I. Zu einigen Besonderheiten der chinesischen Wirtschaftspolitik
China ist immer wieder für Überraschungen gut. Für viele auswärtige Betrachter dürfte die Radikalität der nachmaoistischen Wende zur Reformpolitik ebenso unvorhergesehen gekommen sein wie die Brutalität, mit der sich ein gerontokratisches Regime gegen eine friedliche Protestbewegung des Volkes durchsetzte, die zudem noch längst keine wirklich systemgefährdende Kraft erhalten hatte. Schritt China 1978 einem noch zögernd auf der Stelle tretenden Feld reformunfähiger sozialistischer Planwirtschaften voraus, so stemmt es sich nun gegen eine mächtige Zeitströmung, die zur Verwirklichung eben jener radikalen Reformen in diesen Volkswirtschaften führt, die sich nach 1984 in China durchzusetzen schienen. Gegenwärtig erhält die Außenwelt aus dem innenpolitischen Macht-und Richtungskampf erneut widersprüchliche Signale: Die einen propagieren Reform, die anderen lancieren reformfeindliche Leitartikel -Wie kommt ein solcher politischer Zick-Zack-Kurs zustande? Ist Wirtschaftspolitik in China von einem maroden Herrschaftssystem dominiert, dessen Irrationalität notwendig auch irrationale Politik nach sich zieht?
Ohne im folgenden die destabilisierenden Effekte von Gerontokratie, Machtinteressen und autoritärer Herrschaft heranterspielen zu wollen, soll versucht werden, die chinesische Wirtschaftspolitik und ihre aktuellen Probleme im Sinne einer eigenständigen Systemrationalität zu deuten. Dies besagt nicht, daß der außenstehende Betrachter die Leistung des Systems nicht bewerten könnte und dürfte; entscheidend ist vielmehr, daß die Unberechenbarkeit der chinesischen Wirtschaftspolitik und ihr oft chaotisches Erscheinungsbild im wesentlichen als Folge falscher Vorstellungen des Betrachters vom chinesischen System und seinen spezifischen Entwicklungsproblemen dargestellt werden, also als ein subjektives, nicht als ein objektiv bestehendes Phänomen. Die Einsicht in dessen eigenständige Rationalität und Funktionalität könnte dann China für den Betrachter berechenbarer werden lassen, auch wenn offene historische Prozesse sicherlich niemals prognostizierbar sind. Eine solche Berechenbarkeit hat für Politik und Wirtschaft auch eine große praktische Bedeutung.
Einige der weitverbreiteten Fehleinschätzungen der chinesischen Realität sind folgende: — China wies und weist weder ein klassisches sozialistisches Herrschaftssystem noch eine Planwirtschaft sowjetischen Typs auf. Dementsprechend sind die Probleme einer Reform völlig anders gelagert, und besitzen auch Begriffe wie „Rezentralisierung“ eine eigene Bedeutung. Es ist falsch, den Reformprozeß ebenso wie die gegenwärtigen Bremsmanöver als Pendelbewegung zwischen den Polen „Zentralverwaltungswirtschaft" und „Marktwirtschaft“ darzustellen. — China ist außerdem ein armes Entwicklungsland, dessen Wirtschaft und Gesellschaft regional zum Teil große Unterschiede aufweisen. Dieser Umstand bewirkt, daß die Wirtschaftspolitik durchgängig von Zielvorstellungen zur Industrialisierung, Modernisierung und nationalen Integration beherrscht wird. Ideologie und Ordnungspolitik sind Instrumente zur Erreichung dieser Ziele, aber keine eigenständigen Werte. — Die Entwicklung Taiwans ist kein wirklich relevanter Vergleichsmaßstab, denn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren zu jedem Zeitpunkt anders geartet. Damit soll nicht gesagt werden, daß fatale innenpolitische Zusammenbrüche wie die Kulturrevolution keine signifikanten Unterschiede zwischen der festlandchinesischen und der taiwanesischen Entwicklung verursacht hätten. Ein Maßstab kann Taiwan jedoch wegen der schlichten Tatsache nicht sein, daß beispielsweise prinzipiell ähnliche politische Organisationsmuster wie eine autoritäre Patronageherrschaft in einer kleinen, außenwirtschaftlich dominierten Volkswirtschaft andere Resultate zeitigen als im bevölkerungsmäßig größten Einzelstaat der Welt. — China besitzt eine eigenständige kulturelle Tradition, die für einige der Unterschiede zu anderen sozialistischen Systemen unmittelbar verantwortlich ist. Welche Auswirkungen diese Tradition hat, ist jedoch durchaus unklar. Sträflich vereinfacht sind aber Überlegungen zum „angeborenen Autoritarismus der Chinesen“ ebenso wie die Mär vom „konfuzianischen Kapitalismus“. — Und schließlich als letzte Fehleinschätzung: Reform bedeutet Fortschritt, Chancen auf Entwicklungserfolge und wirtschaftliches Wachstum. Dies ist auf der abstrakten Ebene wohl richtig; doch wie ist dann das offensichtliche Scheitern der Reform-politik erklärbar? Dieses Versagen der Reformer, und nicht die Machtgier der Konservativen als solche, war der eigentliche Grund für den innenpolitischen Umbruch von 1989.
Im folgenden soll versucht werden, ein Grundverständnis für die chinesische Wirtschaftspolitik im Lichte der aktuellen Lage zu gewinnen. Dabei sollen weniger ohnehin problematische „Zahlen und Fakten“ im Vordergrund stehen, als vielmehr Institutionen, Entscheidungsprozesse und menschliche Verhaltensweisen
II. Der Primat des Politischen
1. Die Spannung zwischen staatlicher Einheit und wirtschaftspolitischer Fragmentierung Die jüngsten Entwicklungen haben ohne Zweifel um ein weiteres gezeigt, daß Machtfragen immer noch von überragender Bedeutung für den wirtschaftspolitischen Prozeß in China sind. Obgleich diese Feststellung für ein autoritäres Herrschaftssystem auf der Hand zu liegen scheint, muß sie für den chinesischen Fall beträchtlich differenziert werden: Es ist stets zu unterscheiden zwischen den Macht-interessen der verschiedenen politischen Kräfte — also besonders der KPCh bzw.der parteiinternen Gruppierungen — und der Rolle eines starken Machtzentrums für die Bewahrung der politischen Einheit und Stabilität des chinesischen Staatswesens. Tatsächlich dürfte hinter den ideologischen Spiegelfechtereien und Phrasen der letzten Monate dieses Motiv als eines der wenigen authentischen identifizierbar sein: Konkret schlägt es sich in der Angst vor dem Beginn einer asiatischen Völkerwanderung nieder, von Millionen armer Chinesen, die aus dem festen Netz staatlicher Macht schlüpfen. in den reicheren Regionen Asiens Beschäftigung suchen oder im Inland zu potentiellen Trägern von Gewalt und gesellschaftlichem Unfrieden werden Das dominante Problem auch der chinesischen Wirtschaftspolitik besteht daher in der Regierbarkeit des Landes mit Hilfe eines starken Machtzentrums. Die Legitimität der KPCh basierte nach 1949 in der Tat vor allem auf dem Umstand, daß sie sich als politische Kraft erwiesen hatte, die eine Wiedervereinigung des Staatswesens durchsetzen konnte; die Kulturrevolution hatte diese Fähigkeit erstmals weitgehend zweifelhaft erscheinen lassen
Für ein Verständnis der Wechselwirkung zwischen Wirtschaftspolitik und Macht ist nun wesentlich, daß die Reformpolitik nach 1984 erheblich zur Fragmentierung des politischen Systems durch wirtschaftliche Interessenkonflikte beigetragen hat, die zwischen den Regionen entstanden waren. Die Rolle derartiger Regionalismen für die Krise der Reform ist nicht erst nach dem politischen Klimawechsel von 1989, aber auch seitdem von konservativen wie auch progressiven chinesischen Ökonomen hervorgehoben worden Sie fand Ausdruck in der Abschottung von Regionen gegenüber Konkurrenzwaren aus anderen Regionen, indem keine Transportmittel bereitgestellt, Wegezölle erhoben oder schlicht Straßensperren errichtet wurden Die Zentralregierung wurde zusehends in die Interessenkonflikte zwischen Provinzen hineingezogen, ohne die ausreichende Macht zur Konfliktregulierung zu besitzen Für diese Verschärfung der handelspolitischen Krisensituation waren verschiedene Faktoren verantwortlich, die wesentliche Eigenarten des chinesischen Wirtschaftssystems verdeutlichen. a) Die selbständige wirtschaftspolitische Rolle von Provinzen Ausgangspunkt der Reformpolitik war trotz gegenteiliger chinesischer Formulierungen kein „hochzentralisiertes“ Wirtschaftssystem, sondern seit spätestens der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ein System mit umfangreichen selbständigen Planungskompetenzen der Provinzen Die Zentrale verfügte zwar über einen beachtlichen Teil beispielsweise des Betriebsvermögens in der Schwerindustrie, war jedoch stets dazu gezwungen, entweder einen weitgehend autarken Wirtschaftskreislauf aufzubauen, oder mit den unterschiedlichen Interessengruppen in den Provinzen über die Güterdistribution zwischen Provinzen und Zentrale bzw. zwischen den Provinzen zu verhandeln. Die Reformpolitik hat — im Grunde nach dem Muster früherer maoistischer Dezentralisierungskonzepte — die wirtschaftspolitische Rolle der Provinzen nach der kurzen Phase der Rezentralisierung zwischen 1978 und 1981 weiter betont. Dieser Vorgang überlagerte sich mit beträchtlichen politischen Machtverschiebungen, die vor allem in der Dezentralisierung wichtiger Entscheidungsbefugnisse über die Nomenklatura ihren Ausdruck fanden Im Ergebnis wurde der geplante Sektor der chinesischen Volkswirtschaft in noch stärkerem Ausmaß von ständigen Verhandlungsprozessen zwischen ministeriellen Abteilungen, Provinz-und anderen Regionalverwaltungen und Unternehmen beherrscht, die eine zentrale Handlungsfähigkeit zunehmend gefährdeten. b) Das System regionaler Eigentumsrechte Es wäre nun allerdings ungenau, die wirtschaftspolitische Fragmentierung ausschließlich auf die wachsende Selbständigkeit der Provinzen zurückzuführen. David Granick hat in einer soeben veröffentlichten detaillierten Analyse gezeigt, daß der Reformprozeß tatsächlich von einem höchst komplexen System „regionaler Eigentumsrechte“ am Volksvermögen ausging Die chinesische Wirtschaftsordnung unterscheidet sich bis heute von der Plan-ebenso wie von der Marktwirtschaft darin, daß vor allem die Eigentumsrechte an Staatsunternehmen zwischen verschiedenen, voneinander unabhängigen territorialen Verwaltungsorganen fragmentiert sind, also beispielsweise das Recht auf die Verwendung des Unternehmensgewinns bei. einer Kreisverwaltung liegt, das Recht auf Verwendung der Produktion aber bei der Provinzverwaltung. Diese Rechte sind authentische Rechte und keinesfalls beliebig durch übergeordnete Organe gestaltbar. Entsprechend ist die Interessenlage bei Reformprozessen unübersichtlich; in der Regel bedeutet aber die Verringerung zentraler Planung zugunsten der „Unternehmensautonomie“ nicht, daß damit auch andere regionale Eigentumsrechte abge-schafft werden können. Die reformpolitische Handlungsfähigkeit der Zentralregierung ist gering c) Die Fehler bei der Gestaltung der Finanzverfassung Im Zuge der Vorbereitungen für den achten Fünfjahresplan wurde deutlich, daß die chinesische Führung ein wichtiges Reformelement im Bereich der Finanzpolitik abschaffen will, nämlich die soge-nannten „finanziellen Verantwortungssysteme“, die beispielsweise einigen Provinzen gestatten, zusätzliche Einnahmen in den eigenen Haushalten zu belassen, soweit eine bestimmte, vertraglich vereinbarte Summe an die Zentrale abgeliefert worden ist. Auf diese Weise wurden die Effekte regionaler Eigentumsrechte erheblich verstärkt, indem unmittelbar Anreize für die Regionalverwaltungen entstanden, ihre wirtschaftlichen Kompetenzen für die Steigerung der eigenen Einnahmen einzusetzen. Die Reformpolitik trug so zur Erosion ihrer eigenen Machtbasis bei. So lag es im wirtschaftlichen Eigeninteresse der Regionen, vermehrt außerhalb des Staatsplanes zu investieren, da die Gewinne aus solchen Investitionen nicht an die Zentrale abzuführen sind; die Proliferation von Handelsunternehmen unter Leitung von Regionalverwaltungen sollte dazu dienen, hohe Gewinne aus dem Zwischenhandel abzuschöpfen. d) Die Vergabe von Sonderrechten an einzelne Regionen Schließlich hat die Wirtschaftspolitik auch zur Machtfragmentierung beigetragen, indem mit dem Argument entwicklungspolitischer Zielsetzungen einzelne Regionen Sonderrechte erhielten, die rasch eine Zuspitzung der interregionalen Konflikte förderten. Ein Musterfall sind die außenwirtschaftlichen und finanzpolitischen Sonderrechte der Provinz Guangdong, die seit 1989 zugunsten einer Besserstellung Shanghais reduziert werden sollen. Hier wirkten persönliche Beziehungen in der politischen Führungsspitze und die entsprechenden Auseinan-* dersetzungen um die Macht unmittelbar auf die zunehmende Fragmentierung ein: Der gestürzte Generalsekretär Zhao Ziyang hat über zwei Jahrzehnte in Guangdong gearbeitet, der neue General-Sekretär Jiang Zemin ist ähnlich eng mit Shanghai verbunden
Solche Sonderrechte benachteiligen andere Provinzen unmittelbar, beispielsweise, wenn kantonesische Seidenhändler oder Ankäufer traditioneller Heilpflanzen Höchstpreise bieten, da sie im Export-geschäft mit einem wesentlich günstigeren Wechselkurs arbeiten können. Provinzen, die einen hohen Anteil an zentral geplanter Produktion und vor allem auch an der Gewinnung von Rohstoffen aufweisen, die für die verarbeitende Industrie in den Küstenregionen benötigt werden, spüren derartige Benachteiligungen sehr deutlich und bemühen sich daher ihrerseits um merkantilistische Gegenmaßnahmen
Angesichts dieser Entwicklungen wird verständlich, warum für die chinesische Wirtschaftspolitik ein Primat des Politischen gilt. Die Reformpolitik hat versagt, weil es ihr nicht gelang, die Regierbarkeit des Landes zu gewährleisten, und weil sie im Gegenteil zur Verstärkung desintegrativer Faktoren beitrug. Die orthodoxe Wende soll die zentrifugalen Kräfte unter Kontrolle bekommen. 2. Wirtschaftspolitik und soziale Kontrolle Nun hat die skizzierte Fragmentierung des wirtschaftlichen Lenkungssystems gewissermaßen auch noch eine Grundlage auf der Mikroebene wirt-schaftlichen Handelns. Zu den bemerkenswerten Kontinuitäten zwischen dem traditionellen und dem modernen China gehört der ausgeprägte Lokalismus sozialer Kontrolle Die oben erwähnten Ängste vor massiven Bevölkerungsbewegungen gehen auf die Einsicht zurück, daß die Reformpolitik einerseits zur Auflösung derartiger Kontrollmechanismen beitrug, aber andererseits kein Substitut in Form eines funktionsfähigen Rechtssystems, staatlicher Ordnungs-und Sozialpolitik oder einer leistungsfähigen, funktionsorientierten Verwaltung gefunden hat. So kommt es, daß der Staat gegenwärtig versucht, die sozialen und politischen Konsequenzen einer unumgänglichen Austeritätspolitik durch den Versuch einer Wiederherstellung der „stabilitas loci“ zu beherrschen, die namentlich für die schätzungsweise 80 Millionen Menschen der so-genannten „flottierenden Bevölkerung“ verloren gegangen ist: Arbeitslose Bauern, deren Beschäftigungsmöglichkeiten in der Bauindustrie verloren gegangen sind, werden in ihre Dörfer zurückgeschickt, wo sie, wenn überhaupt, dann nur in ineffizienten Massenarbeiten, z. B. im Wasserbau, beschäftigt werden können; die Kontrollen im Zusammenhang des städtischen Meldesystems und vor allem über die Vergabe von Lebensmittelcoupons wurden verschärft.
Auf diese Weise kann die chinesische Gesellschaft um ein weiteres durch lokale Sanktionsmechanismen „stabilisiert“ werden. Politische Macht realisiert sich weniger durch allumfassende Bürokratien, als vielmehr durch eine Fülle indirekter sozialer Kontrollen, beispielsweise in Staatsbetrieben, die für den Einzelnen eine umfassende Einheit der Daseinsvorsorge darstellen. Die Kehrseite ist jedoch, daß die eigentlichen Ziele der Herrschenden im ökonomischen Bereich auf diese Weise kaum realisiert werden können, nämlich hohe Wachstumsraten und eine effiziente Volkswirtschaft. Lokalistische Herrschaft setzt nämlich voraus, daß der Einzelne den Druck diskretionär einsetzbarer, wirtschaftlicher Sanktionsinstrumente erfährt: Der Staatsbetrieb, die Wohneinheit, das Dorf können eine entsprechende Rolle spielen, wenn die Kader der KPCh über das Niveau sozialer Absicherung der Familie entscheiden, die Verteilung preiswerter Konsumgüter oder die Zuweisung von Betriebs-wohnungen. In den letzten Jahren haben sich diesbezüglich freilich einige wesentliche Veränderungen ereignet, die gleichzeitig zu einer beträchtlichen sozialen Differenzierung der chinesischen Bevölkerung geführt haben. Verkürzt gesprochen, wurde die zunehmende Effizienz des Wirtschaftens im ländlichen Bereich, vor allem bei der ländlichen Kleinindustrie, durch die allmähliche Erosion lokalistischer Herrschaft erreicht. Zwar können Landkader nach wie vor Macht ausüben, weil sie z. B. Zugriff auf staatlich zugeteilte, preiswerte Düngemittel besitzen, doch wird diese Macht zumeist im eigenen wirtschaftlichen Interesse ausgeübt. Entscheidend ist aber, daß die soziale Mobilität der Bauern beträchtlich zunahm und marktorientierte Wirtschaftsformen in vielen Regionen, vor allem den außenwirtschaftlich geöffneten, dominierten. Die Stadt hingegen, und hier vor allem der staatliche Sektor, ist nach wie vor durch geschlossene soziale Systeme gekennzeichnet, die zwar einerseits den Einzelnen einer relativ dichten Kontrolle unterwerfen, aber andererseits auch vor dem Zwang einer Anpassung an Effizienzdruck schützen
Der Konflikt zwischen lokalistischer Herrschaft und Effizienz wird in der aktuellen Lage besonders beim Problem der Arbeitslosigkeit und den entsprechend notwendigen Veränderungen bei den Mechanismen der Lohnbildung augenfällig. Ein wichtiges Machtinstrument insbesondere im Staatsbetrieb ist die Sicherheit des Arbeitsplatzes, und zwar nicht nur für das Individuum, sondern auch für dessen Kinder. Nur das dauerhaft fortbestehende Überschußangebot an Arbeitskräften gewährleistet, daß der Einzelne nicht versucht, dem Sanktionssystem auszuweichen So kommt es, daß bislang jeder Versuch, die Allokation des Faktors „Arbeit“ effizienter zu gestalten, gescheitert ist. Zwar gibt es in China inzwischen in vielen Orten „Arbeitsmärkte“, doch werden dort vor allem jene Arbeitskräfte vermittelt, für die eine Überschußnachfrage besteht, also vor allem billige ländliche Zeitarbeit, die bis vor kurzem keine Lohnnebenkosten verursachte, und Hochqualifizierte. Das eigentliche Ziel wurde bislang nicht erreicht, nämlich der Abbau der ver« steckten Arbeitslosigkeit in den Staatsbetrieben.
Nun liegt eine der Schwierigkeiten bei der Reform auch darin, daß insbesondere während der gegenwärtigen Austeritätspolitik die Schutzfunktionen der ineffizienten städtischen Institutionen in den Vordergrund treten. Der Städter bzw. insbesondere der Industriearbeiter wird nicht nur vor Arbeitslosigkeit geschützt, er ist außerdem in der Lage, für die Stabilisierung politischer Macht einen Preis zu verlangen, nämlich weitere Lohnerhöhungen, die über das Wachstum der Arbeitsproduktivität hinausgehen. Zwar konnte das Wachstum der Lohn-und Prämieneinkommen reduziert werden, doch sank gleichzeitig die Arbeitsproduktivität. Zudem schlägt sich jede systematische Privilegierung von Staatsbetrieben durch die Wirtschaftspolitik natürlich auch in größerer Sicherheit der entsprechenden Arbeitsplätze nieder. Aus diesem Grunde wäre es falsch, lokalistische Herrschaft nur unter dem Blickwinkel sozialer Kontrolle zu betrachten; sie ist umgekehrt auch ein wesentlicher Faktor, der zur Bewahrung städtischer Privilegien im Verhältnis zum Lande beiträgt.
III. Die Wechselwirkung zwischen institutionellem Wandel, makroökonomischen Entwicklungen und Politik
Nur wenn die bislang skizzierten Besonderheiten der Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft in China beachtet werden, kann das Phänomen ins rechte Licht rücken, daß die Pekinger Zentralregierung zu ständigen ordnungspolitischen Veränderungen gezwungen ist, um makroökonomische Entwicklungen steuern zu können Das häufig verwirrende Bild insbesondere des außenwirtschaftlichen Strategien-Zick-Zacks geht auf diesen Sachverhalt zurück. Dies erschwert es gleichzeitig, zwischen echten programmatischen Veränderungen der Ordnungspolitik und temporären Richtungswechseln zu unterscheiden. So ist zur Zeit durchaus unklar, ob die sogenannten „Orthodoxen“ tatsächlich vom Reformkurs abkehren wollen (was für einzelne Personen allerdings durchaus gültig ist), oder ob die krassen Kontrolldefizite des Staates keine Handlungsalternative lassen, soll das System nicht durch Inflation, offene Arbeitslosigkeit und Verschuldungskrise zerbrechen 1. Rezentralisierung und Inflationsbekämpfung Ein Musterfall für den Zusammenhang zwischen Ordnungspolitik und makroökonomischen Entwicklungen ist natürlich die Inflationsbekämpfung. Die gegenwärtige chinesische Führung kann hier aus oberflächlicher Sicht auf einen ihrer wenigen Erfolge verweisen: Nachdem China 1988 in eine Phase sich rasch beschleunigender Inflation eintrat, die nach realistischen Schätzungen der tatsächlichen Rate zeitweilig sicherlich bereits zwischen 80 und 100 Prozent lag, wird nun von offizieller Seite mitgeteilt, daß diese Rate den niedrigsten Stand seit fünf Jahren erreicht habe; regional werden gar sinkende Konsumgüterpreise gemeldet Ähnlich wie bei der Inflationsbekämpfung in Marktwirtschaften mußte diese Roßkur mit einem Wachstumseinbruch bis hin zu fast null Prozent bei der industriellen Produktion zwischen dem letzten Quartal 1989 und dem ersten 1990 bezahlt werden. Hinzu kommen aber einige Erscheinungen, die in Marktwirtschaften nicht auftreten und den offiziell verkündeten Erfolg bei der Inflationsbekämpfung fragwürdig erscheinen lassen.
Tatsächlich wurde noch Mitte Juli vom Statistischen Amt verkündet, daß die Phase des Wachstumseinbruches vermutlich überwunden sei; die industrielle Produktion und insbesondere der Einzelhandelsumsatz wiesen wieder zunehmende Wachstumsraten auf, und vor allem die Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten habe sich verbessert. Bereits Ende Juli wurde dieses Bild aber erheblich korrigiert: Nach wie vor nehme die Lagerhaltung von wichtigen Konsumgütern und Industrieprodukten, ja sogar Rohstoffen zu, bleibe die Konsumgüternachfrage schwach und weise der Energie-und Rohstoffsektor erhebliche Angebotsdefizite auf. Insbesondere stellte sich nach dem Verzicht auf eine weitergehende systematische Benachteiligung der ländlichen Industrie wieder das gewohnte Bild einer stagnierenden Staatswirtschaft und einer dynamisch wachsenden lokalen Wirtschaft ein, also ein ausgeprägter Wachstumsdualismus Dieses Bild läßt vermuten, daß die ordnungspolitischen Eingriffe seit spätestens dem Herbst 1988 lediglich Inflationssymptome verschoben haben, nicht aber das Problem selbst lösen konnten.
Die chinesischen Erfolgsmeldungen müssen zunächst dahingehend korrigiert werden, daß staatliche Preiskontrollen ohne Zweifel eine wesentliche Rolle bei der Unterdrückung des Preisauftriebs gespielt haben. Wichtiger ist jedoch, daß die Austeritätspolitik zwar den effizienten, marktorientierten Sektor der Volkswirtschaft treffen konnte, und hier auch eine sehr hohe, über die Millionengrenze hinausgehende Zahl von Betriebsschließungen zur Folge hatte, aber nicht den Schlüsselbereich der industriellen Produktion wichtiger Zwischenprodukte, die staatseigenen Betriebe, erreichte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß bislang keine Lösung des Problems der Verschuldung zwischen den Staatsbetrieben gefunden wurde; diese Verschuldung nimmt trotz aller politischer Gegenmaßnahmen zu und wird dessen ungeachtet von einer erneuten Expansion der Bankkredite begleitet -Diese Entwicklung wurde von der staatlichen Wirtschaftspolitik paradoxerweise indirekt sanktioniert, indem eine noch im August 1989 getroffene Reformmaßnahme zurückgenommen wurde, die ein im wesentlichen an marktwirtschaftlichen Mustern orientiertes Zahlungssystem einführen sollte. Staatsbetriebe konnten dann die Banken eigentlich nicht mehr zur Finanzierung von Handelskrediten zwingen, die tatsächlich beispielsweise Kosten überhöhter Lagerhaltung deckten. Die offene Zunahme der Verschuldung zwischen den Betrieben war dann ein notwendiges Ergebnis, solange Unternehmen nicht in Konkurs gehen konnten. Wenn nun diese Verschuldung und die Bankkredite im Gleichschritt expandieren, ist dies das Symptom einer weiteren Verschlechterung der Effizienz des Staatssektors. Damit wird aber ein gewaltiges Inflationspotential aufgebaut.
Die zum Teil erstaunliche Widersprüchlichkeit der Austeritätspolitik wird nur vor dem Hintergrund des Systems „regionaler Eigentumsrechte“ verständlich. Faktisch sind die geldpolitischen Lenkungsmöglichkeiten der chinesischen Zentralbank sehr begrenzt, weil die Geldschöpfung durch die Lokalverwaltungen bestimmt wird, die auf die Kreditpolitik der sogenannten „Spezialbanken“ — der „Geschäftsbanken“ — ebenso Einfluß nehmen wie auf das Refinanzierungsverhalten der jeweiligen Zentralbankfiliale Der Widerstand gegen die Umsetzung einer zentral verordneten Austeritätspolitik ist groß (und wird durch die Meldungen über Scheinerfolge unterstützt), weil die Regionen die Kosten in Form von z. B. sozialer Destabilisierung oder Finanzierung von Arbeitslosigkeit tragen müssen. Die Zentrale ihrerseits kann die Austeritätspolitik ebenfalls nur halbherzig verfolgen, denn sie untergräbt auf diese Weise faktisch die eigene Steuerbasis. Dies gilt vor allem für die ineffizienten Staatsbetriebe, bei denen zentrale Eigentumsrechte reklamiert werden können. Die Zentrale kann einerseits nicht an einer wirtschaftlichen Expansion in den Regionen teilnehmen, weil sie keine direkten Ansprüche auf Einnahmen z. B.der Gemeindebetriebe hat (die Folge war ein beträchtlicher Rückgang der Staatsquote während der Reform, gemessen am offiziellen Budget); andererseits muß sie die „eigenen“ Betriebe kreditpolitisch fördern, um überhaupt Steuern aus eigentlich bankrotten Unternehmen zu erhalten Manche chinesische Ökonomen sprechen von einem „hohen Wassergehalt“ (shui fen) dieser Steuern, da sie nicht auf die Besteuerung ökonomisch produktiver Transaktionen zurückgehen.
Insofern kann die Austeritätspolitik keinesfalls als erfolgreich betrachtet werden. Hinzu kommt auch die Tatsache, daß angesichts einer weitgehenden Marktsättigung bei Konsumgütern (freilich nur relativ zu den angebotenen Qualitätsstandards) und einer massiven Sparkampagne mit Zwangselementen (z. B. im Zusammenhang der Finanzierung der Asienspiele) die Sparguthaben der Privaten ein historisch nie gesehenes Niveau erreicht haben und weiter wachsen. Hier schlägt ein weiteres Mal die Wechselwirkung zwischen lokalistischer Herrschaft und Wirtschaftspolitik durch, denn faktisch war der Konsumboom der letzten Jahre nur möglich gewe-sen, weil die Städter nach wie vor nicht zur Wohnungsbaufinanzierung durch ihre Arbeitseinheiten hinzugezogen werden und die Kosten der sozialen Sicherung nur in begrenztem Umfang tragen müssen. Auf dem Lande werden hingegen Konsum-zyklen deshalb stabilisiert, weil das Sparverhalten der Bauern langfristig orientiert ist, beispielsweise mit dem Ziel des Hausbaus
Insgesamt läßt sich daher feststellen, daß die „Zentralisierung" der letzten Monate lediglich ein Instrument der Symptomverschiebung bei der Inflation ist und der finanzpolitischen Stärkung der Zentrale innerhalb des komplexen Systems regionaler Eigentumsrechte dienen soll. Von einer ordnungspolitischen Rückkehr zur Planwirtschaft im eigentlichen Sinn kann aber angesichts der administrativen Schwäche der Zentrale kaum gesprochen werden. 2. Ordnungspolitik, Strukturprobleme der Landwirtschaft und der Konflikt zwischen Stadt und Land
Zum ersten Scheinerfolg der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik gesellt sich als zweiter die neuerliche Zunahme der Getreideproduktion auf das Niveau des Rekordjahres von 1984. Hier spielten unterschiedliche Faktoren eine Rolle: Sicherlich die erneute relative Zunahme staatlicher Investitionen in die ländliche Infrastruktur, d. h. eine Wende beim negativen Trend der achtziger Jahre, vor allem aber der massive Druck staatlicher Ankaufstellen auf die ländlichen Produzenten und Lokalverwaltungen, der bereits in den Jahren vorher das System „freiwilligen“ Getreideankaufs örtlich pervertiert hatte. Mehr Geld für die Landwirtschaft soll es auch weiterhin geben, und zwar außerdem in Form einer ausreichenden Versorgung der ländlichen Kreditinstitute mit Bargeld, nachdem erhebliche Probleme mit der Ausgabe von Schuldscheinen besonders im Jahre 1988 aufgetreten waren Der Staat soll sich massiv um den Ankauf von Getreide bemühen und die Produktionswilligkeit der Bauern erhalten, indem Mindestpreise beim sogenannten „verhandelten Ankauf“ über die Pflichtquoten hinaus garantiert werden; gleichzeitig werden allerdings die An-kaufpreise selbst noch nicht erhöht. Stattdessen soll die weit klaffende Schere zwischen den Produktionskosten, die in den letzten Jahren explodiert waren, und den kontrollierten Absatzpreisen mit Hilfe einer fortlaufenden Rezentralisierung des —
Handels mit Düngemitteln, Pestiziden und Plastik-folien bekämpft werden.
Trotz dieser Bemühungen hat die Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre zu einer weiterhin sinkenden Getreideversorgung je Kopf der Bevölkerung geführt, die unter dem Weltdurchschnitt hegt und regional erhebliche Defizite aufweist Im gegenwärtigen politischen Klima veranlaßt dies nicht nur die Politiker, sondern auch manche reformorientierte Ökonomen zu ständiger Kritik an den vermutlich ineffizienten Betriebsgrößen in der chinesischen Landwirtschaft, die sich wegen der Organisationsweise der ländlichen Verantwortungs-, d. h. Quasipachtsysteme, an der Familie als Produktionseinheit ausrichten Neuerdings finden sich daher immer wieder Meldungen einerseits über den Fortbestand des Verantwortungssystems, offenbar um die Bauern zu beruhigen, die neue Enteignungsmaßnahmen befürchten, andererseits aber über neue Formen der Agrarorganisation, die kooperative Elemente wieder stärker betonen
Ohne Zweifel werden bei den entsprechenden Diskussionen echte Entwicklungsprobleme der Landwirtschaft angesprochen. Dies zeigt schon die Tatsache, daß auch Reformökonomen sich stets über den Verfall von Agrarinstitutionen beklagt haben — sei es im Bereich der Organisation von Bewässerungssystemen, sei es bei der genossenschaftlichen Organisation von Beschaffung und Absatz oder der sozialen Sicherung auf dörflicher Ebene Die Frage ist natürlich, inwieweit hierein Fehlverhalten der Bauern diagnostiziert werden muß, oder ob nicht tatsächlich erhebliche Anreizverzerrungen durch die staatliche Politik vorliegen, die dann durch weitergehende Staatseingriffe korrigiert werden sollen. Letzteres ist für viele Bereiche der Agrarpolitik nachzuweisen. Ganz abgesehen von der fortbestehenden Rechtsunsicherheit bezüglich des Eigentums an Grund und Boden ist hier selbstverständlich zunächst an die staatliche Preispolitik zu denken, die vornehmlich am Ziel ausgerichtet ist, die Stadtbevölkerung preisgünstig mit Grund-nahrungsmitteln und Baumwolle zu versorgen. Der Staat befindet sich in dem Dilemma, ständig zwischen den Interessen der Bauern und den Interessen der Städter abwägen zu müssen; dieser Entscheidungszwang wird noch dadurch verschärft, daß die Stadtbewohner den eigenen privilegierten Status (also z. B.den tatsächlichen Umfang ihrer Subventionierung) kaum wahmehmen. Im Gegenteil hatte die Propaganda zur Agrarreform die Folge, daß die Stadtbewohner ihre relative Einkommensposition unterschätzen und daher überhöhte Ansprüche an die staatliche Umverteilungspolitik richten Notwendig mußten daher Motivationsprobleme bei den ländlichen Produzenten auftreten: Es verbreitete sich bald die Mentalität, Gewinne in Produktionsbereichen möglichst rasch abzuschöpfen, die vom Staat gering reguliert waren bzw. wo hinreichende Möglichkeiten bestanden, diese Regulierungen zu umgehen. Gleichzeitig waren und sind geringe Anreize vorhanden, langfristig orientierte Investitionen, z. B. im Wasserbau, zu tätigen.
Allerdings wirken nicht nur derartige offene, preis-und verteilungspolitisch bedingte Anreizverzerrungen auf das Verhalten der Bauern ein. Vor allem im Zusammenhang der Furcht der chinesischen Politiker vor der „Bevölkerungsbombe“ und der vermuteten Unfähigkeit sich zu ernähren, Landes, selbst muß die massive staatliche Bevölkerungspolitik lediglich als ein Mittel gewertet werden, um ihrerseits staatlich bedingte Fehleingriffe zu beseitigen -Wenn die chinesischen Bauern nur durch staatlichen Zwang dazu veranlaßt werden können, die Zahl ihrer Kinder zu reduzieren, dann liegt dies vor allem daran, daß es angesichts der staatlich gesetzten Rahmenbedingungen irrational ist, dies freiwillig zu tun Der Staat hat nicht nur seine Investitionen in die ländliche Infrastruktur vernachlässigt, sondern auch in das ländliche Bildungswesen. Der Zustand der ländlichen Grundschulen ist jämmerlich, Lehrer sind unterbezahlt, die Finanzierung erfolgt häufig in regelloser Form und löst entsprechende Unzufriedenheit bei den Bauern aus. Gleichzeitig führt auf allen Stufen des Bildungswesens die dominante Rolle der KPCh bei der Kontrolle sozialer Aufstiegschancen dazu, daß sich zusehends eine Stimmung verbreitet, die Bildung und schulische bzw. universitäre Leistung nicht mehr als erstrebenswerte Ziele betrachtet.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Bauern nicht bereit sind, vermehrt in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren, die Ausbildungszeiten zu verlängern und damit notwendigerweise auch freiwillig die Kinderzahl zu verringern. Hinzu kommt, daß der Staat im Bereich der Sozialpolitik ebenfalls Daten setzt, die einer Erfüllung seiner bevölkerungspolitischen Ziele entgegenstehen. Die zwangsweise Geburtenkontrolle gerät unmittelbar in Konflikt mit bäuerlichen Normen und Wertvorstellungen zur Gestalt der idealen Familie, die in ein Netz weitläufiger Verwandtschaftsbeziehungen eingebettet ist. Dieses Netz war auch im traditionellen China keinesfalls eine weich gebettete Wiege, aber immerhin schützte es beispielsweise vor dem endgültigen Verlust von Ansprüchen auf Land oder konnte zur Mobilisierung von Hilfe in Notfällen dienen.
Der moderne chinesische Staat hat bislang in vielerlei Hinsicht kein echtes Substitut geboten. Nach der Auflösung der Volkskommunen zu Beginn der achtziger Jahre wurde nur wenig Energie darauf verwendet, der dörfliche Institutionen Selbstverwaltung und sozialen Sicherung systematisch aufzubauen. Erst seit einigen Jahren wird überhaupt daran gearbeitet, selbständige Dorfhaushalte aufzustellen. Soziale Notfälle werden in regional höchst unterschiedlicher Weise behandelt, in der Mehrheit jedoch weiterhin über die sogenannten „Fünf Garantien“ aufgefangen, d. h. die naturale, weitgehend ad hoc geregelte Versorgung mit lebenswichtigen Gütern.
Feste Institutionen der sozialen Sicherung wie Alters-und Pflegeheime gibt es nur bei einer geringen Zahl wohlhabender Dörfer; hier treten aber wegen des Verfalls kollektiver Leitungseinrichtungen Finanzierungsprobleme auf. Aus der Sicht der Bauern ist es daher immer noch rational, in Kinder zum Zwecke der sozialen Sicherung zu „investieren“ und darüber hinaus nach traditionellem Muster Landeigentum innerhalb der Familie zu halten. Verwandtschaft ist darüber hinaus ein wichtiges stabilisierendes Element sozialer Beziehungen in einem weitgehend rechtsfreien Raum. Angesichts der schweren institutioneilen und vor allem auch personellen Defizite im Bereich der Rechtspflege bietet die Verwandtschaft einen verläßlichen Rahmen zur Absicherung beispielsweise längerfristiger wirtschaftlicher Zusammenarbeit von Individuen. Es gibt also eine Fülle von Faktoren, die aus der Sicht des Bauern eine relativ große Zahl von Kindern als rationale Alternative zu den unsicheren öffentlichen Institutionen erscheinen lassen. Gleichzeitig führt die entsprechende Fortschreibung traditioneller Nonnen dazu, daß eben jene augenscheinlich ineffizienten Betriebsgrößen und Strukturen des Landeigentums erhalten bleiben, die aus der Sicht mancher Politiker durch weitere Staatseingriffe bereinigt werden müßten. Die Situation erscheint freilich noch komplexer, wenn die Entwicklungen im Zusammenhang der ländlichen Industrie berücksichtigt werden. Bei der massiven Kampagne gegen ländliche Klein-und Gemeinde-betriebe in der zweiten Hälfte des Jahres 1989, die zu einer Schließung von mindestens einer Million Unternehmen führte, spielte ebenfalls das Argument eine wichtige Rolle, daß diese Betriebe ineffizient arbeiteten und die angeblich effizienten größeren Staatsbetriebe auf dem Beschaffungsmarkt (Energie, Rohstoffe) unter einen destruktiven Konkurrenzdruck setzten. Auch hier ist wieder zu beachten, daß diese Kritik auch von Reformökonomen gestützt wird: Die ländlichen Kleinbetriebe arbeiten zumeist mit katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt, verarbeiten Rohstoffe ineffizient und schädigen die Gesundheit ihrer Beschäftigten. Dennoch sind sie besonders in küstennahen Regionen zu einem wichtigen Exportfaktor geworden und sind vor allem die Hauptvoraussetzung für den Strukturwandel bei der ländlichen Beschäftigung Das Schreckgespenst von vielleicht mehr als 200 Millionen „überschüssiger“ Arbeitskräfte in der Landwirtschaft konnte im Laufe der Reformen einigermaßen in Schach gehalten werden, indem in der gesamten Dekade bereits rund 80 Millionen Menschen aus der landwirtschaftlichen Produktion in andere Sektoren abwanderten.
Warum also die Klagen über die „Ineffizienz“ dieser Betriebe, die ja nicht notwendig mit sozialen Problemen wie Kinderarbeit gleichzusetzen ist? Tatsächlich resultiert Ineffizienz wiederum aus den staatlicherseits falsch gesetzten Rahmenbedingungen. Wenn die ländlichen Betriebe so erfolgreich Wettbewerb mit öffentlichen den Betrieben im Sektor bestehen, obgleich sie ihre Inputs in der Regel auf freien Märkten zu hohen Preisen beschaffen müssen, dann liegt dies vor allem an der Anpassungsfähigkeit im Bereich der Personalpolitik und an den erheblich niedrigeren Kosten des Faktors „Arbeit“. Ein Dilemma der Staatsbetriebe besteht nämlich darin, daß Lohn-und vor allem Lohnnebenkosten (soziale Sicherung, Wohnungsbau u. s. w.) faktisch Fixkosten darstellen, die bei Nachfragerückgängen nicht reduziert werden können. Die ländlichen Betriebe sind hier bis hin zur Selbstausbeutung der Arbeitskräfte flexibel; hinzu kommt, daß jedes Zusatzeinkommen unabhängig von seiner Höhe in jedem Fall einen positiven Beitrag zu den Familienbudgets leistet, wenn ein großer Teil ländlicher Arbeitskräfte sonst faktisch unproduktiv wäre.
Auf der anderen Seite wird der Strukturwandel innerhalb der ländlichen Industrie durch das System „regionaler Eigentumsrechte“ behindert. Die Lokalverwaltungen stemmen sich gegen Betriebszusammenschlüsse auf überregionaler Ebene und andere sinnvolle Formen der Unternehmenskooperation, weil sie Einnahmeverluste befürchten. Da es nach wie vor keinen systematisch geordneten Kapitalmarkt gibt, werden Kapitalbeteiligungen in Betrieben mit effizienteren Betriebsgrößen kaum als akzeptable Alternative gegenüber der Investition in neue, „eigene“ Betriebe betrachtet. Außerdem wissen die Lokalverwaltungen, daß arbeitsintensive Kleinbetriebe mit einer qualitativ minderwertigen Kapitalausstattung eine höchstmögliche Zahl überschüssiger Arbeitskräfte aufnehmen können.
Es scheint also, daß die chinesische Landwirtschaft in einem Teufelskreis des Staatsinterventionismus gefangen ist, der immer wieder durch Strukturprobleme und makroökonomische Fehlentwicklungen in Schwung gehalten wird. Für die Zukunft entscheidend dürfte also sein, wie dieser Teufelskreis aufgebrochen werden kann. 3. Die Außenwirtschaft: Motor des ordnungspolitischen Wandels?
Struktur und Prozeß der chinesischen Wirtschaftspolitik blieben unzureichend beschrieben, wenn nicht die Außenwirtschaft als wesentlicher Faktor einbezogen würde. So wird immer wieder zu wenig beachtet, wie eng das chinesische Agrarproblem mit außenwirtschaftlichen Entwicklungsstrategien zusammenhängt. Vor allem in den hochentwickelten Küstenregionen des Südostens konnte ein erdrutschartiger Wandel der Beschäftigungsstrukturen erreicht werden, weil die niedrigen Arbeitskosten Kapital aus Hongkong anzogen. Dieser Prozeß wird zur Zeit offenbar weiter beschleunigt, weil taiwanesische Unternehmen größtes Interesse zeigen. Produktion auf das Festland auszulagern Zwar könnten die Beschäftigungseffekte hier durchaus anders ausfallen, weil die anstehende zweite Investitionswelle im Gegensatz zu arbeitsintensiven Hongkonger Produktionen und zu früheren taiwanesischen Investitionen weniger die niedrigen Arbeitskosten ausnutzen wird, als vielmehr zunehmenden Regulierungen im Umweltbereich Taiwans ausweichen will. Dennoch ist es in den Küstenregionen über die Außenwirtschaft mehr oder weniger unbeabsichtigt gelungen, den interventionistischen Teufelskreis aufzubrechen, weil chinesische Investoren effiziente organisatorische Lösungen gegenüber den Lokalverwaltungen gut durchsetzen können. Dies ist ohne weiteres an gesamtwirtschaftlichen Daten ablesbar So war die gesamtwirtschaftliche Effizienz der ausländischen Investitionen in den ersten zwei Dritteln der achtziger Jahre eindeutig in jenen Regionen höher, die durch ein geringeres Niveau bürokratischer Eingriffe gekennzeichnet waren, also beispielsweise in Guangdong im Vergleich zu den geöffneten Küstenstädten wie Shanghai. Höhere Effizienz schlägt sich konkret beispielsweise in der besseren Nutzung des volkswirtschaftlichen Überschußfaktors Arbeit nieder, niedrigere in der Überkapitalisierung der Investitionen.
Dennoch muß für den Gesamtzeitraum festgestellt werden, daß die chinesische Volkswirtschaft trotz einer beachtlichen Expansion außenwirtschaftlieher Aktivitäten im wesentlichen auf eine wachsende Nachfrage rein quantitativ reagierte, ohne tatsächlich qualitative Fortschritte durch größere Effizienz bei der Nutzung komparativer Kostenvorteile zu erzielen Dieses im wesentlichen negative Bild läßt sich augenfällig daran illustrieren (obgleich der Vergleich ökonomisch hinkt), daß bei einer Umrechnung des realen Pro-Kopf-Einkommens mit dem jeweiligen offiziellen Dollar-Wechselkurs trotz eines gleichzeitig im internationalen Vergleich sinkenden Dollar-Kurses faktisch ein stetiger Wohlstandsrückgang zu verzeichnen ist. Dabei ist die ständige Überbewertung des Renminbi ebensowenig berücksichtigt wie das hohe Niveau der Extemalisierung z. B. von ökologischen Kosten des bisherigen Wachstums durch die Volkseinkommensrechnung.
Wie ist dieses Phänomen erklärbar? Es wurde schon erwähnt, daß ein wesentlicher Teil des außenwirtschaftlichen Booms der letzten Jahre von Küstenprovinzen wie Guangdong getragen wurde, die mit erheblichen wirtschaftspolitischen Privilegien ausgestattet waren und teilweise noch sind. Über dieses verzerrende System von Sonderrechten ist nun ein Mantel hochgradig verzerrter multipler Wechselkurse gestülpt, bei denen viele Exportunternehmen in großem Umfang subventioniert werden, um überhaupt international wettbewerbsfähig zu sein. Auf diese Weise wird im Einklang mit der ständigen offiziellen Überbewertung des Renminbi ein starker Importsog dauerhaft finanziert — der seinerseits durch administrative Staatseingriffe kontrolliert werden muß Die Importkontrollen haben wiederum die fatale Konsequenz, volkswirtschaftlich sinnvollen Strukturwandel zu verhindern.
Ein diesbezüglich symptomatisches Beispiel ist die binnenländische Textilproduktion Hier treten auch die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen ländlicher Entwicklung und Außenwirtschaft zu Tage. Die arbeitsintensive Textilindustrie wäre in der gegenwärtigen Entwicklungsphase ein entscheidender Wachstumsmotor, dessen Aktivität jedoch ständig durch Mangel an preisgünstigen Rohstoffen behindert wird. Dieser Mangel ist letztlich die Konsequenz aus zu niedrigen, staatlich gesetzten Ankaufpreisen auf dem Binnenmarkt unter anderem für Baumwolle als Schlüsselprodukt Steigende Baumwollpreise würden die ohnehin bereits faktisch hochsubventionierten Exportbetriebe jedoch weiter in die finanzielle Enge treiben. Aufder anderen Seite ist der Staat nicht willens, das Problem durch eine weitgehende Liberalisierung auf der Importseite zu lösen: Baumwoll-ebenso wie beispielsweise auch Getreideimporte decken nach alter planwirtschaftlicher Manier lediglich Angebots-lücken, führen aber nicht zu einer effizienten Allokation wirtschaftlicher Aktivitäten in einem Weltmarkt-und damit vor allem internationalen Preis-zusammenhang. Wenn die bisherigen Erfahrungen mit wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen in anderen Ländern auch nur halbwegs übertragbar wären, dann müßte im chinesischen Außenhandel eigentlich der Rohstoffimport für die Textilindustrie eine zunehmend wichtigere Rolle spielen, was gleichzeitig den Agrarsektor vom Druck staatlicher Zwangsproduktion befreien und damit effizienten Strukturwandel ermöglichen würde.
Auch für den Bereich der Außenwirtschaft gilt daher grundsätzlich, daß die Ineffizienz der Reform-politik mit den ständigen Wechselbädern des Staatsinterventionismus zu erklären ist. Hier muß natürlich auch deutlich zwischen einzelwirtschaftlicher Profitabilität und gesamtwirtschaftlicher Effizienz unterschieden werden: Beim gegebenen System regionaler Eigentumsrechte besteht im außen-wirtschaftlichen Bereich immer die Möglichkeit, daß Regionalverwaltungen — und in Sonderfällen wie Volkswagen-Shanghai auch die Zentralregierung — durch geeignete administrative Eingriffe und Umverteilungsmaßnahmen die Profitabilität sichern. Dies ist aber selbstverständlich nicht für alle außenwirtschaftlichen Aktivitäten gleichzeitig möglich, erst recht nicht, wenn die weiterreichenden Interessen ausländischer Investoren an einem expandierenden Binnenmarkt angesprochen sind. Hier setzen echte Fortschritte einen umfassenden Systemwandel voraus. Wenn die chinesische Führung gegenwärtig — begünstigt durch Ölpreise — die endemische Tendenz zum Leistungsbilanzdefizit umzukehren sucht, dann muß sie dies um den Preis des Verzichtes auf entwicklungsfördernde Nettokapitalimporte und einer Akkumulation im wesentlichen unproduktiver Währungsreserven tun, die für die Rückzahlung von Krediten erforderlich sind, mit denen die volkswirtschaftlich insgesamt ineffizienten Investitionen früherer Jahre finanziert wurden. Gleichzeitig hat die lange ausgebliebene Einsicht der Investoren Platz gegriffen, daß die Probleme der chinesischen Wirtschaft langfristiger Natur sind und im Ganzen eher ungünstige Rahmenbedingungen für Direktinvestitionen schaffen.
Dieses pessimistische Bild wird im Grunde nur durch die offensichtlich hohen Entwicklungspotentiale von Regionen aufgehellt, die unmittelbar Zugang zu auslandschinesischem, taiwanesischem und Hongkonger Kapital haben. Besonders Hongkong und Taiwan sind essentiell auf die Expansion in die Volksrepublik angewiesen. Voraussetzung ist freilich, daß die regionalen Verwaltungen ihre Eigentumsrechte in investitionsfreundlicher Manier handhaben. Genau dies ist bislang im wesentlichen geschehen; mehr noch, aus Guangdong kamen jüngst deutliche politische Signale, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Hongkong nachhaltig intensiviert werden soll -Die Provinzregierung möchte ganz offensichtlich versuchen, zunehmend von der finanziellen Kontrolle durch Peking unabhängig zu werden. Dieses Beispiel zeigt, daß in bestimmten Regionen klare Präferenzen für die stärkere Anbindung an den Weltmarkt und damit notwendig für eine weitergehende Reform vorhanden sind.
Gleichzeitig wird jedoch das eigentliche Problem einer exogen induzierten Reform deutlich: Die Zentrifugalität regional autonomer Entwicklungsprozesse und der entsprechenden Wirtschaftspolitik würde zunehmend den politischen Zusammenhalt des Landes gefährden, zumindest solange die * Institutionen so geartet sind, wie gegenwärtig. Die Angst vor der Entstehung „regionaler Königreiche“ diktiert zur Zeit viele administrative Maßnahmen, wie z. B. die Umbesetzungen im Militärapparat oder die Versetzungen von Leitungspersonal auf Provinzebene Im Gegensatz zu früheren Phasen der Geschichte der Volksrepublik sind die Ausgangsbedingungen des Konfliktes zwischen Zentrale und Regionen heute allerdings völlig anders gelagert: Die Zentrale ist gegenwärtig unbedingt auf die wirtschaftliche Dynamik angewiesen, die mit Regionalisierungsprozessen verbunden ist. So muß sie eine enge Verflechtung zwischen Hongkong und Guangdong mit allen wirtschaftspolitischen Konsequenzen dulden, will sie nicht das „goldene Huhn“ Hongkong endgültig ersticken. Damit treten jedoch die Konturen des eigentlichen politischen Gestaltungsproblems der nächsten Jahre in den Vordergrund: Wie kann ein regionalisierter Reformprozeß so in eine gesamtstaatliche Politik eingebunden werden, daß nicht der Grundwert staatlicher Einheit gefährdet wird?
IV. Föderalismus: Utopie oder Notwendigkeit?
Der Bogen unserer Überlegungen hat sich nun geschlossen. Die Entwicklungsprobleme Chinas sind auf vielfältige Weise miteinander verflochten und führen letztendlich immer wieder zum Primat des Politischen zurück, d. h. in reformpolitischer Hinsicht konkret zur Neudefinition grundlegender politischer Strukturen des Landes, deren Wurzeln zum Teil weit in die Vergangenheit zurückreichen und die nicht nur durch den Tatbestand kommunistischer Herrschaft bedingt sind. Die kommunistische Herrschaft hat vielmehr einige der politischen Strukturprobleme verdrängt und eine Lösung aufgeschoben, um dem Primat staatlicher Einheit Gültigkeit zu verschaffen. Damit wurde aber verhindert, daß sich lokale und regionale politische Institutionen im eigentlichen Sinne ausbildeten; an ihre Stelle traten Mobilisierung, weltanschauliche und ’ administrative Kontrolle neu geschaffener Eliten und im Extremfall — wie während der Kulturrevolution, aber andeutungsweise auch nach dem Massaker am Tiananmen — der schlichte Durchgriff zentral gesteuerter militärischer Gewalt. Auf diese Weise wurden im Grunde fundamentale politische Traditionen des Kaiserreiches fortgeschrieben. In der politischen Tiefenstruktur lauert daher auch stets der Tiger des anarchischen Zerfalls, die Auflösung zentraler politischer Macht im Konflikt zwischen regionalen Militärmachthabern.
Arthur Waldron hat soeben in einer bemerkenswerten Analyse darauf hingewiesen, daß es daher nicht umsonst eine weitgehende Parallele zwischen der Diskussion um den Föderalismus in den zwanziger Jahren und in der heutigen demokratischen Exilbewegung gibt Damals wie heute erscheint der Föderalismus als ein geeignetes Mittel, um die endemische institutioneile Schwäche der chinesischen Politik zu überwinden, indem lokale und regionale politische Prozesse auf sich selbst zurückgeworfen werden und sich mit dem Aufbau funktionsfähiger Institutionen befassen müssen und können. Innerhalb eines föderalistischen Gesamtrahmens müßten dann nur Belange von nationalem Interesse auf gesamtstaatlicher Ebene geregelt werden. Faktisch ist China bereits heute ein hochgradig regional fragmentiertes Land. Seine Entwicklungsprobleme rühren daher, daß keine klaren Kompetenzzuweisungen und -abgrenzungen politischer Institutionen auf unterschiedlichen territorialen Ebenen erfolgt sind. Vielmehr liegen Kompetenzen (vgl. das Beispiel der Geldschöpfung) bei Regionalverwaltungen, die unbedingt als zentrale festgeschrieben werden müßten, und umgekehrt. Die Zentrale wird auf diese Weise mit politischen Aufgaben wie dem ständigen wirtschaftlichen Interessenausgleich zwischen den Regionen überlastet, die in einem föderalen
Rahmen dauerhaft und mit hohen Selbstregulierungspotentialen gelöst werden könnten.
Allerdings hängt dieses Versagen bei grundlegenden politischen Gestaltungsaufgaben auch damit zusammen, daß die chinesische Führung eine weitere Priorität bei der raschen nachholenden Industrialisierung sieht Die gezielte Spaltung des Landes, gesellschaftlich wie wirtschaftlich, in einen städtischen und einen ländlichen Sektor nach 1949 überlagert die Frage der Regionalisierung Damit wurde die chinesische Tradition einer engen sozialen und wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Stadt und Land krass abgeschnitten und ein künstlicher trade-off zwischen den Interessen der jeweiligen Bevölkerungsgruppen hergestellt, der heute die Politik in wichtigen Bereichen handlungsunfähig werden läßt. Es könnte sein, daß erst ein föderaler Gesamtrahmen es auf regionaler Ebene ermöglichen würde, diese Tradition wiederherzustellen. Es ist im Augenblick kaum abzuschätzen, ob das jetzige politische System zu den erforderlichen Gestaltungsmaßnahmen in der Lage ist. Für die Ebene zentraler Entscheidungsträger ist dies kaum zu erwarten, und zwar unabhängig von der Vorherrschaft orthodoxer oder reformfreudiger Kräfte. Im letzten Fall könnte es freilich sein, daß spontane Regionalisierungsprozesse besser Platz greifen und damit das System gewissermaßen „von unten“ transformieren Es ist zu hoffen, daß die vielfältigen und nützlichen Denkansätze chinesischer Intellektueller zu dieser Frage endlich von der Politik rezipiert werden.