I. Vom Verlust des Wirklichkeitssinns
„Egal ob es um das ganze Reich ginge oder nur um ein Land, bei M . . . müßten alle grobe Kleidung tragen und sich mit minderwertigem Essen begnügen. Es würde überall Trostlosigkeit herrschen, und die Kunst wäre verdammt. Das Ergebnis wäre naturgemäß ein allgemeiner Mangel. Die Menschen bekämen nicht das, was sie wirklich wollten . . . Die Wurzeln des Volkes wären gekappt und die Quellen versiegt. Das Reich wäre wie ausgedörrt.“
Die klagenden Worte erscheinen eigenartig modern. So hätte die Kritik Deng Xiaopings an Mao Zedong und der von ihm gewaltsam ausgelösten Kulturrevolution lauten können, und in der Tat ist sie ähnlich ausgefallen. Der tatsächliche Autor ist Xunzi (3 Jhdt. v. Chr.), einer der großen konfuzianischen Gründungsphilosophen. Die grundlegenden Glaubenssätze der konfuzianischen Tradition verdichteten sich zu der Aussage: „Nur wenn die Unterschiede gefestigt sind, herrscht höchste Gleichheit!“ Hinter dieser Formel verbarg sich die uralte, durch historische Erfahrungen verstärkte Furcht, die Auflösung klarer gesellschaftlicher Statusordnungen müsse zwangsläufig zum allgemeinen Chaos führen.
Gleichheit bedeutete in China immer, Ungleiches ungleich zu behandeln, jedem das Seine nach gleichem Maß zukommen zu lassen. Die zivilisatorische Bilanz der chinesischen Geschichte verlieh den Idealen der traditionellen politischen Ethik ein Gutteil Gültigkeit. Dies soll zugestanden werden. Es ist jedoch eine andere Sache, solche Vorstellungen auf die Gegenwart zu übertragen. Der gegenwärtige „Primat des Hierarchischen“ zeugt von der Schwächung des politischen Wirklichkeitssinns der chinesischen Führungsschicht. Nationale Modernisierungsprozesse kennen viele Sackgassen. Die meisten enden in dem Versuch, die Probleme des Wandels mit den Rezepten der fernen Vergangenheit „kurieren“ zu wollen. Die schwerwiegenden Fehlentwicklungen werden meist erst im nachhinein sichtbar.
Ende der siebziger Jahre glaubte Chinas Führungsschicht, sich endgültig von den Irrtümern der eigenen Vergangenheit verabschiedet zu haben. Fortan sollte „die Wahrheit in den Tatsachen gesucht“ werden. Eine „neue historische Etappe“, das Jahrzehnt der Reformen, wurde eingeläutet, und es kann nicht geleugnet werden — die achtziger Jahre waren die erfolgreichste Dekade seit dem Niedergang der traditionellen Ordnung. Die Bilanz der rein materiellen Leistungen ist insgesamt positiv: Es erfolgte ein beachtlicher Abbau der Armut. Die Zahl der Menschen, die gegenwärtig in China dauerhaft unter dem offiziellen Bedarfsminimum leben, hat sich auf wahrscheinlich weniger als 100 Millionen verringert. Vor gut zehn Jahren waren es noch mehr als 200 Millionen. Die Grundbedarfsversorgung der chinesischen Bevölkerung ist heute besser als in anderen Ländern mit vergleichbarem wirtschaftlichen Niveau. Gegenüber der späten Ära Mao Zedong liegt das Versorgungsniveau um 25 bis 30 Prozent höher. Ferner schien erstmals seit den Anfängen der Volksrepublik eine in sich leidlich geschlossene Entwicklungsstrategie im großen und ganzen ihre Gültigkeit zu bewahren.
Erst ab 1987 wurde das zuvor verborgene Maß an politischen Widerständen aus verschiedenen Richtungen und Motiven deutlicher sichtbar. Dennoch schien eine wirkungsvolle Opposition innerhalb des politischen Entscheidungsprozesses nicht erkennbar. In der Zwischenzeit jedoch ist deutlich geworden, daß man von einem echten, langfristig stabilen Entwicklungskonsens innerhalb der politischen Elite nicht sprechen kann. Die unterschiedlichen Auffassungen über das Maß und die Geschwindigkeit des anzustrebenden wirtschaftlich-gesellschaftlichen Ordnungswandels machten sich immer negativer bemerkbar. Die Widersprüchlichkeit, die „zheteng zhengzhi“ (Politik der Schwankungen), ist weiterhin das alles überschattende Grundphänomen der Volksrepublik China. Wie der Volksmund sagt, gleicht der nationale Entscheidungsprozeß dem Mond, der zu Beginn und Mitte des Monats jeweils eine völlig andere Position am Firmament einnimmt. Bemerkenswert erscheint, daß Chen Yun, der heute als Mentor der Orthodoxie und „Feind der offenen Gesellschaft“ gilt, bereits im April 1979 während einer Arbeitskonferenz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei den Ablauf der Dinge vorausgesehen hatte. Er hatte damals offen die Überzeugung geäußert, daß der wirksamste Reformweg in der „sorgsamen Auslöll schung aller Hindernisse einschließlich des heiligen Etiketts“, d. h.des Herrschaftsmonopols der Partei, läge, nur um hinzuzufügen: „Aber soweit ich sehe, würde keiner unter uns eine derart sorgfältige Art, die Dinge zu lösen, akzeptieren. Also laßt uns nicht mehr darüber reden.“ Hinsichtlich des später tatsächlich eingeschlagenen Kurses begrenzter Reformen ahnte er voraus: „Drei bis fünf Jahre können wir auf unserem Wege vorausschauen. Ob es in'acht bis zehn Jahren Schwierigkeiten gibt, wage ich nicht zu sagen. Was danach kommt, so fürchte ich, es ist jenseits unserer Möglichkeiten, dagegen etwas zu tun.“
Kurzum, die Hoffnungen zu Beginn der „neuen historischen Etappe“ waren trügerisch. Zwei große historische Tendenzen sprachen gegen die Erfolgs-wahrscheinlichkeit begrenzten reformerischen Handelns. Zum einen sind in der Aufklärung neue gesellschaftliche Ideen geboren und mit der Französischen Revolution in die Welt gesetzt worden. Ursprünglich westlicher Herkunft haben diese Ideen eine universelle Wucht entwickelt, die Martin Kriele anschaulich als „demokratische Weltrevolution“ bezeichnet hat. Die weltweite Wirksamkeit dieser Ideen scheint zu beweisen, daß es neben der normativen Kraft des Faktischen auch die faktische Kraft des Normativen gibt. Es Sollte nicht übersehen werden, daß auch die offizielle Ideologie der Volksrepublik China aus dieser neuen Ideenwelt erwachsen ist, wenngleich auch nur als „illegitimer“ Ableger.
Die heutige Führung von Partei und Staat ist sich der aus ihrer Sicht gefährlichen Folgen der politischen Bewußtseinserweiterung in großen Teilen der chinesischen Gesellschaft durchaus bewußt: „Der Anstieg dieses falschen und reaktionären gedanklichen Trends der neuen Etappe ist letzten Endes das natürliche Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung. Kurz gesagt, der Konflikt zwischen den vier Grundprinzipien und der bürgerlichen Liberalisierung ist ein natürliches Phänomen, das im Prozeß der sozialistischen Modernisierung noch lange Zeit Bestand haben wird ... Die Geschichte folgt ihren eigenen Gesetzen, aber diejenigen, die die Lehrbücher ohne Verständnis lesen, und diejenigen, die sich der engen Sicht der Bourgeoisie hingeben, können die Gesetze der Geschichte niemals verstehen . . . Die Entwicklung der Welt hin zum Sozialismus beansprucht eine ganze geschichtliche Periode, und der Prozeß wird natürlich irreguläre und komplexe Phänomene aufweisen, und er wird unweigerlich Umwege gehen und Rückschläge erfahren. Genauso soll die Geschichte sein, und die Sicherheit und Regelmäßigkeit der Geschichte wird durch solche irregulären Erscheinungen, Umwege und Rückschläge widergespiegelt.“ Auf der Basis dieses „tiefen geschichtlichen und wissenschaftlichen Gedankenguts“ müsse alles unternommen werden, um die weitverbreiteten „Lobpreisungen und Verehrungen des Kapitalismus“ zu bekämpfen und sie als Ausdruck „ideologischer Verwirrung“ kenntlich zu machen.
Zum anderen sieht sich der chinesische Subkontinent seit mindestens 130 Jahren einem langwierigen, konfliktreichen Modernisierungsprozeß unterworfen. Gleich wie man „Modernisierung“ zu definieren gedenkt — die sozialwissenschaftliche Diskussion hat nicht eben zu größerer Klarheit beigetragen —, wesentlich ist das Erleben und Erleiden einer totalen, bruchhaften Umgestaltung der Gesellschaft, ihrer materiellen, politisch-sozialen und geistigen Grundlagen unter äußerem und innerem Zwang. Die existentiellen Herausforderungen, denen sich China seit Jahrzehnten ausgesetzt sieht, wirken auf die gesamte chinesische Gesellschaft. Die bäuerliche Bevölkerung ist von ihnen, bewußt oder unbewußt, ebenso betroffen wie die Führungsschicht des Landes. Das darf jedoch nicht zu dem Fehlschluß verleiten, die Antworten auf diese Herausforderungen würden ebenfalls von der gesamten Gesellschaft gegeben. Sie werden im wesentlichen „elitespezifisch“ gelöst. Dies gilt um so mehr, als die ideologisch-bürokratische Ordnung der Volksrepublik China auf die Herausforderungen nicht bloß zu „reagieren“ vorgibt, sondern den Anspruch erhebt, den Wandel nach zukunftsgewissen Leitbildern aktiv zu gestalten, d. h. die Gesellschaft in der Praxis auf einen Weg zu zwingen, den sie aus eigenen Antrieben nicht beschritte.
Es mag sein, daß die chinesische Revolution anfänglich ihre Dynamik „von unten“ erhielt. Später mußte sie jedoch „von oben“ fortgesetzt werden. Innerhalb der Führung führte dieser Zwang offensichtlich zu permanenten Grundsatzauseinandersetzungen zwischen denjenigen, die sich mit der Realität bis zu einem gewissen Grad arrangieren wollten, und denjenigen, die weiter auf dem Primat des Ideologischen verharrten. Wie bereits erwähnt, diese Grundschwäche schien während der achtziger Jahre annähernd überwunden. Der Schein trog, wie spätestens die Ereignisse vom April/Juni 1989 beweisen. Die chinesische Führung ist gegenwärtig weder entschlossen noch stark genug, um dem selbstgestellten Modernisierungsauftrag nachzukommen, geschweige denn konstruktive Anstöße zur Umgestaltung der politischen Gesellschaft des Landes zu geben. Es herrscht wieder, wie die Bevölkerung meint, ein weitverbreiteter „Hang zum hohlen Geschwätz“ vor, der sich durch „Zustimmung und Lobpreisung der Reformen auszeichnet, aber durch mangelnde Entschlossenheit bei konkreten Problemen. Gleich welche Beschlüsse gefaßt werden, es wird nicht gehandelt.“
Diese Erfahrungsgewißheit der chinesischen Bevölkerung verleitet zu der Prognose, daß auf der kommenden 7. Plenartagung des XIII. ZK Ende diesen Jahres erneut die „Quadratur des Kreises" beschlossen wird: Die Reformen werden „vertieft“, der Trend zur „friedlichen Evolution nachhaltig bekämpft“, die „vier Grundprinzipien entschlossen aufrechterhalten“ (d. h. Aufrechterhaltung des sozialistischen Weges, des Marxismus-Leninismus — Mao-Zedong-Ideen, der demokratischen Diktatur des Volkes und der Führung durch die Partei) und die „Politik der Öffnung fortgesetzt“. Diese zu erwartenden Ankündigungen entsprechen dem größten aller Gefälle Chinas, dem Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Abweichend vom „obligaten Optimismus“ der Parteikonferenzen haben kritische Reformer, so z. B.der führende Wirtschaftswissenschaftler Dong Fureng, ihre Besorgnis geäußert: „Wenn es in den nächsten Jahren schlecht läuft, könnte China wie die Länder Osteuropas enden. die von einer ineffizienten, halbreformierten Wirtschaft geplagt werden.“
Große Teile der chinesischen Bevölkerung scheinen ähnliche Befürchtungen zu hegen. Ein Indiz hierfür ist die weithin beklagte „Kaufzurückhaltung“. Man muß die geringe Kaufbereitschaft seit Mitte 1989 nicht unbedingt als spezifische Form des politischen Protestes ausgeben, aber sie spiegelt in jedem Fall das mangelnde Vertrauen in einen positiven Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung während der nächsten Jahre wider.
II. Zwei Gesellschaftsentwürfe
In mehr als einer Hinsicht lebt China gegenwärtig „zwischen den Zeiten“. Das Vertrauen der achtziger Jahre ist verlorengegangen. Das Regime hat seine Autorität endgültig verloren, und zugleich mit dem Protest scheint auch die allgemeine Aufbruchstimmung der frühen Reformjahre niedergeschlagen zu sein. Ferner ist die Führung im Hinblick auf die großen sachlichen Weichenstellungen in sich gelähmt. Zuviel Energie wird durch die „Selbstobservierung“ zwischen den verschiedenen Fraktionen verbraucht. Hierin liegt wohl der Hauptgrund, warum der politische Entscheidungsprozeß, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, merkwürdig substanzlos wirkt. Keine der erkennbaren Gruppierungen weiß wirklich, was sie will — nur, was es zu verhindern gilt.
Auch für die Gesellschaft insgesamt scheint „Apathie“ das treffendste Attribut zu sein. Enttäuschung, der Wunsch nach Rückzug ins Private und Scheinruhe bestimmen das Klima, nicht offener Widerstand. Zwar ist der Führung die Macht im Sinne der Ermächtigung durch die Gesellschaft weitgehend entzogen, aber nicht die Mittel der Gewalt. Alles spricht dafür, daß auf Jahre hinaus eine politisch-gesellschaftliche Konstellation bestehen wird, in der Gehorsam erzwungen werden kann, aber nicht Überzeugung. Auf Dauer jedoch ist ein solcher „Zwischenzustand“ nicht aufrechtzuerhalten. Das China von 1990 ist nicht das China von 1950, nicht einmal das China von 1980. Während der letzten zehn Jahre ist soviel ausländisches (westliches)
Gedankengut in das Land hineingetragen worden wie allenfalls während der großen Aufbruchzeit der zwanziger Jahre. Vom Anspruch her stehen heute zwei miteinander nicht zu vereinbarende „Gesellschaftsentwürfe“ nebeneinander: der reale Entwurf des Parteistaates und seiner „geschlossenen Gesellschaft“ sowie der (noch) nicht reale Entwurf der „offenen Gesellschaft“. Letzterer nährt seine Leitvorstellungen nicht nur aus der politischen Ideengeschichte Westeuropas und Nordamerikas, sondern auch — was psychologisch weitaus wichtiger ist — aus den jüngsten Demokratisierungsprozessen in Südkorea und Taiwan sowie aus der demokratischen Ordnung in Japan.
Der real existierende ideologisch-bürokratische Herrschaftstypus geht von der grundlegenden Maxime aus, daß der politische Entscheidungsprozeß die ausschließliche Domäne der etablierten „politischen Gesellschaft“ sei. Die Gesamtgesellschaft hat ein Recht auf Wohlfahrt, nicht jedoch auf Partizipation. Unter politischer Gesellschaft sind jene Segmente der Bevölkerung zu verstehen, deren Interessen im politischen Gestaltungsprozeß zumindest indirekt berücksichtigt werden müssen, da keine noch so mächtige Führung dauerhaft gegen sie regieren kann. Diese politische Gesellschaft umfaßt derzeit insgesamt etwa 40 Millionen Kader — chinesisch: ganbu, d. h. „handelnde Elemente“. Diese Ganbu-Gesellschaft läßt sich treffend als „Transmissionsschicht“ beschreiben. Ihr obliegt es. politische Entscheidungen und Maßnahmen an Ort und Stelle in konkretes Handeln umzusetzen bzw. zu kontrollieren. Niemand, der nicht zu dieser Gesell-schäft gehört, kann in die politische Elite Chinas im engeren Sinne aufsteigen. Im Vergleich zur gesamten politischen Gesellschaft erscheint die eigentliche politische Elite des Landes verhältnismäßig klein. Etwa 100 000 Mitglieder, weniger als 0, 1 Prozent der Gesamtbevölkerung, die gemeinhin als Führungskader von Partei, Armee, Zentral-staat und Provinzen tätig sind, gehören ihr an. Innerhalb der politischen Elite fungiert eine nationale Spitzenelite von weniger als 1 000 Personen als organisatorischer Kem, darunter etwa 50 aktive Spitzenführer (für die Linienpolitik zuständige „Gene-
ralisten" und Leiter der großen Ressortbürokratien).
Die personelle Basis einer solchen geschlossenen politischen Gesellschaft ist eindeutig zu schmal, um den umfassenden Wandel des Landes erfolgreich zu steuern. Dennoch wehrt sie sich mehrheitlich gegen eine Erweiterung der eigenen Basis, weil ihre Mit-glieder den Verlust der privilegierten Stellung gegenüber der Intelligenz befürchten. Die vertagte Aufwertung der Intelligenz, d. h. das Auseinander-klaffen von nationalem, gesellschaftlichem Sachverstand und politischer Entscheidungsgewalt, stellt die wahrscheinlich folgenschwerste Fehlleistung im bisherigen Modernisierungsprozeß der Volksrepublik China dar. Die als Reformkräfte etikettierten Mitglieder der politischen Gesellschaft haben nicht zuletzt aus diesem Grund während der achtziger Jahre immer wieder den Zwang zur Öffnung propagiert. Sie haben die aus ihrer Sicht verhängnisvollen Phänomene der „Fossilierung" und „Verknöcherung“ beklagt. Aber ihre Position ist heute nicht nur durch die Ereignisse vom April/Juni 1989 in China selbst geschwächt, sondern auch durch die Vorgänge in Osteuropa. Von Seiten der Verteidiger der Orthodoxie wird wohl zu Recht vorgebracht, daß politische Reformen in letzter Konsequenz dazu führen, die eigene Herrschaftsposition „hinwegzureformieren“. Dieses Dilemma hat zu einer nachhaltigen Schwächung der Reform-front geführt. Viel geistige und politische Energie ist während der letzten eineinhalb Jahre auf die Suche nach einem Ausweg verschwendet worden. Ein solcher Ausweg ist nicht in Sicht.
Die mangelnde Beteiligung der Intelligenz am Modernisierungsprozeß des Landes stellt nur einen Teil der problematischen Natur der chinesischen Führungsgesellschaft dar. Insgesamt ist der Personenkreis mit wirklich qualifizierter Ausbildung weitaus zu gering. Zwar wurde von Seiten der Führung während des gesamten letzten Jahrzehnts nahezu ritualhaft betont, daß „die Partei die Intelligenz braucht. . . Ohne die aktive Teilnahme der Intellektuellen besteht keine Hoffnung, daß die Sache der Partei Erfolg hat.“ Aber in der Praxis ist das Erziehungs-und Ausbildungswesen weit hinter den Anforderungen der Entwicklung zurückgeblieben. Zur Zeit verfügt China nur über rund 20 Millionen Personen mit höherer Ausbildung, was einem Anteil von weniger als nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Zudem ist ein Großteil dieses Personenkreises bereits deutlich älter als 60 Jahre. Selbst im modernen Sektor der chinesischen Wirtschaft verfügt allenfalls jeder sechste bis siebte Beschäftigte über eine qualifizierte Ausbildung. Eine baldige Besserung ist nicht in Sicht, da aufgrund der ungünstigen Erfahrungen der letzten Jahre gegenwärtig ein ausgesprochen geringes Lerninteresse zu verzeichnen ist — ein Bruch mit der klassischen Lerntradition Chinas. Auch die materielle Realität der Schichten, die für den Modernisierungsprozeß von besonderer Bedeutung sind, sieht verhältnismäßig dunkel aus. Schlechte Arbeitsbedingungen und niedere Einkommen sowie mangelnde Möglichkeiten freier Berufswahl sind allgemein verbreitete Phänomene, die keiner kurzfristigen Lösung zugänglich sind.
Ein weiterer für die Zukunft nicht zu unterschätzender Problembereich resultiert aus dem erheblichen Kontrollverlust der Führung über die „Mobilität“ der Gesellschaft. Jahrzehntelang hatte sich China gegenüber anderen großen Entwicklungsländern durch die außergewöhnliche Fähigkeit von Politik und Verwaltung ausgezeichnet, die eigene Gesellschaft trotz deutlichen Bevölkerungswachstums gleichsam zu „arretieren“. Der Anteil der städtischen Bewohner an der Gesamtbevölkerung blieb — im Kontrast zu den Verstädterungstendenzen in allen Entwicklungsländern — nahezu gleich; die Zahl der Personen, die sich außerhalb ihres registrierten Wohnorts bewegen konnte, war extrem klein. Chinas Landschaft glich einem Muster von Millionen Zellen, zwischen denen kein eigendynamischer Austausch stattfand. Diese Situation hat sich während der letzten Jahre grundlegend verändert. Der Anteil der städtischen Bewohner an der chinesischen Bevölkerung ist sprunghaft gestiegen. Diese Tatsache ist zwar bis zu einem gewissen Maß auf statistische Veränderungen zurückzuführen, aber zum überwiegenden Teil verbirgt sich hinter den nüchternen Zahlen ein ländlicher Abwanderungsdruck, der nur noch begrenzt zu steuern ist. In den großen Millionenstädten des Landes, so vor allem in Peking und Shanghai, halten sich zur Zeit nach Schätzungen jeweils mehr als eine Million nichtregistrierte Personen auf. In der wirtschaftlich prosperierenden südlichen Provinz Guangdong spricht man von bis zu acht Millionen „Gastarbeitern“ aus allen Teilen des Subkontinents, und insgesamt belaufen sich die Schätzungen einer nicht mehr in den jeweiligen Produktionseinheiten integrierten „Wanderarbeiterreserve“ auf bis zu fünfzig Millionen.
Diese Wanderungswellen sind nicht zuletzt auf den Egoismus der Provinzen und anderer regionaler Einheiten zurückzuführen, die bei Abwanderungen aus ihren eigenen Territorien offensichtlich „wegschauen“, läßt sich auf diese Weise doch eine Minderung der eigenen Beschäftigungs-und Bevölkerungsschwierigkeiten erreichen. Entgegengesetzt sieht die Situation bei den Zuwanderungen aus, von denen naturgemäß vor allem die wirtschaftlich stärkeren Provinzen betroffen sind. Hier bemüht man sich mit allen erlaubten und auch unerlaubten Mitteln um eine Abschottung der eigenen Grenzen, die als „Mentalität des Zäuneziehens“ bezeichnet wird. Die Führungen der jeweiligen Regionen fühlen sich zu diesem Abwehrverhalten allein schon deswegen gezwungen, weil die Zuwanderung der neuen „Rivalen“ um begrenzte Beschäftigungsmöglichkeiten zu nicht unerheblichen Unruhen unter den eigenen Bevölkerungen geführt hat. Ein konstruktiver Ausweg läge u. a. in einer wirtschaftlichen Reformoffensive nach dem Vorbild der mitachtziger Jahre, in denen in arbeitsintensiven Bereichen neue Beschäftigungsangebote in zweistelliger Millionenhöhe entstanden waren.
Eine solche Offensive ist jedoch zur Zeit aufgrund der bereits beschriebenen Handlungsunfähigkeit der Führung nicht zu erwarten. Die gegenwärtige Leitlinie „Verbesserung des wirtschaftlichen Umfeldes und Ausrichtung der wirtschaftlichen Ordnung“ stellt nichts anderes als eine Umschreibung des Reformstillstandes dar. Sie ist in wesentlichen Grundzügen ausgesprochen vergangenheitsorientiert und postuliert eindeutig den Vorgang befehls-planerischen Handelns. Die großen Wachstums-quellen des Reformjahrzehnts — neben der Landwirtschaft vor allem die privatwirtschaftliche und kleinkollektive Produktion — bleiben auf nicht absehbare Zeit in ihrem Fluß gehemmt. Anders gesagt, die Art und Weise, in der gegenwärtig die Partei-und Staatsverwaltungen das bescheidene Unternehmertum außerhalb des Planbereichs zu „disziplinieren“ vermögen, ist in China mit dem magischen eisernen Kopfband verglichen worden, das den berühmten Affen Su Wukung schmerz-voll in den Gehorsam zwang, wenn er den Unwillen seines buddhistischen Meisters erregte. Der Druck des eisernen Bandes ist derzeit deutlich spürbar. Das Verhältnis zwischen befehlsplanerischer Politik und privatorientierter Wirtschaft ist von orthodoxer Seite (Chen Yun) anschaulich mit der soge-nannten „Vogelkäfiganalogie“ umschrieben worden. Es darf dem Vogel — nicht plangebundene Wirtschaft — nicht erlaubt werden, frei zu fliegen. Vielmehr müsse er sich in einem Käfig bewegen, dessen jeweilige Größe bzw. Enge von Seiten der Politik bestimmt werde. Hinter diesem scheinbar so einfachen Bild verbergen sich tiefe Auffassungsunterschiede innerhalb der politischen Gesellschaft Chinas.
III. Die Angst vor dem Föderalismus
Die mit Blick auf die Zukunftsherausforderungen wohl folgenreichste Erscheinung im heutigen China ist der wachsende Abstand im Modemitätsniveau der verschiedenen chinesischen Regionen und ihrer örtlichen Führungen. Es ist kein Zufall, daß die Führungskader der vier wirtschaftlichen Schlüssel-gebiete Chinas während der letzten zehn Jahre ein wesentlich „liberaleres“ Wirtschafts-und Gesellschaftsklima erzeugt oder zumindest geduldet haben. Ohne diese Duldung wären die geistigen und materiellen Entwicklungsschübe in diesen Gebieten nicht vorstellbar gewesen. Im Gegensatz dazu läßt sich für die großen Rückstandsgebiete des Landes wenig Bewußtseinsveränderung feststellen. Während in der bereits erwähnten Provinz Guangdong, aber auch in Fujian und im unteren Changjiang-Gebiet seit Ende der siebziger Jahre Entwicklungsleistungen vollbracht wurden, die fast an den Aufbruch der „vier kleinen Tiger“ Ostasiens während der sechziger Jahre erinnern, werden weite Hinterlandgebiete durch das Vorherrschen einer bloßen Subsistenzwirtschaft gekennzeichnet. Kommerzialisierungstendenzen sind dort ausgesprochen gering. Die große Mehrheit der Kreise und Gemeinden rangiert nur wenig über oder sogar unterhalb der offiziellen Armutslinie. „Kleinbäuerliche Mentalität“, „engstirniges Sicherheitsdenken“ und eine Keine-Experimente-Haltung prägen das Lebensverständnis der Bevölkerung und vor allem der örtlichen Führungen. Eine integrierte Industrie-wirtschaft ist bis heute nicht gegeben, und die Produktivität der vorhandenen staatlichen Industrie-betriebe ist während der letzten Jahre gesunken. Ferner ist es — besonders verhängnisvoll — zu permanenten Abwanderungen entwicklungsnotwendiger Kräfte in die fortgeschrittenen Gebiete des Subkontinents gekommen.
Der einzig mögliche Ausweg aus diesem Dilemma wäre ein politischer, wirtschaftlicher und kultureller Föderalismus. Man müßte das Gebot eines „Chinas der verschiedenen Geschwindigkeiten“ anerkennen. Bisher lassen sich jedoch keine wirklichen Anzeichen registrieren, daß die politische Gesellschaft und die Elite des Landes auf dem Wege zu einer solchen Bewußtseinserweiterung sind. Nach wie vor wird an der Maxime festgehalten, die nationale Modernisierung sei ein im wesentlichen materielles Problem, das allein von einer im Denken einheitlichen und im Handeln zentralistischen Führung überwunden werden kann. Bezeichnend für dieses vereinfachende Entwicklungsbewußtsein ist die Losung von den „vier Modernisierungen“. Die ganze Komplexität des Modernisierungsprozesses wird nahezu „mechanisch“ in vier große Teilbereiche (Landwirtschaft, Industrie, Erziehung und Wissenschaft, Verteidigung) verlegt und auf verwalterisch-technische Maße reduziert.
Dem von der politischen Gesellschaft Chinas erhobenen Monopolanspruch auf die Gestaltung des Landes ist während der letzten Jahre, wie bereits erwähnt, ein alternativer Gesellschafts-und Entwicklungsentwurf entgegengestellt worden. Die Bruchstellen, Schwächen und Widersprüche des ideologisch-bürokratischen Herrschaftstypus haben nicht unwesentlich zur Stärkung abweichender Zukunftsvorstellungen beigetragen — eine Tatsache, die selbst von kritischen Repräsentanten der politischen Führung unter dem Schlagwort „Vertrauenskrise der Partei“ beklagt wird. Entscheidender noch war augenscheinlich die (begrenzte) Öffnung des Landes zum Westen hin. Trotz aller Restriktionen ist es nicht gelungen, das Vordringen westlicher Ideen und Werte auf die modemisierungstechnisch erwünschten Geltungsbereiche zu beschränken. Die Vorstellung, geistige und materielle Außeneinflüsse „hoheitlich“ voneinander trennen zu können, ist eine der durchgängigen Illusionen aller chinesischen Führungsgenerationen seit mehr als 100 Jahren. „Zhong ti, xi yong“ („China stellt die Substanz, der Westen die äußeren Verfahrensweisen“) war die Formel, aus der sich die Vorstellung von einer höheren „geistigen Kultur“ chinesischen Ursprungs und einer niederen „materiellen Zivilisation“ westlicher Herkunft entfaltete. Das Eindringen westlicher Vorstellungen in den Bereich der eigenen, vermeintlich höheren Kultur wurde stets als „Entartung“ verurteilt. Die Partei-und Staatsführer, die während der achtziger Jahre lautstark den „Kampf gegen geistige Verschmutzung“ und „gegen bürgerliche Liberalisierung“ einleiteten, gehören zu einer langen Traditionsreihe. Dennoch besteht ein entscheidender Unterschied zu früheren Zeiten. Immer größere Kreise der chinesischen Gesellschaft sind sich bewußt geworden, daß diese „Tradition“ nicht länger haltbar ist. In früheren Jahrzehnten, insbesondere während der langen Phase der Kultur-revolution, verhinderte die alles erdrückende ideologische Quarantäne das Nachdenken über abweichende Normen und Werte. Es fehlte das Wissen über andere gesellschaftliche Welten. Allenfalls einige wenige ältere Intellektuelle, die vor der Gründung der Volksrepublik China aufgewachsen waren, verfügten über entsprechende geistesgeschichtliche Kenntnisse.
Dieser Zustand hat sich während der achtziger Jahre grundlegend geändert. Nicht nur haben in der Zwischenzeit annähernd 100 000 chinesische Studenten und Wissenschaftler längere Zeit in westlichen Ländern gelebt, gelernt und geforscht, sondern auch in China selbst haben sich westliche Wirtschafts-, Gesellschafts-und Kulturvorstellungen geradezu strömungsartig verbreitet. Seit Ende 1986 sind die Forderungen nach der Verwirklichung einer demokratischen Ordnung nach westlichem Vorbild immer offener vorgetragen worden. Sie haben eine wachsende „Generationslücke“ in der chinesischen Gesellschaft sichtbar gemacht. Nach zahlreichen, bis 1988 veröffentlichten Meinungsbefragungen befürwortete eine deutliche Mehrheit aller Chinesen im Alter bis zu 35 Jahren die Aufhebung des Herrschaftsmonopols der Partei Eine ebenso große Mehrheit sah die Verwirklichung demokratischer Freiheiten einschließlich der Transparenz des politischen Entscheidungsprozesses und der Unabhängigkeit der Medien als „unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg der vier Modernisierungen“ an.
Viele westliche Beobachter, die in China offenbar ein „ewiges unwandelbares Gesetz“ am Werk sehen, haben gegen diese fundamentalen neuen Entwicklungen in der chinesischen Gesellschaft zwei — wie sie meinen — harte Einwände vorgebracht: Zum einen sei die chinesische Gesellschaft aufgrund ihrer traditionellen Despotiehörigkeit nicht demokratiefähig. Zum anderen interessiere sich die große bäuerliche Mehrheit der Bevölkerung nur für wirtschaftliche Fortschritte, nicht jedoch für die fremden politischen Ideale. Es sei nur eine lautstarke, aber kleine Minderheit, die sich in ihrer politischen Vorreiterrolle selbst isoliert habe. Es mag in der Tat zutreffen, daß der ländliche Raum Chinas von den Auseinandersetzungen der städtischen Gesellschaft relativ unberührt geblieben ist. Daraus darf man jedoch nicht den Umkehrschluß ziehen, daß sich die Partei-und Staatsführung auf eine große, loyale Bevölkerungsmehrheit stützen könne. Über Jahre hinweg ist das Potential an Unzufriedenheit in den Dörfern angewachsen. Hunderttausende von Fällen spontaner bäuerlicher Gewaltentladung sind während der letzten Jahre registriert worden. Zwar ist es nicht zu Formen geschlossenen Widerstandes gekommen, aber vieles spricht dafür, daß der ländliche Raum im Blick auf mögliche städtische Umwälzungen zumindest „neutral“ bliebe.
Die Auseinandersetzungen um die zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Organisationsformen sind Auseinandersetzungen zwischen zwei verschiedenen Minderheiten, die Mehrheit wartet ab. Das Argument, die chinesische Gesellschaft sei strukturell nicht demokratiefähig, ist alt. Es basiert auf dem geschichtlichen Urteil der frühen Jahrzehnte dieses Jahrhunderts. Es läßt jedoch sowohl die jüngsten Demokratisierungsvorgänge in Taiwan außer Acht als auch die gewaltigen Bewußtseinsveränderungen in der Volksrepublik China selbst. Die chinesische Gesellschaft von 1990 ist nicht mehr die Gesellschaft von 1920. Damit soll nicht gesagt werden, daß es bei Einführung partizipatorischer politischer Ordnungsformen während einer längeren gesellschaftlichen Lernphase nicht zu größeren Reibungsverlusten käme, aber es steht zu bezweifeln, daß diese Reibungsverluste verheerender wären als die jahrzehntelangen „Linienkämpfe“, die die politische Landschaft Chinas seit 1958/59 immer wieder verwüstet haben. Schließlich scheint der Vorwurf, die große Protestbewegung des Jahres 1989 habe keine eigenen konkreten Modellvorstellungen von der demonstrativ geforderten demokratischen Ordnung entwickelt, zumindest insofern an der Sache vorbeizugehen, als auch die politische Elite des Landes bis heute zu keiner Zeit zu einem echten Konsens über Richtung. Ausmaß und Geschwindigkeit des nationalen Wandels gelangt ist.
Der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich alle Beteiligten seit Gründung der Volksrepublik mühsam zu einigen vermochten, war die Erhaltung des eigenen Herrschaftsmonopols. Eine solche Bilanz ist angesichts der gewaltigen Entwicklungsprobleme Chinas nicht eben imposant.