Bestandsaufnahmen zur politischen Bildung aus den achtziger Jahren beschreiben häufig ein Krisenszenario -Sie sehen das Fach an den Schulen in einem „kläglichen Zustand“ (Grosser) und verweisen auf die „Abkoppelung der Fachdidaktik von der Fachwissenschaft“ (Hartwich). Es ist die Rede von politischer Bildung zwischen „Scylla und Charybdis“ (Ellwein), von der „Misere“ (Derbolav) oder vom „Elend“ (Hohmann) der politischen Bildung Dabei werden interne und externe Hemmnisse und Bedingungen eines „Neubeginns“ diskutiert (Grosser, Hilligen) und eine Rekonstruktion des Kerns der Fachdidaktik (Grammes) programmatisch gefordert.
Diese Diskussion hat mit dem Fall der Mauer und mit der Vereinigung Deutschlands zusätzliche Dynamik gewonnen. Die Frage nach der Bedeutung und der Funktion der politischen Bildung in der Demokratie und beim Aufbau demokratischer politischer Strukturen stellt sich neu. Gerade vor dem Hintergrund der Diskussion in der ehemaligen DDR, der Ablösung der „alten“ Staatsbürgerkunde durch eine „neue“ Gesellschaftskunde, erscheint es sinnvoll, einen kritischen Rückblick auf die Entwicklung der politischen Bildung in der Bundesrepublik zu wagen. Um die aktuelle Diskussion problembewußter führen zu können, ist es hilfreich, sich die unterschiedlichen Konzeptionen der politischen Bildung zu vergegenwärtigen und die wichtigsten Konfliktlinien nachzuzeichnen
I. Erziehung zur Demokratie als Lebensform: Reeducation nach 1945
Die Entwicklung der politischen Bildung nach 1945 wurde in erster Linie bestimmt durch die Umerziehungspolitik der Alliierten. Wenn auch die Amerikaner sich in besonderer Weise in der Erziehung engagierten, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß die übrigen Besatzungsmächte durchaus eigenständige Positionen und Praktiken vertraten.
Die britische Erziehungspolitik war vor allem durch Pragmatismus gekennzeichnet. Die britischen Behörden verzichteten weitgehend auf eigene Reforminitiativen und vertrauten darauf, möglichst viele Deutsche durch persönliche Kontakte schulpolitisch und pädagogisch zu beeinflussen. Das französische Umerziehungskonzept orientierte sich vor allem an der in der französischen Tradition gepflegten Freiheitsliebe und an der Wertschätzung des Individuums. Nachdem es ihnen gegen den Widerstand der deutschen Behörden nicht gelang, das eigene Schulsystem einzuführen, konzentrierten sie sich auf die Veränderung der Lehrinhalte. Dabei erreichten sie eine deutliche Vereinheitlichung im Bereich der weiterführenden Schulen.
Der sowjetischen Umerziehungspolitik lag seit dem Schulgesetz vom Frühjahr 1946 ein einheitliches Konzept zugrunde. Als wichtigstes bildungspolitisches Ziel galt ein einheitliches, von Konfessionen unabhängiges Schulsystem und die Beseitigung des Bildungsmonopols der „herrschenden Klasse*. Entnazifizierung, die Einsetzung verläßlicher örtlicher Behörden und neue Lehrbücher galten als dringlichste Aufgaben. Im Gegensatz zu den übrigen Besatzungszonen funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den sowjetischen und deutschen Be-hörden auf dem Gebiet der Erziehung relativ reibungslos, und das Schulwesen auf dem Gebiet der späteren DDR entwickelte sich weitgehend einheitlich. Mit dem Begriff „Re-education“ wird und wurde am stärksten die amerikanische Umerziehungspolitik in Verbindung gebracht. In der Besatzungspolitik der Amerikaner nahm die Erziehung einen besonders hohen Stellenwert ein. So heißt es in den Empfehlungen der amerikanischen Erziehungskommission: „Das einzige und beste Werkzeug, um noch im gegenwärtigen Geschlecht in Deutschland die Demokratie zu erreichen, ist die Erziehung.“ Dabei wurde die Reeducationpolitik schon sehr bald in den Rahmen des gesamten Wiederaufbaus Deutschlands gestellt. So sollte die politische und moralische Umerziehung des deutschen Volkes die Wiederherstellung der allgemeingültigen Prinzipien der Gerechtigkeit begünstigen.
Wesentliche Grundlage der amerikanischen Umerziehungspolitik bildete der Bericht der amerikanischen Erziehungskommission, die eingesetzt worden war, um das Erziehungsprogramm der amerikanischen Militärregierung in Deutschland zu beobachten und zu bewerten. Ausgangspunkt der Vorschläge dieser Kommission, die sich stark an der Pädagogik John Deweys orientierte, war die These, daß Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern vor allem eine Lebensform sei, die bis ins einzelne gelehrt werden müsse. Entsprechend stand im Mittelpunkt der Erziehung auch die Schule. Die Schule trug nach Ansicht der Amerikaner eine wesentliche Mitschuld an der Entstehung des Nationalsozialismus. Das dreigliedrige Schulsystem habe die Klassenunterschiede betont und bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrheit der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf dem das Führerprinzip gedieh. Nur die demokratische Umgestaltung der Schule, die Verschiebung des Auslesezeitpunktes und die Organisation der Schule als ein Gesamtschulsystem könne letztlich zu einer Stabilisierung der Demokratie in Deutschland führen.
Die Empfehlungen der Kommission leiteten eine Phase aktiver Reformpolitik der Amerikaner ein. Zwar galt noch immer die Vorstellung, die notwendigen Veränderungen im Bildungssystem vor allem über die Einsicht der Deutschen selbst zu realisieren, aber in den neuen Direktiven wurde jetzt auch ein direktes Eingreifen in das Erziehungsprogramm der Länder der amerikanischen Zone gefordert. Der verstärkte Druck der amerikanischen Reformbemühungen riefjedoch auch einen verstärkten Widerstand bei den Deutschen hervor. Besonders die bayerischen Behörden setzten sich so hartnäckig gegen die Reformpläne zur Wehr, daß sich die Militärregierung gezwungen sah, mit direkten Befehlen einzugreifen.
Erst als vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Ost-West-Konflikts und des beginnenden Kalten Krieges die Auseinandersetzungen um die Reeducationpolitik zu einer ernsten Belastung für die Partnerschaft zwischen Deutschen und Amerikanern zu werden drohten, verzichteten die Amerikaner weitgehend auf die Verwirklichung einer grundlegenden Schulreform.
Resümierend läßt sich zwar feststellen, daß den Amerikanern tiefgreifende strukturelle Reformen des deutschen Bildungssystems nicht gelungen sind, daß sie aber Erfolge bei der Anregung für einen politischen Unterricht an den Schulen und bei der Einführung sozialwissenschaftlicher Fächer an den Universitäten hatten.
In den USA gehörte politische Erziehung schon immer zur demokratischen Tradition. In diesem Sinne hatte dann auch die amerikanische Erziehungskommission eine grundsätzliche Umgestaltung der sozialwissenschaftlichen Fächer, eine Demokratisierung der Schulorganisation und des Schullebens sowie demokratische Erziehung als Unterrichtsprinzip gefordert und den Vorschlag gemacht, entsprechende Experten nach Deutschland zu entsenden. Diese Experten kamen zu folgenden Vorschlägen: Für die Entwicklung demokratischen Bürgersinns sei es notwendig, Sozialunterricht als Unterrichtsprinzip zu verwirklichen, neue Unterrichtsmethoden auf der Grundlage eines partnerschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses anzuwenden, Kernfächer wie Heimatkunde, Geschichte, Geographie von den Erfordernissen der Sozialerziehung her umzugestalten und spezielle Fachkurse einzuführen, die sich mit den Problemen des gesellschaftlichen und politischen Lebens beschäftigen. Daraufhin kam es zur Einführung spezifischer Unterrichtsfächer in verschiedenen Ländern, und im bayerischen „Erziehungsplan auf weite Sicht“ wurde ausdrücklich Sozial-und staatsbürgerliche Bildung und Erziehung als „verpflichtendes Unterrichtsprinzip für die Schule“ erwähnt.
Als schwerwiegendes Problem erwies sich jedoch sehr bald der Tatbestand, daß von den Deutschen selbst zu dieser Zeit kaum Initiativen für eine Erziehung zur Demokratie ausgingen und daß kein theoretisch-inhaltliches Konzept politischer Bildung existierte, um die bildungspolitischen Vorgaben ausfüllen zu können. Bei den ersten vorsichtigen Versuchen, sich mit Fragen politischer Bildung auseinanderzusetzen, kristallisierten sich jedoch schon zwei Richtungen heraus: Die eine versuchte, expli29 zit an die Erfahrungen der Weimarer Republik und an die Staatsbürgerkunde aus dieser Zeit anzuknüpfen. Die zweite Richtung entwickelte sich in mehr oder weniger bewußter Abkehr von der Staatsbürgerkunde. Sie nahm die Vorstellungen der Social Studies auf, verstand aber Sozialkunde weitgehend unpolitisch im Sinne eines staatsfreien Konzepts einer Gesinnungs-und Gemütserziehung. Generell galt jedoch: „Wer sich sofort nach der Wiedereröffnung der Schulen im Oktober 1945 der politischen Bildung zugewandt hat, hat sich . . . lang mit dem behelfen müssen, was ihm aus der Geschichtswissenschaft, aus der europäischen Philosophie, aus klassischen Texten, aus den Verfassungen und aus seiner eigenen politischen Erfahrung seit 1918 oder 1933 zufloß.“ (Messerschmid)
II. Partnerschaftspädagogik oder Erneuerung der staatsbürgerlichen Erziehung
Mit der Gründung der Bundesrepublik und der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war der direkte Einfluß der Alliierten auf die Entwicklung der Bildungssysteme zu Ende und durch das Grundgesetz die Kulturhoheit der Länder festgeschrieben. Die Auseinandersetzungen um die Struktur des Bildungssystems gingen jedoch zunächst weiter; in den ersten Landtagswahlen spielten daher bildungspolitische Fragen eine wichtige Rolle. Im Verlauf der weiteren Entwicklung wurde die Bildungspolitik dann immer stärker an den Rand der Diskussion gedrängt, die meisten Neuordnungsansätze nach und nach zurückgenommen und die alte Dreigliedrigkeit des Schulsystems weitgehend wiederhergestellt.
Während man auf bildungspolitischer Ebene also fast nahtlos an die Verhältnisse in der Weimarer Republik anknüpfte, nahm die Entwicklung im Bereich der politischen Bildung einen anderen Verlauf. Obgleich auch hier Anknüpfungspunkte zur alten Staatsbürgerkunde Weimarer Prägung gesucht und gefunden wurden, machte sich doch auch auf vielen Ebenen der Einfluß der amerikanischen Social Studies-Bemühungen bemerkbar. Die Richtlinien für den politischen Unterricht in Hessen vom 30. Juni 1949, in denen es heißt: „Politischer Unterricht darf nicht mit Staatsbürgerkunde verwechselt werden. Der das tut, füllt neuen Wein in alte Schläuche“, sind repräsentativ für solche Positionen. Diese Vorstellungen von der Notwendigkeit einer politischen Bildung oder einer politischen Erziehung wurden allerdings in der Schule kaum realisiert. Hier dominierte eher eine Form der unpolitischen Gemeinschaftskunde, die ihre Aufgabe vor allem darin sah, die Bindungen, Beziehungen und Kräfte darzustellen, die in der menschlichen Gemeinschaft wirken, sowie die Jugend zur Verantwortung in der Gemeinschaft erziehen.
Der Gemeinschaftsbegriff als Kernstück „politischer“ oder sozialer Erziehung in der Schule war auch leitend für Teile der Pädagogik. Vor allem Ferdinand Kopp steht für diese Richtung. Kopp, der wohl auch als erster von „Sozialkunde“ spricht, geht von der anthropologischen Annahme aus, daß der Mensch seinem Wesen nach Individuum und der Gemeinschaft verbunden zugleich ist. Es sei naheliegend, die Abhängigkeit des Menschen von den Mitmenschen durch Lehre und Erziehung zu verdeutlichen und auf ein Erziehungsziel hin auszuwerten. Aufgrund der Verarmung der mitmenschlichen Beziehungen und dem Verfall der Familie müsse jetzt vor allem die Institution Schule die Funktion übernehmen, zu sozialen Lebensformen zu erziehen. Was Kopp will, ist Sozialerziehung und von diesem Ansatz her war dann auch kein Druchbruch zu einer im eigentlichen Sinne politischen Bildung zu erwarten.
Einen wirklichen Anstoß und eine auch theoretische Weiterentwicklung politischer Bildung brachte erst die 1951 publizierte Schrift von Friedrich Oetinger (Pseudonym für Theodor Wilhelm) „Wendepunkt der politischen Erziehung“ Mit diesem Buch wird zum ersten Mal nach 1945 eine Arbeit veröffentlicht, die den Anspruch erhebt, die pädagogischen Grunderfahrungen der Kriegsgeneration in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und über die Erteilung von praktisch-pädagogischen Ratschlägen hinaus den Versuch zu unternehmen, „eine neue Theorie der politischen Erziehung zu entwerfen“.
Oetinger wendet sich scharf gegen die nationalsozialistische Erziehung, aber auch gegen die staatsbürgerliche Erziehung der Weimarer Republik und des Kaiserreiches. Staatsbürgerliche Erziehung als Erziehung zum Staat, Nationalerziehung und Erziehung zur Gemeinschaft hätten sich als Irrwege erwiesen, die letztendlich in die politische Katastrophe geführt hätten. Daher müsse jetzt vor allem die Frage beantwortet werden, „was können wir von der Erziehung her tun, um uns vor neuen politischen Irrwegen zu bewahren?“ Obgleich die Amerikaner von der gleichen Grundfrage ausgingen, ist Oetinger gegenüber dem Umerziehungskonzept der Amerikaner skeptisch. „Erziehung zur Demokratie“ sei eine bloße Formel und nur dann sinnvoll, wenn sie sich als Erziehung zu den Faktoren verstehen würde, die das Funktionieren der Demokratie bedingen. „Das läuft auf menschliche Qualitäten hinaus, welche die Erziehung anstreben kann, ohne selbst Politik zu werden.“ Politik greift für Oetinger weit über den Bereich des Staates und der staatlichen Macht hinaus. Das Wesen des Politischen liege in der Aufgabe der Politik, Frieden zu halten. . Politische Erziehung* sei danach Erziehung zu einer menschlichen Haltung, die dieser friedensstiftenden und friedenserhaltenden Funktion der Politik möglichst weitgehend entgegenkommt. Der Staat sei vor allem Rechtsstaat, und der höchste politische Wert sei der Frieden. Verständigung, Solidarität, der Mensch als Partner sind wesentliche Elemente der politisehen Erziehung Oetingers. Politische Erziehung ist Erziehung zur menschlichen Kooperation. Was wir brauchen, sagt Oetinger, „ist nicht Staatsgesinnung und nicht Bürgergesinnung, sondern menschliche Regsamkeit“.
Das bedeutet jedoch keine Absage an das Politische. Im Gegenteil, auch für Oetinger gibt es keine politische Erziehung außerhalb des politischen Raumes. Der politische Erzieher wird sich auch weiterhin mit dem Staat beschäftigen, aber das Politische darf darin allein nicht aufgehen. Oetingers politische Pädagogik „ist von einem Begriff des Politischen getragen, bei dem nicht die staatliche Macht, sondern die menschliche Kooperation im Vordergrund steht. Sie ersetzt das überlieferte, vom Staat her strukturierte politische Denken durch eine genossenschaftlich bestimmte menschliche Haltung.“
Die Wirkungen dieser Konzeption politischer Bildung waren beträchtlich. Sie hatte Einfluß auf die Formulierung von Bildungsplänen und Schulbüchern ebenso wie auf die Praxis des Sozialkundeunterrichts in den Schulen. Diese Wirkungen entsprachen jedoch keineswegs immer den eigentlichen -In tentionen des Autors. Vor allem die Schulpraktiker nahmen die Begriffe „Partnerschaftserziehung“, „kooperative Erziehung“ und die unterrichtspraktischen Vorschläge Oetingers bereitwillig auf, sie unterlagen aber dabei häufig einem doppelten Mißverständnis: Diese Konzeption enthob sie scheinbar der Notwendigkeit, „systematische politische oder sozialwissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben und zu vermitteln“, und erweckte zusätzlich den falschen Eindruck, als genüge es, weitgehend mit „gesundem Menschenverstand“ die Unterrichts-inhalte und -prozesse zu bestimmen und zu lenken. Darüber hinaus kam die Begrifflichkeit dem in den fünfziger Jahren auch bei vielen Lehrern vorherrschenden Bedürfnis nach Harmonie und nach einer konfliktfreien, unpolitischen und sittlichen Gemeinschaftskunde entgegen. Gerade die aber wollte Oetinger ja mit seiner kämpferisch gemeinten und politisch verstandenen Idee der Partnerschaft überwinden. So wurde die ursprüngliche Absicht Oetingers in der Unterrichtspraxis verfälscht und die Konzeption einer politischen Erziehung als Erziehung zur Kooperation auf ein bloßes „seid nett zueinander“ verkürzt.
Auf der Ebene der theoretischen Auseinandersetzung führte Oetingers Buch zu heftigen Kontroversen Die Positionen reichten von uneingeschränkter Zustimmung bis zu totaler Ablehnung. Als einflußreichster Kritiker der Partnerschaftskonzeption und als Gegenpart zu Oetinger profilierte sich Theodor Litt. Litt, der schon an der Entwicklung der Staatsbürgerkunde in der Weimarer Republik beteiligt war, ging in seiner Schrift „Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes“ mit der Partnerschaftserziehung hart ins Gericht. Er wirft ihr vor, daß sie den Begriff des Politischen ins Soziale, ja allgemein Menschliche verflüssige. Litt ist sich mit Oetinger über das Ziel, „den Frieden“ oder die „Friedlichkeit“ im gesellschaftlichen Leben zu erreichen, zwar einig, aber nach Litt kann nur der Staat diesen Frieden garantieren. Wo die staatliche Ordnung fehlt „oder auch nur brüchig ist, da entfällt auch die Möglichkeit einer auf gütlicher Vereinbarung beruhenden Kooperation. Denn diese Kooperationen würden im Wirbel der Unordnung untergehen.“ In der Konzeption Oetingers sei das Phänomen des politischen Kampfes ausgeblendet. Vom Wesen des Politischen her aber sei das Moment des Kampfes nicht abzutrennen: „Gerade der Demokratie . . . wird der schlechteste Dienst erwiesen durch eine Theorie der politischen Erziehung, die den politischen Kampf als Verirrung stempelt, die zugunsten des Prinzips friedlicher Kooperation zum Verschwinden gebracht werden müsse. Was sie in Gestalt des politischen Kampfes verneint, das ist nichts Geringeres als das Lebens -prinzip der Demokratie.“ „Partnerschaftserziehung“ als der Versuch, eine neue Theorie politischer Bildung zu entwickeln, und „Erziehung zum Staat“ als Anknüpfung an die poli-tische Bildung der Weimarer Republik waren die beiden Konzeptionen, die die Diskussion um die politische Bildung in den fünfziger Jahren dominierten.
III. Grundlegende Einsichten als Ziel politischer Bildung
Was sich gegen Ende der vorangegangenen Etappe schon angedeutet hatte, wurde zwischen 1955 und 1960 zunehmend deutlicher. Die Bildungspolitik war an den Rand der öffentlichen Diskussion gedrängt und im wesentlichen geprägt durch die Parole „Keine Experimente“. Bildungspolitisches Handeln richtete sich im wesentlichen auf die „Effektivierung des Bestehenden“. Dazu gehörten auch alle Versuche, eine stärkere Vereinheitlichung und Standardisierung des Schulwesens zu erreichen sowie die bildungspolitische Verantwortung des Bundes auszudehnen. Erst allmählich entwickelte sich ein öffentliches Interesse daran, „den Zugang zu den weiterführenden Schulen für breitere Bevölkerungskreise zu erleichtern“ und den ausgeprägten Auslesecharakter des Bildungssystems abzuschwächen. Dies führte auf der inhaltlichen Ebene zu einer Diskussion über die Stoffülle der Lehrpläne, zur Kritik an ihrem Enzyklopädismus und zur Forderung nach exemplarischem Lernen sowie nach Beschränkung auf das Wesentliche. Die Kritik an der „Vielwisserei“ und an der Stoffülle der Lehrpläne bezog sich auch unmittelbar auf die politische Bildung. Gerade ihre Wirkung sei bedroht „durch die Überfülle des angebotenen Stoffes . . . Bloße Kenntnisse vermögen aber den Menschen weder zu formen noch zu verwandeln. Wichtig sind allein geistige Erfahrungen, die zu Erkenntnis und Einsicht führen.“
Exemplarisches Lernen und die Notwendigkeit der Vermittlung von Einsichten waren dann auch die wesentlichen Elemente der didaktisch-methodischen Diskussion zur politischen Bildung in der damaligen Zeit. Man wandte sich damit vor allem gegen das im Unterrichtsalltag vorherrschende unpolitische „Miteinander — Füreinander“ einerseits und gegen die bloße Wissensvermittlung andererseits. Die Frage, die sich immer drängender stellte, lautete dann auch, wie denn die Zielvorstellung der politischen Bildung — der „Staatsbürger, der aus demokratischen Grundüberzeugungen heraus denkt, urteilt und handelt“ (Ammon) — zu erreichen sei. Es erschien offensichtlich dringend geboten, sich verstärkt mit den Problemen der didaktischen Erschließung und der Vermittlung „politischer Grundeinsichten“ auseinanderzusetzen. „Die Frage nach dem Elementaren politischer Bildung stellt sich unüberhörbar; daß dieses Elementare nicht in den formalen Bausteinen gefunden werden kann, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft ermöglichen, versteht sich von selbst. Vielmehr muß es um Sinn-Elementares gehen, das Gewissen, Verantwortung und Entscheidung begründet und maßstäblich sowie maßgeblich für Politik ist.“ (Kurt G. Fischer)
Diese Überzeugungen begründeten die sogenannte „didaktische Wende“ in der politischen Bildung. Sie geht vor allem auf das Buch von Kurt G. Fischer, Karl Herrmann und Hans Mahrenholz „Der politische Unterricht“ (1960) zurück. Das Ziel des politischen Unterrichts sollte demnach sein, „elementare politische Einsichten zu wecken und derart verständlich bewußt zu machen, daß sie als Maßstäbe zukünftiger politischer Meinungs-und Willensbildung und als Grundlage politisch-vernünftigen Handelns der Staatsbürger dienen können“. Schon Ende der fünfziger Jahre hatte Eduard Spranger darauf hingewiesen, daß die theoretische Didaktik in Deutschland sich viel zu wenig um „die psychologischen Vorbedingungen und Wege derjenigen Art von , Verstehen gekümmert habe, die in allen Geisteswissenschaften erforderlich sei“ Um die Jugend für Dinge, die mit dem Staat Zusammenhängen, zu interessieren, sei es notwendig, bei der Lebenswelt der Jugendlichen anzusetzen, Brükken zum Staatlichen hin zu schlagen und die „Fülle der Qualitäten auf Grunderfahrungen zurückzuführen, die immer wiederkehrenden . Urverhaltensweisen oder . Sinnelemente in Beziehung zu setzen zu den Sozialerfahrungen der Jugendlichen“.
Die Überlegungen Sprangers bereiteten den entscheidenden Impuls für die politische Bildung der sechziger Jahre mit vor, der dann von einer Gruppe hessischer Didaktiker ausging und in die „Hessische Konzeption“ politischer Bildung mündete
Schon 1955 hat Hilligen darauf hingewiesen, daß in der Schule die „staatsbürgerliche Belehrung“ dominiere und politische Entscheidungsfragen vernach-lässigt würden. Worauf es daher ankomme schreibt er dann 1961, sei aber vor allem die Vermittlung von „grundlegenden Einsichten“: „Während sich so politische Bildung im gesamten Leben der Schule vollzieht, hat der Sozialkundeunterricht die Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln, die als Grundlage politischen Urteils und Voraussetzung verantwortungsvoller Mitwirkung am Leben von Gesellschaft und Staat notwendig sind.“ Hilligen unterscheidet zwischen „Erkenntnis“ und „Einsicht“. Erkenntnisse sind wertneutral und können rein verstandesmäßig gewonnen werden; Einsichten setzen eine wertende Entscheidung voraus und zwar die sittliche Entscheidung für Freiheit und Menschenwürde. Politischer Unterricht müsse beim Schüler letztlich zu einer dialektischen Haltung führen: „Gehorsam und Widerstand, Gleichheit und Auslese, Ausgleich und Kampf.“ Politischer Unterricht solle den Schüler nicht nur gegen extreme und einseitige Lösungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, immunisieren, sondern er solle Jugendliche auch sensibel machen für die Grenzen, „jenseits derer der einzelne oder das Ganze Schaden leiden“.
Ähnlich wie Hilligen definiert auch Rudolf Engelhardt Einsichten als Richtpunkte, an denen sich politisches Handeln orientiert im Sinne der jeweils getroffenen Grundentscheidung, die eben zugunsten der freiheitlichen oder zugunsten der totalitären Ordnungsvorstellung ausfallen könne.
Die Polarisierung von freiheitlicher und totalitärer Ordnungsvorstellung, die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur oder Demokratie und Totalitarismus im Zuge des Kalten Krieges beeinflußten auf der Ebene der politischen Bildung die Formulierung der Grundeinsichten: „Demokratie oder Diktatur“ — auf die klare Erkenntnis dieser Alternative komme es an. Denn nur über die grundsätzliche Entscheidung für Demokratie oder Diktatur hinweg sei es zu erreichen, daß realistisch über das Mehr oder Weniger an persönlichen und gesellschaftlichen Freiheiten verhandelt werden könne.
Die Konzeptionen der Theoretiker der „didaktischen Wende“ wurden in wichtigen bildungspolitischen Entscheidungen aufgegriffen und stellten einen erheblichen Fortschritt in der Diskussion über Aufgabe und Funktion politischer Bildung dar. Die Erschließung und Vermittlung politischer Grund-einsichten war ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu dem im eigentlichen Sinne politischen Unterricht. Vor allem die Betonung des politischen Kampfes, der Kontroverse, der Notwendigkeit von Konflikten öffnete dem politischen Unterricht den Blick für die politische Realität.
IV. Der Konflikt als Grundbegriff politischer Bildung
Im Verlauf der sechziger Jahre gewann die Bildungspolitik im Wirtschaftssystem und in der technologischen Entwicklung der Gesellschaft ein neues zentrales Bezugssystem. Die bildungspolitische Diskussion gewann zunehmend an Dynamik Vor allem die Veröffentlichungen von Friedrich Edding, Ralf Dahrendorf und Georg Picht sorgten für eine breite bildungspolitische Diskussion die letztlich in den Formeln „Wachstum durch Bildüng“ und „Bildung ist Bürgerrecht“ kulminierte. Von der „Mobilisierung der Bildungsreserven“ und vom bildungspolitischen Aufbruch der sechziger Jahre konnte jedoch die politische Bildung wenig profitieren. Daß auch hier eine neue Phase der Entwicklung eingeleitet wurde, lag an anderen Ereignissen. Es war wohl vor allem eine Welle antisemitischer Hakenkreuzschmierereien und Friedhofs-schändungen Anfang der sechziger Jahre, die zu einer öffentlichen Diskussion über den Stand der politischen Bildung an den Schulen führte.
Die Notwendigkeit politischer Bildung war unumstritten, gleichzeitig aber wurde auf breiter Front'Kritik geübt an der Art und Weise, wie die Schule politische Bildung als Unterrichtsgegenstand und als Unterrichtsprinzip zu verwirklichen suchte. Diese Kritik am Zustand der politischen Bildung in den Schulen wurde durch eine Reihe empirischer Untersuchungen zur Wirksamkeit politischer Bildung gestützt, die zu dem Ergebnis kamen, daß die Wirksamkeit des politischen Unterrichts — gemessen an den Intentionen der Bildungspläne — äußerst gering sei. Die Frage: „politisch bilden, aber wie?“ stellte sich so immer dringlicher. Einen neuen Weg hatten schon die hessischen Didaktiker mit ihrer Wende vom Partnerschaftsdenken zum Konfliktdenken versucht. Jetzt galt es, dem neuen Konfliktansatz auf breiter Front zum Durchbruch zu verhelfen. „Wir brauchen offenbar eine didaktische und methodische Konstruktion, die von der Analyse politischer Konflikte ausgeht“, schrieb Herrmann Giesecke 1965 in seiner „Didaktik der politischen Bildung“ und markierte damit endgültig den Beginn der Phase der politischen Bildung, in der die Erziehung zum Konflikt und zum Konfliktverhalten im Mittelpunkt der Diskussion stand.
Seit der didaktischen Wende war es vorrangiges Ziel des politischen Unterrichts, den Jugendlichen Grundeinsichten in die politische Realität und in die Grundordnung der Demokratie zu vermitteln. Giesecke versuchte, die Frage zu beantworten, wie dies denn im Unterricht vermittelt werden könnte. Politischer Unterricht müsse sich dazu vor allem auf die Analyse aktueller politischer Konflikte konzentrieren. Der Gegenstand des politischen Unterrichts sei immer die Politik. Politik aber definiere sich als „das noch nicht Entschiedene“, das sich am sichtbarsten in der „kontroversen Aktualität“ zeige. Beim Prozeß der politischen’Bildung selbst unterscheidet Giesecke vier Ebenen, auf denen politische Beteiligung gelernt werden müsse: die Ebene des Bildungswissens, des Orientierungswissens, der politischen Verhaltensweisen und des Aktionswissens.
Unter Bildungswissen versteht er das „Reservoir der Normen für das politische Bewußtsein“. Das Orientierungswissen bezeichnet die Fülle von Lern-Inhalten, die die gegenwärtige politische Welt als Ganzes in ihren Funktionszusammenhängen erfaßt: ein System der Produktion und des Marktes, ein System der Verwaltung, ein System der politischen Herrschaft und ein System der internationalen Politik. Die Ebene der politischen Verhaltensweisen stellt die subjektive Seite des objektiven politischen Orientierungswissens dar. Dabei lassen sich entsprechend dem jeweiligen sozialen Bezugssystem die Ebenen des personalen Umgangs, des gesellschaftlichen Umgangs und des politischen Umgangs unterscheiden. Die vierte Ebene, auf der politische Beteiligung gelernt werden soll, ist die Ebene des „Aktionswissens“. Diese Ebene enthält „von sich aus keine Inhalte, die nicht schon auf den anderen Ebenen vorhanden wären, sondern es aktualisiert sie auf einen politischen Konflikt hin“. Aktionswissen, auf diese Weise gewonnen, gerinnt in der Folge zu Orientierungswissen, das sich dadurch in seinem Bestand vermehrt.
Der eigentliche Prozeß des politischen Lernens wird durch elf Kategorien vermittelt. Sie schließen einen politischen Gegenstand auf und stellen ein Frageraster dar. Mit dessen Hilfe kann ein Gegenstand als politisch identifiziert und können wichtige von unwichtigen Konflikten unterschieden werden. Die elf Kategorien: Konflikt, Konkretheit, Macht, Recht, Funktionszusammenhang, Interesse, Mitbestimmung, Solidarität, Ideologie, Geschichtlichkeit, Menschenwürde bilden „kein systematisches, sondern ein operatives Denkmodell".
Sie müssen drei Voraussetzungen erfüllen, um für den politischen Unterricht brauchbar zu sein: Sie müssen „alle in jedem politischen Konflikt enthalten sein“; die in den Kategorien immanenten Wertvorstellungen müssen „als solche eines Konsens der ganzen Gesellschaft angesehen werden können“, und schließlich müssen sie sich „angesichts des konkreten Unterrichtsgegenstandes in sinnvolle Leitfragen umwandeln lassen“.
Kaum eine theoretische Konzeption politischer Bildung hat so viel Aufmerksamkeit hervorgerufen und war so wirkungsvoll wie die „Didaktik der politischen Bildung“ von Herrmann Giesecke. Entsprechend vehement war auch die Kritik an dieser Konzeption, die aus sehr unterschiedlichen politischen Richtungen kam Der Beitrag Gieseckes zur Entwicklung der politischen Bildung liegt vor allem darin, daß er als erster eine systematische und relativ geschlossene Didaktik des politischen Unterrichts vorgelegt hat, die gegenüber allen Versuchen vor 1965 einen erheblichen Fortschritt darstellte und die die Diskussion um politische Bildung in Deutschland lange prägte.
V. Emanzipation oder politische Rationalität: Bildungsziele im Widerstreit
Mit Beginn der sozial-liberalen Koalition von 1969 waren innen-und außenpolitische Kursänderungen verbunden. Innenpolitisch zielte das Programm der SPD/FDP-Koalition auf eine Politik der inneren Reformen („Wir wollen mehr Demokratie wagen“ — so Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969). Angestrebt wurde eine humanere Gesellschaft mit gleichen Lebenschancen, größerer sozialer Gerechtigkeit, mehr Freiheit und Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen bei größerer Sicherheit im Innen-und Außenverhältnis. An der Spitze der Reformen — quasi als Motor — sollte dabei die Bildungsreform stehen, und die Bildungspolitik erlebte zu dieser Zeit eine Phase der „Hochkonjunktur“. Zugleich ist der Beginn der sozial-liberalen Koalition gekennzeichnet durch eine zunehmende Reideologisierung und eine immer stärker werdende bildungspolitische Polarisierung. Vor allem die zunehmende bildungspolitische Polarisierung führte zum einen dazu, daß im Zentrum der Diskussion um die politische Bildung vor allem Zielkonzeptionen standen, in denen sich der aufbrechende Gegensatz zwischen „konservativ“ und „progressiv“, zwischen „links“ und „rechts“, zwischen „A-Ländern“ und „B-Ländern“ widerspiegelte. In dieser „politischen Geographie“ (B. Sutor) bildeten „Emanzipation“ und „Rationalität“ die beiden zentralen Pole der Diskussion.
Exemplarisch können diese gesellschaftspolitischen bzw. parteipolitischen Kontroversen an der Auseinandersetzung um die „Richtlinien für den politischen Unterricht“ in Nordrhein-Westfalen (1. Auflage 1973) aufgezeigt werden. Unter „politischem Lernen“ wird in diesen Richtlinien der Erwerb und die Veränderung von Bewußtseinsinhalten, Einstellungen und Verhaltensweisen verstanden, die Gesellschaften zur Verwirklichung ihrer Zielvorstellungen vorschreiben oder ermöglichen. Es geht vor allem um eine Erweiterung der Demokratisierungschancen, der Partizipationsmöglichkeiten und um eine Ausweitung der politischen Handlungsspielräume. Sowohl der konsensfähige, vor allem aber der konfliktfähige Staatsbürger ist das Ziel des politischen Unterrichts. Im Unterricht sollen Verfahren der Ideologie-und Herrschaftskritik als Voraussetzung eines selbstbestimmten politischen Denkens eingeübt werden.
Konzeptionell und programmatisch wird die eher konservative Position in der Zielbestimmung „Rationalität“ erfaßt. Nach Sutor ist allgemeines Ziel der politischen Bildung, „den Menschen zur Rationalität des Urteilens über soziale und politische Sachverhalte zu befähigen“. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Rationalität und politischem Handeln, wobei die didaktische Differenz zwischen Handeln und Reflexion, die notwendige Distanz zur politischen Handlung als Grundbedingung von Bildungsprozessen betont wird: „Bildung setzt Distanz zur Lebenspraxis voraus.“ Der Stellenwert der Rationalität wird dahingehend bestimmt, daß diese Zielformulierung auf einer Option für die plurale, repräsentative, rechtsstaatliche und sozial-staatliche Demokratie basiert. Zugleich wendet sich Sutor gegen Parteilichkeit von Erziehung, gegen die Politisierung des politischen Unterrichts, die durch eine Identifizierung von Bildung und Aktion hervorgerufen wird.
Bernhard Sutor entwickelt den Zusammenhang von Rationalität und politischer Bildung vor allem auf der Basis des Grundgesetzes, das er zur Legitimation und als Konsensbasis politischer Bildung heranzieht. Er interpretiert aus dem Grundgesetz das zugrundeliegende Menschenbild und das Politikverständnis und versucht so, einen sowohl formalen als auch inhaltlichen Rahmen für politische Bildung zu bestimmen. Dieser Versuch, das Grundgesetz weder „konservativ“ noch „progressiv“ zu interpretieren und als Konsensbasis politischer Bildung zu definieren, wird allerdings von anderen Autoren grundsätzlich in Frage gestellt.
Im Zusammenhang mit der Forderung nach Demokratisierung unterscheidet Sutor zwischen einem weiteren und einem engeren Politikbegriff. Zwar könne man den weiteren Politikbegriff auch auf soziale Zweckgebilde (z. B. Schule, Betrieb) beziehen, diese besäßen die politische Dimension aber nur sekundär, da sie auf einen Sachzweck hin organisiert seien. Alles Politische sei zwar prinzipiell demokratisierbar, aber eine Demokratisierung sozialer Zweckgebilde dürfe nicht auf Kosten ihrer eigentlichen Zwecke gehen. Im Zentrum seiner Konzeption steht daher auch politisches Handeln im engeren Sinne, das sich allein auf die politische Ordnung der Gesamtgesellschaft bezieht. Sutor betont die Notwendigkeit einer normativ-institutionellen Ordnung, die jedoch in Stichworten wie Herrschaftsabbau und Emanzipation vergessen würden. Totale Emanzipation von politischer Ordnung durch Politik sei ein Widerspruch in sich, da Gesellschaft in ihrer Geschichtlichkeit nie zur Vollendung kommen könne. Menschenbild und Politikverständnis des Grundgesetzes müssen sich vielmehr in einer unaufhebbaren Dialektik von Prinzipien bewegen, deren sich die politische Bildung vergewissern müsse. Diese Prinzipien geben gleichzei35 tig „Reizworte“ der didaktischen Diskussion der damaligen Zeit wieder:
Freiheit — Ordnung; Freiheit — Gleichheit Kommunikation — Normen/Institutionen Pluralität — Integration partikulare Interessen — Allgemeininteresse (Gemeinwohl)
Konflikt — Konsens Partizipation — Repräsentation Moralität — Erfolg (Gesinnungs-und Verantwortungsethik) Utopie — Realität.
Auf der Basis seines Menschenbildes und seiner Verfassungsinterpretation beschreibt Sutor auch das oberste Ziel politischer Bildung: „Ziel politischer Bildung ist die Vermittlung von Fähigkeit und Bereitschaft zu politischer Beteiligung durch möglichst unvoreingenommene Information, gewissenhafte Urteilsbildung und verantwortliche Entscheidung nach Maßgabe der Grundnormen einer freiheitlich-demokratischen Ordnung.“ (Berhard Sutor, Grundgesetz und politische Bildung, in: H. -W. Kuhn/P. Massing [Anm 1], S. 285). Damit stellt die „gewissenhafte Urteilsbildung“, auf eine Kurzformel gebracht: „politische Rationalität“, die zentrale Zielsetzung der politischen Bildung dar.
Im Widerstreit zwischen „Emanzipation“ und „Rationalität“ konnte sich keine Position „durchsetzen“. Charakteristisch für diese Phase der Grundsatzdiskussion um Zielkonzeptionen ist die Tatsache, daß die politische Bildung selber zum „Politikum“ wurde: als Wahlkampfthema, als parteipolitische Polarisierung und als politisches „Glaubensbekenntnis“ mit dogmatischem Anspruch, in dem die jeweils andere Position ausgegrenzt wurde. Auf der Ebene der Zielkonzeptionen konnte keine Einigung in der föderativ geprägten Bildungspolitik erzielt werden; notwendigerweise mußte sich die politikdidaktische Diskussion ab Mitte der siebziger Jahre anderen Problemfeldem und begrenzteren Zielfragen zuwenden.
VI. Zwischen „pragmatischer Wende“, „Zukunfts-“ oder „Risikodidaktik“
Je näher die Analyse der Konzeptionen politischer Bildung an die Gegenwart reicht, desto schwieriger ist eine eindeutige Kennzeichnung und Charakterisierung. Daher kann hier nur der Versuch unternommen werden, politikdidaktische Trends der achtziger Jahre thesenartig zu skizzieren. Die Positionen in der Diskussion reichen von einer „pragmatischen Wende“ bis hin zu umfassenden Entwürfen einer „Zukunfts“ -bzw. „Risikodidaktik“.
Die Phase der „pragmatischen Wende“ in der Fach-didaktik schlägt sich nieder im Versuch, einen Minimalkonsens zu formulieren. Politisch-ideologische Kontroversen und der Streit um Ziele der politischen Bildung sind in den Hintergrund getreten. Namhafte Fachdidaktiker trafen sich, um einen Konsens für ihre Disziplin und ihr Selbstverständnis zu formulieren. Das Ergebnis, der sogenannte „Beutelsbacher Konsens“ (benannt nach dem Tagungsort) von 1977, enthält drei grundlegende Postulate „ 1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der — rundum akzeptierten — Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers. 2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden. Alternativen unerörtert bleiben, dann ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist. ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muß, die den Schülern . . . von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft fremd sind. (Zumutungsgebot — B. Claußen) 3. Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was aber eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist . . , In methodischer Hinsicht folgt daraus, daß Selbständigkeit und Eigenarbeit des Schülers Vorrang haben müssen vor Formen des Belehrens.“
Ergänzt wird dieser Konsens in den achtziger Jahren um das sogenannte „Zumutungsgebot“, das neben der individuellen Perspektive wieder mehr die Kategorie des Gemeinwohls ins Spiel bringt.
Ein weiteres Kennzeichen der fachdidaktischen Diskussion der achtziger Jahre läßt sich als „Pluralisierung" der politischen Bildung beschreiben. Im Unterschied zu den bislang untersuchten Phasen, in denen entweder ein bestimmtes Konzept dominierte oder eine Polarität deutlich wurde, fehlen Mitte der achtziger Jahre neue Gesamtentwürfe.
Pluralisierung meint zum einen, daß unterschiedliche Lösungen je nach Parlamentsmehrheit für die Richtlinien der Bundesländer formuliert werden (Hilligen), zum anderen meint „Pluralisierung“ aber auch noch etwas anderes Grundsätzlicheres: Nachdem in den siebziger Jahren die Produktion von Didaktiken als Ganzdarstellungen vorherrschte, kommt es in den achtziger Jahren zu einer „Aufsplitterung der Didaktik“ (Gagel). Damit ist nun nicht gemeint, daß es einen Pluralismus von didaktischen Konzeptionen gibt, sondern daß didaktische Entwürfe nur noch in einer partiellen Sicht von „Orientierungen“ entwickelt werden: Alltagsorientierung, Stadtteilorientierung, Bedürfnisorientierung, Erfahrungsorientierung, Handlungsorientierung usw. Walter Gagel spricht daher pointiert von einer „nachkonzeptionellen Phase“ der Fachdidaktik.
Hinzu kommt ein neuer Aspekt, der bisher kaum systematisch untersucht worden ist und der die Frage beinhaltet: Welche Impulse erhält die schulische politische Bildung von den „neuen sozialen Bewegungen“? Politisches Lernen in Institutionen (Schule, Universität, Volkshochschule, Parteien, Verbänden) und politisches Lernen in sozialen Bewegungen stehen in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis. Zukünftiges Ziel muß eine neue produktive Verbindung beider Felder sein. Die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren so grundlegend gewandelt, daß eine Weiterentwicklung der politischen Bildung durch immer wieder neue Methoden und Medien der Vermittlung allein nicht ausreicht, um deren Zukunftsaufgaben zu bewältigen. Die Desintegration des Individuums und seiner Umwelt erschwert politisches Lernen. Theaterarbeit, Lern-und Kommunikationsspiele, Werkstattberichte und Projektdarstellungen sind Schlaglichter neuer Formen politischer Bildung.
Wenn politische Bildungsarbeit zur Zeit in erheblichem Maße im Rahmen sozialer Bewegungen stattfindet so stellt sich vor allem die Frage, inwieweit Formen der Institutionalisierung von Lernen möglich bleiben, wo ihre Grenzen und Defizite liegen. Hinzu kommt die Frage, was an Kompetenzen zum Überleben in der gegenwärtigen Krise (Stichwort: Industrielle Risikogesellschaft) notwendig erscheint. Die damit verbundene Verunsicherung der institutionalisierten politischen Bildung hat dazu geführt, daß man nach neuen Orientierungsmustern, vor allem aus den Erfahrungen der sozialen Bewegungen Ausschau hält (Bürgerinitiativbewegung, Anti-AKW-und Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Selbsthilfegruppen, Friedensbewegung).
In einer Bestandsaufnahme zur Situation der politischen Erwachsenenbildung wird die Ambivalenz des Politikverständnisses und der zentralen didaktischen Kategorien in folgende Frage gekleidet: „Wie . politisch ist . . . eine politische Bildung, deren zentrale Kategorien nicht mehr Solidarität, Kritik-fähigkeit, rationales Urteilsvermögen und Emanzipation. sondern Selbsterfahrung, Subjektivität, Gefühl, Ganzheitlichkeit oder Hinwendung zum Alltag heißen?“
In diesem Kontext deutet sich die Relevanz neuer Ansätze, neuer Inhalte und Konzepte an. Die Entgrenzung der Politik in der „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) macht eine neue Grundlagenreflexion notwendig. Einerseits ist eine grenzenlose Ausweitung des Politischen festzustellen („Das Private ist politisch“). Zugleich steht die offizielle Politik vor Glaubwürdigkeitsproblemen, besonders bei Jugendlichen. In neueren Ansätzen der politischen Bildung spielt das Subjekt eine zentrale Rolle. Erfahrungsorientierung und Betroffenheit sind hier die Stichworte. Einer dieser Ansätze, der politische Bewußtseinsstrukturen von Jugendlichen analysiert, thematisiert psychologische Theorien der Moralentwicklung (Piaget, Kohlberg), Wir möchten uns hier auf den Hinweis beschränken, daß der Zusammenhang von politischem Lernen, morali- scher Urteilskompetenz und demokratischer Schulkultur gegenwärtig in einem Schulversuch in Nordrhein-Westfalen „praktisch“ untersucht wird.
Ein weiterer Problemstrang fragt nach neuen Inhalten der politischen Bildung. Die Forderung nach „permanenter Revision“ der Richtlinien und Curricula läßt sich an den Politikrichtlinien aus Nordrhein-Westfalen exemplarisch darstellen. Nachdem die „Schörken-Kommission“ zunächst zehn grundlegende Qualifikationen formuliert hatte (1. Auflage 1973), wurden in der 3. Auflage 1987 zwei weitere Qualifikationen aufgenommen, die zentrale innenpolitische Zukunftsaufgaben der Politik aufgreifen: „Umwelt“ und „Arbeit“. Die beiden Qualifikationen in den „Richtlinien“ lauten: „Qualifikation 11: Fähigkeit und Bereitschaft, sowohl durch das eigene Verhalten als auch durch Beteiligung an gesellschaftlichen Initiativen Verantwortung für die Sicherung der Lebensbedingungen in der Zukunft mitzuübernehmen.
Qualifikation 12: Fähigkeit zu erkennen, inwieweit Arbeit zur Existenzsicherung von Individuum und Gesellschaft notwendig ist und Grundlage für Selbstverwirklichung und politische Beteiligung sein kann, sowie Bereitschaft, sich für die Gestaltung menschenwürdiger Bedingungen von Arbeit einzusetzen.“
Gleichzeitig wird in diesen Richtlinien eine fachwissenschaftliche und -didaktische Differenzierung des Politikbegriffs aufgenommen, die es ermöglicht, den Unterricht unter spezifisch politologischen Fragestellungen, Theoremen und Erkenntnissen zu akzentuieren. Bei der didaktischen Aufarbeitung neuer Inhalte — wie Moralentwicklung, Arbeit, Institutionen, Zukunft — kann der entfaltete Politik-begriff als heuristisches Instrument dienen.
Die Komplexität von Politik wird nur bewahrt, wenn politische Themen unter Berücksichtigung formaler, prozessualer und inhaltlicher Momente analysiert und vermittelt werden. Gagel bezeichnet die Berücksichtigung dieser drei Dimensionen des Politischen als „Mindestanforderung an den politischen Unterricht“.
Zu den neueren Ansätzen möchten wir abschließend zwei Versuche zählen, die auf unterschiedliche Art die fachdidaktische Diskussion weiterentwickeln können. Der eine Diskussionsstrang scheint nach „rückwärts“ zu verweisen, indem er eine „Renaissance der Institutionenkunde“ thematisiert; der andere geht quasi nach „vorne“, in Richtung „Zukunft“, um einen Paradigmenwechsel zu fordern.
Der erste Diskussionsstrang fragt danach, ob und wie Institutionenkundliches in den politischen Unterricht integriert werden kann. Zur Beurteilung vorliegender Ansätze und Konzepte wird dabei der entfaltete Politikbegriff herangezogen. Darüber hinaus stellt er die Frage, wie eine „Brücke“ zwischen der Alltagswelt von Jugendlichen und der Politik geschlagen werden kann, ohne daß auf ein komplexes Institutionenverständnis verzichtet wird. Gefordert wird die Behandlung von Institutionen und politischen Prozessen (Konflikten, Problemen, Entscheidungen, Verfahrensregeln usw.) im politischen Unterricht sowohl aus der „Betroffenen“ -als auch aus der „Akteur“ -Perspektive. Institutionenkunde im herkömmlichen Sinne beschränkte sich auf die „Täter“ -Perspektive. Der Begriff des „Interesses“ scheint didaktisch geeignet, das organisierende Prinzip von Mikro-und Makrobereich bilden zu können, wobei „Interesse“ verstanden wird als Mitte zwischen Erfahrung und systematischem Wissen, als Kategorie, die über bewußt gewordene Bedürfnisse einen Zugang zu „Gesellschaft“ als Ganzem ermöglicht
Der zweite Diskussionsstrang macht sich den Gegenstand „Zukunft der Industrie-bzw. Risikogesellschaft“ zum Thema. Peter Weinbrenner vertritt die These: Die mit dem Thema „Zukunft“ gegebenen politischen und pädagogisch-didaktischen Herausforderungen machen eine prinzipielle Umorientierung der wirtschafts-und sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken und damit auch der politischen Didaktik notwendig. Denn: „Wederder Staat als politische Steuerungsinstanz noch die Selbstregulierungskräfte des Marktes, sondern allein der vielfältige, offene und aufgeklärte Diskurs aller mündigen Bürger einer demokratischen Gesellschaft verspricht die Chance, unter den vielfältigen Wegen in die Zukunft . . .denjenigen herauszufinden, der das Überleben der Gattung Mensch und des Planeten Erde sichert.“
Der Zukunftsbegriff fungiert als didaktische Integrationsformel, als neues Integrationsprinzip der Sozialwissenschaften. Leitmotivisch soll die Zukunftsangst, die in Jugendstudien vielfach nachgewiesen wurde, überwunden und Risikobewußtsein aufgebaut werden. Methodisch orientiert sich dieses Konzept am Modell der Zukunftswerkstätten, dem Versuch, ökonomisches, ökologisches und politisches Lernen zu verknüpfen. Die genannte 11. Qualifikation der NRW-Richtlinien ist bereits Niederschlag dieser Diskussion.
VII. Zwischen Staatsbürgerkunde und Gesellschaftskunde. Die Diskussion um die politische Bildung in der ehemaligen DDR
Die aktuelle Diskussion um die politische Bildung in der bisherigen Bundesrepublik wird überlagert und neu herausgefordert durch die politische Entwicklung nach dem 9. November 1989, durch die Diskussion um Aufgabe und Bedeutung der politischen Bildung, die während des Prozesses der Vereinigung in der ehemaligen DDR geführt wurde, sowie durch die Vereinigung Deutschlands und die jetzt anstehende Einführung von Rahmenrichtlinien für den Politikunterricht in den neuen Bundesländern.
Auf der größten Protestdemonstration am 4. November 1989 in Berlin, fünf Tage vor Öffnung der Mauer, hatte die Volksschauspielerin Steffi Spira-Ruschin unter großem Beifall die Forderung formuliert: „Meine Urenkel mögen aufwachsen mit einem schulfreien Samstag, ohne Fahnenappelle, ohne Fackelzüge und ohne Staatsbürgerkunde.“ Vor allem die letzte Forderung markiert den Beginn einer Diskussion, die sich zum einen kritisch mit der bisherigen Staatsbürgerkunde in der DDR auseinandersetzt und zum anderen die Frage stellt, welche Bedeutung der politischen Bildung beim Aufbau einer demokratischen Struktur zukommt.
Dabei spielte nur ganz am Anfang der Versuch eine Rolle, sich mit den Ursachen des Scheiterns der alten Staatsbürgerkunde auseinanderzusetzen, stalinistische Züge und Deformationen im Bereich der Staatsbürgerkunde anzusprechen und aufzudecken, um von daher eine Neuorientierung für die politische Bildung zu gewinnen. Allzu deutlich war, daß dieses Fach in seinen Funktionen, Zielen und Gegenstandsbestimmungen lediglich in dem Sinne profiliert war, daß Politik und Programm der SED das alleinige Inhaltskonzept bildeten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer arbeiteten, produzierten permanent Angepaßtheit, Untertanengeist und absoluten Konformismus mit fremd-gesetzten Normen.
Die politische Entwicklung hat dazu geführt, daß viele Lehrerinnen und Lehrer im Fach Staatsbürgerkunde das Gefühl haben, jetzt vor den Trümmern ihrer politischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit zu stehen. Ihre Verunsicherung erscheint grenzenlos, und die öffentliche Kritik am Staatsbürgerkundeunterricht nahm täglich zu. Dies führte zunächst dazu, daß man Staatsbürgerkunde in den Schulen aussetzte und einen Neuanfang mit dem Fach Gesellschaftskunde versuchte. So kam es, daß Mitte Dezember 1989 beim Ministerium für Bildung eine Arbeitsgruppe „Staatsbürgerkunde“ gebildet wurde, die sich aus Staatsbürgerkundelehrem, Methodikern, Mitgliedern der Akademie der pädagogischen Wissenschaften und Mitarbeitern des Ministeriums für Bildung zusammensetzte. Im Januar 1990 lag eine „Übergangskonzeption zur Weiterführung des Unterrichts im bisherigen Fach Staatsbürgerkunde im 2. Halbjahr des Schuljahres 1989/90“ vor.
Zu diesem Zeitpunkt ging man zunächst noch davon aus, daß ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestehe hinsichtlich der Notwendigkeit politischer Bildung und Erziehung in einem eigenen Unterrichtsfach. Gleichwohl war man sich darüber im klaren, daß es dabei nicht um eine Umgestaltung des bisherigen Faches Staatsbürgerkunde gehen könne, sondern daß eine grundlegende Neugestaltung der politischen Bildung und Erziehung in einem neuen Unterrichtsfach notwendig sei, das sich in der Zielsetzung, seinem Inhalts-und Methoden-konzept prinzipiell vom bisherigen Staatsbürgerkundeunterricht unterscheiden müsse.
Schon in dieser Übergangskonzeption wurde ein Problem deutlich, daß die Diskussion um das neue Fach Gesellschaftskunde in der Folgezeit noch begleiten wird: Die totale Indienststellung des alten Staatsbürgerkundeunterrichts in die Politik der Partei sowie die verbreitete Vorstellung einer geistig-moralischen Krise insbesondere bei den Jugendlichen führt zu einer starken Betonung lebenskundlieher und ethischer Elemente. Die auf die Veröffentlichung dieser Übergangskonzeption folgende Diskussion — vor allem Forderungen, das Fach Gesellschaftskunde gänzlich durch Fächer wie Lebenskunde , Ethik und Religion zu ersetzen —, aber auch die zunehmende Distanz von Lehrerinnen und Lehrern sowie von Schülerinnen und Schülern zur Politik hatte zur Folge, daß bei der Weiterentwicklung dieser Übergangskonzepte in den „Standpunkten und Vorschlägen zum Gesellschaftskundeunterricht“ sowie in den Rahmenplänen für den Gesellschaftskundeunterricht vom März 1990 lebenskundliche und ethische Fragen einen großen Stellenwert erhielten. Deutlich wird dies in der starken Betonung von Themenfeldern wie: „Die Gesellschaft und ich“, „Gesund leben — aber wie?“, „Äußeres und Charakter“, „Freundschaft, Liebe und Sexualität im Leben junger Menschen“ usw. Diese sozialkundliche und lebenskunancne Ausrichtung des Faches Gesellschaftskunde stand denn auch im Mittelpunkt der Kritik von Fachwissenschaftlern und Fachdidaktikern aus der Bundesrepublik
Auch die sich bildenden gemeinsamen Kommissionen zu Fragen der politischen Bildung gingen in erster Linie auf dieses Problem ein. Sowohl der gemeinsame „Berliner Arbeitskreis Politische Bildung“ als auch die gemeinsame Projektgruppe „Politische Bildung“ des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der ehemaligen DDR wiesen ausdrücklich darauf hin, daß die Rahmenpläne für Gesellschaftskunde den Erfordernissen eines demokratischen politischen Unterrichts nicht gerecht werden. Es fehle die eindeutige Ausrichtung auf politische Inhalte und die Hinführung auf das Verständnis des Politischen.
Als Folge der Konstituierung der neuen Bundesländer scheint die Diskussion um die politische Bildung zunächst abgebrochen. Zwar sind in fast allen neuen Bundesländern Landesverbände der Deutschen Vereinigung für politische Bildung gegründet worden, auch Lehrplankommissionen haben z. T. schon mit ihrer Arbeit begonnen; dies konnte aber bisher noch nicht zu einer breiten öffentlichen Diskussion um die politische Bildung führen. Es scheinen sich eher Tendenzen der geräuschlosen Übernahme von Lehrplänen aus den alten Bundesländern abzuzeichnen.
Im Vordergrund stehen zur Zeit eher Probleme der Fort-und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern im Fach Gesellschaftskunde. Inhalte und Zielsetzungen einer politischen Bildung, die den Erfordernissen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft entsprechen, treffen noch auf eine Lehrerschaft, die für die kompetente fachliche und didaktische Vermittlung einer solchen politischen Bildung nur ungenügend ausgebildet und vorbereitet und sich dessen auch bewußt ist. Erfahrungen und Gespräche mit zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern sowie mit Lehrerausbildem aus der ehemaligen DDR, die alle ein hohes Weiter-und Fortbildungsinteresse äußern, zeigen, daß sowohl im fach-wissenschaftlichen wie im fachdidaktischen und methodisch-unterrichtspraktischen Bereich große Defizite gesehen werden. Hinzu kommt, daß Schülerinnen und Schüler auf Politikunterricht in jüngster Zeit mit vermehrter Ablehnung reagieren. In dieser Situation wird verständlich, daß Lehrerinnen und Lehrer diesen Problemen zunehmend durch das Ausweichen auf lebenskundliche und abstrakt philosophisch-ethische Fragen begegnen.
Eine konzeptionelle Weiterentwicklung der politischen Bildung aus der ehemaligen DDR heraus ist angesichts der aktuellen schwierigen Situation in den nächsten Jahren wohl kaum zu erwarten; ein Impuls für eine neue konzeptionelle Diskussion politischer Bildung in der ehemaligen Bundesrepublik ist zur Zeit nicht festzustellen.