I. Das Tiananmen-Massaker und seine außenpolitischen Folgen
Die Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 wurde für das Ansehen der Volksrepublik China in der Welt und für die chinesische Außenpolitik zu einem dies ater. In dieser Nacht erstickten Einheiten der Volksbefreiungsarmee den Ruf zehntausender chinesischer Studenten und hunderttausender mit ihnen sympathisierender Bürger nach Demokratie. Es kam zu einem blutigen Massaker, dem einige hundert, nach Berechnungen der Menschenrechts-organisation Amnesty International sogar mehr als tausend Menschen zum Opfer fielen. „Peking 1989“ gilt seither ebenso als ein Symbol der Unterdrükkung eines nach Freiheit rufenden Volkes wie „BerHn 1953“, „Ungarn 1956“, „Prag 1968“ und „Danzig 1980“
Während die gewaltsame Zerschlagung der Demokratie-Bewegung und die gleichzeitige Entmachtung des Reformflügels der Partei um Zhao Ziyang das Machtmonopol der chinesischen Kommunisten noch einmal sicherte und damit in China jene Entwicklung verhinderte, die sich in den folgenden Monaten in Osteuropa Bahn brach und die dortigen sozialistischen Regime hinwegfegte, fügte sie Chinas Ruf schweren Schaden zu. Das galt insbesondere für die westliche Welt. Diese hatte die chinesische Volksrepublik seit Beginn des Reformprozesses mit offen gezeigtem Wohlwollen beobachtet und Menschenrechtsverletzungen, die sie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern unnachsichtig anprangerte, großzügig übersehen oder bagatellisiert. Jetzt reagierte man mit tiefem Ent-* setzen.
Doch die Empörung erschöpfte sich nicht in verbalen Protesten, sondern fand auch Ausdruck in Form von Aktionen. Kooperationsprogramme wurden eingestellt, Entwicklungshilfeleistungen gestoppt, Wirtschaftsverhandlungen abgebrochen; Investitionsentscheidungen wurden rückgängig gemacht und Kredite eingefroren. Von einem Tag auf den anderen war das zuvor wegen seiner Öffnungs-und Modernisierungspolitik bewunderte China in die Isolierung geraten. Deng Xiaoping, wegen seines Reformkurses als einer der hervorragendsten Staatsmänner des Jahrhunderts gefeiert, wurde nun als engstirniger Autokrat und Schlächter der chinesischen Jugend beschimpft. Das chinesische Regime hatte vor der Weltöffentlichkeit sein Gesicht verloren.
Die folgende Analyse untersucht die Reaktionen der chinesischen Außenpolitik auf diese Situation sowie die Schritte, die die chinesische Diplomatie einleitete, um das beschädigte Ansehen wiederherzustellen und das Land aus der Isolierung herauszuführen. Darüber hinaus sucht sie nach den Spuren, die die westlichen Reaktionen bei der chinesischen Führung hinterließen, und befaßt sich mit der Frage nach den möglichen langfristigen Auswirkungen der jüngsten Erfahrungen auf die chinesische Außenpolitik.
Die Frage, ob mit der Fortsetzung der bisherigen Politik Pekings zu rechnen ist, oder ob es Anzeichen für einen grundlegenden Wandel gibt, drängt sich auf. Sie läßt sich allerdings nur vor dem Hintergrund der strategischen Tiefenstruktur der chinesischen Außenpolitik und der ihr zugrundeliegenden Interessenlagen diskutieren. Deren Rekonstruktion ist der einleitende Rückblick auf die außenpolitische Strategie Pekings seit Beginn der achtziger Jahre gewidmet. In ihm werden aber auch ältere theoretische Konzepte skizziert, an denen sich die Pekinger Führung bis heute orientiert. Somit werden auch die tieferen zeitlichen Zusammenhänge erhellt, in denen sich die außenpolitische Strategie Chinas entwickelte.
II. Die Strategie der „Unabhängigkeit“
Die grundlegenden Weichenstellungen, denen die chinesische Außenpolitik bis zum Frühjahr 1989 gefolgt war, waren schon zu Beginn der achtziger Jahre vorgenommen worden. Sie erfolgten im wesentlichen aus ökonomischen Gründen. Es hatte sich spätestens zu diesem Zeitpunkt erwiesen, daß die Verbesserung der ökonomischen Situation zur zentralen Frage für die weitere Zukunft Chinas geworden war.
Die wirtschaftliche Lage, in der sich die chinesische Volksrepublik beim Tode Mao Zedongs — nach fast zwei Jahrzehnten erbittert geführter Macht-und Linienkämpfe — befand, war desolat. Ohne eine radikale politische Wende, die Ruhe und Ordnung wiederherstellen, die Lebensbedingungen grundlegend verbessern und der Bevölkerung hoffnungsvolle Perspektiven für die Zukunft eröffnen würde, drohte ein weiterer Verfall des Ansehens der Kommunistischen Partei Chinas. Dies hätte nicht nur zu einer allgemeinen Destabilisierung der chinesischen Gesellschaft und damit zu einer Erschütterung des kommunistischen Systems geführt, sondern auch zu einer nachhaltigen Verschlechterung der Stellung Chinas im internationalen System.
Die auf dem 3. Plenum des XI. ZK der Kommunistischen Partei Chinas im Dezember 1978 vorgenommene programmatische Kurskorrektur hatte somit eine fundamentale Bedeutung. In ihrem Zentrum standen Maßnahmen, die außer einer Rücknahme der früheren Kollektivierungsschritte vor allem eine rasche Entwicklung der „Produktivkräfte“ — also die „Modernisierung“ — zum Ziel hatten. Da die Voraussetzungen für eine rasche Modernisierung aus eigener Kraft aber nicht gegeben waren — das erforderliche Kapital fehlte ebenso wie das wissenschaftlich-technische Know-how und die Erfahrung mit Methoden modernen Managements —, gehörte eine „Öffnung nach außen“ zu den Kemelementen des neuen Kurses Der Aufbau weltweiter kooperativer Beziehungen, insbesondere im außenwirtschaftlichen Bereich, war deshalb von Anfang an eine der zentralen Aufgaben, die der neuen Außenpolitik zugewiesen wurden.
Eine zweite, nicht minder wichtige und in der Zielsetzung ähnliche Aufgabe bestand in der Schaffung eines friedlichen regionalen und internationalen Umfeldes. Für einen störungsfreien Umbau der chinesischen Wirtschaft sollten geeignete Rahmenbedingungen geschaffen und damit die Umschichtung knapper Ressourcen aus dem militärischen in den zivilen Bereich ermöglicht werden. Beide Aufgaben — Wirtschaftsaufbau und Friedenssicherung — waren dabei in vielfacher Weise miteinander verknüpft: Einerseits war — wie der kostspielige Vietnam-Feldzug im Februar 1979 gezeigt hatte — eine grundlegende Sanierung der chinesischen Wirtschaft ohne Frieden nicht möglich; andererseits erforderte die Aufrechterhaltung des Friedens eine starke und moderne Wirtschaft.
Die Zielsetzungen des neuen Kurses hatten tiefgreifende ideologische und strategische Implikationen. Ideologisch verlangten sie den endgültigen Abschied von weltrevolutionären Ambitionen sowie eine Beschränkung der Außenpolitik auf die Sicherung und Durchsetzung nationaler Interessen. Die Bereitschaft der chinesischen Führung zu einer solchen ideologischen Wende, die auch in der Rhetorik einen Abschied von der Politik der Vergangenheit verlangte, zeigte sich deutlich anhand von drei nunmehr eingenommenen Positionen:
Erstens in der Aufgabe des Begriffs „proletarischer Internationalismus“, der insbesondere in der sinosowjetischen Polemik der sechziger Jahre einen zentralen Stellenwert hatte — obwohl er in der konkreten Politik Pekings, von einigen Ausnahmen abgesehen, nur sehr vorsichtig praktiziert worden war.
Zum zweiten in der Aufwertung des Prinzips der „friedlichen Koexistenz“ zur zentralen Leitlinie der chinesischen Außenpolitik. In den sechziger Jahren hatte sich die chinesische Führung unter Mao noch vehement gegen die von Chruschtschow vorgenommene Aufwertung des Prinzips der „friedlichen Koexistenz“ zum Generalprinzip der Außenpolitik der internationalen kommunistischen Bewegung gewehrt. Seit Beginn der achtziger Jahre wurden die fünf Prinzipien der „friedlichen Koexistenz“ jedoch zur „grundlegenden Norm“ der außenpolitischen Beziehungen Chinas erhoben. So stellte der damalige Premier Zhao Ziyang ausdrücklich fest, die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz „sind die grundlegenden Normen, von denen wir uns bei der Behandlung der Beziehungen unseres Landes zu allen anderen Ländern leiten lassen. Alle Länder, ob groß oder klein, ob stark oder schwach, ob reich oder arm, sollen gleichberechtigt behandelt werden, sich gegenseitig respektieren, miteinander in Harmonie leben und freundschaftlich Zusammenarbeiten; die Angelegenheiten eines jeden Landes müssen von seinem eigenen Volk entschieden wer-B den; kein fremdes Land hat das Recht sich darin einzumischen. Dies ist der Hauptpunkt, der unserer unablässigen Befolgung der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz zugrundeliegt.“
Konsequenterweise hatte die chinesische Führung Moskau 1979 die Normalisierung der Beziehungen unter den Prinzipien der friedlichen Koexistenz angeboten.
Schließlich traten noch zwei weitere außenpolitische Topoi in den Hintergrund, die wesentlich von Mao geprägt worden waren: Die These von der „Unvermeidbarkeit eines Weltkrieges“, die nun nicht mehr in die neue Perspektive des wirtschaftlichen Aufbaus und Aufschwungs paßte und deshalb offiziell revidiert wurde, und auch die „Drei-Welten Theorie“, die sowohl wegen der ihr zugrunde liegenden theoretischen Konzeption als auch wegen ihrer praktischen Ausgestaltung weder der politischen Realität noch den strategischen Zielen der neuen Außenpolitik entsprach, wurden aus diesem Grund stillschweigend ad acta gelegt.
Zu den strategischen Implikationen der gesamtpolitischen Zielsetzungen gehörte an hervorragender Stelle auch eine neue Positionsbestimmung gegenüber den USA und der Sowjetunion. Die gesamten siebziger Jahre waren von einer heftigen antisowjetischen Politik geprägt gewesen. Ihr lag die Sorge über die expansionistische Politik der Sowjetunion zugrunde, von der sich Peking nicht nur selbst unmittelbar bedroht fühlte, sondern von der die chinesische Führung auch eine Veränderung des global-strategischen Gleichgewichts zugunsten der Sowjetunion befürchtete. Diese Perzeption fand ihren Widerhall im Bemühen um die Mobilisierung einer internationalen Einheitsfront gegen Moskau, in die auch die USA eingegliedert werden sollten. Insbesondere nach der Bildung der Achse Moskau-Hanoi und dem Einmarsch vietnamesischer Truppen in das Nachbarland Kambodscha im Dezember 1978 hatte sich die strategisch motivierte Annäherung Pekings an Washington vertieft; am 1. Januar 1979 war es zur vollen Normalisierung ihrer Beziehungen gekommen.
Damit schien sich eine weitere Vertiefung der strategischen Zusammenarbeit zwischen den USA und der Volksrepublik anzubahnen. Wenn die chinesische Führung davon aber dann doch wieder Abstand nahm, so dürften dafür vor allem die möglichen negativen Auswirkungen einer solchen Politik auf die Modernisierung der chinesischen Wirtschaft und die strategische Position Chinas ausschlaggebend gewesen sein: Der weitere Ausbau des sowjetischen Militärpotentials — die absehbare Folge einer Annäherung Pekings an die USA — hätte auch China zu größeren militärischen Ausgaben gezwungen. Diese wären wiederum zu Lasten der knappen, für die Modernisierungspolitik zur Verfügung stehenden Ressourcen gegangen. Auch hätte sich die Abhängigkeit Pekings von moderner westlicher, insbesondere amerikanischer Militärtechnologie erhöht und sich damit die Position Chinas im soge-nannten „strategischen Dreieck“ verschlechtert. Solchermaßen negative Konsequenzen konnten vermieden werden, wenn Peking einerseits auf eine militärisch-strategische Zusammenarbeit mit Washington verzichtete und andererseits Moskau für ein Entgegenkommen in für China wichtigen Fragen die Normalisierung der sino-sowjetischen Beziehungen in Aussicht stellte. Ein solches Einschwenken auf eine mittlere Position zwischen den beiden „Supermächten“ versprach jene Auswirkungen zu haben, die Peking für die Modernisierungspolitik benötigte:
1. Den allmählichen Abbau des sowjetischen beziehungsweise vietnamesischen Militärpotentials an den nördlichen und südlichen Grenzen Chinas und ein Abflauen der sino-sowjetischen Rivalität im asiatisch-pazifischen Raum — Voraussetzungen auch für eine Senkung der chinesischen Verteidigungslasten. 2. Eine Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, da die wirtschaftliche Hinwendung zum Westen ergänzt werden konnte durch eine wirtschaftliche Öffnung zur Sowjetunion und den . Staaten Osteuropas. Eine solche ließ eine Verbesserung der defizitären Handelsbilanz Chinas erwarten.
Insgesamt versprach diese Strategie — so sie geschickt gehandhabt würde — eine Verminderung der Abhängigkeit Chinas vom Westen und Zugleich eine Steigerung der amerikanischen Konzessionsbereitschaft. Dies galt für den Bereich der Wirtschafts-und Militärhilfe wie auch für die noch nicht befriedigt gelöste Taiwan-Frage.
Formell erfolgte die Hinwendung zu dieser neuen Politik auf dem 12. Kongreß der KP Chinas im September 1982 mit der Ankündigung einer Außenpolitik, die unter den Prinzipien der „Unabhängigkeit“ und der „Selbständigkeit“ stand. Die Distanzierung von beiden „Supermächten“ war unübersehbar. Bezeichnenderweise fiel diese zusammen mit einem deutlichen Abflauen der anti-sowjetischen Polemik und einer nunmehr verfolgten Gleichbehandlung der beiden Großmächte. Wenn Peking seither vor „Hegemonismus“ warnte, so bezog sich dies nicht mehr nur, wie im Jahrzehnt zuvor, auf Moskau, sondern schloß auch Washington mit ein.
Der Rückblick auf die vergangene Dekade zeigt, daß die Grundstruktur der chinesischen Außenpo-litik primär durch das Bemühen qm die Herstellung eines Gleichgewichtes in den Beziehungen zu den beiden Supermächten gekennzeichnet war und von der Suche nach einer , mittleren 1 Position, die „Unabhängigkeit“ symbolisierte. Diese Politik verlangte, um glaubwürdig zu sein, einerseits eine vorsichtige Distanzierung von Washington, andererseits eine ebenso vorsichtige Annäherung an Moskau. Einen guten Vorwand für die Distanzierung lieferte der chinesischen Führung der Taiwan-Relations-Act, durch den der amerikanische Kongreß nicht nur die Fortsetzung der Beziehungen zur Regierung in Taipei dicht unterhalb der Ebene der offiziellen Anerkennung festlegte, sondern durch den auch die militärische Verteidigung der Insel im Fall des Versuchs einer gewaltsamen Wiedervereinigung möglich wurde. Auch die Neigung der Reagan-Administration zur Wiederaufnahme einer Zwei-China-Politik bot einen willkommenen Vorwand, den geplanten Kurswechsel zu vollziehen. Die Schwierigkeit dieser Politik bestand darin, daß die Distanzierung nicht die Rolle der USA als dem nach Japan wichtigsten Partnerland im Bereich des Handels und der Lieferung von wissenschaftlich-technischem Know-how gefährden durfte. Im Gegenteil: Es sollte sogar zu einer Vertiefung der wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit kommen. Das am 12. August 1982 zwischen Washington und Peking abgeschlossene Gemeinsame Kommunique ermöglichte diesen Balanceakt.
Einen nicht minder delikaten Balanceakt erforderte auch der Annäherungsprozeß an Moskau. Die Schwierigkeit bestand in diesem Fall darin, diesen Prozeß insgesamt so zu gestalten, daß die sowjetische Führung zwar zu weitgehenden Konzessionen veranlaßt, aber die Entwicklung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen nicht behindert wurde. Statt Mißtrauen und Zurückhaltung in Washington zu wecken, sollte auch diese Komponente der neuen Politik amerikanisches Entgegenkommen fördern.
Die wichtigste chinesische Forderung, die in den im Herbst 1979 anlaufenden Gesprächen mit Moskau aufgestellt wurde, war die Beseitigung einiger „Hindernisse“. Diese betrafen nicht nur die bilateralen Beziehungen der beiden Staaten, sondern tangierten auch andere Staaten. Es war dies der Abbau der militärischen Präsenz der Sowjetunion an der gemeinsamen Grenze und in der Mongolischen Volksrepublik; die Beendigung der Unterstützung des vietnamesischen Expansionismus in Indochina und der Abzug der sowjetischen Verbände aus Afghanistan — die letzte Forderung wurde erst im Oktober 1982 nachgeschoben, als es zur Wiederaufnahme der aus Protest gegen die Invasion Afghanistans unterbrochenen Gespräche kam. Insgesamt summierten sich die chinesischen Forderungen zu einer Sprengung der strategischen Sicherheitsstruktur, die die sowjetische Führung seit Ausbruch des Konflikts um die VR China gelegt hatte
Die Anfang der achtziger Jahre vereisten Beziehungen zwischen Moskau und Washington sowie die Möglichkeit einer Achse Washington-Tokio-Peking boten der chinesischen Diplomatie günstige Rahmenbedingungen, um die beiden Weltmächte gegenseitig auszuspielen. Die Situation erfuhr eine weitere Verbesserung durch die grundlegende Wende der sowjetischen Außenpolitik, nachdem Michail Gorbatschow im März 1985 Generalsekretär der KPdSU geworden war.
Bei der Betrachtung der Vorgänge, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre den anfangs nur sehr zähflüssig verlaufenden Prozeß der sino-sowjetisehen Annäherung beschleunigten und im Mai 1989 auf dem Pekinger Gipfel zu einer formellen Normalisierung der Beziehungen der beiden Staaten führten, entsteht gelegentlich der Eindruck, daß die chinesische Führung es war, die sich mit ihrem Insistieren auf der Beseitigung der „drei Hindernisse“ gegenüber Moskau durchsetzte. Diese Interpretation ist auf den ersten Blick einleuchtend, verliert bei genauerem Hinsehen aber erheblich an Überzeugungskraft. Denn sie übersieht, daß das sowjetische Nachgeben nicht in erster Linie Folge der chinesischen Hartnäckigkeit, sondern vielmehr integrales Element einer Globalstrategie war.
Durch diese versuchte Gorbatschow, den ökonomischen Niedergang und technologischen Rückstand seines Landes zu stoppen und durch einen umfassenden wirtschaftlichen und politischen „Umbau“ (Perestroika) die gefährdete Weltmachtstellung der Sowjetunion zu sichern. Logisches Korrelat des innenpolitischen Umbaus — die Ähnlichkeiten der chinesischen und der sowjetischen Politik sind hier unübersehbar — war eine „neue Außenpolitik“, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, die imperialen Überdehnungen der Breshnew-Ära zurückzunehmen, die bestehenden Konfrontationen abzubauen und durch ein Netz kooperativer Beziehungen zu ersetzen. Der militärische Rückzug aus den vorgeschobenen Positionen in Asien und Afrika gehörte ebenso in dieses Konzept wie die Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen, Zugeständnisse in Menschenrechtsfragen und die Bereitschaft zur Integration in die Weltwirtschaft. Vor allem aber standen und stehen in ihrem Mittelpunkt weitgehende Angebote zu Abrüstung und Rüstungsbegrenzung sowie Bemühungen um umfassende Wirtschaftshilfe aus dem Westen
Im Rahmen dieser Gesamtstrategie, die sich zunächst gegenüber den Staaten des Westens entfaltete, kam es zur Unterzeichnung des INF-Vertrags (Dezember 1987), zum erfolgreichen Abschluß der Stockholmer KVAE, zu konstruktiv verlaufenden START-und KSZE-Verhandlungen und schließlich sogar zu Zugeständnissen beim Abbau der sowjetischen Präsenz in Mittel-und Osteuropa.
Schon bald ergriff Gorbatschow aber auch im asiatisch-pazifischen Bereich die Initiative und schlug in einer Reihe von Erklärungen und Reden Maßnahmen vor, die zum Abbau der Spannungen im asiatisch-pazifischen Bereich beitragen sollten -Es lag in der Logik dieser Politik — deren Hauptadressaten Washington, Tokio und Peking waren —, daß Gorbatschow die von der chinesischen Führung geforderte Beseitigung der „drei Hindernisse“ akzeptierte und diese in wenigen Jahren auch tatsächlich entfernte: Im April 1988 kam es in Genf zu Vereinbarungen über Afghanistan, die zum Abzug der sowjetischen Truppen bis zum 15. Februar 1989 führten; fast gleichzeitig setzte der Abzug der sowjetischen Verbände aus der Mongolei ein; im Dezember 1988 kündigte Gorbatschow vor der UN-Generalversammlung eine bedeutende Verringerung der sowjetischen Streitkräfte im asiatischen Teil der Sowjetunion an. Schon zuvor hatte sich Moskau im INF-Vertrag zum Abbau der im asiatischen Teil dislozierten 162 SS-20-Raketen bereit erklärt; seit Oktober 1986 verstärkte sich der sowjetische Druck auf die vietnamesische Führung; er hatte wesentlichen Anteil am Abzug der Truppen Vietnams aus Kambodscha bis zum September 1989.
Die Reaktionen der chinesischen Führung auf diese Strategie dürften ambivalent gewesen sein: Einerseits genoß sie den Triumph, daß Gorbatschow allen ihren Forderungen nachkam; dies entlastete China sicherheitspolitisch und ermöglichte der Führung in Peking, knappe Ressourcen vom militärischen in den zivilen Sektor umzuleiten. Andererseits dürfte Peking jedoch schon früh erkannt haben, daß der von Gorbatschow eingeleitete strategische Rückzug der Sowjetunion langfristig dieser mehr Vorteile verschaffen würde, als er sie kurzfristig kostete. Moskau verlor zwar eine Reihe Verbündeter in verschiedenen Teilen der Welt; der Rückzug befreite die UdSSR aber von einer ruinösen Konfrontation mit dem Westen, entlastete sie von der kostspieligen Subvention von Klientelregierungen, vor allem aber trug er dazu bei, das Image der Sowjetunion als einer agressiven „Supermacht“ nachhaltig zu korrigieren und ihr in Westeuropa wie im asiatisch-pazifischen Raum neue Optionen für den Aufbau kooperativer Beziehungen zu eröffnen. Abgesehen davon, daß die Sowjetunion als Folge dieser Politik bei der Suche nach Gläubigern auf den internationalen Kapitalmärkten und als Partner im Handelsbereich zu einem Rivalen Pekings wurde, stiegen auch ihre Chancen, international — vor allem aber auch im asiatisch-pazifischen Bereich — ihren Status als Ordnungsmacht und damit auch als Gegengewicht zu China auszubauen. Daß die sowjetische Führung eine solche Position anstrebte, ging nicht nur aus den programmatischen Erklärungen Gorbatschows zum Aufbau einer neuen Ordnung für diese Region hervor, sondern zeigte auch das sowjetische Bemühen um eine konstruktive Rolle im Kambodscha-Konflikt. Dies ermöglichte eine Annäherung an die ASEAN-Staaten. Auch die positiven Reaktionen auf die „Nordpolitik“ des südkoreanischen Präsidenten Roh Taewoo gehörten zu der neuen Politik. Letztere konnten zugleich als Beitrag zur Entspannung auf der koreanischen Halbinsel gedeutet werden. Auch die unübersehbare Bereitschaft der UdSSR zu einem Arrangement mit Japan in der umstrittenen Kurilen-Frage, dem wichtigsten Hindernis für einen sowjetisch-japanischen Friedensvertrag, zu kommen, war Bestandteil dieser Politik
Es war angesichts dieser Perspektiven wohl nicht nur eine Folge der Demonstrationen der Demokratie-Bewegung, daß das Gipfeltreffen zwischen Gorbatschow und Deng Xiaoping im Mai 1989 ohne großen Glanz verlief und das „Gemeinsame Kommunique“, das dort beschlossen wurde, keine spektakulären Ergebnisse enthielt Weder im wirtschaftlichen noch im sicherheitspolitischen Teil er-öffnete das Kommunique Visionen für ein zukünftiges kooperatives Miteinander der beiden Mächte, das den Umkreis der Prinzipien der „friedlichen Koexistenz“ verlassen hätte. Statt einer Vision für eine Friedensordnung für Asien — ähnlich der, wie sie bald darauf der deutsche Bundeskanzler und Gorbatschow in einer „gemeinsamen Erklärung“ für Europa entwickelten — enthält das sino-sowjetische Kommunique lediglich die mißtrauische „Antihegemonieklausel“, d. h. die Erklärung beider Seiten, „daß keine von ihnen eine Hegemonie irgendwelcher Art im asiatisch-pazifischen Raum oder in anderen Teilen der Welt anstrebe“. Dabei hätten die diversen Anregungen und Vorschläge Gorbatschows für die Abhaltung einer Gesamtasiatischen Sicherheitskonferenz und zur Schaffung von Mechanismen für multilaterale Konsultationen im asiatisch-pazifischen Raum genügend Anknüpfungspunkte dafür geboten. Das Desinteresse der Pekinger Führung an einer stärkeren Einbeziehung und Aufwertung Moskaus als Ordnungsmacht in der asiatisch-pazifischen Region war ebenso unübersehbar wie das Bestreben, auf dem Gipfel selbst Distanz zu demonstrieren.
III. Wege aus der Krise
Unmittelbar vor dem Besuch Gorbatschows in Peking im Mai 1989 befand sich die chinesische Führung international in einer günstigen Position: Erstmals seit 1949 war ein normalisiertes Verhältnis zu beiden Weltmächten in Sicht. Zwei Wochen nach dem unter chaotischen Begleitumständen verlaufenen Gipfel hatte sich das internationale Szenario für Peking jedoch tiefgreifend verschlechtert. Dabei ist bis heute noch ungeklärt, ob Deng Xiaoping und Li Peng sich der Auswirkungen bewußt waren, die der Einsatz des Militärs international haben würde. Die Tatsache, daß die Volksbefreiungsarmee eingriff, obwohl die internationale Presse noch immer in Peking präsent war, spricht allerdings dafür, daß sie • den Zeitpunkt bewußt gewählt hatten — bot er ihnen nach der peinlichen Unentschlossenheit der vergangenen Wochen doch die Gelegenheit, urbi et orbi zu demonstrieren, daß man nicht daran dachte, sich die Zügel aus der Hand nehmen zu lassen. Dabei ist denkbar, daß die Führung in Peking die Stärke und Nachhaltigkeit der westlichen Reaktionen unterschätzte, war doch das weltweite Echo auf das brutale Vorgehen der chinesischen Ordnungskräfte gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Tibet nur einen Monat zuvor, im März 1989, eher schwach ausgefallen.
Nach den heftigen Reaktionen der westlichen Welt kam die chinesische Führung nicht umhin, ihre bisherige außenpolitische Linie zu überprüfen und eine grundlegende Änderung ihrer Haltung gegenüber dem Westen in Erwägung zu ziehen. Für diesen Fall war allerdings in Rechnung zu stellen, daß eine Beendigung der Öffnungspolitik und eine rigide Abgrenzung gegenüber dem Westen unabsehbare Konsequenzen für die chinesische Wirtschaft haben und das Land wieder in jene Isolierung zurückwerfen würde, aus der man sich gerade erst befreit hatte.
Die Entscheidung wurde erschwert, als sich gleichzeitig in Ost-und Südosteuropa, aber auch in der Sowjetunion selbst Entwicklungen vollzogen, die auf die Pekinger Führung alarmierend wirkten. Nachdem sich in Polen und Ungarn das sozialistische System schon des längeren in Auflösung befand, gerieten seit dem Herbst 1989 auch die Regierungen anderer osteuropäischer Länder — der DDR, der ÖSSR und schließlich auch die Rumäniens, alles treue Freunde Chinas — unter den Druck von Volksbewegungen, die sie bald aus dem Amt jagten. Zudem trug — zumindest aus Pekinger Sicht — in der Sowjetunion die Politik Gorbatschows zur Erosion des kommunistischen Systems und damit jener Prinzipien bei, zu deren Verteidigung man in China gerade die Armee eingesetzt hatte.
Den Konservativen in Peking bestätigten diese Entwicklungen nachträglich noch einmal die Richtigkeit ihres Vorgehens, führte ihnen der Gang der Dinge in Europa doch das eigene Schicksal vor Augen, hätten sie dem Druck nachgegeben und den Entwicklungen ihren Lauf gelassen. Aber nun stellte sich auch die Frage nach der zukünftigen Politik: Sollte man — wie schon zu Zeiten Chruschtschows — die Vorgänge in der Sowjetunion offen kritisieren und es mit Gorbatschow auf eine Kontroverse ankommen lassen, die kaum auf den Bereich der Ideologie zu begrenzen war und zu einer allgemeinen Verschlechterung der gerade erst normalisierten Beziehungen führen würde? Abgesehen davon, daß in diesem Fall die internationale Isolierung zunehmen würde, mußte die Möglichkeit einer weiteren amerikanisch-sowjetischen Annäherung einkalkuliert werden, durch die sich die Stellung Pekings im „strategischen Dreieck“ wieder verschlechtern würde. Grenzte man sich dagegen nicht grundsätzlich — und politisch — gegen die Reformen Gorbatschows ab, so war zu befürchten, daß dessen Ideen auch auf China übergreifen und sich die eigenen Probleme weiter verschärfen würden. Die Hochrufe der Pekinger Studenten auf Gorbatschow dürften der chinesischen Führung noch immer in den Ohren klingen.
Wir wissen noch wenig über den Verlauf der Diskussionen und Entscheidungsprozesse in den chinesischen Führungsgremien, die den neuen außenpolitischen Kurs festlegten, sowie über die dabei vertretenen Positionen. Daß die Haltung Dengs eine entscheidende Rolle spielte, ist wahrscheinlich. Anhaltspunkte für die von ihm vertretene Position und die Grundlinien der zukünftigen Strategie Pekings finden sich in einem Bericht der Hongkonger Zeitschrift Zhengming über eine parteiintern als „extrem wichtig“ eingestufte Rede Dengs auf einer dreitägigen Arbeitstagung des Politbüros des ZK am 10., 11. und 14. April 1990 Unmittelbarer Anlaß dieser Tagung war vermutlich der für Ende April vorgesehene Besuch des chinesischen Premiers Li Peng in Moskau, über den noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestanden. Im Rahmen der Debatten entschied man aber nicht nur über die zukünftige Haltung gegenüber der Sowjetunion, deren Kernpunkte der Verzicht auf eine öffentliche Kritik an der Politik Gorbatschows, die Durchführung der Reise von Li Peng und der Ausbau der bilateralen Beziehungen waren, sondern man legte auch insgesamt die außenpolitische Grundrichtung fest. Danach soll dem Westen gegenüber eine Politik der Aufsplitterung betrieben werden. Während die feste Haltung gegenüber Washington beibehalten werden soll, soll das Verhältnis zu Tokio ausgebaut werden — offenbar in der Absicht, das sich in der Kritik an China eher zurückhaltende Japan gegen die USA und Westeuropa, deren Kritik besonders heftig ausgefallen war, auszuspielen. Intensiviert werden sollen auch die Beziehungen zu den verbleibenden sozialistischen Ländern; schon Anfang dieses Jahres hatte Deng unter dem Eindruck der Ereignisse in Osteuropa — als einen Versuch, den Sozialismus zu retten — zu einer engen Zusammenarbeit der kommunistischen Länder Asiens aufgerufen Besondere Aufwertung sollen schließlich auch die Beziehungen zu den Staaten der Dritten Welt erfahren.
Ein Plädoyer für eine verstärkte Hinwendung Chinas zur Dritten Welt enthält auch ein weiterer Bericht über Äußerungen Dengs. „In den vergangenen Jahren“, so Deng in der zweiten Juli-Hälfte 1990, „haben wir uns nur auf einen Erdteil (d. h.den Westen) konzentriert und den anderen (d. h. die Dritte Welt) vernachlässigt. Deshalb waren einige alte Freunde von uns enttäuscht. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres faßten wir den Entschluß, unseren (außenpolitischen) Kurs zu revidieren, und noch nicht einmal ein Jahr danach stellten sich die (ersten) Erfolge ein . . . Die USA und andere westliche Staaten haben gegen uns Sanktionen verhängt, doch diejenigen, die uns wirklich Sympathie entgegenbringen und uns unterstützen, sind nach wie vor einige alte Freunde unter den Entwicklungsländern.“
Ein Bück auf die Abläufe der chinesischen Außenpolitik seit dem Sommer 1989 bestätigt im wesentlichen die oben skizzierten strategischen Grundlinien. Das gilt insbesondere für das Verhältnis gegenüber den beiden Weltmächten: 1. Sowjetunion Das starke Unbehagen der Pekinger Führung an der Politik Gorbatschows hatte sich seit dem Umbruch in Osteuropa in einer Reihe parteiinterner Papiere niedergeschlagen. So hatte ein Positionspapier des ZK-Sekretariats dem von Gorbatschow vertretenen „demokratischen Sozialismus“ vorgeworfen, den marxistisch-leninistischen Grundprinzipien zu widersprechen, opportunistisch nach dem Beifall des Westens zu schielen und den Klassenkampf in den internationalen Beziehungen zu leugnen. Zudem hatte man Valentin Falin, dem Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, während seines Besuchs im Dezember 1989 vorgehalten, Gorbatschow benehme sich nicht wie ein Kommunist, sondern wie ein Sozialdemokrat
Wenn die chinesische Führung ihre Kritik nicht veröffentlichte, so lagen diesem Entschluß verschiedene Ursachen zugrunde: Zum einen hatte sich auch Gorbatschow nicht zu einer öffentlichen Kritik an der Entwicklung in China entschlossen — obwohl diese kaum seinen eigenen Vorstellungen entsprach. Zum anderen geboten die Prinzipien der „friedlichen Koexistenz“, auf denen die wiederhergestellten Beziehungen basieren, „Nichteinmischung“ in die internen Angelegenheiten. Drittens lag — wie oben gezeigt — ein größerer Konflikt mit Moskau nicht im strategischen Interesse Chinas. Und viertens hatte sich seit dem Pekinger Gipfel die Zusammenarbeit zufriedenstellend entwickelt: So waren die Vorarbeiten einer gemeinsamen Kommission bezüglich einer langfristigen Kooperation in den Bereichen Energiewirtschaft, Verkehrswe-sen und Konsumgüter-Industrie soweit vorangeschritten, daß unterschriftsreife Verträge vorlagen. In einem kräftigen Aufwind befand sich auch der Handel, dessen Volumen sich zwischen 1981 und 1989 von 0, 22 Mrd. US-Dollar auf 3, 8 Mrd. US-Dollar erhöhte und bei dem eine weitere achtprozentige Steigerungsrate im kommenden Jahr erwartet wird Zudem waren im November 1989 Verhandlungen über den Abbau der militärischen Potentiale und die Durchführung vertrauensbildender Maßnahmen in den Grenzgebieten angelaufen. Die oben angeführten Gründe bestimmten letztlich auch die Entscheidung zur Zurückstellung der politisch-ideologischen Differenzen und zur Durchführung der Reise Li Pengs — es war der erste Besuch eines chinesischen Premiers in Moskau seit 26 Jahren. Der Verlauf und die Ergebnisse des Besuchs (23. bis 26. April 1990) entsprachen dem Stand und Charakter der derzeitigen Beziehungen zwischen Moskau und Peking: Nüchternheit und Geschäfts-mäßigkeit dominierten, und es war durchaus bezeichnend, daß man auf die Veröffentlichung eines Kommuniques verzichtete
Der chinesische Premier war sichtlich bemüht, dem Eindruck chinesischer Kritik an der Sowjetunion entgegenzuwirken. Hatte das Pekinger Kommunique befunden, daß „Differenzen in bestimmten Bereichen den bilateralen Beziehungen nicht im Wege stehen werden“, so deckte Li Peng nun in Moskau die unterschiedlichen Positionen mit der Feststellung zu: „Der sozialistische Weg muß kontinuierlich erforscht werden. Die Sowjetunion hat ihre Methoden und China hat seine. Dies schafft für die staatlichen und Parteibeziehungen jedoch keine Hindernisse.“ Zudem betonte er wiederholt das Prinzip der „Nichteinmischung“ in die inneren Angelegenheiten und forderte die Weiterentwicklung der freundschaftlich-nachbarlichen Beziehungen im Geiste des Pekinger Kommuniques und der Prinzipien der friedlichen Koexistenz.
Keiner der sechs Verträge, die während des Besuchs unterzeichnet wurden, ist spektakulär; insgesamt unterstrichen sie den Willen beider Seiten, das Potential der gemeinsamen Interessen auszuschöpfen. Unter anderem handelte es sich um ein langfristiges Abkommen über Kooperation und Entwicklung in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie; um ein Kooperationsabkommen über die friedliche Nutzung und Erforschung des Weltraums; um ein Abkommen über eine beiderseitige Reduzierung der Truppen im chinesisch-sowjetischen Grenzgebiet und über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich sowie um ein Protokoll über Konsultationen zwischen dem Außenministerium der Volksrepublik China und der UdSSR. Knapp und pauschal fielen auch in Moskau wieder die offiziellen Stellungnahmen zu den beiden Regional-konflikten aus, in die beide Seiten indirekt involviert sind: Hinsichtlich des Kambodscha-Problems sprach man sich für eine „gerechte, rationale und allumfassende Lösung“ aus und betonte die wichtige Rolle der UNO; weiter versprach man, den Dialog zwischen Nord-und Südkorea zu unterstützen und zur Schaffung der Voraussetzungen für eine Vereinigung der beiden Länder beizutragen.
Die letzte Stufe und zugleich den bisherigen Höhepunkt im sino-sowjetischen Verhältnis bildete schließlich das Treffen der beiden Außenminister Qian Qichen und Edward Schewardnadze in der chinesischen Stadt Harbin am 1. September 1990. Gegenstand der Gespräche war insbesondere die Lage im Persischen Golf, aber auch die Entwicklungen in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum. Man erörterte ausführlich den Kambodscha-Konflikt, der nach Ansicht beider Außenminister in die „entscheidende Phase“ eingetreten sei und erklärte sich zufrieden mit den im UN-Sicherheitsrat getroffenen Beschlüssen für eine politische Lösung
Abgesehen von der Übereinstimmung in ihren Ansichten zu den internationalen Fragen brachten die Minister auch die bilateralen Probleme einen wichtigen Schritt weiter: so setzte man Gespräche über Truppenreduzierungen für den 10. September 1990 in Moskau und das nächste reguläre Treffen der Arbeitsgruppen für die Grenzverhandlungen für die zweite Oktoberhälfte in Peking an. Beide Verhandlungsrunden haben inzwischen begonnen.
Insgesamt vermittelten die Erklärungen der beiden Politiker den Eindruck, daß die ideologischen Irritationen weitgehend abgeklungen und sich beide Seiten inzwischen erheblich nähergekommen sind. Dazu dürfte auch die konstruktive Haltung Moskaus beim Abbau der „militärischen Konfrontationsstruktur“ zwischen den beiden Ländern beigetragen haben. So kündigte Schewardnadze nur wenige Tage nach dem Harbin-Treffen in einer programmatischen Rede in Wladiwostok für 1991 eine Reduzierung der sowjetischen Landstreitkräfte in Femost um zwölf Divisionen, die Auflösung von elf Geschwadern und den Abzug von Kriegsschiffen der Pazifik-Flotte an.
Während die chinesische Führung diese Ankündigung ohne Zweifel mit Befriedigung aufgenommen hat, löste ein anderer Vorschlag des sowjetischen Außenministers — die Schaffung von Verhandlungsmechanismen zur Diskussion aktueller Probleme im asiatisch-pazifischen Bereich — bislang in Peking noch kein Echo aus 16). Sollte sich die chinesische Führung dazu entschließen, diese Initiativen Moskaus nicht weiter zu ignorieren, sondern tatkräftig zu unterstützen, so könnte auch in dieser Region ein Prozeß anlaufen, der wesentlich zur Stabilität beitragen würde. 2. USA Während sich das Verhältnis zwischen Peking und Moskau in konstruktiver Weise entwickelt, sind die amerikanisch-chinesischen Beziehungen noch weit von dem Zustand entfernt, den sie vor den Pekinger Ereignissen hatten. Schon vor dem 4. Juni 1989 hatten sich Kongreß und Weißes Haus in ihrer Haltung gegenüber Peking deutlich unterschieden: Während der amerikanische Kongreß vehement gegen die chinesische Familienplanungspolitik zu Felde zog, die Politik Pekings in Tibet scharf kritisierte und sich auch immer wieder kritisch über die zögerliche Liberalisierungspolitik der chinesischen Führung äußerte, übte die amerikanische Regierung eher Zurückhaltung und bemühte sich um gute Beziehungen. Bezeichnendeiweise unternahm Präsident George Bush seine erste Auslandsreise vom 25. bis 27. Februar 1989 nach China; es war ein Besuch, der von beiden Seiten überaus freundlich beurteilt wurde. Und als ein Kommentator der Pekinger Volkszeitung am 1. Mai 1989 eine Bilanz der ersten hundert Tage des amerikanischen Präsidenten zog, fiel diese positiv aus; Bushs Außenpolitik wurde sogar als klüger und realistischer als die seines Vorgängers beurteilt — sie betone weniger die Ideologie und mehr den Pragmatismus
Die gleiche Rollenverteilung in der Einschätzung Chinas durch die USA wie vor dem Juni-Massaker zeigte sich auch danach. Während der amerikanische Kongreß seine Empörung über die Ereignisse zum Ausdruck brachte und Mitte November einen Gesetzentwurf annahm, der Sanktionen gegen China vorsah und zugleich Schritte einleitete, um die 36 000 chinesischen Studenten und Wissenschaftler, die mit einem Jahresvisum in den USA studierten, von der Verpflichtung zu befreien, nach Studienabschluß für mindestens zwei Jahre nach China zurückzukehren, beschränkten sich die Sanktionen der Administration auf das Nötigste. Präsident Bush wurde in dieser Haltung von dem früheren Präsidenten Richard Nixon und dessen Außenminister Henry Kissinger bestärkt. China bleibe „zu wichtig für Amerikas nationale Sicherheit“, so argumentierte Kissinger, „als daß die Beziehungen wegen der Gefühlsregungen des Augenblicks aufs Spiel gesetzt werden dürften. Die Vereinigten Staaten benötigten China als ein mögliches Gegengewicht zu sowjetischen Absichten in Asien. China andererseits benötigte die Vereinigten Staaten als ein Gegengewicht zu Ambitionen sowohl der Sowjetunion als auch Japans. Dafür werde China einen moderierenden Einfluß in Südostasien und Korea ausüben und Amerika in anderen Regionen der Welt nicht herausfordern“
Vermutlich waren es vor allem diese Erwägungen, die Präsident Bush dazu veranlaßten, trotz der offiziellen Aussetzung hochrangiger Kontakte bereits im Juli 1989 seinen Sicherheitsberater Brent Scowcroft und den stellvertretenden Außenminister Lawrence Eagleburger in geheimer Mission — noch einmal Anfang Dezember, dann allerdings offen — nach Peking zu senden und gegen Ende 1989 die gegen China verhängten Sanktionen zu lockern.
So bewilligte der amerikanische Präsident den Verkauf von drei Satelliten, die im Auftrag Australiens und eines asiatischen Konsortiums von chinesischen Raketen in den Weltraum transportiert werden sollten und gestattete es der Export-Import-Bank, Aktivitäten von amerikanischen Firmen in China zu finanzieren
Gegen das im Kongreß beschlossene Gesetz, das den Aufenthalt chinesischer Studenten in den USA großzügig ausweitete, legte der Präsident sein Veto ein und brachte es damit zu Fall. Zwar hatte das Repräsentantenhaus das präsidentielle Veto mit der überwältigenden Mehrheit von 390 gegen 25 Stimmen zurückgewiesen; im Senat, der das Veto ebenfalls mit 62 gegen 37 Stimmen zurückwies, wurde jedoch nicht die für eine Zurückweisung des präsidentiellen Vetos erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht. Der Präsident, der die Aufenthaltsfrage mittels einer Verordnung regeln wollte, hatte argumentiert, daß eine gesetzliche Regelung Peking veranlassen könnte, den Studentenaustausch gänzlich zu unterbinden und daß sie zudem die Bemühungen behindern würde, die strate-gisch wichtige Atommacht China weltpolitisch nicht zu isolieren
Angesichts der kontinuierlichen Zurückhaltung der Bush-Administration und ihrer Bemühungen um eine Milderung der Sanktionen des Kongresses und eine Verbesserung der Beziehungen zu Peking, hatte sich die chinesische Kritik von Anfang an gegen den Kongreß gerichtet, dem die Pekinger Volkszeitung eine flagrante Verdrehung der Tatsachen und dreiste Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas vorwarf. Bush hingegen attestierte man Klugheit bei der Behandlung der Vorgänge
Insgesamt verbinden sich in den chinesischen Reaktionen zwei Momente: Einerseits verteidigt man das Vorgehen gegen die Studenten als gerechtfertigt, verwahrt sich gegen die Einmischung des Kongresses und die von ihm beschlossenen Sanktionen und unterstreicht damit die feste, gegen äußeren Druck resistente Haltung. Andererseits bekennt man sich immer wieder zur weltpolitischen Bedeutung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen, verweist auf ihre noch unausgeschöpften Potentiale und betont die Bereitschaft zu ihrer Erneuerung. Ihren deutlichsten Ausdruck fand diese Haltung in einer Rede des chinesischen Außenministers Qian Qichen am 2. Oktober 1989 vor dem amerikanischen Rat für auswärtige Beziehungen. In dieser Rede empfahl er Washington, „die Unterschiede anzuerkennen und zu respektieren, nach Gemeinsamen (zu) suchen und es auszubauen“ Ähnlich — zum Teil wörtlich — argumentierten auch die meisten der anderen chinesischen Spitzenfunktionäre, unter ihnen Deng Xiaoping und Premier Li Peng. Auch Generalsekretär Jiang Zemin erklärte am 2. Mai 1990 in einem Interview mit der amerikanischen Fernsehjournalistin Barbara Walters, daß es keinen fundamentalen Interessenkonflikt zwischen China und den USA gebe und es sich deshalb für beide Seiten empfehle, „ihre Beziehungen im grundlegenden Interesse beider Völker rasch zu normalisieren“
Einen wichtigen Schritt zur Entlastung der Beziehungen stellte am Juni die Entscheidung der chinesischen Regierung dar, dem prominentesten chinesischen Dissidenten Fang Lizhi und seiner Frau Li Shuxian, die nach der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung in der Pekinger Botschaft der USA Zuflucht gefunden hatten, die Ausreisegenehmigung zu erteilen. Die Erlaubnis zur Ausreise wurde von einem amerikanischen Regierungssprecher als „weitsichtiger, bedeutsamer Schritt“ bezeichnet, der „die Atmosphäre für Fortschritt in unseren bilateralen Beziehungen verbessern wird“ 25).
Zu einem solchen Fortschritt kam es nur wenige Tage später auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (9. Juli 1990), als sich die westlichen Staaten zwar noch nicht zur Aufhebung der gegen China verhängten Sanktionen entschlossen, Japan jedoch die Gewährung eines hohen Kredits an China freistellten. Einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung Normalisierung hatte schon zuvor die Verlängerung der Meistbegünstigungsklausel für China dargestellt, für deren Verweigerung sich ebenfalls eine Gruppe von Abgeordneten stark gemacht hatte
Die zunehmende Entspannung macht sich nicht nur in den bilateralen Beziehungen — insbesondere im Handelsbereich — bemerkbar, sondern auch im Verzicht Pekings auf die Lieferung landgestützter Mittelstreckenraketen in den Nahen Osten, bei der Anbahnung von Gesprächen mit Pyongyang, vor allem aber im Rahmen des UN-Sicherheitsrats bei der Suche nach einer politischen Lösung für Kambodscha und einer Zusammenarbeit in der Golf-krise. Obwohl mit einer Aufhebung der noch bestehenden amerikanischen Sanktionen in absehbarer Zeit zu rechnen ist, dürfte es jedoch noch eine Zeit-lang dauern, bis die Spuren, die das vergangene Jahr hinterließ, verschwunden sind.
Vergleicht man das derzeitige Verhältnis Pekings zu den beiden Weltmächten mit demjenigen vor dem 4. Juni 1989, so ist zwar keine grundlegende Veränderung erkennbar, wohl aber eine weitere Stabilisierung des angestrebten Mittelkurses. Während sich die Beziehungen zu Moskau konstruktiv in die auf dem Pekinger Gipfel vorgegebene Richtung weiterentwickelt haben, ist das Verhältnis zu Washington — bei aller Bedeutung, die ihm beigemessen wird — reservierter geworden. Bestimmend bleibt weiterhin das Bestreben nach „Unabhängigkeit“ Chinas von beiden Weltmächten. Die Erfahrungen des vergangenen Jahres, die von Peking in der Perspektive der westlichen Sanktionspolitik nach 1949 und der sowjetischen Pressionen im Jahre 1960 gesehen werden dürften diese Neigung erheblich gefördert haben. Weniger denn je kann eine der beiden Weltmächte heute von sich sagen, China als „Karte“ im Poker der internationalen Politik einsetzen zu können. 3. Westeuropa und Japan Um die „Unabhängigkeit“ weiter abzusichern, ist es für die chinesische Führung allerdings nicht nur notwendig — unter Zurückstellung aller ideologischen Vorbehalte und politischen Ressentiments —, die Vorteile entspannter Beziehungen zu Washington und Moskau für den wirtschaftlichen Aufbau Chinas zu nutzen. Ebenso wichtig ist es, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und Staatengruppen weiter zu entwickeln. Um diese im Falle einer erneuten Spannung mit einer oder gar beiden Weltmächten als Rückhalt und Widerlager nutzen zu können, ist es freilich notwendig, auch deren Unabhängigkeit gegenüber Washington und Moskau zu stärken. Die sich seit einigen Jahren vollziehenden Machteinbußen der beiden Supermächte und die ihn begleitende Auflösung der bipolaren Machtstruktur der Welt in ein multipolares Gefüge mit mehreren starken Machtzentren kommt diesem Ziel der chinesischen Außenpolitik zweifellos entgegen. Die wichtigsten Gegengewichte zu den beiden Weltmächten in der sich herausbildenden multipolaren Struktur sind Japan und Westeuropa. Peking hatte sich deshalb seit Beginn der siebziger Jahre verstärkt um die Herstellung guter Beziehungen bemüht, die zu Beginn der achtziger Jahre im Wege der „Modernisierungspolitik“ weiter ausgebaut wurden. Daran hat sich grundsätzlich auch nach dem 4. Juni 1989 nichts geändert. Wenn in der oben zitierten, von Deng Xiaoping vorgegebenen, strategischen Grundrichtung Westeuropa nur eine recht unbedeutende Rolle einnimmt, während die Bedeutung der chinesischen Beziehungen zu Japan besonders herausgestrichen wird, so ist dies weniger darauf zurückzuführen, daß die Westeuropäer ihre Empörung über das Tiananmen-Massaker ebenso laut und deutlich artikulierten wie die USA (allerdings mit der gleichen Rollenverteilung), wohingegen sich Japan mit seiner Kritik deutlich zurückhielt. Es ist vielmehr Ausdruck einer veränderten weltpolitischen Lage.
Westeuropa bildete — aus chinesischer Sicht — seit Beginn der siebziger Jahre den „strategischen Schwerpunkt“ im Ringen der beiden „Supermächte“ um die Weltherrschaft; diese Einschätzung hatte zu Beginn der achtziger Jahre durch den NATO-Nachrüstungsbeschluß und die drohende Nach-Nachrüstung des Warschauer Pakts neue Aktualität erfahren. Mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre — der Entspannung zwischen Moskau und Washington, den Vorgängen in Mittel-und Osteuropa, dem Zerfall des Warschauer Pakts und der deutschen Wiedervereinigung — hat sich die strategische Lage allerdings grundlegend geändert; von einem strategischen Ringen um Europa kann nun keine Rede mehr sein. Gleichzeitig befindet sich auch das sino-sowjetische Verhältnis in einem tiefgreifenden Prozeß der Entspannung, der vom Abbau der „militärischen Konfrontationsstruktur“ zwischen den beiden Mächten begleitet wird. Durch beide Prozesse hat Westeuropa für China seine Doppelfunktion als Entlastungsfront und als potentieller Alliierter gegenüber der Sowjetunion, die Peking ihm lange zugedacht hatte, weitgehend verloren.
Das Ende der europäischen Spaltung, der System-wechsel in Polen, Ungarn und der SSR, die deutsche Vereinigung und die Verpflichtung Bonns, die Reformpolitik Gorbatschows in der Sowjetunion finanziell zu unterstützen, wird aber auch wirtschaftlich nicht ohne Folgen für China bleiben. Schon vor diesen Entwicklungen hatte die chinesische Führung immer wieder über die geringe Investitionsneigung der westeuropäischen Staaten geklagt. So belegte die EG mit einem Investitionsvolumen in Höhe von 1, 7 Mrd. US-Dollar zwischen 1979 und 1987 lediglich einen abgeschlagenen vierten Platz unter den ausländischen Investoren. Es ist anzunehmen, daß angesichts des Sanierungsbedarfs der Wirtschaften Osteuropas, ihrer geographischen Nähe zu Westeuropa und der latenten Unsicherheit über die weitere Entwicklung in China die Kapital-ströme aus Europa noch spärlicher fließen werden. Seit Einleitung der Reformpolitik Anfang der achtziger Jahre waren, nach offiziellen chinesischen Berechnungen, 36, 6 Mrd. US-Dollar ausländisches Kapital investiert und mehr als 25 000 Unternehmen mit ausländischer Beteiligung gegründet worden. 1989 waren es insgesamt 5, 6 Mrd. US-Dollar, die investiert wurden, — sechs Prozent mehr als im Vorjahr
Erheblich stärker als die Bemühungen um die Bereinigung der gestörten Beziehungen zu den Staaten Westeuropas war denn auch das Werben Pekings um Japan. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Japan ist für China nicht nur der mit Abstand interessanteste Handelspartner, sondern auch einer der größten Investoren und Kreditgeber. Hinzu kommt, daß der östliche Wirtschaftsgigant aufgrund seiner jüngsten Vergangenheit von Peking bei Bedarf psychologisch unter Druck gesetzt und zu Wohlverhalten veranlaßt werden kann. Beides erklärt, warum Tokio auf die Vorgänge in China nur zurückhaltend reagiert hatte — und selbst dies wohl nicht zuletzt aufgrund des Drucks seiner westlichen Verbündeten —, und warum es auch als erste der westlichen Mächte Anstalten traf, die gegen Peking verhängten Sanktionen abzubauen. Schon am 11. August 1989 hatte die neu ins Amt gekommene Regierung Kaifu erklärt, die Zusammenarbeit mit China auf der Basis der Prinzipien der gemeinsamen japanisch-chinesischen Erklärung von 1972 weiterführen zu wollen. Kurz darauf setzten auch die Wirtschaftsbeziehungen wieder ein, und auch die japanischen Banken signalisierten, trotz der schwierigen finanziellen Lage Pekings, ihr anhaltendes Interesse am China-Geschäft. Anfang Juni 1990 kam es zur Gründung eines japanisch-chinesischen Investitionsausschusses, und kurz darauf tagte in der chinesischen Metropole die „Kommission für japanisch-chinesische Freundschaft im 21. Jahrhundert“. Auf chinesisches Drängen — und ohne Widerspruch der anderen westlichen Industrieländer — kündigte der japanische Ministerpräsident Toshiki Kaifu auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston die Freigabe eines noch von seinem Vorgänger Takeshita Ende 1988 vereinbarten, nach den Pekinger Ereignissen aber eingefrorenen Großkredits in Höhe von 810 Mrd. Yen (umgerechnet ca. 5, 4 Mrd. US-Dollar) an. Mitte September einigten sich dann beide Staaten darauf, ihr Ende des Jahres auslaufendes Handelsabkommen zu verlängern. Durch diese verschiedenen Maßnahmen dürfte die wirtschaftliche Zusammenarbeit starken Aufwind erhalten und auch dem Besuch japanischer Kabinettsmitglieder in Peking nichts mehr im Wege stehen.
Das chinesische Interesse an Japan ist allerdings nicht nur wirtschaftlicher Natur, sondern erklärt sich auch aus dem Bedeutungszuwachs des asiatisch-pazifischen Raumes und dem zunehmenden militärischen und politischen Gewicht Tokios Von unmittelbarem Interesse ist dabei die sich anbahnende, in ihren Auswirkungen auf China allerdings schwer kalkulierbare japanisch-sowjetische Verständigung. Daß Gorbatschow bei seinem nun für April 1991 angesetzten Besuch in Tokio durch weitgehende Zugeständnisse dazu beitragen wird, die Visite zum „größten Wendepunkt in den sowjetisch-japanischen Beziehungen“ werden zu lassen — so die gemeinsame sowjetisch-japanische Presseerklärung anläßlich des vorbereitenden Besuchs von Edward Schewardnadze — erscheint sicher -Obwohl ein verbessertes Verhältnis Tokios zu Moskau den politischen und wirtschaftlichen Spielraum Japans auch gegenüber Peking erweitern würde, ist nicht damit zu rechnen, daß es in absehbarer Zeit zu einer engeren sowjetisch-japanischen Zusammenarbeit zu Lasten Chinas kommen wird. Gegen die Größe des chinesischen Marktes und die kulturelle Nähe der beiden Staaten hat Moskau wenig ins Feld zu führen. 4. Dritte Welt Wenn Deng Xiaoping eine Vernachlässigung der Dritten Welt zugunsten der westlichen Industriestaaten eingestand, so entsprach dieses Eingeständnis durchaus den Tatsachen. Denn obwohl sich China seit seinem Austritt aus dem „sozialistischen Lager“ der Dritten Welt zurechnete und diese als die fortschrittlichste Kraft in der gegenwärtigen Phase der Geschichte feierte, waren diese Bekundungen politisch und wirtschaftlich eher folgenlos geblieben. Weder trat Peking einer jener Dritte-Welt-Gruppierungen bei, die sich international für die Interessen der Entwicklungsländer engagierten — etwa der Blockfreienbewegung, der Gruppe 77 oder der OPEC —, noch profilierte es sich außerhalb dieser Bewegungen politisch oder programmatisch für die Belange der Dritten Welt; das Profil anderer Staaten — etwa Indiens — war in dieser Hinsicht viel ausgeprägter.
Eher deklaratorisch blieben auch die chinesischen Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Sie hinderten Peking nicht einmal daran, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds — den beiden Säulen des Bretton-Wood-Systems — beizutreten. Auch im Außenhandel Chinas spielten die Entwicklungsländer — im Vergleich mit den westlichen Industriestaaten — eine sekundäre Rolle; so betrugen 1989 die chinesischen Exporte in die Entwicklungsländer (ohne Hongkong) lediglich 13, 8 Prozent, die Importe 16, 8 Prozent des Außenhandels Und während in den achtziger Jahren die Entwicklungshilfeleistungen Chinas an Länder der Dritten Welt weiter zurückgingen, entwickelte sich die Volksrepublik gleichzeitig — da sie über eine ähnliche Exportpalette wie diese verfügte — durch seine zunehmenden Exporte zu einem der größten Konkurrenten auf dem Weltmarkt.
Wie ernst zu nehmen sind vor diesem Hintergrund die Gelöbnisse Deng Xiaopings, sich in Zukunft stärker der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern zuzuwenden?
Sieht man einmal davon ab, daß der bisher verstrichene Zeitraum noch zu kurz und das empirische Material zu knapp ist, um gesicherte Aussagen zu machen, so läßt ein Bück auf die Aktivitäten Pekings während des vergangenen Jahres keinen spektakulären Kurswechsel in Richtung Dritte Welt er-kennen. Erkennbar ist dagegen dreierlei: 1. eine Zunahme der Reisetätigkeit chinesischer Spitzenpolitiker in die verschiedenen Regionen der Dritten Welt; 2. Bemühungen um eine Verbesserung der Beziehungen zu den verbleibenden „sozialistischen“ Staaten, bei denen es sich weitgehend um Entwicklungsländer handelt; sowie 3. eine Intensivierung der chinesischen Politik im asiatisch-pazifischen Raum.
Schon einmal — zu Beginn der sechziger Jahre — als sich Mao Zedong in eine gleichzeitige Konfrontation mit beiden „Supermächten“ manövriert hatte und sich auch die westlichen Mittelmächte gegenüber chinesischen Bemühungen um eine Aufwertung der zwischenstaatlichen Beziehungen reserviert verhielten, hatte die chinesische Führung ein Bündnis mit der Dritten Welt avisiert. Zhou Enlai hatte damals seine berühmte Afrika-Reise durchgeführt. Nach dem 4. Juni 1989, als westliche Politiker Peking mieden und Besuche chinesischer Spitzenfunktionäre in den westlichen Metropolen als unerwünscht galten, war eine ähnliche Reaktion erkennbar: Auch jetzt versuchte man, das verlorene Terrain im Westen (nach dem Sturz der sozialistischen Regime in der DDR, der SSR und in Rumänien auch im Osten) durch verstärkte diplomatische Aktivitäten in den Entwicklungsländern zu kompensieren — zumal von vielen dieser Staaten Verständnis für das chinesische Vorgehen gegen die Demokratie-Bewegung bekundet worden war.
So unternahm Außenminister Qian Qichen vom 26. Juli bis 12. August 1989 eine längere Reise durch sechs afrikanische Länder, während sein Staatssekretär fast gleichzeitig fünf andere Metropolen Afrikas besuchte. Im September schloß sich eine Reise des Außenministers in vier Staaten des Nahen Ostens an; Mitte November brach Premier Li Peng zu einer Rundreise durch drei südasiatische Länder auf; Anfang März 1990 startete Qian Qichen erneut zu einem Besuch mehrerer Staaten des Nahen Ostens — unter anderem auch des Iraks —; in der zweiten Maihälfte stattete Staatspräsident Yang Shangkun fünf Staaten Lateinamerikas einen Besuch ab. Ohne Zweifel trugen diese Reisen dazu bei, Pekings Position in der Dritten Welt aufzuwerten und — auf Kosten Taipeis — auszubauen. Letzteres zeigte sich am spektakulärsten am 21. Juli 1990 anläßlich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Saudi-Arabien.
Erfolge verzeichnete die chinesische Diplomatie aber auch gegenüber den verbliebenen sozialistischen Staaten, bei denen es sich nach dem System-wechsel in Osteuropa und Nicaragua vor allem um Länder Asiens handelt. Die für Peking wichtigsten Staaten sind dabei Vietnam und Nordkorea. Abgesehen davon, daß es sich bei beiden Staaten um international isolierte und wirtschaftlich rückständige Länder handelt, sind auch die chinesischen Beziehungen zu ihnen nicht problemlos. So vollführt die chinesische Diplomatie seit Mitte der achtziger Jahre gegenüber Korea den gewagten Balanceakt, „einer politischen Allianz mit dem Norden eine wirtschaftliche Partnerschaft mit dem Süden“ zur Seite zu stellen. Peking ist es gelungen, sich dennoch Pyongyang als zuverlässigen Verbündeten zu präsentieren, was nicht unwesentlich durch die Annäherung Moskaus an Seoul und durch die dann erfolgte Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum 30. September 1990 erleichtert wurde, die erbitterte Attacken Nordkoreas auf die Politik der Perestroika und das „neue Denken“ in der sowjetischen Außenpolitik auslöste
Noch schwieriger gestaltete sich die Situation mit Blick auf Vietnam. Abgesehen davon, daß die Haltung Hanois gegenüber Peking deutlich zurückhaltender ist als diejenige Pyongyangs, sind die Beziehungen beider Länder noch immer durch die Spannungen des vergangenen Jahrzehnts sowie die noch immer ungelöste Kambodscha-Frage belastet, in der Peking als Schutzpatron der Roten Khmer fungiert, während Hanoi das von Vietnam an die Macht gebrachte Heng Samrin/Hun Sen-Regime protegiert Wenn die chinesische Führung, nachdem sie sich lange gegen das Werben Vietnams um eine Normalisierung der Beziehungen sträubte, inzwischen ihren Widerstand aufgegeben hat, so liegen dem mehrere Motive zugrunde: Es geht ihr um den Schulterschluß mit einem ideologisch China noch immer sehr nahestehenden sozialistischen Regime; um eine Einflußnahme auf das Verhältnis Vietnam-Kambodscha; und schließlich will sich Peking, gerade auch zur Verbesserung seines Ansehens in der Region und international, als verantwortungsbewußte Ordnungsmacht präsentieren.
Im Zeichen der Normalisierung stehen auch die laotisch-chinesischen Beziehungen. Nachdem sich das bilaterale Verhältnis der beiden Staaten schon Ende 1986 entspannt hatte, wurden Mitte August 1989 auch die Beziehungen zwischen der KP Chinas und der Laotischen Revolutionären Volkspartei (LRVP) formell wieder aufgenommen Als Indiz für das Interesse Pekings an einer anhaltenden Verbesserung der Beziehungen können auch die im September 1990 erzielten Fortschritte in den Verhandlungen um eine Lösung der noch offenen Grenzfragen angesehen werden Besondere Aufmerksamkeit ließ die chinesische Führung dem unmittelbaren asiatisch-pazifischen Umfeld angedeihen. Im Zentrum des chinesischen Werbens standen dabei weiterhin die Staaten der ASEAN-Gruppe.
Am 8. August 1990 erfolgte anläßlich eines offiziellen Besuchs von Premier Li Peng in Djakarta offiziell die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Indonesien — dem ASEAN-Staat, der China am reserviertesten gegenüberstand Es darf als sicher angenommen werden, daß Djakarta sich zur Aussöhnung erst bereitfand, nachdem die chinesische Seite glaubhaft ihre Bereitschaft zur Mithilfe bei einem befriedigenden Kompromiß für Kambodscha zugesichert, aber auch in den bilateralen Problemen großzügige Zugeständnisse gemacht hatte. Mit der Aussöhnung mit Indonesien ist der chinesischen Führung ein wichtiger Schritt zur Durchbrechung seiner außenpolitischen Isolierung gelungen, da inzwischen auch der eine der beiden letzten ASEAN-Staaten, die noch über keine diplomatischen Beziehungen zu China verfügen, aus dem Schritt Djakartas Konsequenzen zog: Singapur. Nachdem Li Peng und Premier Lee Kuan Yew schon beim Besuch des chinesischen Premiers in Singapur darin übereinstimmten, die Verhandlungen über die Normalisierung „ehestmöglichst" abzuschließen, gaben die beiden Staaten am 3. Oktober 1990 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen bekannt
Um eine konstruktive Rolle als regionale Ordnungsmacht bemüht sich Peking zunehmend auch im ältesten Konflikt der Region: auf der koreanischen Halbinsel. Das Terrain ist hier besonders schwierig, denn einerseits haben sich zwischen Peking und Seoul im Laufe der letzten Jahre blühende wirtschaftliche Beziehungen entwickelt, andererseits ist die chinesische Führung an guten Beziehungen zu Pyongyang interessiert und unterstützt international die politische Position Kim Ilsungs, der seinerseits die Niederschlagung der chinesischen Demokratie-Bewegung begrüßte. Da es sich Peking mit keiner der beiden Seiten verderben will — auch Seoul hatte sich in der Bewertung des Massakers sichtlich zurückgehalten — und zugleich an einem Abbau der Spannungen auf der koreanischen Halbinsel interessiert ist, konzentriert sich die chinesische Diplomatie darauf, einen Zustand friedlicher Koexistenz zu vermitteln und zugleich Kim Ilsung zu einer vorsichtigen Öffnungspolitik zu bewegen. Dieser Versuch hat das Ziel, den Norden aus der internationalen Isolierung herauszuführen, um so die Voraussetzungen für seine wirtschaftliche Sanierung zu schaffen, gleichzeitig aber Nordkorea durch Einbindung in das internationale System zu verantwortlichem Handeln zu veranlassen.
Daß Peking der Sowjetunion folgt und ebenfalls offizielle Beziehungen zu Seoul aufnimmt, ist derzeit wenig wahrscheinlich. Es würde damit seine gute Position in Pyongyang aufs Spiel setzen, ohne in Seoul selbst viel zu gewinnen. Wahrscheinlicher ist, daß die chinesische Führung versuchen wird, die jetzige Schlüsselposition, die ihr einen großen Einfluß auf das Geschehen in Korea sichert, beizubehalten, um für die für das Ende der Ära Kim Ilsungs zu erwartenden Machtkämpfe eine möglichst gute Ausgangsposition zu haben. Dem widerspricht auch nicht die Eröffnung von Handelsbüros, die von chinesischer Seite als ein erster Schritt zur Aufnahme direkter Handelsbeziehungen bezeichnet wurde. Denn auf diese Weise kann Peking vorsichtigen Druck auf Kim Ilsung zur Einnahme einer kompromißbereiteren Haltung ausüben 5. Beziehungen zu Taiwan Während beim Abwägen der Argumente, die für oder gegen die formelle Anerkennung Seouls sprechen, die voraussehbaren Reaktionen in Pyongyang ein Abwarten nahelegen, spricht ein anderer Punkt eher dafür: Teil des Preises, den Seoul für die Normalisierung zu zahlen hätte — und zweifellos auch bereitwillig zahlen würde — wäre der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur nationalchinesischen Regierung in Taipei. Mit Seoul würde Taipei den letzten wichtigen Verbündeten in Asien verlieren und noch tiefer in die internationale Isolierung geraten. Allerdings dürfte Peking wissen, daß auch ein solcher Rückschlag die Haltung Taipeis, die in den letzten Jahren zwar sehr viel flexibler, aber nicht nachgiebiger geworden ist, kaum beeinflussen würde. Denn während Peking in Abkommen mit London über Hongkong (am 26. September 1984) und mit Lissabon über Macao (am 26. März 1987) die Weichen für die Rückgliederung dieser beiden Territorien in den chinesischen Staatsverband stellen konnte, gestalteten sich die Bemühungen um die Wiedervereinigung mit Taiwan erheblich schwieriger.
Schon bald nach der amerikanisch-chinesischen Normalisierung hatten sich die Bemühungen der Pekinger Führung intensiviert, die Regierung auf Taiwan durch eine Offensive der Herzlichkeit und Gesten des Entgegenkommens zu einer Wiedervereinigung mit dem Festland zu bewegen. „Ein Land, zwei Systeme“ wurde seit 1984 zur griffigen Formel der neuen Pekinger Strategie. Sie besagte in ihrem Kern, daß Taiwan als Sonderverwaltungsgebiet in einem vereinten China sein vom chinesischen Festland abweichendes gesellschaftliches System beibehalten kann und auch ein hohes Maß an Autonomie behält. Als Modell diente offenbar die in den Verhandlungen mit London gefundene Lösung für Hongkong Gleichzeitig suchte die Pekinger Führung jedoch auch weiterhin — und nicht ohne Erfolg — Taipei international zu isolieren.
Wahrscheinlich als Reaktion auf diesen gefährlichen Trend kam es im Herbst 1988 zu einer tiefgreifenden außenpolitischen Kurskorrektur Taiwans, mit deren Hilfe der neue Präsident Li Denghui die Insel aus der drohenden Isolierung herauszuführen versucht. Die neue Politik hält zwar prinzipiell an der „Ein-China-Politik“ sowie dem Alleinvertretungsanspruch Taipeis fest, ist jedoch im Ton konzilianter und hinsichtlich ihrer praktischen Durchführung geschmeidiger, insofern Taipei nunmehr bereit ist, auch zu denjenigen Staaten diplomatische Beziehungen oder offizielle Handelsbeziehungen aufzunehmen, die diplomatische Beziehungen zu Peking unterhalten.
Neben der internationalen besitzt die neue Strategie auch eine innerchinesische Komponente. So gab die Regierung in Taipei de facto seit Oktober 1987 ihre bisherige „Drei-Nein-Politik“ (keine Kontakte, keine Kompromisse, keine Verhandlungen) auf, die sie in Reaktion auf Pekings Politik der „Drei Verbindungen“ (Handel, Transport, Postverkehr) und der „Vier Austausche“ (zwischen Verwandten und Touristen, akademischen Gruppen, kulturellen Gruppen und Sportlern) eingeschlagen hatte. In der Folge kam es zu zahlreichen Verwandtenbesuchen, regelmäßigem Postverkehr und offiziellen Telephonverbindungen mit dem Festland. Zudem stieg der über Hongkong abgewickelte direkte Handel 1988 auf 3, 5 Milliarden US-Dollar an, und die Direktinvestition der taiwanesischen Wirtschaft näherten sich der halben Milliarde US-Dollar. Im Mai 1990 propagierte Premier Li Denghui das Konzept „Ein Staat, zwei Regierungen“ und bot Peking „gleichberechtigte Verhandlungen“ zunächst über kulturellen Austausch und Handel und daran anschließend auch über die Wiedervereinigung an. Allerdings knüpfte er die Aufnahme dieser Verhandlungen an einige Vorbedingungen: an die Durchführung von Demokratie und Marktwirtschaft auf dem Festland sowie an den Verzicht auf Waffenanwendung gegenüber Taiwan und die Störung der Beziehungen Taiwans zum Ausland.
Obwohl die Pekinger Führung das neue Konzept vehement ablehnte war sie doch auch weiterhin bestrebt, die Kontakte nicht abreißen zu lassen. Vereinfacht ausgedrückt, Hegt ihrer Politik gegenüber Taiwan auch weiterhin eine Doppelstrategie zugrunde: Einerseits bekämpft sie alles, was die Spaltung verlängern könnte — seien es die Bemühungen Taiwans, sich international fester zu etablieren, seien es die Ansprüche der Regierung in Taipei auf Souveränität und Gleichberechtigung, seien es die Bemühungen von Teilen der einheimischen Bevölkerung um Unabhängigkeit von China. Bezeichnenderweise hat sich Peking nicht nur das Recht auf gewaltsame Maßnahmen gegen die Insel vorbehalten, sondern auch genau die Situationen angezeigt, die militärische Aktionen auslösen würden. Andererseits fördert Peking alles, was geeignet erscheint, Taiwan enger ans Festland zu binden — das betrifft den Handel und die Investitionen ebenso wie Familienbesuche und Kontakte aller Art. So schlug der stellvertretende Leiter des Amtes für Taiwan-Angelegenheiten im chinesischen Staatsapparat, Tang Shubei, Ende September die baldige Aufnahme von Kontakten zwischen der KP Chinas und der Kuomintang aus Taiwan vor
Ob dies allerdings bei der Bevölkerung von Taiwan die Bereitschaft zur Wiedervereinigung stärken wird, sei dahingestellt. Das kompromißlose Insistieren auf den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei, vor allem aber die Politik gegenüber Tibet und die blutige Unterdrückung der Demokratiebewegung sind kaum geeignet, die starken Zweifel an der Kompatibilität der beiden „Systeme“ und der Vertrauenswürdigkeit der Pekinger Führung zu beseitigen.
IV. Die Rückkehr Chinas auf die Bühne der Weltpolitik
Wenn Peking im vergangenen Jahr viel von seinem Ansehen verlor und aus dem Zentrum des internationalen Interesses rückte, so war dies nicht nur auf die Juni-Ereignisse zurückzuführen. Eine nicht minder große Rolle spielten dabei auch die tiefen Umbrüche, die sich in diesem Zeitraum ereigneten: der Systemwandel in Osteuropa, die schwere innere Krise der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges, vor allem aber die sich vertiefende Zusammenarbeit zwischen Washington und Moskau. Letztere führte eine Reihe von Problemen, die die internationalen Beziehungen belastet hatten, Lösungen zu und verdeutlichte so die Grenzen der weltpolitischen Bedeutung Chinas. China rückte gewissermaßen wieder an die weltpolitische Peripherie, und das „strategische Dreieck“, in dem es während der vergangenen beiden Jahrzehnte eine wichtige Rolle gespielt hatte, begann seine Konturen zu verlieren. Wenn China inzwischen wieder ein wenig an Statur gewonnen hat, so war dies nicht zuletzt die Folge zweier Regionalkonflikte, die die chinesische Diplomatie geschickt zur Rehabilitierung ihres lädierten Ansehens nutzte. Bei dem einen handelte es sich um den Kambodscha-Konflikt, für dessen Lösung sich immer stärker der UN-Sicherheitsrat engagierte. Als eines seiner ständigen Mitglieder und zugleich Patron der Roten Khmer kam und kommt Peking hier eine besondere Bedeutung zu.
Während die Kambodscha-Krise, die letztlich aber doch nur von regionaler Bedeutung ist, der chinesischen Führung die Chance einräumte, sich in der Region, insbesondere gegenüber den Staaten Süd-ostasiens als Ordnungsmacht zu profilieren, öffnete ihr die Golf-Krise und die Erschütterungen, die sie weltweit auslöste, erneut die internationale Bühne. Denn auch hier kam Peking als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats wieder eine wichtige Doppelfunktion zu: Indem sich die chinesische Führung der Verurteilung der irakischen Invasion in Kuweit und dessen Annexion durch den Irak anschloß und die Sicherheits-Resolutionen 660, 661, 662 und 664, die den Irak zum sofortigen Rückzug aufforderten, mittrug und auch die auf saudisches Ersuchen erfolgte Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien akzeptierte und respektierte, präsentierte sie sich den USA und den anderen westlichen Staaten als eine kooperationsbereite und ver-antwortungsbewußte Macht. Indem sich Li Peng andererseits aber auch gegen die Anwendung militärischer Gewalt wandte — und diese Position international dadurch publik machte, daß er die Streichung des Ausdrucks „minimale Anwendung von Gewalt“ aus der Resolution 665 durchsetzte — und für eine friedliche Lösung der Krise durch die arabischen Länder eintrat und so unterschwellig die USA für die Verschärfung der Krise verantwortlich machte, unterstrich er nicht nur die unabhängige Position Chinas, sondern wies Peking damit auch als Verteidiger von Dritte-Welt-Interessen aus. Peking hatte gute Karten in diesem Spiel und spielte sie bislang auch richtig aus, bis hin zum spektakulären Besuch des chinesischen Außenministers im November im Irak. Es bleibt abzuwarten, wie die chinesische Führung reagieren wird, sollte es zum Ausbruch eines offenen Krieges kommen.
Eine weitere Chance, China der Weltöffentlichkeit als ein stabiles und friedfertiges Land vorzustellen, in dem Ruhe herrscht und dessen Bevölkerung mit ihrer Regierung zufrieden ist, brachten schließlich die am Vorabend des 41. Gründungstages der VR China am 22. September 1990 eröffneten 11. Asien-spiele in Peking. Sie waren das erste von China veranstaltete große internationale Sportfest, und die chinesische Führung hatte keine Mühen und Kosten gescheut, um die Veranstaltung, an der 4 684 Sportler aus 37 Ländern und Regionen teilnahmen, zu einer großen Selbstdarstellung zu machen. Ob das Ergebnis den in die Spiele gesetzten Hoffnungen schließlich entsprach, sei dahingestellt: Zwar erfüllten die chinesischen Sportler — mit 878 Athleten das zahlenmäßig größte Team — die in sie gesetzten Erwartungen. Dagegen fiel der politische Erfolg eher mäßig aus: Allein die Islamische Republik Pakistan wurde von ihrem Präsidenten vertreten, alle anderen Staaten wurden von Vizepräsidenten, ehemaligen Präsidenten oder Ministern repräsentiert — unter ihnen allerdings prominente Politiker wie Noboru Takeshita aus Japan und Vo Nguyen Giap. stellvertretender Vorsitzender des Minister-rats der Sozialistischen Republik Vietnam, seit 1979 der erste hochrangige vietnamesische Funktionär, der Peking offiziell einen Besuch abstattete.
Angesichts der scharfen Sicherheitsvorkehrungen bot sich der chinesischen Opposition keine Chance, die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu ziehen. Das Festival lief ohne Störungen ab; der Schein der Ruhe und Ordnung blieb gewahrt.