Extrem rechtes Potential in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft
Petra Bauer/Oskar Niedermayer
/ 26 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Nach einer kurzen Übersicht über die Theorien zur Entstehung extrem rechter Potentiale werden die unterschiedlichen Möglichkeiten zur empirischen Bestimmung dieser Potentiale aufgezeigt und deren Probleme diskutiert. Eingegangen wird auf die Ursachen für die Wahl extrem rechter Parteien, die Existenz eines extrem rechten Weltbilds und die ideologische Selbsteinstufung auf dem Links-Rechts-Kontinuum. Danach wird im Rahmen einer international vergleichenden Analyse das extrem rechte Potential in den Bevölkerungen der zwölf Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft mit Hilfe der Links-Rechts-Selbsteinstufung empirisch bestimmt und die Art der Beziehungen zu den anderen beiden Aspekten verdeutlicht, indem die Wahlabsichten und die Attitüdenstruktur der zum extrem rechten Potential Gehörenden untersucht werden. Den Abschluß bildet die empirische Überprüfung der aus den anfangs dargestellten theoretischen Überlegungen ableitbaren Hypothesen über die sozialstrukturellen Determinanten extrem rechter Orientierungen.
I. Vorbemerkung
Durch das Wiedererstarken extremer Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums in mehreren europäischen Staaten hat die Beschäftigung mit dem extrem rechten Potential in der Bevölkerung westlicher Demokratien in der wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion wieder an Bedeutung gewonnen. Der folgende Beitrag wird sich mit den Möglichkeiten beschäftigen, dieses Potential in international vergleichender Perspektive zu analysieren. Den Untersuchungsrahmen bilden dabei die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Dies zum einen, weil sich, wie im nächsten Abschnitt deutlich werden wird, umfassende theoretische Erklärungsansätze der Entstehung extrem rechter Potentiale primär auf den Systemkontext westlicher Industriegesellschaften beziehen, und zum anderen, weil nur für diesen Kreis von Staaten durch das Vorliegen international vergleichender Bevölkerungsumfragen die Möglichkeit besteht, einige der theoretischen Überlegungen empirisch zu überprüfen.
II. Theoretische Erklärungsansätze zur Entstehung extrem rechter Potentiale
Abbildung 2
Tabelle 1: Wahlabsicht nach Links-Rechts-Selbsteinstufung (Angaben in Prozent) Quelle: Eurobarometer 31, 31A, 32 (1989)
Tabelle 1: Wahlabsicht nach Links-Rechts-Selbsteinstufung (Angaben in Prozent) Quelle: Eurobarometer 31, 31A, 32 (1989)
Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Hypothesen und theoretischen Ansätzen, die versuchen, das Entstehen von extrem rechten Potentialen zu erklären -Einen Versuch zur Integration der wichtigsten Argumentationsstränge stellt die Arbeit von Scheuch und Klingemann dar, in der Rechtsradikalismus als „normale Pathologie westlicher Industriegesellschaften“ angesehen wird, da jede moderne Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen — insbesondere wenn sie schnellen Veränderungsprozessen unterliege — für rechtsradikale Bewegungen anfällig sei
Zwei Erklärungskonzepte werden bei diesen Autoren zu einer allgemeinen Theorie zusammengefaßt: zum einen ein soziologischer bzw. sozio-politischer Ansatz, zum anderen ein persönlichkeitspsychologischer. Ersterer erklärt das Anwachsen extrem rechter Bewegungen weitgehend aus dem Zusammentreffen von Kultursystemen in einer Gesellschaft mit den Einflüssen der außenpolitischen Verpflichtungen und ihren Rückwirkungen auf die soziale und politische Struktur Das Individuum in modernen Gesellschaften unterliege unterschiedlichen Spannungen in den unterschiedlichen Sektoren des sozialen Systems. Normen und Werte, die im Primärbereich des Individuums (Familie) gelten, würden durch die funktionalen Anforderungen so-genannter Sekundärinstitutionen (Beruf; Behörden etc.) aufgelöst. Der zweite, ergänzende Ansatz geht davon aus, daß bestimmte Persönlichkeitsmerkmale des Individuums helfen, diese Dissonanz abzuschwächen oder zu verschärfen. Adorno u. a. analysierten die konkrete Erscheinung des Nationalsozialismus unter eben dieser Annahme eines spezifischen, von ihnen als „Autoritarismus“ bezeichneten Persönlichkeitsmusters von Menschen mit extrem rechten Einstellungen, die sie insbesondere aus gesellschaftlichen Sozialisationsprozessen heraus zu erklären versuchten. Vor allem Kompromißlosigkeit und der Glaube an eine Konspiration wurden hervorgehoben. Diesem Persönlichkeitskonzept unterliegt die Wahrnehmung der Gesellschaft als normlos, anomisch moralisch chaotisch, als Gesellschaft ohne feste Regeln, an die man sich halten könnte.
In Weiterführung und Modifikation dieses Ansatzes versuchte Rokeach von den rein inhaltlichen Bestimmungen der Einstellungen zu abstrahieren und ihre Struktur zu untersuchen. Hierfür entwikkelte er die sogenannte „Dogmatismusskala“. Charakter und Erscheinungsformen gesellschaftlicher Spannungen der modernen Industriegesellschaften, die sich wandelnden Lebensbedingungen und damit die notwendige Anpassung bzw. Revision tradierter Wertvorstellungen bewirken Unsicherheiten, die mit Hilfe einer rigiden Denkweise neutralisiert werden können. Diese Form der pathologischen „Anpassung“ wird als bedeutsam für den Erfolg extremer Anschauungen bezeichnet, wobei bei ihm eine wichtige Akzentuierung der Arbeiten zur „autoritären Persönlichkeit“ insofern erfolgte, als deren Ausblendung des linksextremen Denkens korrigiert wurde.
Diese Ansätze können auch im Sinne der Theorien über sozialstrukturelle Inkonsistenzen interpretiert werden, die eine Zunahme extrem rechter Orientierungen immer dann erwarten, wenn ein wachsender Teil der Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund raschen sozialen Wandels in sozio-ökonomische Positionen gedrängt wird, die dem gewünschten oder gewohnten Sozialstatus nicht entsprechen. Prozesse der Statuspolarisierung, Marginalisierung oder Statusbenachteiligung können bestimmte förderliche psychologische Prädispositionen aktivieren, fokussieren und unter zusätzlichen Bedingungen in die Unterstützung extrem rechter Bewegungen transformieren.
Diese Erklärungsversuche können als Teile einer allgemeinen Theorie verstanden werden, die verschiedene „Aggregatzustände“ von für Rechtsextremismus anfälligen, individuellen sozio-politischen Orientierungen und gesamtgesellschaftlichen Zuständen zu erfassen versucht Große Bedeutung kommt dabei dem Charakter und der Wirkungsweise extremistischer sozio-politischer Orientierungen zu. Wir sind hier besonders auch auf das „Ideologie-Repertoire“ einer Gesellschaft und damit auf die Frage verwiesen, inwieweit für die Bündelung extrem rechter politischer Einstellungen ein mehr oder weniger kohärentes Überzeugungssystem kulturell verfügbar ist. Insgesamt muß daher politischer Extremismus in dynamischer Perspektive als Ergebnis komplexer Interaktionsprozesse institutioneller, organisatorischer und individueller Bedingungen aufgefaßt werden und wird damit in methodischer Hinsicht zu einem Mehrebenenproblem dessen empirische Analyse auf eine Reihe von Schwierigkeiten stößt, die schon bei der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes beginnen. Im nächsten Abschnitt sollen daher die theoretisch vorstellbaren Möglichkeiten zur Operationalisierung des extrem rechten Potentials erläutert und deren Probleme aufgezeigt werden.
III. Möglichkeiten zur empirischen Bestimmung des extrem rechten Potentials
Für die Operationalisierung des Untersuchungsgegenstandes ergeben sich prinzipiell drei Möglichkeiten. Als dem extrem rechten Potential in der Bevölkerung zugehörig können angesehen werden: 1. Wähler extrem rechter Parteien, 2. Individuen, denen aufgrund ihrer Einstellungen ein extrem rechtes Weltbild zugeschrieben werden kann und 3. Individuen, die sich selbst als extrem rechts stehend einstufen.
Da die erste Operationalisierungsart auf manifestem politischen Verhalten als Kriterium basiert, wird sie insbesondere dann verwendet, wenn auf die konkreten Folgen des extrem rechten Potentials in der Bevölkerung für die Struktur und Funktionsweise des politischen Systems im allgemeinen und des Parteiensystems im besonderen abgestellt wird.
Extrem rechtes Potential in einer Gesellschaft auf diese Weise zu bestimmen, bezieht neben der „Nachfrage-“ auch die „Angebotsseite“ von Politik in Form der Existenz einer extrem rechten Partei als organisatorischem und ideologischem Kristallisationskern mit ein und wird eben dadurch jedoch von der Angebotsseite abhängig, d. h.: Ein extrem rechtes Potential kann nur in Gesellschaften ausgemacht werden, in denen eine extrem rechte Partei existiert. Dies läßt aber die Möglichkeit außer acht, daß die Angebotsseite durch restriktive Regelungssysteme, z. B. Parteienverbot, begrenzt sein kann. Zudem wird die Höhe des Potentials in diesem Ansatz anhand des Wahlerfolgs extrem rechter Parteien gemessen. Dies unterstellt allen Wählern solcher Parteien eine Affinität zu deren ideologischem Standort und verneint dies bei den anderen, die solche Parteien nicht wählen. Damit wird die Möglichkeit taktisch-strategischer Wahlentscheidungen nicht beachtet, die Individuen ohne extrem rechte Affinität zur Wahl solcher Parteien veranlassen (Protestwahlverhalten) bzw. Individuen, die eine rechtsextreme Affinität besitzen, von der Wahl solcher Parteien abhalten (z. B. wegen deren Chan-cenlosigkeit, politische Entscheidungen mitzubestimmen). Die beiden anderen Operationalisierungsarten stellen nicht Verhalten, sondern Einstellungen und Überzeugungen sowie deren Strukturierung in den Mittelpunkt. Bei diesen Ansätzen läßt sich von Überlegungen ausgehen, die im Rahmen der Analyse politischer Überzeugungssysteme entwickelt wurden. Angesichts der umfangreichen Literatur zum Konzept des Überzeugungssystems soll hier nur auf seine zentralen Elemente eingegangen werden, wie sie vor allem von Converse entwickelt worden sind
Mit dem Konzept politischer Überzeugungssysteme postuliert er, daß es qualitative Unterschiede in den individuellen, auf politische Inhalte bezogenen „ideational worlds" gibt und daß diese Unterschiede im individuellen Verhalten von Bedeutung sind. In seiner Definition politischer Überzeugungssysteme betont er deren Strukturcharakter, indem er die Relation zwischen den einzelnen Ideenelementen heraushebt. Er definiert politische Überzeugungssysteme als „a configuration of ideas and attitudes in which the elements are bound together by some form of constraint or functional interdependence" Mit „constraint or functional interdependence" bezeichnet Converse die Strukturierung von Attitüden im Rahmen eines bestimmten sozial oder politisch geprägten Konzeptes. Der „constraint“ bestimmt dabei die Konsistenz von Attitüden einer Person gegenüber verschiedenen politischen Sachfragen (Issues). Eine ideologische Denkweise wird vor allem in diesem Sinne als ein durch abstrakte Prinzipien strukturiertes Orientierungssystem verstanden Unter „ideas“ sind nach Converse kognitive, allgemeine politische Orientierungen zu verstehen, während „attitudes“
neben der kognitiven zusätzlich eine affektive und evaluative Dimension bezüglich spezieller politischer Sachverhalte beinhalten. Eine weitere wichtige Dimension ist die Zentralität der Ideenelemente. Je zentraler der Stellenwert eines Ideenelementes für ein Individuum innerhalb seines Überzeugungssystems ist, desto mehr wird die Bereitschaft abnehmen, dieses zu ändern. Die dritte Dimension ist die Reichweite politischer Überzeugungssysteme; sie bestimmt den Grad der Anwendbarkeit der Ideenelemente auf unterschiedliche politische Objekte. Auf der Grundlage dieser drei genannten Dimensionen kann man die Stärke ideologischen Denkens ausmachen.
Diese Überlegungen können als Ausgangspunkt für die Analyse nicht nur von formal, sondern auch inhaltlich bestimmten politischen Überzeugungssystemen dienen. Zum einen bietet sich die Möglichkeit, die Inhalte extrem rechter Ideologie in Form einer Reihe von Einzelaussagen zu operationalisieren, diese einer Bevölkerungsstichprobe vorzulegen und die individuell gemessene Zustimmungsrate zu diesen Aussagen in bezug auf deren Zentralität, Reichweite und interne Konsistenz zu analysieren. Die Existenz eines über diese Charakteristika definierten geschlossenen Weltbildes könnte dann als Kriterium für die Zuordnung zum extrem rechten Potential benutzt werden. Die Problematik dieses Ansatzes besteht in:
1.der Auswahl und Formulierung der zur Messung extrem rechter Einstellungen und Überzeugungen verwendeten Items und 2.der Frage nach den Schwellenwerten, die die Zugehörigkeit eines Individuums zum extrem rechten Potential anzeigen.
Insbesondere das erste Problem wird bei dem Versuch einer international vergleichenden Analyse noch deutlich durch die Schwierigkeit verschärft, Items finden zu müssen, die extrem rechte Ideologie in einer interkulturell äquivalenten Weise indizieren. Dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, daß international vergleichende Studien, die extrem rechte Potentiale in den Bevölkerungen anhand einer umfassenden Analyse ideologischer Überzeugungssysteme empirisch bestimmen, bisher noch nicht durchgeführt wurden.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Befragten mit einem allgemeinen ideologischen Schema zu konfrontieren, das auf oppositionellen Polen angeordnete inhaltliche Etiketten enthält, ihre Selbst-einstufung auf dem dadurch aufgespannten Kontinuum zu erbitten und zu analysieren, was die Befragten selbst mit diesen Etiketten verbinden. Das Verwenden ideologischer Etiketten zur empirischen Erforschung politischer Überzeugungssysteme hat eine lange Tradition. Solche Etiketten gehören zumindest in den USA und Westeuropa als Orientierungsmittel zum Kernbestand der politischen Kultur. Converse selbst rekurrierte in seinen Analysen auf das in den USA gültige Liberal-Konservativ-Schema; das westeuropäische funktionale Äquivalent hierfür ist das Links-Rechts-Kontinuum Diese Schemata als kulturelle Produkte haben die Funktion, für Individuen logische bzw. quasi-logische Bezüge zwischen der ideologischen Selbstidentifikation und allgemeinen politischen Einstellungen sowie konkreten Issue-Positionen herzustellen. Lipset hat „links“ als Befürwortung sozialen Wandels in Richtung auf eine größere politische Gleichheit definiert; „rechts“ bedeutet die Befürwortung einer traditionalen, mehr oder weniger hierarchischen Ordnung und eine Ablehnung des sozialen Wandels in Richtung auf mehr Gleichheit.
Aufgrund verschiedener Untersuchungen läßt sich zeigen, daß die Bereitschaft, die eigenen politischen Ansichten mit Hilfe des Links-Rechts-Kontinuums anzugeben, in den Bevölkerungen westlicher Demokratien in hohem Maße vorhanden ist und daß der Durchschnittsbürger auch eine inhaltliche Vorstellung mit den Begriffen links und rechts verbinden kann.
Für unser Problem der Analyse extrem rechter Potentiale läßt sich dies in verschiedener Weise nutzen. Zum einen können — in einer weiten Definition — alle diejenigen zu diesem Potential gerechnet werden, die in der Lage sind, sich auf dem Links-Rechts-Kontinuum einzuordnen, und dies im extrem rechten Bereich tun. Zum anderen könnte man — in einer engeren Definition — wieder auf die Existenz ideologischer Überzeugungssysteme rekurrieren und als zum extrem rechten Potential gehörig nur solche Personen rechnen, die zusätzlich zu ihrer extrem rechten Einordnung in dem, was sie selbst mit dem Etikett „rechts“ verbinden, ein konsistentes Überzeugungssystem großer Reichweite und Zentralität erkennen lassen.
Sowohl die enge als auch die weite Definition des extrem rechten Potentials unter Rekurs auf die ideologische Selbsteinschätzung auf dem Links-Rechts-Kontinuum ist jedoch in ähnlicher Weise wie die zweite Operationalisierungsart mit dem Grenzziehungsproblem konfrontiert, das sich hier konkret in der Frage stellt, ab welchem Punkt des Kontinuums man von einer „extrem rechten“ Einordnung sprechen kann. Analysiert man die parteiensoziologische Literatur im Hinblick auf die Einordnung der europäischen Parteien in ideologische Parteifamilien, so wird allerdings schnell deutlich, daß das Abgrenzungsproblem nicht nur die beiden auf Einstellungen basierenden Operationalisierungsarten betrifft. Auch der Operationalisierung anhand der Wahl extrem rechter Parteien fehlt es oft an Trennschärfe, weil die Einordnung vieler Parteien als extrem rechts umstritten ist.
Die bisherigen Ausführungen haben verdeutlicht, daß die empirische Bestimmung des extrem rechten Potentials in einer Gesellschaft auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen kann, daß die Stärke des Potentials wesentlich von der gewählten Operationalisierung abhängt und daß keine dieser Operationalisierungsmöglichkeiten a priori eindeutig den anderen vorzuziehen ist. Wenn wir uns im folgenden nur noch mit einer der Operationalisierungsarten, der Links-Rechts-Selbsteinschätzung, näher beschäftigen, so geschieht dies primär aus einem rein pragmatischen Grund: Nur ein Rekurs auf diese Operationalisierung erlaubt uns eine empirische Analyse, die'alle Mitgliedsländer der EG umfaßt. Wir werden jedoch, nachdem wir das extrem rechte Potential in den Mitgliedsländern der EG anhand der Links-Rechts-Selbsteinstufung der Bevölkerungen empirisch bestimmt und seine zeitliche Entwicklung dargestellt haben, soweit es unsere Daten zulassen, auf die Beziehungsstruktur zu den anderen beiden Operationalisierungsmöglichkeiten eingehen, bevor wir den Argumentationskreis durch eine empirische Überprüfung einiger aus den im zweiten Abschnitt vorgestellten Erklärungsansätzen ableitbaren Hypothesen schließen.
IV. Empirische Analyse des extrem rechten Potentials in den EG-Mitgliedsländern
Abbildung 4
Tabelle 3: Sozialstrukturelle Determinanten der Links-Rechts-Selbsteinstufung (Angaben in Prozent) Quelle: Eurobarometer 31.3 A, 32 (1989).
Tabelle 3: Sozialstrukturelle Determinanten der Links-Rechts-Selbsteinstufung (Angaben in Prozent) Quelle: Eurobarometer 31.3 A, 32 (1989).
1. Potentialbestimmung anhand der Links-Rechts-Selbsteinstufung Die uns zur Verfügung stehenden Daten für die empirische Analyse des extrem rechten Potentials in den EG-Mitgliedsländern basieren auf den Euro-barometer-Umfragen. Diese repräsentativen Bevölkerungsumfragen werden seit 1973 im Auftrag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften halbjährlich (im Frühjahr und Herbst) jeweils in allen Mitgliedsländern der EG erhoben. Im Jahre 1989 wurde, insbesondere aufgrund der Europa-wahlen, eine zusätzliche Befragung im Sommer durchgeführt, so daß innerhalb eines halben Jahres drei Erhebungszeitpunkte vorlagen. Zur Analyse der Links-Rechts-Selbsteinstufung und ihrer Determinanten haben wir durch eine Kumulation dieser drei Umfragen einen Datensatz erstellt, der in der Regel pro EG-Mitgliedsland etwa 4 000 Befragte umfaßt Dieser Datensatz erlaubt eine weitge-hende Untergliederung der Gesamtheit der Befragten und die weitere Analyse der Teilgruppen, ohne in die Gefahr zu geraten, wegen zu geringer Fall-zahlen keine sinnvollen Aussagen mehr machen zu können.
Die ideologische Selbsteinstufung der Befragten wird in der Forschung häufig durch eine Zehn-punkte-Skala gemessen, die von 1 (links) bis 10 (rechts) reicht. Dieses Meßinstrument wird auch in den Eurobarometer-Umfragen verwendet. Da die Befragten nicht zusätzlich gebeten werden, zu äußern, was sie selbst mit dem Etikett „rechts“ verbinden, können wir die Operationalisierung nur anhand der weiten Definition vornehmen, d. h. als zum extrem rechten Potential gehörig wollen wir diejenigen Befragten ansehen, die sich auf dieser Skala einordnen können, und dies im extrem rechten Bereich tun. Der Anteil der Befragten in den zwölf EG-Ländern, die 1989 in der Lage waren, ihren ideologischen Standort auf der Skala zu verorten, lag zwischen 70 Prozent (Spanien) und 93 Prozent (Niederlande). In allen zwölf Ländern ordnete sich die große Mehrheit der Befragten im Mittelbereich der Skala ein Wie wir aus dem folgenden Schaubild entnehmen können, das die durchschnittliche Einordnung der Befragten in der Europäischen Gemeinschaft auf der Links-Rechts-Skala ausweist wählt jedoch ein nicht unbeträchtlicher Teil der Befragten in den zwölf Ländern seinen ideologischen Standort im rechten Bereich der Skala. Es ergibt sich in den meisten Ländern ein relativ klarer Schwelleneffekt im Übergang von Punkt 8 auf Punkt 9 auf der rechten Seite sowie von Punkt 2 auf Punkt 3 auf der linken Seite des ideologischen Spektrums. Dies könnte durch das Vorliegen einer Art „Hemmschwelle“ bedingt sein, deren Überwindung den Übergang von einer gemäßigt linken bzw. rechten zu einer extrem linken bzw. rechten Orientierung anzeigt. Wir nehmen daher diesen Effekt zum Anlaß, das bestehende Abgrenzungsproblem nicht vollkommen willkürlich zu lösen, sondern die Trennungslinien gemäß dieser Schwellenwerte zu ziehen Wir klassifizieren somit die Skalenpunkte 1 und 2 auf der linken und 9 und 10 auf der rechten Seite des ideologischen Spektrums als „extrem“ links bzw. „extrem“ rechts und rechnen diejenigen Befragten, die sich dort ein-ordnen, dem extrem linken bzw. rechten Potential zu
Eine Analyse der Stärke und zeitlichen Entwicklung des auf diese Weise gemessenen extrem rechten Potentials in der Bevölkerung der zwölf Mitgliedsstaaten der EG zeigt — sieht man von wenigen Ausnahmen ab —, daß etwa ein Zwanzigstel bis höchstens ein Siebtel der Bevölkerung in den einzelnen Ländern zum extrem rechten Potential zu rechnen ist. Eine zunehmende Tendenz kann man in Dänemark und ab 1985 in Griechenland feststellen. ein leichter Anstieg, jedoch auf wesentlich niedrigerem Niveau, ist auch in Frankreich zu beobachten. Eine eindeutig negative Tendenz weisen die Niederlande auf. Auch in Belgien, der Bundesrepublik und Portugal hat die Stärke des extrem rechten Potentials seit Mitte der siebziger Jahre abgenommen. 2. Links-Rechts-Selbsteinstufung und Parteien-unterstützung In diesem Abschnitt soll die Beziehungsstruktur zwischen der von uns gewählten Operationalisierung des extrem rechten Potentials anhand der Links-Rechts-Selbsteinstufung und der Operationalisierung über die Wahl extrem rechter Parteien analysiert werden. Zu diesem Zweck gibt die Tabelle 1 die Wahlabsichten der drei von uns unterschiedenen Befragtengruppen wieder. Tabelle 1 zeigt, daß, wie zu erwarten, zwischen den beiden Operationalisierungsarten ein deutlich positiver Zusammenhang besteht, d. h.der Schwerpunkt der sich links bzw. rechts einordnenden Befragten liegt klar bei den linken bzw. rechten Parteien. Gerade in den Ländern, in denen extrem rechte Parteien existieren, zeigt sich jedoch auch, daß die beiden Operationalisierungsarten, wie in Abschnitt 3 schon ausgeführt, partiell Unterschiedliches messen: Bei weitem nicht alle Befragten, die sich auf der Links-Rechts-Skala extrem rechts einordnen, äußern auch die Absicht, extrem rechte (oder auch nur rechte) Parteien wählen zu wollen. Es wird sogar deutlich, daß die konservativen bzw. christdemokratischen Parteien mit Ausnahme Italiens in allen Ländern, auch in denen mit extrem rechten Parteien, die relative Mehrheit des extrem rechten binden. Potentials 3. Links-Rechts-Selbsteinstufung und extrem rechtes Weltbild Die Beantwortung der Frage nach der Beziehungsstruktur zwischen der Bestimmung eines extrem rechten Potentials anhand der ideologischen Selbsteinschätzung und der Operationalisierung anhand der Existenz eines konsistenten extrem rechten Weltbilds ist weitaus schwieriger. Wie schon erwähnt, existieren bisher keine umfassenden Daten, die uns eine EG-weite vergleichende Analyse extrem rechter politischer Überzeugungssysteme der Bevölkerungen gestatten würden. Uns liegt jedoch eine Umfrage vor, die es erlaubt, wenigstens einen Teilbereich der Fragestellung zu analysieren. Die Eurobarometer-Umfrage vom Herbst 1988 (EB 30) beschäftigte sich vor allem mit den Einstellungen und Meinungen der Bürger in den zwölf europäischen Mitgliedsstaaten gegenüber „dem Anderen“. Die „Andersartigkeit“, das „Anders-Sein“ wurde nacheinander nach den Kriterien Nationalität, Rasse, Religion, Kultur und schließlich sozialer Klasse untersucht. Diese Erhebung ist die erste einheitliche europäische Studie über die Einstellungen der Bürger in der Europäischen Gemeinschaft zu Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz. Wir haben aus dieser Umfrage einige Fragen ausgewählt, die potentiell zur Messung eines Teilbereichs extrem rechter Ideologie herangezogen werden können und wollen untersuchen, ob die ausgewählten Indikatoren tatsächlich eine Dimension extrem rechter Einstellungen repräsentieren.
Gefragt wurde nach Ethnozentrismus, Ausländer-feindlichkeit, Befürwortung rassistischer Bewegungen und der Affinität zu einer diktatorischen politischen Ordnungsform. Diese Indikatoren erscheinen insofern theoretisch sinnvoll, als rechtsextreme Einstellungen sich insbesondere auch hinsichtlich einer Feindseligkeit gegenüber Fremdgruppen (out groups) bzw. Minoritäten ausdrücken können. Die Fragen lauteten wie folgt: (1) „Was würden Sie generell zu der Anzahl der Menschen anderer a) Nationalitäten, b) Rasse, c) Religion, d) Kultur und e) Gesellschaftsschichten in unserem Lande sagen? Sind es zu viele, viele, aber nicht zu viele, nicht viele?“ (2) „Manche finden die Ansichten, die Gewohnheiten und die Lebensweise von Menschen, die anders sind, als störend. Empfinden Sie im Alltag Menschen anderer a) Nationalitäten, b) Rasse, c) Religion, d) Kultur und e) Gesellschaftsschichten als störend oder nicht störend?“ (3) „Welche der folgenden Ansichten über verschiedene Staatsformen kommt Ihrer eigenen am nächsten? a) Die Demokratie ist auf alle Fälle die beste Staatsform, wie die Umstände ansonsten auch b) sein mögen, Unter bestimmten Umständen kann eine Diktatur etwas Gutes sein, c) Für jemanden wie mich spielt es keine Rolle, ob unser Land eine Demokratie oder eine Diktatur ist.“ (4) „Es gibt Bewegungen und Vereinigungen, die sich zur Ausländerpolitik äußern. Sagen Sie bitte, ob Sie rassistische Bewegungen uneingeschränkt befürworten, eher befürworten, eher ablehnen oder völlig ablehnen?“
Für unsere empirische Analyse wurden bei den Fragen 1) und 2) jeweils die Angaben zu a) bis e) nach einer Überprüfung in einer exploratorischen Faktorenanalyse zu additiven Indices zusammengefaßt, die von 0 (keine extrem rechte Affinität) bis 5 (hohe extrem rechte Affinität) reichen. In der nachfolgenden Tabelle 2 sind, getrennt nach den drei von uns gebildeten Gruppen, die Prozentanteile derjenigen Befragten angegeben, die diese Fragen in einer potentiell als extrem rechte Orientierung zu kennzeichnenden Weise beantworten, also: — eine ethnische Vielfalt negativ wahrnehmen (Indexwerte 3— 5); — diese Vielfalt im Alltag als störend empfinden (Indexwerte 3 — 5); — pro-rassistische Bewegungen befürworten; — unter Umständen eine Diktatur befürworten.
Zunächst ist festzustellen, daß sich nur in weniger als der Hälfte der Länder in bezug auf die uns zur Verfügung stehenden Stimuli klare Beziehungen der vier Statements (in dem geschilderten Sinne) und extrem rechter ideologischer Selbsteinstufung nachweisen lassen. Es bestehen erhebliche länder-spezifische Unterschiede, die in wenigen Fällen so-gar bis zur Umkehrung der Korrelationsrichtung gehen (insbesondere Irland). Betrachtet man die Prozentpunktdifferenz zwischen den beiden anderen ideologischen Gruppen (Extrem Linke-und Mitte-Befragte) und den extrem Rechten, so bestimmen die gewählten Indikatoren vor allem in Dänemark, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Italien und den Niederlanden relativ gut den Inhalt eines Teilbereichs in einem extrem rechten Überzeugungssystem. Allerdings haben sich für den Zweck dieser Analyse nicht alle Indikatoren als gleichermaßen geeignet erwiesen. Dabei waren länderspezifische Unterschiede in bezug auf Ausländerfeindlichkeit durchaus zu erwarten, weil sich die Ausländerproblematik, z. B. in bezug auf die Immigrationsrate, in den verschiedenen Nationen sehr unterschiedlich darstellt. So sind einige Staaten traditionelle Aus-bzw. Abwanderungsländer (z. B. Irland und die südeuropäischen Länder), während andere aufgrund ihrer kolonialen Vergangenheit (Frankreich, Großbritannien) oder aufgrund einer guten ökonomischen Situation (Bundesrepublik) hohe Zuwanderungsraten haben.
Betrachtet man die beiden „härteren“ Indikatoren „Befürwortung einer diktatorischen Staatsform“ und „Befürwortung rassistischer Bewegungen“, so muß man feststellen, daß es auch hier erhebliche Länderunterschiede gibt. Besonders signifikant ist in Italien und Spanien, deren Geschichte durch eine rechtsextreme diktatorische Periode gekennzeichnet ist, die positive Einschätzung einer diktatorischen Staatsform mit einer extrem rechten Ideologie verbunden, während dies bei ähnlichen Ausgangsbedingungen für die Bundesrepublik und Portugal nicht gilt. Ebenso klar ist das Bild in bezug auf die Befürwortung rassistischer Bewegungen in Belgien, der Bundesrepublik, Dänemark und Frankreich. Hier weisen die extremen Rechten wesentlich höhere Prozentanteile aus als die anderen Gruppen, was in den übrigen Ländern jedoch nicht der Fall ist.
Insgesamt zeigen die Korrelationen zwischen der Links-Rechts-Selbsteinstufung und den vier ausgewählten Einstellungsobjekten, daß man keinesfalls durchgängig von einem ideologisch klar fixierten Einstellungssyndrom mit positiver, extrem rechter Ladung ausgehen kann. Dies unterstreicht die in Abschnitt 3 schon angesprochene Problematik der Operationalisierung eines extrem rechten Weltbilds anhand von vorgegebenen Indikatoren: Die vier auf den ersten Blick zur Messung extrem rechter Einstellungen gut geeigneten Indikatoren erweisen sich bei einer international vergleichenden Konstruktvalidierung über die Links-Rechts-Selbsteinstufung als nicht generell, d. h. länderunabhängig, valide. In einem zweiten Schritt soll nun untersucht werden, ob sich in den Ländern, in denen wir relativ eindeutige Beziehungen zwischen ideologischer Selbsteinstufung und unseren Einstellungsindikatoren feststellen konnten, diese Orientierungsmuster als kohärent im Sinne der Converseschen Theorie der Attitüdenkonsistenz interpretieren lassen. Zu diesem Zweck wurden die vier Indikatoren, die in der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien und den Niederlanden zur Messung extrem rechter Einstellungen geeignet scheinen, miteinander in Beziehung gesetzt. Die Höhe der Korrelationskoeffizienten innerhalb der drei Gruppen läßt den Grad ihrer Einstellungskohärenz in bezug auf ein politisch extremistisches Überzeugungssystem in dem operationalisierten Sinne erkennen, d. h.: Je niedriger die Korrelationskoeffizienten, dösto schwächer bzw. inkonsistenter ist das ideologische Überzeugungssystem innerhalb der Gruppen ausgeprägt.
Somit wird deutlich, daß sich für das extrem rechte Potential in den ausgewählten Ländern in bezug auf die verfügbaren Indikatoren kein geschlossenes extrem rechtes ideologisches Weltbild festmachen läßt. In allen fünf Ländern lassen sich nur relativ schwache Beziehungen feststellen, d. h.: In den Ländern, in denen nach Tabelle 2 ein recht klares Muster extrem rechter Orientierungen existiert, zeigt sich eine geringe Kohärenz des möglicherweise zugrundeliegenden extrem rechten Überzeugungssystems. Wenn überhaupt von einem kohärenten ideologischen Überzeugungssystem gesprochen werden könnte, dann eher im Hinblick auf die beiden anderen Gruppen. Dort finden wir zum Teil recht ausgeprägte Beziehungsstrukturen, die sich im Sinne einer Abwehr extrem rechter Attitüden in den jeweiligen Ländern interpretieren lassen. Stellt man nur auf die uns zur Verfügung stehenden Einstellungsindikatoren ab, so scheinen in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft, in denen diese Indikatoren überhaupt extrem rechte Orientierungsmuster anzeigen, die Befragten auf der extrem rechten Seite des politischen Spektrums ein relativ diffuses Weltbild zu besitzen. Die Beziehungen zwischen den Einstellungen sind schwach, eine Ideologie im genannten Sinne läßt sich nicht feststellen.
Dieser Befund bestätigt sich auch, wenn wir die Schnittpunkte noch extremer fassen (Skalen-punkt 10 auf der Links-Rechts-Skala). Das bedeutet angesichts der von uns dargestellten Einschränkungen in bezug auf die verfügbaren Indikatoren nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Die bisherigen Analysen sind in ihren Befunden jedoch so eindeutig, daß völlig entgegengesetzte Ergebnisse auf der Grundlage anderer, möglicherweise besserer Indikatoren, als wenig wahrscheinlich gelten können.
V. Sozialstrukturelle Determinanten extrem rechter Potentiale
Abschließend wollen wir untersuchen, ob eine sozialstrukturell orientierte Analyse des extrem rechten Potentials in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft zu klareren Ergebnissen gelangt. Hierbei wollen wir uns vor allem auf die empirische Überprüfung der aus den Überlegungen in Abschnitt 2 ableitbaren Hypothesen beziehen
Aus dem von uns beschriebenen Erklärungsansatz von Scheuch und Klingemann lassen sich direkt Aussagen über die sozialstrukturelle Zusammensetzung derjenigen gewinnen, die auf die typischen Spannungen des sozialen Wandels mit rigidem Denken reagieren. Für Falter und Schumann sind es insbesondere die schlechter Gebildeten und die jüngsten bzw. älteren Bürger, die für einen solchen psychologischen Verteidigungsmechanismus anfällig sind, weil vielen von ihnen die zur Bewältigung der sich stets wandelnden Anforderungen der modernen Gesellschaft notwendigen analytischen und kognitiven Fähigkeiten fehlen. Für die Älteren trifft dies zu, weil sie bestimmte autoritäre Gewohnheiten und Interpretationsmuster während ihrer frühen Sozialisationsphase erworben haben könnten und zusätzlich wegen einer natürlichen Tendenz, im Alter weniger flexibel und tolerant zu sein. Für die Jüngsten könnte dies gelten, weil sie einer „no future“ -Generation mit hoher Arbeitslosigkeit und genereller Zukunftsunsicherheit angehören, während insbesondere den weniger Gebildeten oft die zum Umgang mit komplexen sozialen und politi-sehen Phänomenen notwendige Erfahrung und Toleranz fehlen dürfte
Die durch diese Überlegungen postulierte kurvilineare Beziehung zwischen Alter und extrem rechter Orientierung mit höheren Anteilen bei den Jüngsten und den Älteren wird durch unsere Daten nicht bestätigt. Wie Tabelle 3 zeigt, ist die höhere Affinität zur extremen Rechten bei den Älteren eindeutig: In allen Ländern sind die weitaus höchsten Anteile bei den über 60jährigen zu finden. Die Jüngeren weisen jedoch gegenüber den mittleren Jahrgängen keine höheren Anteile an sich extrem rechts einstufenden Personen aus in der Hälfte der Länder ist sogar das Gegenteil der Fall. Die negative Beziehung zwischen Bildung und extrem rechter Selbsteinstufung zeigt sich jedoch eindeutig: Mit Ausnahme von Portugal sinkt in allen EG-Mitgliedsländern der Anteil an extrem Rechten mit steigender Bildung, wenn auch die Beziehung in einigen Ländern nicht sehr stark ausgeprägt ist.
In bezug auf den sozio-ökonomischen Status ist die Bildung eng mit der beruflichen Stellung verknüpft. Hierauf bezieht sich die wohl bekannteste These zur Beziehung zwischen Sozialstruktur und extrem rechten Orientierungen, nämlich Lipsets Ansicht, daß jedes wichtige soziale Stratum sowohl demokratische als auch extremistische Ausdrucksformen hat und der Extremismus der Mitte, mit der Mittel-schicht als sozialer Basis, im Faschismus zu sehen ist. Die These von der Radikalisierung der Mittel-schicht wird mit deren struktureller Bedrohung durch den sozialen Wandel, insbesondere die Konzentrations-und Zentralisierungsprozesse im Rahmen der Entwicklung moderner Industriegesellschaften, und der aktuellen Bedrohung durch Wirtschaftskrisen begründet. Für Lipset besitzt vor allem der kleine alte Mittelstand, d. h. Selbständige in Handel, Handwerk und Landwirtschaft mit kleineren Betrieben, die Tendenz zur extrem rechten Orientierung.
Aufgrund der trotz unserer Datenkumulation immer noch relativ geringen Fallzahlen bei den extrem Rechten können wir die Berufsgruppen nicht sehr detailliert ausweisen. Insbesondere können wir die alte Mittelschicht (Selbständige und freie Berufe) nicht weiter unterteilen, wie es zur exakten Über-prüfung der Lipset-These notwendig wäre. Sieht man von denjenigen ohne Berufstätigkeit ab, so zeigt unsere Grobeinteilung in Tabelle 3, daß die alte Mittelschicht zumindest in ihrer Gesamtheit tatsächlich in fast allen Ländern den höchsten Anteil an extrem Rechten aufweist.
Die der Mittelstandsthese Lipsets zugrundeliegende allgemeine Überlegung, die Deprivation von Individuen bzw. Gruppen im Rahmen des von regional-, Sektor-bzw. gruppenspezifischen ökonomischen Krisen und Spaltungen begleiteten gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses als Erklärungsfaktor für extrem rechte Orientierungen anzusehen, führt zu einer weiteren sozialstrukturellen These, die wir abschließend überprüfen wollen. Deprivation, d. h.der „Zustand der Enttäuschung und Unzufriedenheit, der aufgrund der Nicht-Erfüllung bestimmter Erwartungen und Bedürfnisse eintritt“ kann entweder in einer objektiven ökonomischen Marginalisierung begründet sein oder sich in Form subjektiver Unsicherheit und Angst vor künftigem Statusverlust äußern. Die subjektive Deprivation läßt sich mit sozialstrukturellen Daten nicht prüfen, für die objektive ist dies mit Einschränkungen möglich. Dies kann anhand von Indikatoren geschehen, die den ökonomischen Status direkt messen, also insbesondere das Einkommen und Vermögen. Hierzu liegen in unserem Datensatz zwei Indikatoren vor: das monatliche Brutto-haushaltseinkommen und das Immobilieneigentum in Form eines Hauses oder einer Eigentumswohnung. Eine optimale Datenlage in bezug auf die Überprüfung der These wäre gegeben, wenn Informationen über einen ökonomischen Statusverlust vor nicht allzulanger Zeit vorlägen. Da solche Daten nicht existieren, müssen wir auf eine Betrachtung der ideologischen Selbsteinstufung in unterschiedlichen Einkommens-und Vermögensgruppen ausweichen. Die Daten hierzu zeigen, daß ein systematischer, länderübergreifend gültiger Zusammenhang zwischen Einkommen und extrem rechter Orientierung nicht besteht und die am Immobilieneigentum gemessene Vermögenssituation wenn überhaupt, dann eher in der den theoretischen Überlegungen zuwiderlaufenden Richtung mit der ideologischen Orientierung in Beziehung steht. D. h. die ökonomisch schlechter Gestellten zeigen keine stärkere, sondern eher eine geringere Neigung zu extrem rechten Orientierungen.
Auch die sozialstrukturelle Analyse des extrem rechten Potentials in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft ergab somit für die unterschiedlichen Hypothesen partiell eher diffuse Strukturen. Trotzdem lassen sich gerade unter vergleichender Perspektive zumindest hinsichtlich der Bildungs-und Schichtthese und bezüglich der stärkeren Affinität älterer Bürger zur extremen Rechten relativ klare Ergebnisse feststellen.
VI. Fazit
Extrem rechte Orientierungen sind nicht nur in Ländern mit totalitärer Vergangenheit — wie der Bundesrepublik oder Italien — zu finden, sondern auch in Ländern, die eine ungebrochene Tradition demokratischer Staatsformen haben. Deshalb ist die Frage, unter welchen Bedingungen Bürger unterschiedlicher politischer Systeme für solche Orientierungen. anfällig sind und vor allem wie groß das extrem rechte Potential in einer Bevölkerung ist, von besonderer Bedeutung -
Gerade unter dieser Perspektive ist es wichtig, die Probleme der empirischen Erfassung extrem rechter Potentiale deutlich zu machen, denn je nach der Art der Operationalisierung ergeben sich unterschiedliche Ergebnisse in bezug auf die Stärke und inhaltliche Bestimmung dieses Potentials, wie unsere Analyse gezeigt hat.
Wir entschieden uns, das extrem rechte Potential in den Ländern der EG mit Hilfe der Links-Rechts-Einstufung zu bestimmen und die Attitüdenstruktur der zu diesem Potential Gehörenden sowie deren sozialstrukturelle Einbettung zu analysieren. Dabei konnten wir erhebliche länderspezifische Unterschiede feststellen. Ebenso wurde deutlich, daß sich im Hinblick auf die Konsistenz extrem rechter Einstellungen in den Ländern der EG mit den uns zur Verfügung stehenden Indikatoren kein geschlossenes, extrem rechtes Weltbild feststellen ließ. Die Analyse der sozialstrukturellen Determinanten extrem rechter Orientierungen ergab in bezug auf einige Variablen durchaus länderübergreifend gültige Beziehungsstrukturen, auch hier zeigte sich jedoch, daß die international vergleichende empirische Analyse extrem rechter Potentiale noch am Anfang steht.
In bezug auf die drei angesprochenen Möglichkeiten, extrem rechte Potentiale zu bestimmen, nimmt die Bundesrepublik im EG-Vergleich keineswegs eine herausgehobene Stellung ein. Von einer besonderen Anfälligkeit der deutschen Bevölkerung gegenüber extrem rechten Orientierungen kann deshalb nicht gesprochen werden, obwohl dies gerade vor ihrem spezifischen historischen Hintergrund oft behauptet wurde Dennoch besteht kein Grund zur Verharmlosung. Die strukturellen Bedingungen sind, wie wir sowohl mit unseren Einstellungsindikatoren (Ausländerproblematik) als auch in bezug auf die sozialstrukturellen Analysen feststellen konnten, mehr oder weniger manifest vorhanden.
Petra Bauer, Dr. phil., geb. 1958; Wissenschaftliche Angestellte am Zentrum für Europäische Umfrageanalysen und Studien (ZEUS). Veröffentlichungen zur Politischen Soziologie und Europäischen Integration. Oskar Niedermayer, Dr. rer. pol., geb. 1952; Hochschuldozent an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim und geschäftsführender Direktor des Zentrums für Europäische Umfrageanalysen und Studien (ZEUS). Veröffentlichungen u. a.: Europäische Parteien? Zur grenzüberschreitenden Interaktion politischer Parteien im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt-New York 1983; (zus. mit K. Reif und H. Schmitt) Neumitglieder in der SPD, Neustadt 1987; Innerparteiliche Partizipation, Opladen 1989; zahlreiche Aufsätze und Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelbänden.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.