war.
I. Die RAF in der ehemaligen DDR
Zwischen dem 6. und dem 18. Juni 1990 wurden neun ehemalige Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) in der DDR verhaftet. Sie hatten seit Jahren, zum Teil sogar schon seit 1980, in Ostberlin, Frankfurt/Oder, Magdeburg und an anderen Orten des ehemaligen kommunistischen Machtbereichs unter falschem Namen gelebt. Einige hatten geheiratet und Kinder bekommen. Alle gingen geregelter Arbeit nach.
Die Hauptabteilung XXII des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) hatte die Betreuung der früheren Terroristen übernommen, ihnen eine neue Identität verschafft und Arbeitsplätze besorgt. Das führte zu Spekulationen, daß das MfS mit Wissen oder auf Weisung der DDR-Regierung die Aktionen der RAF genutzt haben könnte, die Bundesrepublik Deutschland zu destabilisieren.
Die Haftbefehle gegen zwei RAF-Mitglieder (Ekkehard Freiherr von Seckendorf und Sigrid Sternebeck) waren u. a. damit begründet, daß sie bei Aktionen der RAF in den Jahren 1984 und 1985 mitgewirkt hätten. Zeugen hatten erklärt, daß sie in einem der Räuber bei einem Banküberfall am 26. März 1984 in Würzburg Ekkehard von Seckendorf erkannt hätten. Andere Zeugen glaubten, in Sigrid Sternebeck die Frau wiedererkannt zu haben, die den Pkw beschafft hatte, der bei dem Anschlag auf die US-Airbase in Frankfurt/Main am 8. August 1985 als Autobombe benutzt worden Eifrige Rechercheure hatten außerdem herausgefunden, daß Henning Beer sich Urlaub genommen hatte, als deutsche Terroristen einen Anschlag auf den amerikanischen Stützpunkt in Rota bei Cadiz/Spanien vorbereiteten. Die Schießerei zwischen den Terroristen und der spanischen Polizei, bei der die Vorbereitungen entdeckt wurden, fand am 18. Juni 1988 statt. Henning Beer war laut Arbeitsbuch vom 17. bis zum 20. Juni seinem Arbeitsplatz ferngeblieben. Als der Wagen des Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium, Hans Tiedtmeyer, am 19. September 1988 von RAF-Leuten beschossen wurde, hatte Henning Beer wieder frei. Vom 17. September bis zur Spätschicht am 20. September war er nicht an seinem Arbeitsplatz. Auch als Alfred Herrhausen am 30. November 1989 umgebracht wurde, erschien Beer nach journalistischen Beobachtungen drei Tage lang nicht zur Schicht
Ekkehard von Seckendorf und Sigrid Sternebeck haben für die Zeit, in der Zeugen sie angeblich als Mittäter von Aktionen der RAF gesehen haben wollen, ein Alibi. Nach den Erfahrungen von Fahndungsbeamten ist auf die Aussagen von Zeugen bei kurzfristigen Gewaltaktionen nur wenig Verlaß.
Henning Beer wird vermutlich ebenfalls entlastende Tatsachen für die Zeit vorbringen können, für die ihn Journalisten einer Mittäterschaft verdächtigen. Abgesehen davon mutet es geradezu abenteuerlich an davon auszugehen, daß Henning Beer von Neubrandenburg, wo er verhaftet wurde, für einen Tag nach Spanien geflogen sein könnte, um sich dort an den Vorbereitungen zu einem Sprengstoffanschlag zu beteiligen. Nach den bisherigen Erfahrungen hat die RAF ihre Aktionen immer sehr sorgfältig und damit langfristig vorbereitet. Der Anschlag gegen Karlheinz Beckurts am 9. Juli 1986 z. B. ist nach den Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes von dem dafür verantwortlichen Kommando „Mara Cargol" mindestens drei Monate lang vorbereitet worden. Die Phase zur Planung und Vorbereitung des Mordes an Alfred Herrhausen hat mit Sicherheit noch länger gedauert. Die Vorbereitungen für alle bisherigen Anschläge der RAF sind von dem jeweiligen Kommando kollektiv getroffen worden. Die Pläne wurden gemeinsam besprochen und beschlossen. Die einzelnen Aufgaben wurden auf die jeweils sachkundigen Mitglieder des Kommandos verteilt. Die Tat war bei allen Aktionen eine Gemeinschaftstat; den Erfolg konnte sich jeder zurechnen, den Mißerfolg mußte jedes Mitglied des Kommandos tragen. Es ist völlig ausgeschlossen, daß Henning Beer als Mitglied des Kommandos während der ganzen Vorbereitungsphase in der ehemaligen DDR seiner Arbeit nachgegangen sein könnte, um dann am Tage des Attentats in die Bundesrepublik einzureisen und hier gewissermaßen nur den Auslösungsmechanismus für die Bombe zu betätigen.
Die im Juni in der ehemaligen DDR festgenommenen RAF-Mitglieder sind aus dem Terrorismus ausgestiegen. Sie haben der Gewalt abgeschworen. Die Bekundungen des früheren Leiters der Hauptabtei-lung XXII, Generalleutnant Gerhard Neiber, den ehemaligen Terroristen sei die Staatsbürgerschaft der DDR und die neue Lebenslegende nur nach ihrer ausdrücklichen Zusicherung gegeben worden, in Zukunft von terroristischen Anschlägen abzusehen und die Beziehungen zur RAF abzubrechen sind glaubhaft.
Das Risiko, der RAF zu erlauben, das Hoheitsgebiet der ehemaligen DDR als Ruheraum oder gar als Operationsbasis zu nutzen, wäre zu groß gewesen. Bei einer derartigen Operation hätte der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, mit Sicherheit Erich Honecker, wahrscheinlich sogar das gesamte Politbüro, unterrichten und um entsprechende Genehmigung nachsuchen müssen. Die ehemalige DDR war auf dem Wege, in der Völkergemeinschaft weitere internationale Reputation zu gewinnen. Bei Bekanntwerden von Unterstützungshandlungen für deutsche Terroristen wäre dieser Prozeß abgebrochen worden. Darüber hinaus hätte die DDR-Regierung mit der Streichung sämtlicher westdeutscher Kredite und Zuwendungen aus Swing, Transitgebühren und den Präferenzen des mittelbaren Zugangs zur Europäischen Gemeinschaft rechnen müssen.
Umgekehrt ist es nicht vorstellbar, daß sich die RAF in Abhängigkeit zum MfS begeben hätte. Die RAF hat aufgrund ihres Selbstverständnisses „immer abgelehnt, für eine andere Organisation tätig zu werden, auch nicht als Kompensationsgeschäft für geleistete Hilfsmaßnahmen“ Der 1984 eingeleitete Versuch der RAF eine „westeuropäische Guerilla“ aufzubauen, wurde von ihr nur unternommen und weiterbetrieben, weil sie gegenüber ihren Bündnispartnern hoffte, den maßgebenden Einfluß zu behalten. Die Zusammenarbeit mit den italienischen „Roten Brigaden“ erschwerte sich, weil gerade dieser Punkt von den Italienern immer wieder in Frage gestellt wurde.
Was wollte die Stasi von den ehemaligen RAF-Leuten? Zunächst einmal ist jeder Geheimdienst — und das MfS war einer der besten Dienste — an Informationen über Systeme interessiert, die in die Politik hineinarbeiten oder hineinwirken könnten. Selbst späte Erkenntnisse über die Struktur, die Operationen und die Ziele der RAF aus den siebziger Jahren mußten für das MfS interessant sein. Die Befragungen der ehemaligen RAF-Mitglieder zu Beginn der achtziger Jahre wiederum ließen Rückschlüsse zu auf mögliche Veränderungen des Operationsbildes. Inge Viett etwa mußte noch aus der Zeit ihres Aufenthaltes in Paris über Zugänge verfügen, aus denen man vielleicht Informationen über die Aussichten einer „westeuropäischen Guerilla“ gewinnen konnte. Andere ehemalige Terroristen — vor allem Susanne Albrecht — hatten Verbindungen in den Nahen Osten. Über sie konnten Fäden geknüpft werden, die vor allem für die „Hauptverwaltung Aufklärung“ von Generalleutnant Markus Wolf von Interesse sein mußten. Dem Geheimdienst der DDR ging es im Nahen Osten nicht nur um die Gewinnung von Informationen, sondern auch um die Mehrung des Einflusses der DDR Ähnlich muß man auch die übergeordneten Interessen der UdSSR sehen, die das MfS in den achtziger Jahren noch zu berücksichtigen hatte. Die Sowjets registrieren schon seit geraumer Zeit Entwicklungen terroristischen Charakters in ihrem eigenen Herrschaftsbereich. Sie müssen zum Beispiel fürchten, daß sich der Fanatismus schiitischer Fundamentalisten in ihren moslemischen Provinzen ausbreitet. Möglicherweise hat das MfS den ehemaligen westdeutschen Terroristen auch deshalb Zuflucht gewährt, um seinen Bündnispartnern im KGB erklären zu können, welche Gruppen nach welchen Methoden operieren und welche Verbindungen zwischen europäischen und nahöstlichen Organisationen bestehen.
Die Tatsache, daß sich mehrere der in der DDR festgenommenen Terroristen inzwischen freiwillig in die Bundesrepublik haben verlegen lassen, spricht ebenfalls dafür, daß die RAF-Leute in der DDR mit der Organisation und den Aktionen ihrer ehemaligen Genossen nichts mehr zu tun haben wollen. Sowohl Susanne Albrecht als auch Silke Maier-Witt wollen von der jetzt gültigen Kronzeugenregelung in der Bundesrepublik Gebrauch machen. Werner Lotze hat erklärt, er rechne damit, „daß das in der Bundesrepublik für Aussteiger geltende Recht und die dort für Aussteiger entwickelten Programme angewandt werden“ Nach den in der Bundesrepublik entwickelten Vorschriften setzt dies allerdings voraus, daß auch Werner Lotze aussagen muß.
In diesem Zusammenhang bleibt der Vorwurf zu klären, daß die deutschen Sicherheitsdienste seit 1986 über Hinweise auf den Aufenthalt von RAF-Terroristen in der ehemaligen DDR verfügt hätten. Inzwischen ist bekannt geworden, daß dem Bundeskriminalamt in drei Fällen tatsächlich derartige Informationen vorlagen. Daneben gab es aber Hunderte von weiteren Informationen über den Aufenthalt von inzwischen in der DDR verhafteten RAF-Mitgliedern im Nahen Osten. Die westdeutschen Behörden sind auch den Hinweisen, die die DDR betreffen, nachgegangen. Weder Anfragen bei den Behörden der DDR noch eigene Recherchen führten zur Klärung. Das ändert natürlich nichts an der inzwischen gewonnenen Erkenntnis, daß das MfS Hilfestellung gegeben hat für Anschläge aus dem Bereich des internationalen Terrorismus gegen westdeutsche und amerikanische Ziele. Bekannt war schon seit dem Prozeß gegen Ahmed Hasi und Farouk Salameh am 26. November 1986 vor dem Landgericht in Berlin, daß der syrische Geheimdienst mit Wissen und Billigung des MfS den Anschlag gegen die Deutsch-Arabische Gesellschaft in Westberlin am 29. März 1986 organisiert und durchgeführt hatte. Nach den jetzt entdeckten Unterlagen steht fest, daß Libyen verantwortlich war für den Bombenanschlag auf die Westberliner Diskothek La Belle am 5. April 1986. Diese Operation wurde vom MfS nicht nur gebilligt, sondern auch unterstützt.
Spekulation aber sind wohl die Äußerungen des SPD-Abgeordneten Wilhelm Nöbel, Mitglied des Innenausschusses des Bundestages, nach denen eine „total abgeschottete“ Gruppe von Stasi-Mitarbeitern nicht nur RAF-Pensionären eine neue Heimat besorgt, sondern auch aktive RAF-Kader logistisch unterstützt und für sie Bekennerschreiben verfaßt hätte -Bisher hat Nöbel keine Unterlagen für seine Behauptung vorgelegt.
Für die derzeit noch operierende RAF ist sowohl die Tatsache, daß bekannte Genossen in verhältnismäßig hoher Zahl aus dem Kampf ausgeschieden sind, eine propagandistische Niederlage, als auch die Tatsache, daß diese Genossen jetzt verhaftet werden konnten. Die Bereitschaft einiger Gruppenmitglieder, jetzt als Kronzeuge aussagen zu wollen, gleicht dem Eingeständnis einer verlorenen Schlacht.
Der Rückblick auf die vergangenen Jahre des Kampfes und die inzwischen gewonnene Erkenntnis, daß die RAF-Kader eine unerwartet hohe Bereitschaft zum Ausstieg und zur Resignation gezeigt haben, weist auf Risse in der Struktur der RAF und auf Differenzen zwischen den einzelnen Organisationsringen. Die RAF hat ihre Organisation mehrmals zum Teil auch deshalb geändert, weil sie dadurch nach Niederlagen neue Energien zu gewinnen hoffte.
II. Änderungen in der Organisation
In der Erstphase der RAF-Anschläge zwischen 1970 und 1972 lagen Initiative, Befehlsgewalt und Kontrolle bei den Aktivisten aus dem Kommando-bereich. Als die Führungsgruppe (Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan Carl Raspe) im Juni 1972 inhaftiert worden war, verlagerte sich der hierarchische Schwerpunkt auf die Gefangenen. Die sich gleichzeitig entwickelnde Fixierung der Aktionen der RAF auf die Freipressung ihrer Gefangenen begrenzte den bewaffneten Kampf.
Mit dem Scheitern der Großoperationen des Jahres 1977 (Ponto, Buback, Schleyer) veränderte sich auch das Konzept der RAF. Bis zur Ermordung von Hanns Martin Schleyer zielte die RAF-Strategie auf die Entführung von Persönlichkeiten aus Politik, Industrie und Wirtschaft, um dadurch den Staat unter Druck zu setzen und ihre Gefangenen freizupressen. Nach 1977 hat die RAF keine erpresserischen Geiselnahmen mehr durchgeführt. Alle folgenden Operationen waren nur auf die Tötung von Repräsentanten des „Militärisch Industriellen Komplexes“ (MIK-Strategie) und von Vertretern des „Repressionsapparates“ gerichtet. Mit dieser Entwicklung ging eine erneute Umschichtung der Organisationsstruktur einher.
Im Jahre 1982 versuchte die RAF erstmals, den bewaffneten Kampf auf eine breitere Basis zu stellen und ideologisch zu begründen. Im Mai 1982 tauchte eine neue strategische Schrift der RAF auf mit dem Titel „Guerilla, Widerstand und anti-imperialistische Front“. In dieser Schrift erklärte die RAF, es sei möglich und notwendig, einen neuen Abschnitt in der revolutionären Strategie zu entfalten. Guerillas, militante und politische Kämpfer sollten als „integrale Komponenten“ zusammenkommen. Guerilla sei der bewaffnete Kampf aus der Illegalität; die Militanten hätten ihre Anschläge vorwiegend aus der Legalität auszuführen; die politischen Kämpfer sollten Widerstand praktizieren. Das gemeinsame Ziel sei der Aufbau einer antiimperialistischen Front. In dieser Organisation sei die Trennung zwischen den verschiedenen Linien aufgehoben.
Neben der strategischen Zielsetzung wurde aus diesem Papier auch die neue Organisationsstruktur der RAF deutlich. Zentrum der Organisation schien zunächst nach wie vor der Bereich der Gefangenen zu sein. Die Operationen wurden von „Kommandos“ durchgeführt, einer Ebene, die damals (wie heute) nur 15 bis 20 Personen umfaßte. Dem Kommandobereich vorgelagert waren die „Illegalen Militanten“, die etwa 200 Mitglieder umfaßten. Der letzte Kreis der RAF, der in dem Papier als „die politischen Kämpfer“ gekennzeichnet wurde, ist das weitere Umfeld oder der „legale Arm“ der RAF. Er umfaßte Anfang der achtziger Jahre rund 400 Unterstützer und Sympathisanten.
Im Jahre 1984 allerdings zeigte sich, daß die Gefangenen nicht mehr allein und unbedingt an der Spitze der RAF-Hierarchie standen. Bei der Festnahme von sechs Kernmitgliedern im Juli 1984 in Frankfurt und Karlsruhe wurde ein „Planungs-und Diskussionspapier“ gefunden, dessen Inhalt offensichtlich mit den inhaftierten RAF-Mitgliedern besprochen worden war, aber nur in Nebensächlichkeiten korrigiert werden konnte. Die Federführung in den Planungen der künftigen Aktionen und die Leitung der Diskussionen um die Strategie der Zukunft lagen eindeutig nicht mehr bei den Gefangenen, sondern bei den „Kommandos“ Die Materialien über „Planung und Diskussion“ bildeten die theoretische Grundlage für die „Offensive 84/85“. Am 4. Dezember 1984 begannen die Gefangenen einen Hungerstreik. Die „Illegalen Militanten“ führten währenddessen insgesamt 15 Sprengstoff-und 23 Brandanschläge durch. Die Hälfte davon richtete sich gegen militärische Objekte. Das „Kommando Patsy O’Hara“ tötete den deutschen Rüstungsmanager Ernst Zimmermann in München, nachdem ein „Kommando Elisabeth van Dyck“ der „Action Directe“ (AD) den französischen General Rene Audran in Paris erschossen hatte. Nach der Ermordung von Zimmermann am 1. Februar 1985 brachen die RAF-Gefangenen den Hungerstreik ab.
Die Verschiebung von Initiative und Entscheidung auf die Ebene der Kommandos dauerte zunächst an. Sie wurde zuletzt erkennbar bei der „Offensive 86“. Davor kam es zu einem deutlichen Verlust an Sympathie und Unterstützung.
Am August 1985 verübte die RAF einen schweren Bombenanschlag auf den amerikanischen Luft-waffen-Stützpunkt am Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt. Sie brachte eine Autobombe zur Explosion, tötete zwei Amerikaner und verletzte elf Passanten. Am 7. August hatten zwei Mitglieder der RAF den Soldaten amerikanischen Edward Pimental mit einem Genickschuß ermordet, um seine Identifizierungskarte zu rauben. Mit ihr erschlich sich die RAF den Zugang zu der abgesperrten Air-Force-Base. In dem späteren „Bekennerbrief“ sagte die RAF, es habe sich um eine gemeinsame Aktion mit der AD gehandelt.
Schon die Ermordung von Ernst Zimmermann war bei der Neuen Linken auf Unverständnis gestoßen.
Der Genickschuß-Mord an dem amerikanischen Soldaten Edward Pimental führte zu erheblichen Diskussionen auch im legalen Umfeld der RAF.
Die Kommando-Ebene der RAF sah sich gezwungen, zu dem Attentat in einem besonderen Papier Stellung zu nehmen; sie erkannte an, daß der Mord ein „Fehler“ war 8).
Der Verlust der Resonanz unter den Linken und die verzweifelten Versuche nach neuen revolutionären Subjekten führte die RAF zu einer weiteren Verwischung zwischen der politischen Wirklichkeit und ihren Vorstellungen. Die Diskussion um eine zukunftsweisende Strategie des bewaffneten Kampfes sowie über die daraus zu folgernden Methoden revolutionärer Taktik gingen weiter bis zum „Frankfurter Kongreß“, den Anhänger der RAF und die Autonome Linke am 1. und 2. Februar 1986 veranstalteten. Auf dieser Zusammenkunft kritisierten sowohl die Autonomen als auch Teile der RAF-Sympathisanten massiv die Erschießung von Edward Pimental. Sie kennzeichneten den Mord als Akt „revolutionärer Selbstjustiz“
Trotz dieses Verlustes an Zustimmung hielt die RAF an ihrem strategischen Konzept fest. Sie ging weiter davon aus, daß die bewaffnete Aktion als „Propaganda der Tat“ neue Anhänger mobilisieren könne. Dementsprechend führte sie auch nach dem Höhepunkt der Kritik von Seiten der Neuen Linken weitere Morde durch. Am 9. Juli 1986 startete die RAF die „Offensive 86“ und ermordete das Siemens-Vorstandsmitglied Karlheinz Beckurts. Am 10. Oktober 1986 ermordeten zwei RAF-Mitglieder den Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, Gerold von Braunmühl.
Kernpunkt des Selbstbezichtigungsschreibens der RAF zur Ermordung von Braunmühls war die Forderung zum Aufbau der „Revolutionären Front in Westeuropa“. Dabei wird zunächst der Eindruck erweckt, als ob diese Front schon Wirklichkeit sei. Auf der anderen Seite begründen die Verfasser immer wieder die Notwendigkeit, daß die Revolutionäre in Westeuropa zusammenrücken müßten. Der Gegner, die „Bourgeoisie“, habe sich nämlich schon formiert: Die „Europäische Politische Zusammenarbeit“ (EPZ) sei das „operative Zentrum gegen den revolutionären Kampf“ und die „europäische Säule“ der NATO. Die Europäische Gemeinschaft sei „das Instrument zur Durchschaltung der Staatsapparate“. Zwischen der Bundesrepublik, Frankreich. Großbritannien und Italien habe sich eine „Vereinheitlichung“ herausgebildet — unter Führung von Frankreich und der Bundesrepublik. Insgesamt vermittelt die Schrift die Erkenntnis der RAF, daß das „revolutionäre Potential“ in Westeuropa noch weit davon entfernt sei, den Aufbau einer „revolutionären Front in Westeuropa“ abgeschlossen zu haben.
III. Die westeuropäische Guerilla
Den ersten großangelegten Versuch, eine „westeuropäische Guerilla“ aufzubauen, startete die RAF mit ihrer „Offensive 84/85“. Zielgruppen dieser Bündnisbemühungen waren zunächst die französische „Action Directe“ (AD) und die belgischen „Cellules Communistes Combattantes" (CCC).
Seit Anfang 1984 hatte sich aus dem Umfeld der RAF ein wachsendes Interesse an Operationen der AD gezeigt. Die linken Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland bewerteten die AD als die damals einzige funktionsfähige marxistisch-leninistische Terrororganisation in Europa. Bekennerbriefe und andere Publikationen der AD wurden mit Interesse gelesen und intern besprochen. Aus diesem Interesse entstand schließlich die Zusammenarbeit zwischen RAF und AD, die in der Ermordung von Ren Audran und Emst Zimmermann sowie in dem Attentat auf die amerikanische Airbase in Frankfurt gipfelte. Die Ermordung des Generaldirektors der französischen Renault-Werke, Georges Besse, am 17. November 1986 ist ebenfalls in die Operationen der „anti-imperialistischen Front in Westeuropa“ einzuordnen. Georges Besse war wie General Audran und Emst Zimmermann Symbolfigur des „Militärisch-Industriellen Komplexes“.
Mit der Verhaftung der führenden Mitglieder des international orientierten Flügels der AD — Jean-Marc Rouillan, Nathalie Menigon, Joelle Aubron, Georges Cipriani — am 21. Februar 1987 in einem Bauernhaus in der Nähe von Orleans ist die „Front“ der westeuropäischen Terroristen praktisch zerschlagen worden.
Die CCC leisteten der RAF nur in einem einzigen Fall logistische Unterstützung. In dem Bauernhaus, in dem man Jean-Marc Rouillan und seine drei Freunde verhaftete, wurde Sprengstoff gefunden, den die CCC bei einem Einbruch in einem Steinbruch in Eccaussines (Belgien) im Juni 1984 erbeutet hatten. Den gleichen Sprengstoff hatte die RAF bei einem fehlgeschlagenen Attentat auf die NATO-Schule in Oberammergau im Dezember 1984 benutzt.
Schon im Jahre 1985 hatte sich die RAF bemüht, auch eine Zusammenarbeit mit den italienischen „Roten Brigaden“ zu erreichen. Das machte Schwierigkeiten, weil sich die „Brigate Rosse“ seit September 1984 in zwei sogenannte „Positionen“ gespalten hatte. Die erste Position nennt sich „Rote Brigaden — für den Aufbau der kämpfenden Kommunistischen Partei“ (B. R. -P. C. C.) und ist — ähnlich wie die RAF — stärker internationalistisch und anti-imperialistisch orientiert. Die zweite Position heißt „Vereinigung kämpfender Kommunisten“ (U. C. C.). Sie ist mehr proletarisch und klassen-kämpferisch ausgerichtet.
Die RAF veröffentlichte im Mai 1986 in ihrer Untergrundzeitung „zusammen kämpfen“ (Nr. 6) konzeptionelle Erklärungen von — zum Teil inhaftierten — Mitgliedern der „Roten Brigaden“ ohne Kommentar. Nach den RAF-Morden an Beckurts und von Braunmühl gab es solidarische Äußerungen von Inhaftierten der „Roten Brigaden“. Andere schriftliche Äußerungen deuteten Gegensätze in Ideologie und Konzeption an.
In einer Erklärung der B. R. -P. C. C. vom 17. Februar 1987 findet sich erstmals eine zusammenfassende Bewertung der „revolutionären Aktivitäten“ von RAF und AD. Zunächst wird einschränkend bemerkt, daß in einem „objektiven politischen Sinne“ die westeuropäische Front der Guerilla „Teil des Programms der Kommunisten“ sein müsse. Weiter heißt es dann, daß sich die Aktivitäten der Guerilla in Europa spezifiziert hätten.
Die B. R. -P. C. C. ging damit auf Distanz zu der von der RAF angestrebten unmittelbaren Kooperation. Die U. C. C. nutzte das aus und trat — obwohl bis dahin nicht „internationalistisch“ — in offenen Wettbewerb. Sie ermordete am 20. März 1987 General Licio Giorgieri, im Verteidigungsministerium verantwortlich für die waffentechnische Ausrüstung der italienischen Luftwaffe. Er hatte eine vergleichbare Position wie General Audran und Ernst Zimmermann inne.
Die italienischen Sicherheitsbehörden verhafteten im Laufe des Jahres 1987 rund 100 Mitglieder der U. C. C., nicht zuletzt dank der Aussagebereitschaft von Kronzeugen aufgrund der italienischen Regelung der „Pentiti“. Weitere Mitglieder der U. C. C. konnten in Frankreich und in Spanien festgenommen werden. Die Organisation hat sich von diesem Schlag bis heute nicht erholt
Die Erklärung der B. R. -P. C. C. vom 17. Februar 1987 blieb ein Einzelfall. Zu weiteren Unterstützungshandlungen für die RAF in Agitation oder gar Aktion von Seiten der „Roten Brigaden“ kam es nicht. Die RAF allerdings versuchte immer wieder, die Vision einer gemeinsamen europäischen Front der Guerilla durch die Namensgebung ihrer Mord-kommandos nach internationalen „Märtyrern“ aufrechtzuerhalten.
IV. Strukturprobleme und neue Strategie
Die RAF hatte ihr Anschlagskonzept gegen den „Militärisch-Industriellen-Komplex", die soge-nannte MIK-Strategie, Anfang der achtziger Jahre entwickelt. Sowohl in den Erklärungen zu ihren Morden als auch in den Artikeln ihrer Untergrund-zeitung „zusammen kämpfen“ tauchte dieser Begriff immer häufiger auf, bis er mit der „Offensive 84/85“ (Mord an General Audran und Zimmermann) und der „Offensive 86“ (Mord an Beckurts und von Braunmühl) seinen publizistischen Höhepunkt erreichte und auch vom weiteren Umfeld der RAF akzeptiert war. Danach flachte diese Beschreibung des bewaffneten Kampfes wieder ab. Das wurde beschleunigt durch die Diskussion einiger RAF-Mitglieder mit Funktionären der „Roten Brigaden“ über die Frage, ob die „industrielle Umstrukturierung Westeuropas“ schon abgeschlossen sei oder nicht Bei dem Hungerstreik im Februar 1990 redete niemand mehr vom „Militärisch-Industriellen-Komplex".
Ende der achtziger Jahre hatten die Ideologen in der RAF einen anderen Stellenwert gefunden, um die Motivationsbasis für ihre Guerilla zu beschreiben: das vereinigte Europa. Die neue Definition tauchte zunächst in der Untergrundpresse und in einigen Ausgaben des Informationsdienstes von Angehörigen der RAF-Gefangenen auf. Das ging zeitlich einher mit der Erkenntnis der RAF-Genossen, daß ihre Bemühungen, eine westeuropäische Guerilla aufzubauen, gescheitert waren.
Die französische „Action Directe“ (AD), mit der Zusammenarbeit bestand, ist für die nahe Zukunft ausgeschaltet. Die belgischen „Kämpfenden Kommunistischen Zellen“ (CCC) sind zerschlagen. Die italienischen „Roten Brigaden“ — gespalten in zwei Positionen — verkünden zwar Kooperation; zu einer Zusammenarbeit in der Aktion ist es jedoch nicht gekommen. Die Solidarität mit der spanischen GRAPO beschränkt sich bisher auf einige Hungerstreik-Aktionen.
Die Erfindung eines neuen Feindbildes, nämlich das der „europäischen Weltmacht“, soll der RAF den Versuch erleichtern, erneut eine „europäische Front der Guerilla“ zu formieren. Angetrieben durch dieses neue Theorem, verübte die RAF weitere Anschläge. Am 20. September 1988 beschoß ein „Kommando Khaled Aker“ den Dienstwagen des Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium, Hans Tietmeyer. Der Staatssekretär und sein Fahrer blieben unverletzt. Die RAF begründete den Mordversuch mit der Behauptung, Tietmeyer sei maßgeblich an der „Formulierung, Koordinierung und Durchsetzung imperialistischer Wirtschaftspolitik“ beteiligt.
Am 30. November 1989 tötete ein „Kommando Wolfgang Beer“ den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Er war Aufsichtsratsvorsitzender von Daimler-Benz und maßgeblich beteiligt an der Fusion von Daimler-Benz mit Messerschmitt-Bölkow-Blohm. Mehrfach hatte er sich schon im Vorlauf der Wiedervereinigung nachdrücklich für Investitionen aus privater Hand in der ehemaligen DDR eingesetzt. Er verkörperte für die RAF nicht nur die Verbindung von „Kapital“ und „Rüstungsindustrie“; er symbolisierte auch die Kräfte, die angeblich Westeuropa unter Führung der Bundesrepublik zu einer wirtschaftlichen Supermacht ausbauen wollen.
Europäische Wirtschaftspolitik, durch die die Dritte Welt ausgebeutet wird, findet nach Meinung der RAF auch auf dem Agrarsektor statt. Repräsentant für die „Schaffung des Molochs Europa“ auf diesem Gebiet ist nach Meinung der Kommando-Ebene der RAF Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle Ein „Kommando Juliane Plambek" erklärte am 2. März 1990, daß man „Ignaz Kiechle angegriffen“ habe. Er stehe für die „westeuropäischen Formierungsprozesse“, die über den europäischen Binnenmarkt zu einem „vereinten Europa des Kapitals“ führen würden
Am 3. März verbreitete die RAF in einem Kommunique, daß „das Ziel des Angriffs gegen Kiechle nicht erreicht“ worden sei. Man habe die Aktion abbrechen müssen, um keine Unbeteiligten zu gefährden Inzwischen wurde bekannt, daß die Gefangenen der RAF bei der Aktion Kiechle — im Gegensatz zu den Vorbereitungen zur Ermordung Alfred Herrhausens — über das Ziel der Operation orientiert und mit dem Anschlag einverstanden waren. Zu Diskussionen darüber, ob man mit Ignaz Kiechle das richtige Zielobjekt ausgewählt habe, kam es erst, nachdem der Anschlag gescheitert war.
Nach dem erfolgreichen Attentat gegen Herrhausen sahen viele Sympathisanten und Unterstützer der RAF in der Wahl Ignaz Kiechles zum nächsten Anschlagsopfer einen Abfall der revolutionären Energie des RAF-Kommandos und vermindertes Leistungsvermögen.
Das Kommando ging in Deckung. Es brauchte siebeneinhalb Wochen, um die Diskussionen aufzufangen und Stellung zu nehmen. Erst am 26. April veröffentlichte die RAF ein neues Kommunique. Sie bestritt, einen Anschlag gegen den Bundeslandwirtschaftsminister vorbereitet und versucht zu haben und behauptete jetzt, die Kommuniques vom 2. und 3. März seien Teil einer Desinformationskampagne des Verfassungsschutzes; der „AgrarWurm“ Kiechle sei kein „nachvollziehbares Angriffsziel“. Gleichzeitig kündigte sie einen „umfassenden Text“ darüber an, wie sich die RAF den „revolutionären Prozeß“ vorstelle; das sei notwendig, um „der desorientierung und dem chaos, das an der vs-erklärung losgegangen ist, ein ende zu setzen“
Neben diesen deutlichen Dissonanzen in der Organisation war es schon vorher zu erheblichen Kommunikationsschwierigkeiten zwischen der Kommando-Ebene und den Gefangenen gekommen. Der Hungerstreik von Februar bis Mai 1989 war begonnen und durchgeführt worden ohne Unterstützung des Kommandos. Die Gefangenen — vor allem Helmut Pohl — hatten eine Rolle übernommen, die vom Kommando nicht akzeptiert, allenfalls toleriert wurde. Das gestand Pohl ein, als er in seinem Brief vom-10. November 1989 erklärte, die Gefangenen hätten „für andere in dieser Zeit die Initiative“ an sich gezogen -Die Aktion der Gefangenen fand weder Unterstützung durch Attentate aus der Kommando-Ebene noch durch Anschläge der „Illegalen Militanten“. Die Gefangenen beendeten den Hungerstreik ohne offensichtlichen Erfolg. Eine einheitliche Erklärung zur Beendigung des Streiks kam nicht zustande. An den Plänen zur Vorbereitung der Ermordung Herrhausens waren die Gefangenen nicht mehr beteiligt.
Eine Steuerung von Anschlägen aus den Zellen, wie es sie noch in den siebziger Jahren gab, existiert ohnehin nicht mehr. Die Häftlinge sahen sich kaum in der Lage, die Situation „draußen“ noch beurteilen zu können
V. Die RAF ohne Hoffnung?
Das neue Konzept der RAF, ihr Kampf gegen die „faschistische Bestie Westeuropa“ erscheint perspektivlos. Unter diesem Motto hatte auch der bisher letzte Mordversuch der RAF, ihr Anschlag auf Staatssekretär Neusei, gestanden. Hans Neusei sollte nicht deshalb getötet werden, weil er zum „Repressionsapparat“ gehörte; die RAF wollte ihn umbringen, weil sie ihn ihrem neuen strategischen Ziel, der „europäischen Weltmacht“, zurechnete. Die paranoide Fixierung der RAF auf diese Zielgruppe ergibt sich sowohl aus dem kurzen Kommunique am Tatort als auch aus dem seit Ende April erwarteten Grundsatzpapier, das schließlich als erweitertes Bekennerschreiben zum Anschlag auf Neusei am 29. Juli verbreitet wurde
Die Erklärungen des „Kommando Jose Manuel Sevillano“ zu der Frage, weshalb das Attentat fehlschlug (zu niedrige Berechnung der Sprengstoff-menge), wirken kraftlos. Der Versuch, den Anschlag gerade gegen Staatssekretär Neusei damit zu rechtfertigen, daß das Innenministerium und damit der Verfassungsschutz gegen eine Zusammenlegung der Gefangenen sei, hat die RAF in ihrem Umfeld weiter unglaubwürdig gemacht. Denn der Verfassungsschutz war und ist für eine, wenn auch abgestufte, Zusammenlegung der Häftlinge
Das Problem der Kommando-Ebene, dem Umfeld zu vermitteln, daß der bewaffnete Kampf fortgeführt werden müsse, ergibt sich auch aus der recht beiläufigen Behandlung der Entwicklung in den Staaten des „real existierenden Sozialismus“, „die auflösung des sozialistischen blocks und damit auch seiner historischen funktion für die befreiungsprozesse im trikont“ werden als Tatsache vermerkt; eine Untersuchung der Ursachen und der Auswirkungen für die Zukunft unterbleibt.
Das Kommando behauptet, daß eine „revolutionäre gegenmacht“ nur in einer „langen kampfphase gegen die neu entstandene großdeutsche/westeuropäische weltmacht“ aufgebaut werden könne. Eingeräumt wird auch, daß sich „die anti-imperialistische front in Westeuropa aus einer Vielfalt von kämpfen zusammensetzt“.
Dies ist ein Aufruf an Bündnispartner, die sich bisher der Zusammenarbeit versagt haben oder deren Organisationen zerschlagen wurden. Die RAF macht hier ihre, Sorge deutlich, alleinzustehen. Sie weiß, daß sie den bewaffneten Kampf verloren hat, wenn sie isoliert bleibt. Viele Genossen, die an den Anschlägen der siebziger Jahre beteiligt waren, sind inzwischen ausgestiegen. Die Gloriole der Guerilla ist verblaßt.
Helmut Pohl versuchte, diesem Eindruck des Verfalls in einer Erklärung zu begegnen, die in einem linken Hamburger Blättchen veröffentlicht wurde Der Brief blieb weitgehend unbeachtet. Er fand Resonanz erst durch eine gekürzte Veröf-fentlichung in der Züricher „Wochenzeitung“ vom 5. Oktober 1990. Deutsche Blätter interpretierten die Erklärung als eine Distanzierung „vom terroristischen Grundprinzip der RAF“ und als Beginn einer „Gewaltdebatte“ unter den Häftlingen
Diese Sichtweise ist nicht korrekt. Der Brief beschwört zunächst die „Einheit der Gefangenen“. Das war sicher notwendig nach den Erfahrungen des letzten Hungerstreiks, an dem sich nicht alle Häftlinge beteiligt hatten.
Danach versucht Pohl, die Bedeutung der Verhaftungen in der ehemaligen DDR und die Bereitwilligkeit einiger früherer RAF-Genossen zu detailHerten Aussagen zu relativieren. Die Besorgnis der RAF über diese Entwicklung wird dadurch unterstrichen, daß Pohl sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf beruft, auch im Namen von Heidi Schulz, Christian Klar und Brigitte Mohn-haupt sprechen.
In der Darstellung Pohls war es ein Fehler, daß die inzwischen nach Westdeutschland überstellten ehemaligen RAF-Leute überhaupt in die RAF gekommen sind. Die RAF habe diesen Fehler erkannt und „von Anfang an die Klärung und Lösung betrieben“. Deshalb handele es sich nicht um „Aussteiger“. Das Aussteigerprogramm sei nichts anderes als eine „Propaganda-und so Anknüpfungsaktion des VS“ (Verfassungsschutzes)
Das Angebot für Strafmilderung und eventuelle Strafbefreiung, das der Verfassungsschutz potentiellen Aussteigem gemacht hat, bereitet der RAF offensichtlich erhebliche Sorgen. Pohl behauptet nämlich, daß die in der ehemaligen DDR festgesetzten früheren Mitglieder der RAF „längst schon ihr lebenslänglich, revisionssicher wie immer“ bekommen hätten, wenn sie „vorher irgendwo verhaftet worden“ wären. Mit dieser Formulierung will er wohl die Aktivisten aus dem Umfeld, die möglicherweise mit dem Gedanken spielen, den bewaffneten Kampf aufzugeben, abschrecken.
Das entscheidende Problem für die RAF dürfte aber die Erfahrung sein, daß sie sich im Spektrum des linken Extremismus nach wie vor isoliert sieht. Nur so sind die längeren Passagen zu erklären, in denen sich Helmut Pohl mit den „Konzept-Debatten“ und der Entwicklung der „Linken“ seit Mitte der siebziger Jahre befaßt. Er beklagt: „alle waren gegen uns, die Unke hat entsolidarisierungs-kampagnen gemacht.“ Die Tatsache, daß die offizielle Auseinandersetzung mit der RAF „immer noch in diesem film“ laufe, sei auf die Positionen zurückzuführen, die die „mitt-siebziger-linke-truppe" heute habe. Sie sei saturiert und träume heute „von ihren jugendabenteuem auf der spielwiese“.
Die Entschuldigung für mangelndes Engagement laute dann, daß man gegen die Übermacht des Staatsapparates nichts tun könne. Überall gebe es aber Leute, die etwas tun wollten und die auch etwas tun könnten; die Übermacht sei ein Mythos. Die ganze politische militante Linke müsse „jetzt auf eine neue grundlage kommen“.
Erst am Schluß seiner Erklärung äußert sich Pohl zu der Frage der Gewalt. Er sagt: in der revolutionären politik spielt die gewalt eine bestimmte rolle, die bewaffnete aktion ist durch ihre politische bestimmung eingegrenzt, die ganze entwicklung ist politisch kontrolliert.“ Im Streik schließlich hätten die Gefangenen „überall, wo es gespräche gab“ — gemeint sind wohl Gespräche mit Vertretern des Staates—, die „dicke-balken-formulierung hingelegt: es verschiebt die ganze auseinandersetzung im ganzen Zusammenhang in richtung diskussion, politischer prozeß.“
Aus diesen Sätzen kann man schwerlich eine Absage an die Gewalt herleiten. Sie kennzeichnen eher den Druck, unter dem Gefangene stehen, die sich nach wie vor einer langfristigen Strafe gegenübersehen. Sie machen darüber hinaus den Mangel an Übereinstimmung zwischen den Häftlingen und der Kommando-Ebene deutlich. Auch falls die RAF-Gefangenen noch deutlicher als hier für die Kanalisierung von Gewaltaktionen oder gar für den Verzicht auf Gewalt plädieren sollten: die Kommando-Ebene wird sich nicht danach richten.
Die RAF wird weitermorden. Sie glaubt, vor der Alternative zu stehen, entweder den Kampf verloren zu haben und zu sterben oder den Kampf — wenn auch mit geringen Chancen — fortsetzen zu können mit dem gleichen Risiko, sterben zu müssen. Das ist die Haltung von Desperados. Die RAF hat ihrem Grundsatzpapier als Motto eine Formulierung aus dem letzten Brief Holger Meins vorangestellt: „Menschen, die sich weigern, den Kampf zu beenden — sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben.“ Die RAF hat die Hoffnung, den bewaffneten Kampf gewinnen zu können, nur scheinbar aufgegeben.