftswunder — können die neuen Bundesbürger nicht vertrauen. Eine einfache Rechnung kann das belegen: Soll in sieben Jahren eine Verdoppelung des Sozialprodukts erreicht werden, dann müßten jährlich Wachstumsraten von zehn Prozent realisiert werden. Das setzt über Jahre hinweg zweistellige Zuwachsraten von Investitionen und Produktivität voraus.
Für einen solchen Weg gibt es auch international kaum Vergleiche. Zugleich ist zu berücksichtigen, daß selbst bei einer Verdoppelung des Sozialproduktes noch keine Angleichung an die westlichen Bundesländer erfolgt. Denn das Ziel selbst bewegt sich ja weiter nach oben! Gerade durch den Einigungsprozeß und durch die finanziellen Transfers von Westen nach Osten boomt die westdeutsche Wirtschaft. Die rasante Talfahrt der Ökonomie in der früheren DDR ist gleichsam das Spiegelbild einer außerordentlich expansiven wirtschaftlichen Entwicklung in den alten Bundesländern, die auch international ohne Beispiel ist (in den anderen westlichen Industrieländern deutet sich eher ein Konjunkturabschwung an!). Wir erleben derzeit das Paradebeispiel einer extrem gespaltenen Konjunktur, denn so sehr die deutsche Einheit die Finanzen belastet — für die Konjunktur im westlichen Teil Deutschlands wird sie zum Motor. Die Finanz-transfers von West nach Ost, finanziert über die steil anwachsende Neuverschuldung (rd. 120 Mrd.
DM für alle öffentlichen Haushalte 1990), wirken wie ein gigantisches Konjunkturprogramm für den Westen, denn die Mittel fließen in Form von Nachfrage nach Konsum-und Investitionsgütern zurück, während auf der anderen Seite die Nachfrage nach DDR-Produkten faktisch zusammengebrochen ist.
Die glänzende wirtschaftliche Lage im Westen läßt den Bürger im Osten ihre Lage noch prekärer und hoffnungsloser erscheinen. Je länger die ökonomische und soziale Spaltung zwischen Ost und West andauert, um so wahrscheinlicher wird es, daß es wieder zu einem Anstieg der Übersiedlung kommt. Dies wird aber nicht nur die jüngeren, mobilen und leistungsstarken Fachkräfte betreffen, sondern auch die Arbeitslosen und Deklassierten in der früheren DDR, die versuchen werden, ihre Chance im Westen zu finden. Die Armutspopulation auch im Westen wird laufende „Zufuhr“ erhalten. Weiter zunehmen dürfte auch das Ausmaß der schon jetzt (mit über 100 000) sehr hohen Pendlerzahlen von Ost nach West. In den ehemaligen Grenzregionen — vor allem im Großraum Berlin, wo das hohe Westlohnniveau mit dem niedrigen Ost-Niveau unmittelbar zusammentrifft („links auf der Bernauer Straße wird die gleiche Arbeit besser bezahlt wie auf der rechten Straßenseite“) — liegt es auf der Hand, daß viele Beschäftigte versuchen, eine Stelle im Westen zu finden. Diese steigende Arbeitsplatz-nachfrage aus dem Osten ist ein Grund dafür, daß im Westen trotz der günstigen konjunkturellen Entwicklung und des Zuwachses der Beschäftigtenzahlen die Zahl der registrierten Arbeitslosen in den nächsten Jahren kaum rückläufig sein wird.
Die Wechselwirkung zwischen den Arbeitsmärkten entlastet die Situation im Osten, führt aber zu einer Verschärfung des Angebots-und Wettbewerbs-drucks auf den Arbeitsmarkt im Westen. Dies zeigt sich vor allem im unteren Beschäftigungssegment, im Bereich der sog. „bad jobs“, z. B. bei den ge5 ringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Hier besteht die Gefahr, daß es zu einer Unterbietungskonkurrenz hinsichtlich Lohnniveau und Arbeitsbedingungen kommt. Auf der anderen Seite übt der nunmehr einheitliche Arbeitsmarkt auch einen Druck auf die Erhöhung des Lohnniveaus und auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Osten aus („Prinzip der kommunizierenden Röhren“).
Der radikale ökonomische und politische System-schnitt erschüttert nicht nur die Ökonomie. Der Übergang vom Realsozialismus zum Realkapitalismus betrifft den ganzen Menschen in seinem sozialen Umfeld Die gesamte Gesellschaft wird einem gleichermaßen totalen wie abrupten Anpassungsdruck und Modernisierungsprozeß ausgesetzt und in ihrer sozialen Binnenstruktur umgewälzt. Die gewohnten Arbeits-und Lebensverhältnisse verändern sich in kurzer Frist für die gesamte Bevölkerung. Das relative Maß an sozialer Homogenität, sozialer Sicherheit und Eingebundenheit, das die ehemalige DDR-Gesellschaft charakterisiert hat, wird durch den Druck des Marktes und der Konkurrenz aufgelöst. Die alte (an die Betriebe und den sicheren Arbeitsplatz gekoppelte) soziale Sicherung bricht weg. Qualifikationen werden entwertet, individuelle Lebenspläne werden durchkreuzt.
Die Menschen sind von einem repressiv-paternalistischen Staat befreit, der zwar entmündigt, aber (auf niedrigem Niveau) auch materiell versorgt und sozial betreut hat. Diese doppelte Befreiung führt dazu, daß die Bürger jetzt weitgehend auf sich selbst gestellt sind, ohne je gelernt zu haben, eigene Handlungskompetenz und Selbstvertrauen zu entfalten. Der Staat zeichnet aber nun nicht mehr automatisch verantwortlich. In einer marktwirtschaftlich-liberalen Wirtschafts-und Sozialverfassung werden Lebenslagen und -risiken primär über den Markt verteilt, durch Sozialpolitik nur zum Teil ausgeglichen. Erwartet wird jedoch nach wie vor, so hat es den Anschein, daß die neue Regierung die Angleichung der Lebensbedingungen herstellt. Mit der Vereinigung ist aber nur die Wirtschafts-und Sozialordnung übertragen worden, „also genau genommen hauptsächlich nur institutionell-rechtliche Verfahren, eben das , freie Spiel der Marktkräfte, die bundesrepublikanische Lebensweise zu erreichen — oder auch nicht“
Es entstehen damit neue Anforderungen, Widersprüche und soziale Konflikte, auf die die Menschen — aufgewachsen in der (vermeintlichen) „Idylle“ einer eher provinziellen, von der Welt abgeschotteten Gesellschaft — nicht vorbereitet sind. Viele werden ihrer Wertorientierungen, Identität und Geschichte beraubt, drohen sozial und kulturell entwurzelt zu werden. „Der Abschied von der Homogenität des Milieus des . Kleinbürgertums und die Umstellung auf die Pluralisierung der Lebensstile, auf Toleranz gegenüber ungeordneter Vielfalt und unkontrollierter Abweichung wird den Bürgern nicht leichtfallen.“
Zusammenfassend: Es geht also nicht nur, und womöglich noch nicht einmal hauptsächlich, um die ökonomische Umstrukturierung und um die Umstellung der Betriebe, „vielmehr gleichermaßen um die , Altlast des Denkens, d. h. um den Wandel in den Köpfen und sozialen Beziehungen. Er wird ein entscheidender politischer Faktor in der kommenden Modernisierung.“
III. Gewinner und Verlierer: Neue soziale Differenzierungen und Dauerarbeitslosigkeit
Die Marktwirtschaft wird ihre Vorzüge hinsichtlich ökonomischer Effizienz, Wohlstand und individueller Freiheiten sehr bald sichtbar werden lassen. Aber die Marktwirtschaft ist als solche nicht sozial, wie es der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ vorgibt. Die soziale Komponente dieses Wirtschaftssystems mußte und muß erst erstritten werden und ist stets in Gefahr, einzelbetrieblichen Rentabilitätskalkülen zum Opfer zu fallen. Ökonomische Effizienz ist nicht gleichbedeutend mit individueller und gesellschaftlicher Wohlfahrt. Ökonomische Effizienz kennt Gewinner und Verlierer. Soziale Gerechtigkeit ist weder Maßstab noch Ziel. Andererseits schafft erst eine leistungsfähige Wirtschaft die Voraussetzungen für die Finanzierung und Verteilung eines hohen Niveaus von Sozialleistungen und für sichere Arbeitsplätze. Sozialpolitik bewegt sich in diesem Spannungsfeld zwischen ökonomischer Effizienz und dem Anspruch, soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich sicherzustellen, und ist selbst wiederum ein Wachstumsfaktor Daraus folgt: Je krisenhafter sich in der früheren DDR der ökonomische Umbau vollzieht, umso größer wird die sozialpolitische Aufgabenstellung, um so geringer ist aber auch die Leistungsfähigkeit der Ökonomie, die wiederum für die Finanzierung der Sozial-leistungen entscheidend ist. Oder anders herum: Eine rasche wirtschaftliche Belebung würde nicht nur die Sozialausgaben verringern, sondern auch deren Finanzierungsfähigkeit verbessern.
Es ist absehbar, daß in den neuen Bundesländern bislang unbekannte soziale Differenzierungen aufbrechen: Von den vergleichsweise egalitären sozialen Strukturen (bei allerdings großen Privilegien der Staats-und Parteispitzen) geht der Weg hin zu einer starken Polarisierung von Einkommen, Lebenslagen und Lebensrisiken, vielleicht noch radikaler als in der alten Bundesrepublik. Dem „Neuen Reichtum“ insbesondere des Mittelstandes und mancher hochbezahlter Fachkräfte wird die „Neue Armut“ der Ausgegrenzten und Überflüssigen gegenüberstehen. Arbeitslosigkeit, ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse, Bedrohung der Wohnung — diese Sorgen zählen schon jetzt zum Alltag vieler Bürger.
Das Einkommensniveau der Beschäftigten wird insgesamt deutlich steigen, aber Löhne und Gehälter werden sich auf erhöhtem Niveau entsprechend den aus der alten Bundesrepublik schon sehr bald übernommenen (mantel-) tarifvertraglichen Regelungen zur Lohn-und Gehaltsstruktur und entsprechend der betrieblichen Produktivitäts-und Wettbewerbs-stärke nach oben und nach unten ausfächem. Es wird zu großen Einkommensabständen je nach Branchen und Qualifikationen kommen. Dies geht zu Lasten vor allem der Frauen. Und mit der Übernahme des Prinzips der lohn-und beitragsbezogenen Renten werden sich auch die Rentenzahlungen, die bislang nur geringe Unterschiede aufwiesen, ausdifferenzieren, wobei es wiederum die Frauen sein werden, die mit den niedrigeren Renten vorlieb nehmen müssen
Wie groß die Zahl der Opfer und Verlierer der marktwirtschaftlichen Radikalkur in den neuen Bundesländern tatsächlich sein wird, hängt nicht allein von der ökonomischen Entwicklung, sondern auch ganz maßgeblich davon ab, ob und inwieweit es gelingt, durch sozialpolitische Maßnahmen die negativen sozialen Folgewirkungen der Umstrukturierung möglichst zu begrenzen. Auf der Verlierer-seite des ökonomischen Umbruchs stehen vor allem die Arbeitslosen. Seit dem Sommer hat quer durch alle Branchen ein massiver Arbeitsplatzabbau eingesetzt, der durch die neu entstehenden Arbeitsplätze bei weitem nicht kompensiert wird. Die Zahl von 600 000 registrierten Arbeitslosen im November 1990 ist hier nur ein erster Vorbote der zu erwartenden Arbeitsmarktprobleme. Hinzugerechnet werden müssen nämlich noch die 1, Millionen Kurzarbeiter, denn infolge der besonderen Kurzarbeiterregelung im Arbeitsförderungsgesetz der DDR ist Kurzarbeit faktisch verschobene Arbeitslosigkeit und in vielen Fällen „Nullarbeit“. Wenn man davon ausgehen kann, daß bei den 1, 8 Milhonen Kurzarbeitern der Arbeitsausfall bei durchschnittlich 50 Prozent hegt, dann kann die Zähl der faktisch Arbeitslosen bereits jetzt auf etwa 1. 2 Milhonen hochgerechnet werden. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von nahezu 15 Prozent 8).
Der Beschäftigungseinbruch in den östlichen Bundesländern fällt aber noch schärfer aus, als es in den Arbeitslosen-und Kurzarbeiterzahlen zum Ausdruck gelangt. Viele Beschäftigte ziehen sich vom DDR-Arbeitsmarkt gänzlich zurück: So kommt es zu einem Abbau der in der ehemahgen DDR besonders hohen Alterserwerbsquote. Allein durch die Inanspruchnahme des (bereits seit 1. Januar 1990 existierenden) Vorruhestands bzw. (ab 3. Oktober 1990) des Altersübergangsgeldes haben bis Ende September 1990 etwa 130 000 ältere Arbeitnehmer frühzeitig ihre Erwerbsarbeit aufgegeben Und es ist zu erwarten, daß unter dem wachsenden Druck des Arbeitsmarktes noch weit mehr der insgesamt 850 000 Anspruchsberechtigten von den Möglichkeiten der vorgezogenen Verrentung Gebrauch machen werden. Parallel zum Abbau der Alterserwerbstätigkeit vollzieht sich auch ein Abbau der Frauenerwerbstätigkeit, die in der ehemaligen DDR sehr viel höher als in der alten Bundesrepublik hegt (Frauenerwerbsquote 90 Prozent im Vergleich zu 54 Prozent). Ein Teil der vormals beschäftigten Frauen und Mütter wird in die Nicht-Erwerbstätigkeit und/oder in die stille Reserve abgedrängt Die in die neuen Bundesländer übertragenen familien-und steuerpolitischen Regelungen wie Erziehungsgeld, Ehegattensplitting machen zudem die Hausfrauenrolle finanziell durchaus attraktiv Zu einer Entlastung des Arbeitsmarktes im Osten kommt es schließlich durch den anhaltend hohen Abwanderungsstrom und durch die zunehmende Zahl von Pendlern; die Ost-West-Pendler lassen sich für 1991 auf eine Zahl von 350 000 bis 400 000 schätzen
Der Höhepunkt des Beschäftigungsrückgangs und der Arbeitslosigkeit in der früheren DDR ist indes noch lange nicht erreicht. Die Beschäftigungsentwicklung folgt der Produktionsentwicklung immer erst mit einem gehörigen Zeitabstand. Selbst wenn es, wie von den Forschungsinstituten unterstellt, ab Sommer 1991 zu einer Stabilisierung und danach zu einem Anstieg der Produktion kommen sollte wird sich der Arbeitsplatzabbau durch die technischen und arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen, die dann in den (übrig gebliebenen) Betrieben erst richtig wirksam werden, weiter fortsetzen. Außerdem steht der angekündigte Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst, der auf etwa 600 000 Personen beziffert wird, erst noch bevor. Das gleiche gilt für die Beschäftigungsverluste in der Landwirtschaft. Insofern erscheinen die im Gemeinschaftsgutachten für 1991 prognostizierten Zahlen von 1, 5 Millionen Arbeitslosen und 1, 8 Millionen Kurzarbeitern immer noch verhalten, obgleich damit eine Arbeitslosenquote von 30 Prozent (!) beziffert wird.
Auch wenn zu erwarten steht, daß sich die extrem hohe Arbeitslosenquote zum Teil wieder verringern wird, handelt es sich im großen und ganzen nicht um eine vorübergehende, friktionelle Arbeitslosigkeit, die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs zügig überwunden werden kann, sondern um eine Massen-und Dauerarbeitslosigkeit auf hohem Niveau. Das vereinigte Deutschland wird damit — im Osten, aber unverändert auch im Westen — durch ein hohes Ausmaß an Unterbeschäftigung charakterisiert sein. Auf dem Arbeitsmarkt der alten Bundesrepublik läßt sich erkennen, daß das Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, d. h. keine neue Beschäftigung zu erhalten, sehr ungleich verteilt ist. Zu den Personengruppen, die ein überdurchschnittlich hohes Beschäftigungsrisiko tragen, zählen insbesondere Frauen, ältere Arbeitnehmer, Personen ohne beruflichen Abschluß, gesundheitlich Beeinträchtigte und Behinderte. In den neuen Bundesländern wird dies mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit nicht anders sein. Noch zeigt sich im Prozeß der Entlassungen eine ziemliche Gleichverteilung des Risikos, aber bei den Frauen ist bereits jetzt eine überproportional hohe Arbeitslosigkeit zu vermerken, die sich weiter verschärfen dürfte.
Mit dem Übergang zur betriebswirtschaftlichen Kalkulation und unter dem scharfen Wettbewerbs-druck geraten Frauen in Gefahr, als erste entlassen und erst als letzte wiedereingestellt zu werden. Vor allem die alleinerziehenden Mütter werden davon betroffen sein. Im Einigungsvertrag ist zudem festgelegt, daß die dem alten DDR-Arbeitsrecht entstammenden besonderen Arbeitszeit-und Kündigungsschutzregelungen für Mütter nur noch für eine kurze Übergangsfrist gelten sollen. Ab 1991 werden diese Regelungen auf das bundesrepublikanische „Normalmaß“ zurückgeschraubt. Und der bereits jetzt einsetzende Abbau der Kinderbetreuungseinrichtungen (die betrieblichen Einrichtungen wurden zum größten Teil an die Kommunen übertragen; die Kommunen erhalten zur Finanzierung ihrer Einrichtungen einen bis lediglich Mitte 1991 befristeten Zuschuß aus dem Bundeshaushalt) wird es vielen Müttern unmöglich machen, Familienaufgaben und Berufstätigkeit miteinander in Einklang zu bringen. Diese „Lösung“ von Beschäftigungsproblemen zu Lasten der Frauen wird allerdings kaum dazu führen, daß sich die Frauenerwerbsbeteiligung auf das Maß der Bundesrepublik einpendelt. Die durchgängige Berufstätigkeit der Frauen in der früheren DDR ist Ausdruck eines selbstverständlich gewordenen Wunsches nach ökonomischer Unabhängigkeit und zugleich auch schlicht finanziell notwendig, um zu einem ausreichenden Haushaltseinkommen zu gelangen Insgesamt gilt, daß mit dem Übergang zur Marktwirtschaft und mit dem (unvermeidbaren) Zwang zur betrieblichen Rentabilitätsrechnung die bisherige Verpflichtung der Betriebe entfällt, alle Menschen zu beschäftigen, auch diejenigen, die wegen ihrer besonderen Lebens-und Gesundheitsbedingungen eine geringere Arbeitsproduktivität aufweisen (z. B. Behinderte) und zugleich höhere Kosten verursachen. Auch hier muß jetzt Sozialpolitik steuernd und kompensierend eingreifen. Arbeitslosigkeit ist für die Bürger im Osten nicht das gleiche wie für die Bürger im Westen. Nach 40 Jahren Vollbeschäftigung und Arbeitsplatzgarantie kommt der Verlust des Arbeitsplatzes einem Schock gleich, der auch deswegen so tief greift, weil Erwerbsarbeit in der ehemaligen DDR einen unverändert hohen Stellenwert im individuellen und gesellschaftlichen Bewußtsein hat. Noch sind die Arbeitslosen finanziell auf einem Minimalstand abgesichert. Der überwiegende Teil hat Anspruch auf Arbeitslosengeld (und Kurzarbeitergeld), das wie im Westen 63 bzw. 68 Prozent des (rechnerischen) Nettoentgelts beträgt (das Kurzarbeitergeld wird in manchen Branchen durch tarifvertragliche Vereinbarungen noch aufgestockt). Bei einem Durchschnittsnettolohn von etwa 1 000 DM liegt aber das Leistungsniveau sehr niedrig und muß — bei Niedrigeinkommensbeziehem — durch den Sozialzuschlag auf 495 DM aufgestockt werden. Davon machen bereits jetzt 17 Prozent der Arbeitslosen Gebrauch. Mit wachsender Dauer der Arbeitslosigkeit wird jedoch auch der Kreis derer zunehmen (vor allem aus dem Bereich der Langzeitarbeitslosen), der den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe verliert und — wie im Westen — gezwungen wird, auf familiäre Unterhaltsleistungen zurückzugreifen oder aber Sozialhilfe zu beziehen. Wie aber werden sich dauerhafte soziale Unsicherheit und Massenarbeitslosigkeit sowie soziale und kulturelle Entwurzelung sozialpsychologisch und politisch auswirken? Wie verhalten sich die Betroffenen, wenn sich die Versprechungen und Erwartungen auf einen baldigen Wohlstand nicht erfüllen? Welche Rückwirkung haben Enttäuschung und Resignation auf das politische Verhalten? Wird in der ehemaligen DDR die Enttäuschung womöglich in Fremdenhaß und Nationalismus umschlagen?
IV. Sozial-und Arbeitsmarktpolitik: Möglichkeiten und Grenzen
Angesichts der Dramatik der Arbeitsmarktkrise in der früheren DDR richten sich die Augen naturgemäß auf die Arbeitsmarktpolitik, d. h. auf das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium des Arbeitsförderungsgesetzes, das nach dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz nun auch in den neuen Bundesländern gilt, wobei einige (zeitlich befristete) Sonderregelungen zu beachten sind. So wichtig die so; ziale Absicherung der Arbeitslosen durch Arbeitslosengeld sowie durch Kurzarbeitergeld hierbei auch ist — darum geht es nicht allein. Einen herausragenden Stellenwert hat die aktive und vorausschauende Arbeitsmarktpolitik, denn mit deren Hilfe kann sowohl die ökonomische Umstrukturierung flankiert und gefördert als auch ein Beitrag zur Verminderung der Arbeitslosenzahlen geleistet werden -Es bedarf der Förderung der beruflichen Ausbildung, Fortbildung und Umschulung, damit die Beschäftigten den Anforderungen der neuen Berufe, Tätigkeiten und Branchen besser entsprechen können. Unstreitig ist es allemal sinnvoll, die Zeiten der Arbeitslosigkeit oder der Unterbeschäftigung für den Erwerb neuer Qualifikationen zu nutzen. Durch die besondere Kurzarbeiterregelung, die in der ehemaligen DDR (noch) gilt (Kurzarbeitergeld wird auch dann gezahlt, wenn in den Betrieben der Auftragsmangel nicht nur vorübergehender Natur, sondern dauerhaft ist), bieten sich Voraussetzungen, Kurzarbeit mit Angeboten zur beruflichen Qualifizierung inner-oder außerhalb des Betriebes zu koppeln. Zudem existieren einige Tarifverträge, die einen verlängerten Kündigungsschutz vorsehen und die eine solche Qualifizierungsstrategie stützen. Unternehmen können auch Beschäftigungs-bzw. Qualifizierungsgesellschaften gründen, die aus den Betrieben ausgelagert sind und die auch dann noch weitergeführt werden können, wenn nach Überprüfung der Sanierungsfähigkeit das Überleben des Betriebes nicht gesichert ist.
Vordringliche Aufgabe muß es sein, diese Maßnahmen massiv auszuweiten. Wenn das Ziel gesetzt wird, 1991 bis zu 300 000 Personen Fortbildungsund Umschulungsmaßnahmen anzubieten, dann wird auf dem Gebiet der neuen Bundesländer ein Förderungsniveau angestrebt, das weit über den rd.
200 000 Maßnahmen liegt, die in den alten Bundesländern realisiert werden Ob dieses ehrgeizige Ziel tatsächlich zu erreichen ist, bleibt fraglich, weil dafür nicht nur Geld (vor allem Zahlung von Unterhaltsgeld), sondern auch Bildungsträger und qualifiziertes Personal notwendig sind. Die erforderliche Bildungsinfrastruktur läßt sich nicht kurzfristig aus dem Boden stampfen, zumal die an die Betriebe angebundenen Bildungsakademien von denselben gerade abgestoßen werden.
Durch Maßnahmen zur Fortbildung und Umschulung läßt sich Arbeitslosigkeit verringern, weil der Arbeitsmarkt um die Zahl der Teilnehmer entlastet wird. Das heißt aber nicht, daß nach Abschluß der Maßnahmen den betroffenen Beschäftigten auch automatisch entsprechende Arbeitsplätze zur Verfügungstehen. Durch arbeitsmarktpolitische Qualifizierungsmaßnahmen werden keine neuen und zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen; für die Teilnehmer verbessern sich nur die individuellen Chancen, im alten Betrieb oder auf dem Arbeitsmarkt generell einen Arbeitsplatz zu erhalten. Angesichts der radikalen Umstrukturierung der DDR-Wirtschaft ist es auch schwierig, wenn nicht unmöglich, den Bedarf an Qualifizierung zu ermitteln. Welche Branchen, Berufe, Tätigkeiten haben in einem Wirtschaftssystem Zukunft, das sich nach den Bedingungen des Marktes und eben nicht nach staatlichen Plänen richtet? Neu erworbene Qualifikationen lassen sich nicht einfach „auf Halde legen“; werden sie nicht nachgefragt, dann drohen sie schnell zu entwerten. Qualifizierung und Arbeitslosigkeit — so kann dann die entmutigende Perspektive lauten.
So notwendig eine vorausschauende und aktive Arbeitsmarkt-und Qualifizierungspolitik in der ehemaligen DDR ist, so wichtig erscheint es auf der anderen Seite aber auch, die schon angelaufenen und die noch zusätzlich erforderlichen Maßnahmen nicht mit Erwartungen zu Überfrachten. Enttäuschungen sind ansonsten vorprogrammiert Das Konzept „Qualifizieren statt Entlassen“ ist keine Zauberformel. Arbeitsmarktpolitik kann nur einen Teil der Arbeitsmarktprobleme lindem, und bei der Größenordnung des Arbeitsmarktungleichgewichts in den neuen Bundesländern sicherlich nur einen sehr kleinen Teil. Auch in der alten Bundesrepublik hat die Arbeitsmarktpolitik an dem Grundtatbestand langandauernder Massenarbeitslosigkeit nichts ändern können.
Diese Hinweise auf den begrenzten Stellenwert der Arbeitsmarktpolitik bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind ein Plädoyer für eine nüchterne, realistische Betrachtung der wirtschaftlichen und Arbeitsmarktsituation in der früheren DDR. Eine grundlegende Verbesserung der Arbeitsmarktlage setzt eine Belebung der Wirtschaft voraus. Neue, wettbewerbsfähige und produktivitätsstarke Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, im Handel, im Handwerk, im Baugewerbe, aber auch im industriellen Bereich müssen geschaffen werden.
V. Übertragung der Sozialordnung.
1. Leistungsverbesserungen und Strukturmängel Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist mit der gesamten Rechtsordnung auch die Sozialordnung auf den anderen Teil Deutschlands übertragen worden. Der Angleichungsprozeß erfolgt zwar nicht in allen Bereichen des Arbeits-und Sozialrechts unmittelbar — so sind im Einigungsvertrag Überleitungsregelungen und zeitlich befristete Beibehalte einiger DDR-Strukturen und Leistungen geregelt —, aber doch im Prinzip vollständig.
Die Übertragung des bundesdeutschen Sozialleistungssystems auf das Gebiet der ehemaligen DDR hat in vielen Bereichen zu deutlichen Leistungsverbesserungen geführt und bietet auch Voraussetzungen dafür, daß der unzureichende Standard der medizinischen und sozialen Infrastruktur bald angehoben wird. Die Arbeitslosenversicherung mußte bereits zeitgleich zur Währungs-und Wirtschaftsunion völlig neu aufgebaut werden. Und bei der Rentenversicherung wurde ebenfalls zum 1. Juli 1990 eine Anhebung des Rentenniveaus auf 70 Prozent (bei 45 Versicherungsjahren) und eine (netto-) lohnbezogene Dynamisierung eingeführt, mit der Folge, daß die Renten im Schnitt um 28 Prozent aufgestockt wurden Trotz dieser und anderer Leistungsverbesserungen kann gleichwohl nicht die Rede davon sein, daß mit der Übertragung des sozialen Sicherungssystems nun das Optimum erreicht worden ist. Sinnvoller wäre es gewesen, das in beiden deutschen Staaten Vorgefundene vorurteilsfrei daraufhin zu überprüfen, was hinsichtlich sowohl der organisatorischen Strukturen als auch der materiellen Leistungen und rechtlichen Regelungen vorteilhaft oder unzureichend ist.
Denn nicht alle Elemente der historisch gewachsenen, und nicht etwa systematisch konzipierten bundesdeutschen Sozialordnung können als vorbildlich bewertet werden. Das, was bekannt und vertraut ist, ist nicht automatisch gut. Und ohne die Verhältnisse in der früheren DDR idealisieren zu wollen, so kann doch festgestellt werden, daß eine ganze Reihe sozial-, arbeits-und familienrechtlicher Regelungen günstiger waren als in der alten Bundesrepublik. Auch entsprachen manche organisatorischen Strukturen in der dortigen Sozialversicherung sowie im Gesundheits-und Sozialwesen langjährigen sozialpolitischen Reformforderungen, wie sie vor allem von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in der alten Bundesrepublik formuliert worden sind.
Analysiert man den Einigungsvertrag und das Beitrittsverfahren nach Artikel 20 GG generell, so kommt es in der früheren DDR zu einer Duplizierung der Sozial-und Arbeitsverfassung der Bundesrepublik. Wiederholt werden damit auch all die Schwächen, Probleme und Ungereimtheiten des Systems der sozialen Sicherung. Mit einem Zusammenwachsen, d. h. mit einem gegenseitigen Aufeinanderzugehen und der Durchführung von Veränderungen auf beiden Seiten hin zu einem höheren Niveau gesamtdeutscher Sozialstaatlichkeit hat dieses „Überstülpen“ nichts gemein. Die Erarbeitung und Diskussion konzeptioneller Überlegungen zur Fortentwicklung und wechselseitigen Annäherung beider sozialer Sicherungssysteme hätte allerdings Zeit erfordert für die notwendigen Diskussionen hätte ein zeitlicher und politischer Freiraum bestehen oder geschaffen werden müssen. Doch diese Zeit stand (objektiv?) nicht zur Verfügung. Bei einer kritischen Betrachtung des (übereilten) Einigungsverfahrens war es vermutlich von vornherein illusionär, vor dem Hintergrund der insgesamt diskreditierten und politisch wie ökonomisch zusammenbrechenden DDR sozialpolitische Reformen durchsetzen zu wollen, die in den Jahrzehnten zuvor in der Bundesrepublik nicht hatten realisiert werden können.
Die Übertragung der bundesdeutschen Sozialversicherung auf die DDR bezieht sich allerdings zunächst einmal nur auf die Strukturen und Leistungsprinzipien, nicht auf das absolute Leistungsniveau. Bei den lohn-und beitragsbezogenen Lohnersatz-leistungen — z. B. Arbeitslosengeld, Altersrente, aber nicht beim Kindergeld und Erziehungsgeld — wird das absolute Leistungsniveau im Osten so lange unter dem westlichen Niveau liegen, bis das Produktivitäts-und Lohngefälle zwischen den beiden deutschen Landesteilen eingeebnet ist. Die Duplizierung des Sozialstaates geht mit seiner Gradualisierung einher
Das Wohlstandsgefälle zwischen den Rentnern, um die größte Gruppe der Sozialleistungsempfänger zu benennen, läßt sich nur überbrücken, wenn auch das Lohngefälle zwischen Ost und West eingeebnet ist. So beträgt die Durchschnittsrente bei 45 Versicherungsjahren im Westen 1 662 DM (netto), im Osten aber nur 672 DM (netto) bzw. ab 1. Januar 1991 773 DM. Soll dieser krasse Unterschied abgebaut werden, dann sind in den nächsten Jahren zweistellige Rentenanpassungssätze im Osten erforderlich. Eine einfache Modellrechnung kann die Aufgabenstellung demonstrieren: Liegt der Nettoanpassungssatz im Westen jährlich bei fünf Prozent und im Osten bei 20 Prozent (oder allgemein: übertrifft der Anpassungssatz im Osten den im Westen um 15 Prozentpunkte), braucht es immer noch sieben Jahre, bis der Gleichstand erreicht ist. Ein solch rapider Rentenanstieg im Osten, der die Erhöhungssätze im Westen weit übertrifft, setzt aber eine entsprechend stürmische Lohnentwicklung voraus. Die zum 1. Januar 1991 stattfindende Rentenanpassung um 15 Prozent, der zum 1. Juli 1991 dann noch eine weitere Erhöhung folgen wird, ist ein erster Schritt in diese Richtung, der auch durch die bisherige Lohnentwicklung gedeckt wird.
Im Bereich der Sozialversicherung kommt es zu einer völligen Übernahme jener (mit Verbands-und Standesinteressen besetzten) berufsständischen Strukturen, wie sie trotz ihrer Zersplitterung in der Regel als „gegliedertes" System bezeichnet oder besser verklärt werden. Übernommen werden beispielsweise die dringend reformbedürftige Organisations-und Finanzierungsstruktur der Krankenkassen, die Versicherungsfreiheit von Selbständigen, Freiberuflern und Beamten (und zugleich die Einführung der Beamtenversorgung und berufsständischer Versorgungssysteme), das System der Beitragsbemessungs-und Versicherungspflichtgrenzen, die Versicherungsfreiheit bei „geringfügiger Beschäftigung“ sowie die obsolet gewordene sozial-und arbeitsrechtliche Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten. Die Liste der Probleme, Unstimmigkeiten, Unzweckmäßigkeiten und daraus entstehender Sicherungslücken Heße sich fortsetzen. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß die neu eingeführten Strukturen und Regelungen sich nun auch in den neuen Bundesländern verfestigen und die langjährig diskutierten Reformperspektiven zunächst einmal zugeschüttet werden. 2. Gefahr von Ausgrenzung, Verarmung und Sozialhilfebedürftigkeit Ein Ergebnis der organisatorischen und leistungsrechtlichen Übertragung wird sein, daß es wie im Westen nun auch im Osten zu einer Ausgrenzung eines wachsenden Teils der Bevölkerung aus dem Sozialversicherungsschutz und zu einem Anwachsen der Sozialhilfebedürftigkeit kommen wird Der Bezug von Hilfen in besonderen Lebenslagen (insbesondere bei Pflegebedürftigkeit) und von Hilfen zum Lebensunterhalt (insbesondere bei Arbeitslosen, Rentnerinnen, Alleinerziehenden) nach dem Bundessozialhilfegesetz dürfte für viele der neuen Bundesbürger bald zur Notwendigkeit werden. Je mehr Menschen in Zukunft ohne Versiche-rungsschutz bleiben oder deren Versicherungsansprüche auslaufen, je weniger Löhne, Renten, Arbeitslosengeld und andere Sozialleistungen das Existenzminimum decken und je früher der Sozialzuschlag entfällt, um so größer wird der Empfänger-kreis von Sozialhilfe in den neuen Bundesländern werden. Damit ist absehbar, daß auf die Gemeinden erhebliche Belastungen zukommen werden, ohne daß gewährleistet ist, daß sie auch über die entsprechenden Finanzmittel verfügen werden.
Da das Einkommens-und damit auch das Lohnersatzleistungsniveau in der ehemaligen DDR kaum der Hälfte des Niveaus in den Westländern entspricht, wird der Empfängerkreis von Sozialhilfe im Osten (relativ) erheblich größer sein. Nimmt man nämlich das für die Sozialhilfe grundlegende Bedarfsprinzip ernst, dann kann der Regelsatz für die Hilfen zum Lebensunterhalt in den neuen Bundesländern den in den westlichen Bundesländern gültigen Regelsatz nicht wesentlich unterschreiten. Denn das Preisniveau liegt in beiden Teilen Deutschlands im wesentlichen einheitlich hoch (die Mieten werden im Regelsatz nicht berücksichtigt). So beträgt der Regelsatz in den neuen Bundesländern derzeit 400 DM im Monat (gegenüber 447 DM im Durchschnitt der Westländer), wobei Mehrbedarfszuschläge für ältere Menschen und Erwerbsunfähige nicht vorgesehen sind.
Vor allem Arbeitslose und Rentner laufen Gefahr, auf den Bezug von Sozialhilfe angewiesen zu sein. Die Rentenumstellung und -anpassung zum 1. Juli 1990 mit der Zielgröße eines Rentenniveaus von 70 Prozent des Lohnes hat zwar im Durchschnitt zu einer deutlichen generellen Anhebung des Leistungsniveaus geführt (verstärkt noch einmal durch die Anhebung zum 1. Januar 1991), aber die Erhöhungssätze variieren sehr stark, und ein Teil der Rentner hat überhaupt keine Verbesserungen erfahren. Aus dem Prinzip der lohn-und beitragsbezogenen Renten ergibt sich, daß die neue DM-Rente umso weniger die alte, in DDR-Mark berechnete Rente übersteigt, je weniger Versicherungsjahre vorliegen und je näher das Rentenzugangsjahr an den 1. Juli 1990 heranreicht. Insgesamt kann man davon ausgehen, daß von den 2, 9 Mio. Alters-und Invalidenrentnern zum 1. Juli 1990 rund 2, 25 Mio. eine Rentenanhebung erfahren haben, während es in rund 650 000 Fällen bei der bisherigen im Verhältnis 1: 1 umgestellten Rente geblieben ist. Vor allem die älteren Frauen erhielten nur eine geringe oder keine Anhebung
Um einen massenhaften Sozialhilfebezug zu vermeiden, wurde auf Druck der damaligen DDR-Regierung ab dem 1. Juli 1990 ein Sozialzuschlag eingeführt, der niedrige Renten, niedriges Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld sowie Arbeitslosen-hilfe, die unterhalb eines Betrages von 495 DM liegen, auf dieses Niveau aufstockt. Seine Bedeutung ist sehr groß: Bereits im August 1990 mußte jeder sechste Leistungsempfänger nach dem Arbeitsförderungsgesetz der DDR den Sozialzuschlag in Anspruch nehmen, obgleich die Ausgrenzungsmechanismen der Arbeitslosenversicherung wegen der bisherigen Kürze der Arbeitslosigkeit noch kaum wirksam werden konnten Und rund ein Drittel aller Rentnerinnen und Rentner, das sind 650 000 Personen, davon zu 94 Prozent Frauen, hegen mit ihrer Rente unterhalb von 495 DM
Nach dem Einigungsvertrag soll der Sozialzuschlag gleichwohl nur vorübergehend gelten: Er ist nicht dynamisiert, wird begrenzt auf Neuzugänge bis zum 31. Dezember 1991 und soll ab dem 1. Juli 1995 generell entfallen. Der Sozialzuschlag ist also nicht als Mindestsicherung konzipiert, sondern wird faktisch als Vorgriff auf die noch aufzubauende Sozialhilfe in den neuen Bundesländern angesehen. Liegen Rente, Arbeitslosengeld oder -hilfe unter dem Sozialhilfesatz, dann soll in Zukunft auch in der früheren DDR aufstockende Sozialhilfe beantragt werden, vorausgesetzt, Bedürftigkeit Hegt vor. Die ursprüngliche Absicht der Bundesregierung, schon bei der Rentenerhöhung zum 1. Januar 1991 den Sozialzuschlag anzurechnen, wurde nach öffentlichen Protesten allerdings fallengelassen. Denn die Empfänger des Sozialzuschlags hätten dann keine oder nur eine geringe Rentenerhöhung erhalten. Nun wird auch nach der Rentenerhöhung der bisherige, individuell berechnete Sozialzuschlag weiter gezahlt, so daß die Summe aus Rente und Sozialzuschlag, individuell jeweils unterschiedlich, aber immer über 495 DM liegen wird.
Ein Grund für diese Modifizierung der Sozialzuschlagsregelung war, daß die Sozialhilfeverwaltung in den neuen Bundesländern bzw. in den Kommunen überhaupt noch nicht aufgebaut und arbeitsfähig ist. Unabhängig davon ist aber generell zu bezweifeln, ob alle Arbeitslosen oder Rentner tatsächlich den Weg zum Sozialamt finden und die ihnen zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen. Die Erfahrungen in der Bundesrepublik mit der hohen Dunkelziffer der Armut, insbesondere mit der versteckten Altersarmut, sprechen dagegen. Es deutet sogar vieles darauf hin, daß gerade in der ehemaligen DDR das Verhältnis zwischen Behörden und Bürgern belastet ist und daß obrigkeitsstaatliche Strukturen in der öffentlichen Verwaltung — auch in der noch aufzubauenden Sozialhilfeverwaltung —, die abschrecken und verängstigen, unverändert vorherrschen. Wie werden sich ältere Menschen, insbesondere ältere Frauen, verhalten, wenn sie in Zukunft auf das Sozialamt verwiesen werden? Eine solche sozialtechnische Regelung hat eine unübersehbare sozialpsychologische Dimension für all diejenigen, die bislang auf eine ihnen zustehende Mindestrente vertrauen konnten und nun plötzlich zu Sozialhilfeempfängem degradiert werden, und dabei noch Gefahr laufen, daß das Sozialamt auf unterhaltspflichtige Kinder bzw. Eltern zurückgreift. Auch das Prinzip der Generationensubsidiarität war in der ehemaligen DDR faktisch unbekannt. 3. Demokratisierung des Sozialstaats als Aufgabe Wenngleich festgelegt ist, daß in den neuen Bundesländern die organisatorischen Strukturen des Sozialleistungssystems, wie sie in der alten Bundesrepublik bekannt sind, eingeführt werden, so heißt das nicht, daß die institutioneilen und personellen Strukturen schon geschaffen sind. Es wird Zeit vergehen, bis die Verwaltungen verläßlich arbeiten können, bis die ungeheure Fülle der sämtlich neuen rechtlichen Regelungen erst einmal bekannt und die derzeitige Rechtsunsicherheit überwunden ist. Die Einführung des neuen Rechtssystems erfolgte völlig unvorbereitet, da auch die Verhandlungen über die Staatsverträge von der Öffentlichkeit faktisch abgeschirmt blieben und Verwaltungen wie Bürger die neuen Regelungen erst nachträglich zur Kenntnis nehmen konnten. Dieses Verfahren einer Rechtsetzung ohne eine vorangegangene demokratische Diskussion paßt sich fatalerweise der bisher gewohnten autoritär-paternalistischen Sozialpolitik an Sozialstaatlichkeit setzt aber demokratische Teilhabe und praktische Solidarität voraus. Solidarität ist Basis und Gestaltungsprinzip von Sozialpolitik: Sie kann nicht angeordnet werden. Sozialpolitische Leistungen werden von den Bürgern auf Dauer nur dann akzeptiert (und finanziert), wenn sie sich an der Ausgestaltung der Politik auch beteiligen können. Gefordert ist die Entwicklung von individueller Initiative, Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung. Die nun auch in der früheren DDR etablierte Selbstverwaltung in der Sozialversicherung muß erst noch zu einer kontrollierenden und gestaltenden Institution werden, wenn sie nicht — wie vielfach im Westen — zum verlängerten Arm einer übermächtigen Verwaltung verkümmern soll. Zusammengefaßt: Sozialpolitische Mitbestimmung, Bürgernähe, Beteiligung von Gewerkschaften und von Interessenverbänden der Betroffenen sowie Förderung von Selbsthilfeinitiativen — dies sind Anforderungen an eine wirklich neue Sozialpolitik, die erst noch erfüllt und erlernt werden müssen, und dies nicht nur jenseits der Elbe. 4. Gestaltung von sozialen Diensten und des Gesundheitswesens Auch in den neuen Bundesländern besteht Sozialpolitik nicht nur aus der Sozialversicherungspolitik. Von der Umstellung der Sozialordnung wird die gesamte soziale und gesundheitliche Versorgung, d. h. die sozialen und medizinischen Dienste und Einrichtungen, betroffen: Es sind zuvorderst erhebliche Investitionen notwendig, um die im Schnitt qualitativ unzureichenden ambulanten wie stationären Versorgungseinrichtungen im Gesundheitswesen, in der Alten-, Behinderten-und Jugendhilfe zu sanieren und zu modernisieren. Da sich die Betriebe mehr und mehr von ihren gesundheitlichen und sozialen Einrichtungen trennen, fallen in der Umstellungsphase den Kommunen, aber auch den Wohlfahrtsverbänden hierbei neue (Träger-) Aufgaben zu.
Im Gesundheitswesen ist nach dem, Einigungsvertrag vorgesehen, daß die DDR-spezifische ambulante medizinische Versorgung durch Ambulatorien und Polikliniken, die trotz vieler unbestrittener Mängel im Prinzip gut funktioniert hat und auch von der Bevölkerung akzeptiert wurde, abgeschafft und auf die niedergelassenen Ärzte übertragen wird. Diese Regelung zielt darauf ab, den niedergelassenen Ärzten sobald wie möglich auch in den neuen Bundesländern das Monopol der ambulanten gesundheitlichen Versorgung einzuräumen Die Probleme, die sich aus dieser Monopolstellung für die Qualität der ambulanten Versorgung und für die Verbindung von ambulanter und stationärer Versorgung ergeben, sind bekannt. Auch die Organisationsform der Einzelpraxis muß in ihrer Effektivität und Effizienz als begrenzt angesehen werden. Der Betrieb von Ambulatorien und Polikliniken ist nach dem Einigungsvertrag nur noch für fünf Jahre vorgesehen, danach entscheiden die Zulassungsausschüsse. Diese Frist ist äußerst knapp bemessen, da nicht sichergestellt ist, daß trotz der Vorrangpolitik für die niedergelassenen Kassenärzte diese die ambulante Versorgung flächendekkend wahrnehmen können werden. Eine Überlebensgarantie für die bisherigen Einrichtungen bedeutet die Übergangsfrist nicht, denn noch ist ungeklärt, in welchem Rahmen und unter welchen Bedingungen die Krankenkassen sie finanzieren werden. Es besteht Gefahr, daß die Patienten zu den Leidtragenden der (kassen-) ärztlichen Interessen-politik werden. Auch die übernommenen Einschränkungen im Leistungsrecht der Krankenversicherung (Selbstbeteiligungsregelungen, Nichtabdeckung des Risikos der stationären Pflegebedürftigkeit) wirken sich zu Lasten der Kranken aus.
Wenngleich der Einigungsvertrag die Anpassungsmodalitäten der Arbeits-und Sozialordnung vorgibt, so ist dennoch der gesamtdeutsche Gesetzgeber souverän, um in der nächsten Legislaturperiode eine sozialpolitische Reformpolitik zu betreiben, die den in der alten Bundesrepublik in den vergangenen Jahren erarbeiteten Diskussionsstand aufgreift und zugleich die besonderen Bedingungen und Interessen der neuen Bundesländer berücksichtigt. Die Reformliste ist lang: Sie bezieht sich beispielsweise auf die Organisationsstruktur der ambulanten medizinischen Versorgung Statt am Leitbild des niedergelassenen Kassenarztes in seiner Einzelpraxis festzuhalten, könnte die neue Regierung Organisationsvielfalt einräumen, die auch den Betrieb von Ambulatorien und Polikliniken ermöglicht, über deren Akzeptanz die Bevölkerung in Ost und West zu entscheiden hätte. Weiterer Reformbedarf wie die Neuordnung der Krankenkassenstruktur, soziale Absicherung bei Pflegebedürftigkeit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, eigenständige soziale Sicherung der Frauen. Einführung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung treten hinzu.
VI. Sozialpolitischer Reformbedarf und die Kosten der Einigung
Die Realisierung von Reformpolitik ist durch die Vereinigung nicht einfacher geworden, aber sie bleibt möglich und ist dringender denn je. Sozialpolitische Reformen für die neue Bundesrepublik sind nicht von vornherein mit Kosten verbunden; kostenwirksam werden neue und/oder verbesserte Leistungsansprüche, aber nicht Organisations-und Strukturreformen. Leistungsverbesserungen — vor allem bei der Pflegesicherung, beim Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und bei der Mindestsicherung — bleiben notwendig, selbst wenn berücksichtigt werden muß. daß die Einheit Deutschlands ohnehin mit hohen Kosten verbunden ist.
Es besteht kein Zweifel, daß die durch den Vereinigungsprozeß bereits angefallenen und noch zu erwartenden finanziellen Belastungen erheblich sind. Alle optimistischen Prognosen werden ange-sichts der Wucht der ökonomischen Anpassungskrise, in der sich die neuen Bundesländer befinden, hinfällig, denn rückläufige Produktionsziffern, Umsätze und Beschäftigtenzahlen vermindern das dortige Steuer-und Beitragsaufkommen, während aufgrund der Ursachen gleichen die Ausgabenansätze in der Sozialversicherung — vor allem in der Arbeitslosenversicherung, in den Länder-und Gemeindehaushalten, im Bundeshaushalt und bei den Sondervermögen (insbesondere Treuhandanstalt) — steil ansteigen. Allein bei der Sozialversicherung Ost ist 1991 ein Defizit von deutlich über Mrd. DM zu befürchten, wenn Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsabbau das von den Wirtschaftsforschungsinstituten angenommene Ausmaß annehmen.
Die Deckung dieser Defizite, die für das Jahr 1991 für alle öffentlichen Haushalte, die Sozialversicherungsträger und für die Sondervermögen auf über . 150 Mrd. DM veranschlagt werden können 30), läßt sich nicht allein durch eine unbegrenzte Kreditfinanzierung erzielen. Eine expansive Schuldenpolitik treibt den Zinssatz weiter nach oben mit negativen Auswirkungen für die Konjunktur und belastet die öffentlichen Haushalte mit Tilgungs-und Zinszahlungen. Zudem müssen negative verteilungspolitische Rückwirkungen berücksichtigt werden: Die Zinszahlungen fließen den Beziehern höherer Einkommen und den Geldvermögensbesitzem zu, die durch den Vereinigungsprozeß ohnehin schon begünstigt sind während die Zinsen auf die Staats-schuld aus dem allgemeinen Steueraufkommen, zu dem vor allem die Masse der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen beiträgt, finanziert werden.
Zur Begrenzung der Defizitfinanzierung ist es deshalb unvermeidlich, sowohl Einnahmeverbesserungen als auch Ausgabenkürzungen durchzusetzen Betroffen wird die Bevölkerung also auf jeden Fall.
Kontrovers ist „nur“ die Frage nach dem konkreten Was und Wie. Die Möglichkeiten zur Ausgaben-kürzung sind zahlreich: Sie beginnen mit dem Abbau der sog. teilungsbedingten Lasten und reichen bis zur radikalen Kappung des Verteidigungshaushalts. Auch ist es möglich, Investitionsprogramme von Bund, Ländern und Gemeinden zeitlich zu strecken. Und natürlich bleiben die Sozialausgaben in dieser politischen Diskussion nicht außerhalb der Betrachtung. Die Liste zeigt, daß jeweils genau überprüft werden muß, in welchen Bereichen welche Einsparmöglichkeiten sinnvoll und zumutbar sind, und wer durch Leistungsumschichtungen, Kürzungen und Verzichte auf Verbesserungen belastet wird. Politische Prioritätensetzungen sind er-forderlich. Eine Vorrangpolitik für die neuen Bundesländer bewirkt allerdings wahrscheinlich das Aufbrechen von Konflikten zwischen den Bürgern im Osten und Westen.
Auch für die Sozialpolitik der nächsten Jahre sind (finanzielle) Prioritätensetzungen notwendig. Die finanziellen Mehranforderungen ergeben sich in erster Linie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR; dabei ist zu berücksichtigen, daß durch die Hoch-konjunktur im Westen, die ja durch den Vereinigungsprozeß zum großen Teil getragen wird, die Kassen der Sozialversicherungsträger West gut gefüllt sind. Sozialpolitische Prioritäten zugunsten der neuen Bundesbürger sind allerdings nicht gleichbedeutend mit einem völligen Verzicht auf dringend gebotene Leistungsverbesserungen auch im Westen. Den Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfängem, Pflegebedürftigen, Wohnungssuchenden und kinderreichen Familien geht es durch die Vereinigung Deutschlands nicht besser, sondern eher schlechter Der Hinweis, daß in den östlichen Bundesländern viele Menschen unter teilweise noch schwierigeren Umständen leben müssen, löst die sozialen Probleme im Westen nicht. Denn in der insgesamt wohlhabenden alten Bundesrepublik sind die Unterschiede in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenslagen gerade durch den Vereinigungsprozeß noch größer geworden. Notwendig sind deshalb aus verteilungspolitischen Gesichtspunkten Einnahmeverbesserungen, die sich am Solidarprinzip orientieren und die Bürger nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit belasten. Die Bundesregierung hat sich entschieden gegen Steuererhöhungen in der nächsten Legislaturperiode des Bundestags ausgesprochen. Es wäre zu begrüßen, wenn die bereits diskutierte Mehrwert-steuererhöhung um zwei Punkte vermieden wird, da die Geringverdiener (Rentner, Arbeitslose, kinderreiche Familien) davon im besonderen Maße belastet würden, und zwar gerade die Bürger im Osten (wegen ihrer niedrigen Einkommen). Es ist aber abzusehen, daß die Beitragszahler zur Finanzierung herangezogen werden, indem etwa die Rentenversicherung Ost frühzeitig in einen Finanzverbund mit der Rentenversicherung West geführt wird, und die Betriebsmittelkredite damit durch die Rentenversicherung West ausgeglichen werden müssen. Schon angekündigt ist die Absicht, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung herauf-zusetzen, um die Defizitdeckung des Bundes zur Arbeitslosenversicherung zu limitieren, und dafür den Beitragssatz zur Rentenversicherung entsprechend zu kürzen. Die durch Beitragszahlungen an-gesammelten, derzeit außerordentlich hohen (Schwankungs-) Reserven in den Rentenkassen trügen dann über Umwege zur Entlastung des Bundes-haushalts bei.
Bereits schon Anfang der achtziger Jahre war diese Politik des „Verschiebebahnhofs“ zu Lasten der Beitragszahler behebt. Die Kritik daran bleibt dieselbe: Belastet werden die versicherungspflichtigen Arbeiter und Angestellten bis zur Beitragsbemessungsgrenze; andere, versicherungsfreie Erwerbstätige wie Beamte, Freiberufler und Selbständige bleiben außen vor. Doch bei der deutschen Einigung handelt es sich um eine gesamtstaatliche Aufgabe, an der alle Bürger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beteiligt werden sollten. Eine solche Orientierung spricht für eine Erhöhung der Lohn-und Einkommensteuer, womit sich bewahrheitet: Die Teilung Deutschlands kann nur durch Teilen überwunden werden.
Gerhard Bäcker, Dr. rer. pol., geb. 1947; wissenschaftlicher Referent für Sozialpolitik am Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) des DGB; Dozent für Sozialpolitik an der Sozialakademie Dortmund. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit R. Bispinck, K. Hofemann, G. Naegele) Sozialpolitik und soziale Lage in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Köln 1989; (zus. mit G. Naegele) Wann und wie das Arbeitsleben beenden?, Köln 1989; (zus. mit B. Stolz-Willig) Kindererziehung, Arbeitszeiten und soziale Sicherung. Düsseldorf 1990.
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