I. Das unrühmliche Ende des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens
Am frühen Morgen des 23. Januar 1990 hatte die letzte Stunde des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens geschlagen. Um 3. 20 Uhr erklärte der amtierende Parteichef Milan Panevski den übemächtigten Delegierten mit müder, kaum hörbarer Stimme, der XIV. Kongreß der Partei werde zu einem Zeitpunkt fortgesetzt, den das Zentralkomitee festlegen werde. Viele der Delegierten ahnten damals bereits, daß diese Vertagung auf unbestimmte Zeit das schlecht kaschierte Ende einer Partei bedeutete, die das Land mehr als vier Jahrzehnte lang beherrscht hatte.
Knapp fünf Stunden zuvor war es auf dem Kongreß zum keineswegs unerwarteten Eklat gekommen. Der Chef der slowenischen Kommunisten Ciril Ribii erklärte, seine Delegation werde den Kongreß demonstrativ verlassen. Zur Begründung sagte er, der BdK Slowenien sei auf dem Parteitag ein ums andere Mal überstimmt worden. Da er über den intoleranten Dialog irritiert sei, wolle er von nun an seine eigenen Wege gehen Tatsächlich waren sämtliche slowenischen Anträge auf dem Kongreß förmlich abgeschmettert worden. Als Beispiel sei das Amendment genannt, das vorsah, den Bund der Kommunisten Jugoslawiens in einen lose zusammenhängenden Bund der Bünde zu verwandeln. Der Antrag erhielt ganze 169 Ja-Stimmen, während 1 156 Delegierte dagegen stimmten. Hier zeigte sich in aller Klarheit, daß Slowenien auf dem Parteitag allein stand, unterstützt lediglich vom Reformflügel des BdK Kroatien, der damals jedoch eine — wenn auch starke — Minderheit in der eigenen Partei war.
Unter dem Titel „Demokratische Reform heute“ ließ die slowenische Delegation dem Kongreß ein Dokument zugehen, das ihre Vorstellungen in acht Punkten zusammenfaßte: 1. Garantie der Menschenrechte in ganz Jugoslawien. Unmittelbare, allgemeine und freie Wahlen, bei denen die unterschiedlichsten Parteien um die Gunst der Wähler werben. 3. Gründung eines „Jugoslawischen Demokratischen Forums“, das als „Runder Tisch“ für gleichberechtigte politische Gruppierungen und Parteien funktionieren sollte. 4. Trennung von Staat und Partei im ganzen Land, Beseitigung des gesellschaftlichen Eigentums, Schaffung eines Parlaments mit zwei Kammern u. a. 5. Lokale Selbstverwaltung. 6. Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und der Menschenrechte in Kosovo. 7. Aufhebung des Straftatbestandes der „konterrevolutionären Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung“ (Art. 114 Strafgesetzbuch) und Verkündung einer Amnestie auf dieser Grundlage. 8. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens sollte seinen Namen, sein Programm und sein Statut ändern und auf das Prinzip des demokratischen Zentralismus verzichten 2).
Die acht Punkte enthielten lediglich die slowenischen'1 Minimalforderungen, von denen man glaubte, sie könnten auf dem Parteitag konsensfähig sein. Mittelfristiges Ziel der slowenischen Reformkommunisten war die Herstellung einer parlamentarischen Demokratie westlichen Musters in ganz Jugoslawien. Doch selbst dieses Kompromißpapier wurde abgelehnt, ebenso wie alle übrigen slowenischen Zusatzanträge, die sich mit Bürger-rechten, der Ausgestaltung der Demokratie und dem Schutz der Menschenrechte befaßten. Darunter waren Anträge, die besonders im Hinblick auf Kosovo der Polizei Folterungen verbieten sollten und das Ende politischer Prozesse forderten. Man gewann den Eindruck, als wolle die reformunwillige Mehrheit um den serbischen Präsidenten Miloevi den BdK Slowenien bewußt verletzen, verhöhnen und letztlich vom Parteitag vertreiben. Als die slowenische Delegation den Kongreßsaal im Belgrader Sava-Zentrum unter Protest verließ, wurde sie von der Mehrheit der verbliebenen Delegierten mit ebenso frenetischem wie höhnischem Beifall bedacht. Die Miloäevic-Fraktion im BdKJ feierte ihren vermeintlichen Triumph, während der amtie-rende Vorsitzende der Plenarsitzung — der montenegrische Parteichef Momir Bulatovic, ein getreuer Paladin von Slobodan Miloevi — die Sitzung weiterführen wollte, als sei nichts geschehen.
Doch nun zeigte sich, daß die „Ausgrenzungstaktiker“ Opfer einer kapitalen Fehleinschätzung geworden waren. Der kroatische Parteichef Ivica Racan meldete sich zu Wort und verlangte, der Kongreß müsse sofort unterbrochen werden, damit man eine ernsthafte Debatte über den inneren Zustand der Partei vorbereiten könne. Sollte dem Antrag nicht stattgegeben werden, würden die kroatischen Delegierten die Abstimmung über Dokumente und Beschlüsse des Kongresses verweigern. Slobodan Milosevic konterte kühl. Er forderte die Delegierten auf, den Parteitag ohne Rücksicht auf die Beschlüsse der Slowenen und Kroaten fortzusetzen. Nach einer längeren Pause, während derer die Delegationen ihren Standpunkt in interner Diskussion festlegten, wurde eine Spaltung in zwei Lager manifest. Die BdK Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien stimmten für den Abbruch des Kongresses, der seine Arbeit erst dann fortsetzen sollte, wenn die dafür notwendigen Voraussetzungen geschaffen seien. Die Parteien Serbiens, der Vojvodina, Kosovos und Montenegros setzten sich für die unverzügliche Fortsetzung des Kongresses ein. Angesichts dieses Kräfteverhältnisses kam nichts anderes als der Abbruch des Kongresses in Frage
Am 4. Februar 1990 spaltete sich die kommunistische Partei Sloweniens auch offiziell vom Bund der Kommunisten Jugoslawiens ab. Der BdK Slowenien gab sich den zusätzlichen Namen „Partei der demokratischen Erneuerung“ und zog seine Vertreter aus dem Zentralkomitee und dem Präsidium des BdKJ zurück. Die slowenischen Kommunisten erklärten, der Bund der Kommunisten Jugoslawiens existiere in seiner bisherigen Form nicht mehr. Sie wollten nicht mehr Teil dieser Partei und damit mitverantwortlich für eine Politik sein, auf die sie kaum Einfluß hätten. Statt dessen wolle man mit anderen demokratischen Kräften in Jugoslawien, vor allem mit der Republik Kroatien, eng zusammenarbeiten.
Wenngleich in den folgenden Wochen und Monaten noch mehr oder weniger hilflose Versuche unternommen wurden, den Bund der Kommunisten Jugoslawiens wiederzubeleben, war das definitive Ende dieser Partei von niemandem mehr zu verhindern. Dabei muß man sagen, daß sie sich recht kläglich von der politischen Bühne verabschiedet hat: Mit einem Kongreß, dem es nicht gelungen war, eine vorher vorbereitete „Deklaration“ oder andere Dokumente zu verabschieden, geschweige denn irgendwelche personellen Entscheidungen zu treffen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ein Änderungsantrag zur geplanten Deklaration angenommen wurde, in dem die Partei auf ihr Machtmonopol und ihre führende Rolle verzichtete. Die faktische Auflösung durch Selbstblockade ist einzigartig, wenn man das Schicksal der kommunistischen Parteien in Osteuropa in Betracht zieht. Es gelang weder eine Spaltung, noch eine Umbenennung, noch die Schaffung einer wie auch immer gearteten Nachfolgeorganisation. Analysiert man die Ursachen für dieses unrühmliche Ende, so liegen sie ganz wesentlich im langdauernden ordnungspolitischen Konflikt zwischen dem BdK Slowenien und dem BdK Serbien.
II. Belgrad und Ljubljana — zwei Typen der politischen Kultur
Als sich um die Mitte der achtziger Jahre die Unreformierbarkeit des politischen Systems drastisch zeigte, weil Versuche zu einer gesamtjugoslawischen Willensbildung immer wieder scheiterten, schien das kommunistische Regime seinem Ende nahe: Die wirtschaftliche Lage war katastrophal, die Unzufriedenheit der Bevölkerung wuchs, der Bund der Kommunisten war heillos zerstritten und stand den Problemen des Landes hilflos gegenüber. In dieser kritischen Situation ergriffen als erste die „nationalen Parteien“ in Serbien und in Slowenien die Initiative. Sie schlugen jedoch diametral entgegengesetzte Wege ein, um der Krise Herr zu werden. Der 1987 endgültig zur Macht gekommene serbische Führer Slobodan MiloSevic proklamierte die „antibürokratische Revolution“ und wurde zum Schöpfer und zur Symbolfigur eines ebenso nationalistischen wie systemkonformen Populismus. Dem Volkstribun Miloevi ging es folglich nicht darum, das System der kommunistischen Einparteienherrschaft allmählich abzubauen und den Über-gang zum demokratischen Pluralismus zu organisieren. Sein Ziel war ein gänzlich anderes: Das dem Volk entfremdete und überlebte kommunistische Regime sollte zumindest in Serbien wieder in neuem Glanz erstrahlen. Das Rezept hierzu bestand in einer Mischung aus kommunistischer Orthodoxie und serbischem Nationalismus. Das politische System wurde demnach von vornherein am-nestiert, wenn man nach Schuldigen für die Krise suchte, in die Serbien und Jugoslawien geraten waren. Unfähige Politiker, verknöcherte Bürokraten in der eigenen Republik, vor allem aber in anderen Landesteilen wurden zu Sündenböcken erklärt. Diesen Funktionären, die sich dem Volk entfremdet hatten und nur noch ihre ureigenen egoistischen Interessen verfolgten, sagte die serbische National-bewegung unter Milosevic den Kampf an.
Die wütenden Attacken gegen die „Alte Garde“ schienen zunächst mit den Forderungen der serbischen Opposition nach mehr Demokratie in Einklang zu stehen. Nach dem Sturz des alten Partei-chefs Ivan Stambohd zeigte sich jedoch, daß Milosevics Führungsstil autoritär und in Einzelfällen brutal war. Ganz in „Tito-Manier“ organisierte er eine gründliche Säuberung des BdK Serbien. Alle Funktionäre, an deren Loyalität er zweifelte, wurden eliminiert. Dann kamen die Chefredakteure und Journalisten von Presse und Fernsehen an die Reihe. Durch die rücksichtslose Gleichschaltung von Partei und Medien brachte Milosevic das gesamte öffentliche Leben Serbiens unter seine Kontrolle.
Die populistische Bewegung, die sich jung, dynamisch und vor allem glühend patriotisch gerierte, verstand es zudem sehr geschickt, den serbischen Nationalismus zu mobilisieren. Sie suggerierte den Menschen das kollektive Gefühl einer mehr als vierzig Jahre andauernden Benachteiligung und Entrechtung und vermischte diese Argumente raffiniert mit dem ohnehin in Serbien existierenden Genozidtrauma Schon vor seiner Machtübernahme beschuldigte Milosevic die Albaner des Kosovo, sie würden die Serben aus ihrer dortigen Heimat mit Gewalt vertreiben und eine Politik des „Genozids“ verfolgen. Aufgebauschte Meldungen über Körperverletzungen, Vergewaltigungen und Brandstiftungen, aber auch gänzlich aus der Luft gegriffene Greuelpropaganda mobilisierten alle nationalistischen Emotionen, die mit der Kosovo-Frage verbunden sind. Gleichzeitig wurde Serbien als ein in drei Teile zerrissenes Land dargestellt, das „wiedervereinigt“ werden müsse. MiloSevic bewerkstelligte seinen politischen Aufstieg und seine Machtübernahme ganz wesentlich mit Hilfe des Vehikels Kosovo. Da er für eine Politik der harten Hand plädierte und sich als starker Mann gerierte, wuchs seine Popularität rasch. Die Emotionen, die er mobilisierte, waren demokratiefeindlich. Er weckte den blinden Haß gegen die „Feinde Serbiens“. Zu diesen zählte er nicht nur die Albaner, sondern auch die Slowenen, die er mit ihnen im Bunde wähnte. Nach seiner Lesart gehörte auch Tito zu den jugoslawischen Politikern, die die „Dreiteilung“ Serbiens in das eigentliche Kernland und die beiden Provinzen erst ermöglicht hatten.
Ausgehend von dieser Logik war Serbien innerhalb Jugoslawiens von zahlreichen Feinden umgeben, denn auch kroatische Politiker machten keinen Hehl aus ihrer Abscheu gegen Serbiens gewalttätige Kosovo-Politik. Gerade an der Kosovo-Frage entzündete sich der Gegensatz zwischen dem BdK Slowenien und dem BdK Serbien. Dabei ging es nicht nur um die rechtlich höchst fragwürdigen Maßnahmen, die Serbien traf, um sich seine beiden Provinzen wieder einzuverleiben. Mit Sorge betrachtete man im Nordwesten des Landes auch, wie der politische Pluralismus im ehemals weltoffenen Belgrad mit seinen liberalen Traditionen und kritischen Intellektuellen fast völlig beseitigt wurde. Von oben durch die „Gleichschaltungsmaßnahmen“ der politischen Führung, von unten durch die nationalistisch aufgeputschten Massen, die jeden Anders-denkenden zum „Volksverräter“ abstempelten.
Den hier entstandenen Typ der politischen Kultur charakterisierte der ehemalige slowenische Spitzen-funktionär Franc etinc als eine „patriarchalisch geprägte Untertanenkultur“, aus der ein Führer als „Großer Baumeister“ oder „Retter“ hervorgegangen sei. Die andauernde ökonomische und moralische Krise riefe bei den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht und der Resignation hervor. Kämen jetzt noch die Mythen der Vergangenheit als eine Art kollektive Volkskrankheit hinzu, so entstünde der Humus, aus dem der neue Typ des Führers erwachse. Die Menschen würden sich krampfhaft an den vermeintlichen Heros klammern, weil sie sich von ihm die Erfüllung ihrer Sehnsüchte versprächen. Der patriarchalische Führer wiederum brauche nur die richtigen Saiten aufzuziehen, um den Schmerz des Volkes für seine Zwecke zu mobilisieren und er werde zumindest vorübergehend den gewünschten Erfolg haben
Aus diesen Worten spricht die tiefe Abneigung, die man Miloevi in den entwickelten Landesteilen, vor allem aber in Slowenien entgegenbringt. Er wurde zur Symbolfigur eines ebenso anachronistischen wie verhaßten Systems, das man längst überwunden glaubte. Hinzu kam die Perzeption der Bedrohung, die von der orthodox-nationalistischen kommunistischen Ideologie ebenso ausging wie vom traditionellen serbischen Vormachtstreben. Die extreme Feindschaft zwischen Belgrad und Ljubljana Hegt auch darin begründet, daß man an der Lauterkeit der wechselseitigen Motive zweifelt. Während die Serben die gewaltsame „Befriedung“ Kosovos als legitime Wahrnehmung ihres nationalen Interesses ansehen, argwöhnen die Slowenen, sie könne die Generalprobe für ihre eigene „Befriedung“ sein. Wenn die Slowenen vom Recht auf Sezession sprechen, erblicken die Serben darin eine Ermunterung an die Kosovo-Albaner, sich von Jugoslawien/Serbien abzuspalten. Das zeitweise starke Engagement der Slowenen für die Kosovo-Albaner entspringt nach ihren eigenen Aussagen humanitären Beweggründen und dient dem Schutz der Menschenrechte. In Serbien läßt man diese Argumentation nicht gelten. Man spricht von einer „Koalition der Separatisten“, die sich zum Ziel gesetzt hat, Serbien entscheidend zu schwächen -
Der Kem des Konflikts zwischen Slowenien und Serbien lag jedoch darin, daß die slowenischen Kommunisten nicht an eine Restauration des alten Systems dachten. Sie zogen die logische Konsequenz aus dem Versagen des sozialistischen Gesellschaftsmodells und planten den geordneten Rückzug aus unhaltbar gewordenen ideologischen und politischen Monopolstellungen. Ihr Ziel war der allmähliche Übergang zu einem parlamentarisch-demokratischen System westlicher Prägung. Doch bald mußten sie erkennen, daß sie das Tempo der Entwicklung nicht mehr bestimmen konnten. Denn überall in Slowenien regten sich Kräfte, die ungeduldig nach substantiellen Änderungen des politischen Systems verlangten. Zwar wies die politische Führung in Ljubljana zunächst alle Forderungen nach Bildung unabhängiger politischer Parteien zurück. Stereotyp erklärte sie, alle politischen Vereinigungen und Organisationen hätten sich im Rahmen der Massenorganisation „Sozialistische Allianz“ zu etablieren. Dennoch wurden erste politische Parteien — unabhängig von der „Allianz“ — gegründet, darunter der Slowenische Bauernbund, die Sozialdemokratische Union, die Slowenische Demokratische Union und die Slowenische Christlich-Soziale Bewegung. Die oppositionellen Parteien gingen noch weiter: Im Mai 1989 führten sie eine offiziell nicht genehmigte Volksabstimmung über ein Dokument durch, das als „Mai-Deklaration“ bezeichnet wurde. In diesem Papier wurden Souveränität für Slowenien, einschließlich des Rechts auf Sezession, Achtung der Menschenrechte, das Privateigentum sowie freie Wahlen mit mehreren Parteien für 1990 gefordert. Der Boden für so weitreichende Postulate war zuvor vom Bund der Kommunisten Sloweniens bereitet worden.
Nach zweitägiger Konferenz teilte das slowenische ZK am 17. Januar 1989 offiziell mit, es habe sich für den politischen Pluralismus und gegen die Monopolstellung des Bundes der Kommunisten entschieden. Die Demokratisierung der jugoslawischen Gesellschaft sei die Voraussetzung für die Lösung der bestehenden Krise. Pluralismus sei eine demokratische Form der Versöhnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und daher ein stabilisierendes Element der Verfassungsordnung. Einen größeren politischen Spielraum gewährleiste die Entwicklung des Sozialismus als offenes System auf der Grundlage moderner zivilisatorischer Normen, insbesondere der vollen Achtung der Menschenrechte und der Freiheiten der Bürger
Damit wurde die Entwicklung zum Mehrparteiensystem jetzt unaufhaltsam. Bemerkenswert ist, daß sich die damals vertretenen Ordnungsvorstellungen noch immer auf ganz Jugoslawien richteten, und daß man ihre Einengung auf Slowenien in diesem Stadium noch als unzulässig betrachtete. Die Gründung parteiähnlicher Organisationen rief in Serbien unverhohlene Antipathie hervor. Die kommunistische Partei in der Stadt Belgrad stellte die Frage, seit wann denn die jugoslawische Verfassung geändert worden sei, und welcher neue Artikel die Gründung anderer Parteien erlaube. Der bekannte Journalist Aleksandar Prlja — heute Außenminister der Republik Serbien — erklärte seinerzeit, gegeben sei eine inakzeptable Bedrohung des gesamten Systems, denn die neugegründeten Parteien würden völlig autonom sein und sich der Kontrolle durch die Sozialistische Allianz entziehen
Auf einer Sitzung des ZK des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens Anfang Februar 1989 brachte der slowenische Parteichef Milan Kuan die Haltung seiner Republik auf folgenden Nenner: Nur ein Jugoslawien, das demokratisch, europäisch, föderalistisch, blockfrei und im allgemeinen Sinne fortschrittlich sei, könne für den BdK Slowenien in Frage kommen. Dabei machte Kuan keinen Hehl aus seiner Grundüberzeugung, daß ein unitaristisch-zentralistisches Jugoslawien, wie es seinem Gegenspieler Milosevic vorschwebe, für ihn unannehmbar sei. Auf der ZK-Sitzung erschien Miloevic als der Hauptfeind von Reformen und Demokratisierung, zumal er in seiner Stellungnahme politische und personelle Änderungen gefordert hatte, die notfalls auch außerhalb der legalen Institutionen durchgesetzt werden müßten. Im scharfen Gegensatz dazu erklärte der slowenische Parteichef: „Jugoslawien wird eine demokratische Gesellschaft werden oder nicht mehr existieren. Es kann keine Demokratie ohne politischen Pluralismus geben. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens muß ein Bund von Gleichgesinnten sein, der sich der politischen Konkurrenz stellt. Der BdK Slowenien kann sich nicht mit einer Partei identifizieren, in der es nur eine Wahrheit gibt.“
• Hier ist die Trennungslinie markiert, die ein knappes Jahr später zur Bruchstelle werden sollte. Der tiefe Graben zwischen Befürwortern und Gegnern des politischen Pluralismus im westlichen Sinne spaltete den Bund der Kommunisten Jugoslawiens in zwei Teile. Serbien, auf dessen Seite in nicht ganz freiwilliger Gefolgschaft Montenegro, Kosovo und die Vojvodina standen, wollte das traditionelle System der kommunistischen Herrschaft möglichst lange bewahren und politische Reformen am liebsten auf den St. Nimmerleinstag verschieben.
Bereits im Dezember 1989 hatte die serbische Staats-und Parteiführung ihre Reformunwilligkeit deutlich unter Beweis gestellt. Sie sprach sich entschieden gegen ein Mehrparteiensystem aus und wollte allenfalls die Gründung zusätzlicher gesellschaftlicher Organisationen und Bürgerinitiativen zulassen. Auf dem Parteitag im Januar 1990 bestritt Milosevic zudem, daß die Reformen in Ungarn, der DDR und der SFR auf irgendeine Weise Modellcharakter für Jugoslawien haben könnten. Milosevic sagte, die Welt, die jetzt in Osteuropa zum Einsturz gebracht worden sei, habe man in Jugoslawien bereits 1948 zerstört Hier paarte sich Selbstgefälligkeit mit Unverständnis für die Vorgänge in Osteuropa. Bereits im Dezember 1989 hatte Sloweniens heutiger Präsident Kucan den ideologischen Konflikt zwischen Ljubljana und Belgrad zutreffend charakterisiert: „Es handelt sich bei der Auseinandersetzung zwischen Serbien und Slowenien keineswegs um den Konflikt zwischen zwei Führungen, zwei Völkern oder zwei Republiken. Das ist nur das äußere Erscheinungsbild einer tiefergehenden Auseinandersetzung zwischen zwei verschiedenen Auffassungen über den Inhalt und die Form des Zusammenlebens in Jugoslawien. Es geht um einen Konflikt, der in allen Teilen der jugoslawischen Gesellschaft verankert ist . . . Offensichtlich kann sich niemand aus dieser Auseinandersetzung her-aushalten.“
Der BdK Slowenien war der entschiedendste und mutigste Verfechter des pluralistischen Modells, gefolgt von den Kommunisten Kroatiens, die einen zurückhaltenderen und vorsichtigeren Kurs steuerten, weil es in ihren Reihen erheblich mehr konservative Kräfte gab. Die Kommunisten Bosnien-Herzegowinas und Makedoniens schlugen sich erst im allerletzten Moment auf die Seite Sloweniens, und dies nicht, weil sie sich dem pluralistischen Modell verpflichtet fühlten, sondern weil sie die Notwendigkeit spürten, dem übermächtigen Einfluß des BdK Serbien in einer „Rumpfpartei“ (BdKJ ohne Slowenen und Kroaten) entgegenzutreten.
III. Die Abnabelung Sloweniens und Kroatiens von der jugoslawischen Föderation
Ende September 1989 verabschiedete das slowenische Parlament 54 Amendments zur slowenischen Verfassung. Zwei Punkte waren dabei wesentlich: Ein Ausnahmezustand über die Republik kann nur verhängt werden, wenn das slowenische Parlament dem ausdrücklich zustimmt. Zum zweiten billigte Amendment zehn dem slowenischen Volk das Recht auf Sezession aus dem jugoslawischen Staats-verband zu und erhob es zu einer materiellen Verfassungsnorm Es war klar, daß diese Maßnahmen einen Verfassungskonflikt auslösen würden. Das Recht auf Sezession wird in der jugoslawischen Bundesverfassung lediglich in der Präambel erwähnt, ohne daß irgendwelche Ausführungsbestimmungen zur Verwirklichung dieses Rechts genannt werden. Nach Artikel 5 Absatz 3 müssen jedoch alle Republiken und Provinzen jedweden Änderungen der Grenzen der SFRJ zustimmen, während Artikel 281 die Föderation ausdrücklich zur Wahrung der territorialen Integrität Jugoslawiens verpflichtet.
In Serbien, der Vojvodina und Montenegro wurden Demonstrationen mit bis zu 100 000 Teilnehmern organisiert, die sich gegen die slowenischen „Verräter und Separatisten“ richteten. Gefordert wurde ein Eingreifen der Armee. Die Führung der Jugoslawischen Volksarmee verurteilte zwar das slowenische Vorgehen, ließ jedoch erkennen, daß sie es bei verbalen Attacken belassen wollte. Der Bundesrat des jugoslawischen Parlaments rief das Bundesverfassungsgericht an, um die Vereinbarkeit der slowenischen Amendments mit der Bundesverfassung prüfen zu lassen. Im Februar 1990 erklärte das Bundesverfassungsgericht das von Slowenien verabschiedete Sezessionsrecht für verfassungswidrig und bestätigte das Recht des Staatspräsidiums der SFRJ, Sondermaßnahmen wie den Ausnahmezustand über slowenisches Territorium zu verhängen. Diese Entscheidung hatte jedoch für Slowenien keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen, da die verfassungsmäßig vorgegebene Prozedur zur „Differenzbereinigung“ mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen würde. Auch nach Ablauf dieser Frist könnte Slowenien in praxi kaum gezwungen werden, die verfassungswidrigen Amendments zurückzunehmen
Bis zum Frühjahr 1989 bestanden in Slowenien noch mehr oder weniger zaghafte Hoffnungen, den in der eigenen Republik begonnenen Demokratisierungsprozeß — vielleicht mit einiger Verspätung — auch auf ganz Jugoslawien ausdehnen zu können. Nach der Zwangsbefriedung Kosovos durch Serbien war diese Hoffnung jedoch geschwunden. Die Reformbestrebungen konzentrierten sich jetzt ausschließlich auf die eigene Republik. Mit dem ebenfalls reformwilligen Kroatien bestanden Kontakte, der Rest des Landes war in den Augen der Reformer ein mehr oder weniger hoffnungsloser Fall. Im Zuge der Verfassungsänderungen vom September wurde die Formel von der „sozialistischen Selbstverwaltungsdemokratie als einer besonderen Form der Diktatur des Proletariats“ ebenso ersatzlos gestrichen wie das Bekenntnis zum „sozialistischen Internationalismus“. Der BdK Slowenien wurde von der Verfassung nicht länger als der „Hauptinitiator aller politischen Aktivitäten“ bezeichnet und verlor damit seine privilegierte Stellung. Am 7. März 1990 beschloß das Parlament in Ljubljana, daß die offizielle Staatsbezeichnung „Republik Slowenien“ lautet, der bisherige Zusatz „sozialistische“ wurde gestrichen. Am 8. April fanden die ersten freien Wahlen seit Kriegsende statt. Die Reformkommunisten, die diese Wahlen erst möglich gemacht hatten, mußten sich mit 17, 3 Prozent der Wählerstimmen zufriedengeben. Es siegte die vereinigte Opposition mit knapp 55 Prozent aller Stimmen; zu diesem DEMOS genannten Block hatten sich die Partei der Handwerker, der Demokratische Bund, die Grünen, die Christdemokraten, der Bauernbund und die Sozialdemokraten zusammengeschlossen. Der Reformkommunist Milan Kuan, dessen BdK-Mitgliedschaft allerdings ruht, wurde zum Staatspräsidenten gewählt
Anfang Mai bildete die DEMOS-Koalition die Regierung. Die maßgeblichen Politiker dieser Koalition sind sich darüber einig, daß Jugoslawien in seiner gegenwärtigen Form am Ende ist. Der Staat müsse so rasch wie möglich in eine „lose Konföderation souveräner Staaten“ umgewandelt werden. Dabei hat man sich überlegt, daß nur zwei Wege in die Konföderation führen: 1. Das faktische Erlöschen der Föderation oder 2. Der Abschluß eines Abkommens über eine Konföderation. Beide Wege erscheinen der slowenischen Regierung gangbar. Mitte Juni 1990 erklärte Regierungschef Peterle: „Konföderation bedeutet für mich die freiwillige Gemeinschaft souveräner Staaten, die sich darüber einigen, welche gemeinsamen Angelegenheiten auf der Ebene der Konföderation erledigt werden sollten.“
Dem Regierungschef schwebt eine lockere Konföderation im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft mit Zollunion vor. Eine Konföderation könnte durch Abschluß eines neuen Grundsatzvertrages zwischen den sechs Teilrepubliken Zustandekommen. Dabei sieht man in Ljubljana jedoch das Problem, daß die politischen Führungen in vier Repubüken des Landes noch immer nicht durch freie Wahlen konstituiert sind. Daher sei in absehbarer Zeit eher mit dem Abschluß einer Vereinbarung über eine Konföderation zwischen Slowenien und Kroatien zu rechnen, der sich möglicherweise Bosnien-Herzegowina anschließen könne. Eine slowenische Kommission, bestehend aus Vertretern der Regierung und des Staatspräsidiums, hat einen entsprechenden Entwurf ausgearbeitet. Zugrunde hegen sollen ihm die Prinzipien der Europäischen Gemeinschaft. In der künftigen Konföderation soll jede Republik ihre nationale Armee erhalten, während lediglich Teilverbände einem gemeinsamen Oberbefehl zu unterstellen wären. Die Außenpolitik wäre im Prinzip die Sache der selbständigen Nationalstaaten — bei sehr begrenzter Kompetenz der Konföderation — ebenso das Schul-und Bildungswesen. Jede Republik unterhielte darüber hinaus ihren eigenen Nachrichtendienst und ihre eigene Spionageabwehr. Jeder der zu bildenden Nachfolgestaaten hätte sein unabhängiges Rechtssystem, seine eigene Administration, sein eigenes System der öffentlichen Finanzen, vielleicht sogar seine eigene Währung
Ende Juni 1990 erklärte Dimitrij Rüpel, Präsident der Slowenischen Demokratischen Allianz: „Wir wollen unseren eigenen Staat haben, unsere eige-nen Institutionen, unsere eigene Politik, unsere eigene Wirtschaft. Wir wollen frei über alles verfügen, was wir verdienen . . . Wie auch die Sowjetunion war Jugoslawien im Kem konzipiert als ein föderatives Imperium unter der Kontrolle der kommunistischen Partei. Solange die Partei genügend stark war, konnte sie alle Teile des Ganzen Zusammenhalten. Nachdem jedoch das Monopol zum Teufel gegangen und das Modell gescheitert war, war es ganz normal, daß sich die Teile verselbständigten. Jugoslawien ist lediglich ein Vertrag, eine Übereinkunft.“
Am 2. Juli verabschiedete das slowenische Parlament eine Deklaration über die volle Souveränität des slowenischen Staates. Danach kommen Bundesgesetze — einschließlich der Bundesverfassung — nur noch dann zur Anwendung, wenn sie den slowenischen Gesetzen nicht widersprechen. Auch die Reformkommunisten stimmten dieser Deklaration zu; nur drei Abgeordnete im ganzen Parlament votierten dagegen Ende September legte die slowenische Regierung einen Gesetzentwurf vor, der die teilweise oder völlige Außerkraftsetzung von nicht weniger als 27 Bundesgesetzen vorsieht. Auch zwei Artikel der gültigen Bundesverfassung sollen nicht mehr zur Anwendung komnen
Auch den ersten Schritt zur Schaffung einer natio1alen Armee hat das slowenische Parlament bereits intemommen. Es stellte an das Präsidium der SFRJ die Forderung, daß die am 1. September ein•ückenden slowenischen Rekruten ihren Wehriienst nur noch im Fünften Armeebezirk ableisten. Der Bezirk umfaßt Slowenien, Kroatien und einen Teil von Bosnien-Herzegowina. Da dieser Fordeung nicht entsprochen wurde, droht Slowenien danit, keine Rekruten mehr zum Dienst in die Jugolawische Volksarmee zu entsenden
urch die hier skizzierten Maßnahmen hat sich Slovenien Schritt für Schritt von Belgrad abgenabelt, o daß Fachleute von einer schleichenden Sezession inter Beibehaltung des gesamtjugoslawischen Rahnens sprechen. Slowenien möchte seinen politichen Handlungsspielraum auf ein Maximum er/eitern, doch die förmliche Sezession aus dem juoslawischen Staatsverband ist nicht das intendierte Ziel dieses Prozesses.
Jach Slowenien war Kroatien die zweite jugoslawiehe Republik, die ihre sozialistische Orientierung ber Bord warf. Die ersten freien Wahlen seit dem 'weiten Weltkrieg fanden hier am 22. und 23. April sowie am 6. und 7. Mai statt und 23. April sowie am 6. und 7. Mai statt. Im ersten Wahlgang war die absolute Mehrheit der Stimmen zum Gewinn eines Mandats erforderlich. Es siegte die Kroatische Demokratische Gemeinschaft — eine nationalbewußte bürgerliche Partei, geleitet von dem bei Tito in Ungnade gefallenen Partisanengeneral Franjo Tudjman, der von der katholischen Kirche sowie den Auslandskroaten unterstützt wird. Die Partei erhielt 42 Prozent der abgegebenen Stimmen, gewann jedoch 104 von 131 vergebenen Mandaten. Der Bund der Kommunisten, der sich mit dem Zusatz „Partei der demokratischen Veränderungen“ schmückte, gewann 25 Prozent der Stimmen, jedoch nur 13 Mandate. Der zweite Wahlgang bestätigte im wesentlichen diese Ergebnisse. Von den insgesamt 365 Mandaten im kroatischen Parlament errang die Kroatische Demokratische Gemeinschaft nicht weniger als 193. Auf die Kommunisten entfielen 81 Sitze, während die restlichen 91 Sitze von Unabhängigen und kleineren Parteien erobert wurden. General Tudjman erklärte nach seinem Sieg, Kroatien werde nur bei Jugoslawien verbleiben, wenn sich die SFRJ zu einem lockeren Staatenbund wandle, andernfalls müsse es seinen eigenen Weg gehen 21).
Am 25. Juli verabschiedete das kroatische Parlament Amendments zur Verfassung und konstituierte damit die „Republik Kroatien als einen bürgerlichen Rechtsstaat, basierend auf parlamentarischer Demokratie“ 22). Die Proklamierung der staatlichen Unabhängigkeit Kroatiens wurde von symbolträchtigen Akten begleitet. Die Flagge mit dem roten Stern, die vor dem Parlament aufgezogen war, wurde eingeholt und durch die rot-weiß-blaue Fahne mit dem schachbrettartigen kroatischen Nationalwappen in der Mitte ersetzt. Gleichzeitig wurde das Wort „sozialistisch“ aus dem Schild am Eingang des Parlamentsgebäudes entfernt.
Amendment 66 setzt fest, daß das lateinische Alphabet grundsätzlich zu verwenden ist, während das in Serbien übliche kyrillische Alphabet nur dort benutzt werden darf, wo sich mehr als die Hälfte der Einwohner seiner bedienen. Geplant ist auch eine Änderung der offiziellen Definition der Republik. Sie soll nicht mehr wie bisher als Staat der Kroaten und der in Kroatien lebenden Serben (600 000 Menschen, ca. zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung), sondern als Staat der Kroaten sowie der anderen Völker, die innerhalb seiner Grenzen leben, bezeichnet werden. Die Serben werden demnach in einem Atemzug mit den numerisch viel kleineren Minderheiten der Ungarn oder Italiener genannt und nicht mehr wie bisher besonders hervorgehoben. Diese Diskriminierung bildet unter ande-rem den Nährboden für die offenkundig von Belgrad gesteuerte Revolte der in Kroatien lebenden Serben
Die Zusammenarbeit zwischen Kroatien und Slowenien scheint sich sehr eng zu gestalten. Bereits im Juni erklärte Präsident Kuan, Konsultationen mit General Tudjman hätten ergeben, daß eine slowenisch-kroatische Föderation im Rahmen einer jugoslawischen Konföderation möglich sei. Entsprechende slowenische Vorschläge an Kroatien lägen bereits vor. Beide Präsidenten einigten sich darauf, ein gemeinsames Konzept für die Umgestaltung Jugoslawiens zu einer Konföderation zu erarbeiten Dagegen halten sie ein wie immer geartetes Zusammengehen oder ein Zusammenleben mit Serbien in einer Föderation für prinzipiell unmöglich. In ihren Augen steht Serbien für das alte, orthodoxe Jugoslawien, das ebenso anachronistisch wie bedrohlich ist und dessen Reformabsichten man nicht für bare Münze nimmt. Slowenien sieht sich in dieser Auffassung bestätigt, weil Serbien seit dem 1. Dezember 1989 eine wirtschaftliche und kulturelle Blockade gegen die Republik im Nordwesten verhängt hat, die lediglich Teil der generellen Ausgrenzungspolitik gegenüber Slowenien ist. Kroatien sieht sich mit immer drastischeren Destabilisierungsversuchen konfrontiert, die eindeutig von Belgrad ausgehen. Durch hemmungslose Propaganda wird die serbische Minderheit in Kroatien dazu verleitet, ultimativ eine nicht näher definierte „Autonomie“ zu verlangen und sich dabei gewaltsamer Mittel zu bedienen. Allem Anschein nach möchte Belgrad, daß es bei diesem Konflikt zu Blutvergießen kommt. „Märtyrer“ für die serbische Sache in Kroatien wären das probate Mittel, um die ohnehin heftigen Auseinandersetzungen weiter anzuheizen. Die Anfang Oktober proklamierte „Autonomie“ der Serben in Kroatien hat weiteres Öl in dieses gefährliche Feuer gegossen.
IV. Die Entwicklung in Serbien
Im Frühjahr 1989 gelang es Serbien, die beiden autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo — laut gültiger Bundesverfassung konstitutive Bestandteile der jugoslawischen Föderation — ihrer Unabhängigkeit zu berauben. Das Parlament von Kosovo wurde massiv unter Druck gesetzt, der eigenen Entmachtung zuzustimmen. Aufflackernde Unruhen schlugen Polizei und Militär nieder. Es gab 90 Tote, wie das jugoslawische Innenministerium erst lange nach den Ereignissen zugab. Kosovo wurde unter einen kriegsrechtsähnlichen Ausnahmezustand gestellt. Partei-und Staatsapparat der Provinz unterzog man in der Folgezeit einer umfangreichen Säuberung — 1989 wurden nicht weniger als 5 000 Führungspositionen neu besetzt. Diese Maßnahmen wurden in Slowenien als Kreuzzug gegen die albanische Intelligenz verurteilt.
Im Juli 1990 ging Serbien noch einen Schritt weiter. Nachdem die Abgeordneten des Parlaments von Kosovo die „Republik Kosovo“ proklamiert hatten, löste Serbien kurzerhand Parlament und Regierung auf und stellte die Provinz unter Zwangsverwaltung. Die albanischsprachigen Medien — Presse, Rundfunk und Fernsehen — wurden in ihrer Arbeit blockiert. Energische Proteste gegen dieses Vorgehen gab es aus Ljubljana. Das slowenische Parlament verabschiedete am 19. Juli mit großer Mehrheit eine „Deklaration zu Kosovo“ und erklärte, es werde nur diejenigen Entscheidungen als legitim und rechtswirksam anerkennen, die vom Parlament Kosovos und seinen anderen legal gewählten Repräsentanten getroffen würden. Besonders scharf kritisiert wurde die Handlungsweise des jugoslawischen Staatspräsidiums, das die illegalen Maßnahmen der serbischen Führung unterstützt habe
Die politischen Ordnungsvorstellungen Serbiens schienen stets auf ein Ziel ausgerichtet: die Einheit Jugoslawiens im Sinne der Aufrechterhaltung der Föderation und der Bewahrung einer einheitlichen Partei. Dabei verstand sich von selbst, daß Serbien eine führende Rolle in einem Bundesstaat und einer Bundespartei dieser Prägung spielen wollte. Slowenien als den unversöhnlichsten Widersacher gegen all diese Ambitionen wollte Präsident Miloevi am liebsten aus der staatlichen Gemeinschaft vertreiben. Diesem Zweck diente sowohl die völlige Wirtschaftsblockade seit Dezember vergangenen Jahres, als auch die Isolierung und Desavouierung der slowenischen Delegation auf dem XIV. Kongreß des BdKJ.
Doch schon im Frühjahr war das Scheitern diesei Ausgrenzungspolitik klar erkennbar. Slowenier ließ sich nicht dazu verleiten, aus der Föderatior auszuscheiden und seine Eigenstaatlichkeit zu er-klären. Vielmehr zeigte sich, daß das slowenische Konzept einer jugoslawischen Konföderation auch in anderen Landesteilen Anklang fand. Nach seinem klaren Wahlsieg in Kroatien sprach sich General Tudjman für eine Konföderation als einzig denkbare Lösung der jugoslawischen Krise aus. Auch Bosnien-Herzegowina und Makedonien — bis dahin Befürworter des Status quo — ließen erkennen, daß sie nicht mit einem übermächtigen Serbien in einer Föderation ohne Slowenien und Kroatien bleiben wollten.
Angesichts dieser Konstellation entschloß sich Miloevi zu einer drastischen Kursänderung. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die serbische Politik schon immer zweigleisig gewesen ist, d. h. für den Fall, daß seine gesamtjugoslawischen Ambitionen scheitern sollten, hatte sich Miloevi eine Rückzugs-position aufgebaut. Unter der Parole „Srbija moze sama“ — Serbien kann seinen Weg allein gehen — hatten die gleichgeschalteten Medien die notwendige publizistische Vorarbeit geleistet. Sie erinnerten daran, daß von den heutigen jugoslawischen Republiken nur Serbien und Montenegro auf eine Eigenstaatlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg verweisen können. Sie hoben die Verfassungstradition Serbiens hervor, die bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreicht, und entdeckten plötzlich Vorteile in der Idee einer Konföderation, die sie bis dahin einhellig verteufelt hatten.
Milosevic erläuterte diesen Sinneswandel anläßlich der Verabschiedung des Entwurfs der neuen serbischen Verfassung (Ende Juni) wie folgt: „Wir verabschieden diese Verfassung in einer Zeit, da Jugoslawien begonnen hat, sich im Rahmen der bestehenden Interrepubliksgrenzen verfassungsrechtlich zu konföderalisieren. Trotz dieser konföderalistischen Tendenzen ist das föderative Jugoslawien für Serbien die grundlegende politische Entscheidung, jedoch gerade wegen dieser Tendenzen nicht die einzig mögliche . . . Angesichts der starken konföderalistischen Desintegrationstendenzen wäre es unverantwortlich gegenüber Serbien und seinen Bürgern, wenn wir für die Lösung der jugoslawischen Krise nur ein Rezept hätten: das föderative Jugoslawien. Deshalb hat dieser Verfassungsentwurf auch die andere mögliche Option berücksichtigt: Serbien als selbständiger Staat.“
Anfang Juli ließ Miloevi eine Volksabstimmung in seiner Republik durchführen. Dabei ging es vordergründig um die Frage, ob vor Abhaltung demokratischer Wahlen zunächst die Verfassung verabschiedet werden sollte oder nicht. Die Rate der Ja-Stimmen von 98, 8 Prozent, die jedem totalitären Staat zur Ehre gereicht hätte, wurde von der Presse zu einem Bekenntnis für ein einheitliches und starkes Serbien umgemünzt. Tatsächlich trägt der vorliegende Entwurf die Züge der Verfassung eines Nationalstaats. So heißt es in Artikel 72: „Das serbische Parlament entscheidet über Krieg und Frieden und ratifiziert internationale Verträge.“ Nur ein einziger Artikel (Art. 1) erwähnt Jugoslawien. Im Absatz 2 heißt es: „Die SR Serbien ist Glied der jugoslawischen Föderation.“
Es ist kennzeichnend, daß dieser Artikel bisher die heftigsten Diskussionen hervorgerufen hat. Nach Meinung vieler Abgeordneter sollte er ersatzlos gestrichen werden Die Verfassung, die im Dezember dieses Jahres endgültig verabschiedet werden soll, ist ganz den Bedürfnissen und Wünschen von Slobodan Miloevi angepaßt. Hätte man, wie vielfach gefordert, zunächst freie Wahlen abgehalten, dann hätten die oppositionellen Parteien an der Gestaltung der Verfassung mitgewirkt und sie so nicht passieren lassen. Präsident und Präsidium der Republik werden unmittelbar vom Volk gewählt. Artikel 74 installiert das Mehrparteiensystem.
Um sich bei künftigen Wahlen einen uneinholbaren Vorsprung zu sichern, inszenierte Miloevi einen Überraschungscoup. Am 7. Juni dieses Jahres verliehen das ZK-Präsidium des BdK Serbien und das Präsidium der Massenorganisation Sozialistische Allianz ihrem Wunsch Ausdruck, sich zu einer neuen Partei zu vereinigen. Beide Organisationen begründeten diese Absicht mit ihren gemeinsamen Zielen: demokratischer Sozialismus, Errichtung eines einheitlichen serbischen Staates, Prosperität und Demokratie. Die zu gründende Partei sollte „Sozialistische Partei Serbiens“ (SPS) heißen, Vorsitzender sollte Slobodan Milosevic sein. Den Vereinigungskongreß wollte man Mitte Juli abhalten
Dieses Parteigründungsverfahren trug recht seltsame Züge. Zuerst wurden das Datum der Vereinigung und der Vorsitzende der neuen Partei bekanntgegeben, dann wurde eine äußerst knappe Frist für die „öffentliche Diskussion“ bestimmt. Die offizielle Propaganda, nämlich ein Leitartikel in der Politika, begründete die Vereinigung zur SPS mit folgenden Worten: „Auf die profaschistische und rechte Orientierung im Nordwesten Jugoslawiens antwortet Serbien mit einer demokratischen, linken und sozialistischen Orientierung.“
Am 16. Juli fand der Gründungskongreß der SPS statt. Im großen Kongreßsaal des Belgrader Sava-Zentrums hing kein einziges Tito-Bild. Auch der Name Tito wurde nicht ausgesprochen. Büsten des ehemaligen Staats-und Parteichefs waren ebenso-wenig zu sehen wie die auf Transparente geschriebenen Tito-Zitate früherer Jahre. Im Saal hing keine Flagge des BdKJ. Das Parteiprogramm der SPS verurteilt viele Sünden, die KPJ bzw. BdKJ in der Vergangenheit begangen haben, so u. a.: die Zwangskollektivierung der Dörfer, die Internierung bzw. Zugrunderichtung der Kominformisten auf der Insel Goli otok, die Ablösung der Staats-und Parteiführung Serbiens 1972, die Verabschiedung der Verfassung von 1974, die Einführung des Delegiertensystems, die Herstellung der Vereinbarungswirtschaft, schließlich die Rolle von Tito und anderer Führungspersönlichkeiten der Nachkriegs-geschichte
Hammer und Sichel gibt es im Emblem der SPS nicht mehr, an ihre Stelle sind der rote fünfzackige Stern und die serbische Flagge getreten. Im Programm der neuen Partei wird der BdK Serbien mit keinem Wort erwähnt, obwohl die SPS der vermögensrechtliche Nachfolger des BdK ist. Auch das gesamte Vermögen der Sozialistischen Allianz, das auf ca. 100 Millionen DM geschätzt wird, fällt an die SPS. So hat die SPS Vermögenswerte an sich gerissen, die ihr bei künftigen Wahlkämpfen einen gewaltigen Vorteil gegenüber anderen Parteien in Serbien verschaffen
Die SPS garantiert ein Mehrparteiensystem mit demokratischen Wahlen, sagt jedoch nicht, wann diese stattfinden sollen. Der Beitritt zur neuen Partei erfolgt nicht automatisch, er muß durch Unterschrift erklärt werden. Die Zeitung Veernji list stellte fest, Serbien habe als erste Republik in Jugoslawien den Bund der Kommunisten abgeschafft. Die getreuesten Wächter des kommunistischen Traditionalismus seien über Nacht zu Sozialisten geworden. Von der alten kommunistischen Partei werde keine Spur bleiben. Miloevi habe eine Art Salto mortale in den „demokratischen“ Sozialismus vollzogen. Er sei jetzt wieder doppelter Präsident, nämlich der des Staates und der Staatspartei. Der Bund der Kommunisten habe den Namen geändert und jede Menge demokratische Schminke aufgelegt
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Gründung der SPS als klares Indiz dafür gewertet werden kann, daß die serbische Führung den Glauben daran verloren hat, daß sich die jugoslawische Föderation und damit auch der Bund der Kommunisten Jugoslawiens aufrechterhalten lassen. Kennzeichnend ist auch, daß nicht etwa eine jugoslawische sozialistische Partei gegründet wurde, sondern eine serbische. Wie sehr sich Miloevi mit der konföderativen Realität Jugoslawiens abgefunden hat, geht aus seinen Äußerungen anläßlich der Annahme des Entwurfs zur serbischen Verfassung hervor. Miloevi erklärte Ende Juni, auf dem Territorium Serbiens könne keine andere Macht als das serbische Parlament über Serbien entscheiden. Das ist eine klare Absage an die Bundesgewalt und gleichzeitig ein überdeutlicher Hinweis an die Kosovo-Albaner, daß auch ihr Schicksal ausschließlich in serbischen Händen liegt.
Das Programm der SPS billigt den jugoslawischen Nationen, die ihren eigenen Staat haben, nachdrücklich das Recht auf Sezession aus dem Bundesstaat zu. Eine moderne Föderation gleichberechtigter Bürger und föderaler Einheiten soll nur noch begrenzte Kompetenzen haben: Gewährleistung des einheitlichenjugoslawischen Marktes, Verteidigung der Unabhängigkeit und Führung der Außenpolitik. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Organisation von Herrschaft und Regierung sollen die Republiken in ihre Hände nehmen Die hier skizzierte „Föderation“ kommt einer Konföderation nahe, sie muß daher als ein Kompromißangebot an die nordwestlichen Teilrepubliken verstanden werden.
Miloevis Absage an den Kommunismus ist ein Verzicht auf die früher einmal Einheit stiftende supranationale Ideologie. Solange er gesamtjugoslawische Ambitionen hatte, konnte er auf den BdKJ nicht verzichten. Erst als er sich entschloß, sich ganz auf Serbien und die in Jugoslawien lebenden Serben zu konzentrieren, konnte er zum „Sozialisten“ werden.
Der Konflikt über die Grundlagen des Zusammenlebens in Jugoslawien ist immer noch nicht ausgestanden. Zwar hat MiloSevic im ordnungspolitischen Konflikt mit Slowenien eine klare Niederlage erlitten, doch jetzt bahnen sich neue Auseinandersetzungen mit eventuell schwerwiegenderen Folgen an. Ende Juni erklärte Serbiens Präsident, falls sich Jugoslawien zu einer Konföderation entwickeln sollte, so sei die Frage der Grenzen Serbiens eine offene politische Frage. Die bisherigen Grenzen Serbiens innerhalb des föderativen Jugoslawiens seien rein administrativer Natur, sie könnten nicht die Grenzen eines serbischen Nationalstaats sein. Auf dieser Linie liegt auch seine Äußerung, Serbien sei überall dort, wo Serben leben, und wo serbische Gräber seien. Slowenien wäre von künftigen Grenzkonflikten aufgrund dieser serbischen Posi-tionen als einzige Republik nicht betroffen. Alarm-stimmung haben diese Äußerungen jedoch in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Makedonien hervorgerufen. Montenegro ist ein Sonderfall. Ein Ausschuß zur Vereinigung dieser Republik mit Serbien wurde bereits gegründet. Doch das hat den montenegrinischen Nationalstolz verletzt. Die oft zu hörende Formulierung, Serbien und Montenegro gehörten so zusammen wie die beiden Augen in einem Kopf, ist längst nicht mehr unumstritten. Die kürzlich erfolgte Gründung einer russisch-montenegrinischen Freundschaftsgesellschaft ist eine Geste der Rückbesinnung auf traditionelle Linien montenegrinischer Politik.
V. Der Prozeß demokratischer Transformationen
1990 wird als ein Jahr der Wahlen unter den Bedingungen des Mehrparteiensystems in die jugoslawische Geschichte eingehen. Während Kroatien und Slowenien ihre demokratische Bewährungsprobe bereits bestanden haben, warten die übrigen Republiken noch auf die ersten freien Wahlen seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Wahltermin in Makedonien wurde auf den 11. November festgelegt. Es gilt das Mehrheitswahlrecht, gewählt wird ein Einkammerparlament mit 120 Abgeordneten. In Makedonien existieren gegenwärtig zwölf politische Parteien, die jedoch nicht alle ordnungsgemäß registriert sind. Der BdK Makedonien, der mit der Zusatzbezeichnung „Partei des demokratischen Wandels“ auftritt, kann nach einer ersten Meinungsumfrage mit ca. Prozent der Wählerstimmen rechnen. An zweiter Stelle Hegt der vom jugoslawischen Ministerpräsident Ante Markovic gegründete „Bund der Reformkräfte“ (27 Prozent). Der sozialdemokratisch ausgerichtete „Sozialistische Bund“ darf auf 13 Prozent der Wählerstimmen hoffen 35).
Eine völlig neue Komponente trat mit der Gründung der „Partei der Demokratischen Prosperität“ in das politische Leben Makedoniens. Diese Partei, die ihren Hauptsitz in Tetovo hat, vertritt hauptsächlich die Interessen der ethnischen Albaner in Makedonien (ca. 400 000 Menschen), die auf den Westteil der Republik konzentriert sind und dort in vielen Orten die Bevölkerungsmehrheit stellen. Versammlungen dieser Partei wurden bisher in Strugd, Gostivar, Deber, Tetovo und in der Hauptstadt Skopje abgehalten. Der Bund der Kommunisten fürchtet die neugegründete Partei, die die Stimmen der Albaner auf sich konzentrieren wird. Sollten sich die oppositionellen Parteien zu einem Block zusammenschließen, könnten sie die Kommunisten von der Macht verdrängen. Doch alle Prognosen sind äußerst unsicher. Nach einer im September durchgeführten Umfrage wissen nur 48 Prozent der Wähler, für wen sie stimmen werden, Prozent denken noch über ihre Entscheidüng nach und 16 Prozent wollen sich überhaupt nicht an den Wahlen beteiligen 36).
In Bosnien-Herzegowina wird am 18. November gewählt. In der multinationalen Republik mit drei staatsbildenden Völkern (Muslime 40 Prozent der Bevölkerung, Serben 32 Prozent und Kroaten 17 Prozent) wurden bisher alle politischen Ämter nach dem Schlüssel 1: 1: 1 verteilt, d. h. man berücksichtigte Muslime, Serben und Kroaten gleichmäßig bei der Verteilung der politischen Macht. Dieses hochempfindliche Gleichgewicht wird durch die Einführung des Mehrparteiensystems völlig aus den Fugen geraten. Dem Bund der Kommunisten, der offiziell auf sein Machtmonopol verzichtet hat, werden kaum noch Chancen eingeräumt. Die „Partei der Demokratischen Aktion“, die die Interessen der Muslime vertritt, galt lange Zeit als aussichtsreichster Kandidat, bis sie sich in einen klerikalen und einen weltlich bestimmten Flügel spaltete. Die „Serbische Demokratische Partei“ ist auf der Suche nach einem Koalitionspartner, stieß jedoch bei den Muslimen auf wenig Gegenliebe. Die im August gegründete „Kroatische Demokratische Gemeinschaft von Bosnien und Herzegowina“ steht selbstverständlich unter dem Einfluß von General Tudjman und gilt als Befürworter sehr enger Verbindungen zu Kroatien. Serbien und Kroatien machen mehr oder weniger unverblümt territoriale Ansprüche geltend, so daß Bosnien-Herzegowina wieder in seine „historische Rolle“ als Zankapfel zwischen Serben und Kroaten gerät.
Das im August verabschiedete Wahlgesetz sieht keinerlei Persönlichkeitswahl vor. Der Wähler kann nur für die Listen der Parteien stimmen, so daß die Abgeordneten des Zweikammerparlaments — überspitzt formuliert — von ihren Parteiführungen gewählt werden. Dieser Wahlmodus wird in der Presse heftig kritisiert In Bosnien-Herzegowina wurden bisher 47 Parteien gegründet, doch die meisten sind nicht offiziell registriert. In Montenegro sind Wahlen für die zweite Dezemberhälfte angekündigt. Die Bildung neuer Parteien erfolgte schon vor Jahren, als in Montenegro offiziell noch das (absurde) Prinzip galt „Pluralismus ohne Parteien“. Inzwischen haben sich 17 Parteien etabliert, die fast alle registriert sind. Da es in der Republik nur 400 000 Wahlberechtigte gibt, hört man jetzt die ironische Formulierung „Zu viele Parteien für zu wenig Volk“. Links von der Mitte gibt es neben dem Bund der Kommunisten folgende Parteien: die Demokratische Allianz, die Partei der Sozialisten, die Sozialistische Partei, die Unabhängige Organisation des BdK Bar und die Sozialdemokratische Partei. Versuche, diese Parteien zu einem „Linksblock“ zu vereinigen, sind bisher gescheitert.
Es kandidieren ebenfalls die Umweltpartei, die Volkspartei und die Partei der Nationalen Gleichberechtigung. All diese Gruppierungen verlangen jetzt, mit dem Bund der Kommunisten in materieller und technischer Hinsicht gleichgestellt zu werden. Sie verlangen finanzielle Unterstützung für ihren Wahlkampf und freien Zugang zu den Massenmedien. Da sich die oppositionellen Parteien zumindest in diesen Fragen einig sind, bilden sie so etwas wie eine stillschweigende Opposition
In Serbien, wo am 9. Dezember gewählt werden wird, gibt es 49 Parteien. Trotz dieser dynamischen Entwicklung der Parteienlandschaft zeigt die politische Landkarte Serbiens keine drastischen Veränderungen. Die Sozialistische Partei, d. h. die ehemaligen Kommunisten, übt ihre Herrschaft weitgehend unangefochten aus. Lediglich die Serbische Emeuerungsbewegung mit ihrem Führer Vuk Draskovic, die ganz auf die nationale Karte setzt und vor chauvinistischen Ausfällen keineswegs zurückschreckt, scheint eine ernsthafte Konkurrenz zu sein. Das Ansehen von Slobodan MiloSevic hat gelitten, weil er viel versprochen, aber wenig gehalten hat. In den Belgrader Schaufenstern sieht man kaum noch ein Portrait des früher so überschwenglich gefeierten Volkshelden, auch die LKW-Fahrer haben die großen MiloSevic-Bilder von ihren Fahrzeugen abmontiert.
Vuk Draskovic, ein aus Bosnien stammender Serbe, tritt mit einem ausgesprochen antikommunistischen Programm auf. Gleichzeitig kämpft er für die Rehabilitierung von Draza Mihajlovic, dem königstreuen Anführer der etnici, der 1946 von den Kommunisten gefangen und hingerichtet wurde. DraSkovic fordert ein „Großserbien“, das nicht nur Makedonien, sondern auch Bosnien und große Teile Kroatiens einschließen würde Auch dem vom jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Markovic gegründeten „Bund der Reformkräfte“ traut man in Serbien ein gutes Abschneiden zu. Doch trotz dieser Konkurrenz wäre alles andere als ein Sieg der „Sozialistischen Partei Serbiens“ eine Riesenüberraschung. Die ehemaligen Kommunisten halten alle Trümpfe in der Hand. Sie haben als einzige einen voll ausgebildeten Parteiapparat, sie verfügen über Geld in beinahe unbegrenzter Höhe, sie beherrschen Presse und Fernsehen, sie bestimmen Form und Ablauf der Wahl. Zudem besteht nach dem neuen serbischen Wahlgesetz kein gleichberechtigter Zugang aller Kandidaten zu den Medien, vor allem zum Fernsehen. In diesem wichtigen Punkt ist demnach keine Chancengleichheit gegeben: Den Kandidaten der Sozialistischen Partei werden die Fernsehstudios offenstehen, während die Opposition kaum eine Chance erhalten wird, sich hier zu präsentieren
Will eine Partei in allen 200 Wahlkreisen einen Kandidaten aufstellen, so muß sie zu diesem Zweck 100 000 Unterschriften von wahlberechtigten Bürgern erhalten (500 Unterschriften pro Kandidat). Für die kommunistische Nachfolgepartei ist das eine Kleinigkeit, für die kleinen und völlig unzureichend organisierten Oppositionsparteien eine kaum lösbare Aufgabe. Die Durchführung der Wahlen und die Feststellung des Wahlergebnisses liegt in den Händen von Wahlkommissionen. Das Gesetz sieht nicht etwa vor, daß die Mitglieder dieser Kommissionen aus verschiedenen Parteien stammen müssen, sondern sagt, daß sie dem Richterstand anzugehören haben. Da die Richter im sozialistischen Staat ohnehin immer der Partei verpflichtet waren, darf an ihrer Objektivität gezweifelt werden
VI. Probleme der jugoslawischen Wirtschaft
Im Dezember 1989, als die Inflation in Jugoslawien mit 2 500 Prozent südamerikanische Dimensionen erreicht hatte, entschloß sich Ministerpräsident Ante Markovic zum Handeln. Beraten von dem amerikanischen Professor Jeffrey Sachs, der sich als Sanierer der bolivianischen Wirtschaft Ruhm erworben hat, entschied sich Markovic für einen Weg, den man in früheren Zeiten wohl als Roßkur bezeichnet hätte. Am 18. Dezember packte er sein Reformprogramm aus. Es enthielt 24 Bundesgesetze, von denen 17 unter dem Druck der Verhältnisse rasch verabschiedet wurden. Kernstück der neuen Wirtschaftspolitik ist die monetäre Reform. Durch einen radikalen Währungsschnitt verlor der Dinar vier Nullen, d. h. 10 000 alte Dinar verwandelten sich in einen neuen. Gleichzeitig wurde die neue Währung im Verhältnis von sieben zu eins an die D-Mark gekoppelt.
Währungsschnitt und Wechselkursfixierung werden von einer kompromißlosen Austerity-Politik begleitet. Der Mißbrauch der Nationalbank zur Defizitfinanzierung wurde radikal gestoppt. Das Bankensystem insgesamt wird grundlegend reformiert, was Regelungen zur Bankensanierung einschließt, aber auch die Schließung illiquider Banken. Unrentable Betriebe im gesellschaftlichen Eigentum sollen ebenfalls geschlossen und gegebenenfalls privatisiert werden. Die Löhne wurden eingefroren, 85 Prozent aller Preise hingegen freigegeben.
Es gelang, das Vertrauen der Bevölkerung für die neue Währung zu gewinnen und die Inflation drastisch einzuschränken. Doch es gibt auch Bruchstellen der Reform, die unter der Oberfläche der Erfolge bereits sichtbar werden. Nach Meinung vieler Kritiker wurde der Wert des Dinars bereits bei der Fixierung gegenüber der D-Mark zu hoch angesetzt, nämlich um ca. 25 Prozent. Die geplante Jahresinflationsrate von 13 Prozent ist schon jetzt utopisch, Fachleute nennen Zahlen zwischen 60 und 100 Prozent
Die von Markovic verkündete Konvertibilität des Dinar stieß im eigenen Lande auf heftige Kritik. So sagte der Laibacher Ökonom Ivan Ribnikar: „Die Konvertibilität einer Währung ist Ausdruck oder Folge einer florierenden und gesunden Wirtschaft. Man macht aber eine Wirtschaft nicht gesund, indem man die Konvertibilität der Landeswährung proklamiert.“
Eine Konsequenz der Überbewertung des Dinar liegt darin, daß Importwaren billig sind, während die jugoslawischen Exporteure mit erheblichen Ab
Satzschwierigkeiten zu kämpfen haben. Doch die Kernfrage der Reform ist die Eigentumsfrage. Das gesellschaftliche Eigentum war ja im Gegensatz zum Staats-oder Privateigentum das besondere Markenzeichen des jugoslawischen Sonderwegs. Dieses Eigentum hat keinen Titular, d. h. niemand ist berechtigt, als Verkäufer aufzutreten. Wenn also gesellschaftliches Eigentum privatisiert werden soll — und das ist ein grundlegendes Ziel der gegenwärtigen Reformen —, so muß man zunächst den Staat (d. h. die betreffende Republik) zum Eigentümer machen. Handelt es sich um ein Unternehmen, so können auch die dort langjährig Beschäftigten Eigentümerwerden. Zum Kauf berechtigt ist jeder in-und ausländische Interessent, sofern er nur über das notwendige Kapital verfügt.
Doch die Reprivatisierungspolitik richtet sich primär auf Verlustbetriebe, deren wirtschaftliche Existenz stark gefährdet ist. Florierende Unternehmen sollen im gesellschaftlichen Eigentum verbleiben, ohne daß geprüft wird, ob sie bei anderer Unternehmensverfassung nicht erheblich mehr Profit abwerfen würden. Offensichtlich hat Markovic hier Kompromisse geschlossen. Er wollte Traditionalisten und Anhänger des alten Systems nicht von vornherein verprellen. Wegen des postulierten „Pluralismus der Eigentumsformen“ geht die Privatisierung des gesellschaftlichen Sektors der Wirtschaft nur äußerst schleppend voran. Zudem fehlt es naturgemäß an kapitalkräftigen Kaufinteressenten. Die Implementierung der Wirtschaftsreform hängt jedoch entscheidend von politischen Faktoren ab. Mit dem drohenden Zerfall Jugoslawiens wäre auch das Ende der auf das ganze Land gerichteten Reformbestrebungen gekommen. Das von den Staatspräsidenten Sloweniens und Kroatiens erarbeitete und am 4. Oktober 1990 veröffentlichte „Modell einer Konföderation in Jugoslawien“ sieht ausdrücklich vor, daß nur „selbständige und souveräne Staaten“ Mitglieder der geplanten Konföderation werden können. Conditio sine qua non für die Aufnahme in diesen Staatenbund ist ein bereits installiertes demokratisches parlamentarisches System, das auf freien und geheimen Wahlen basiert und das Eigentumsrecht, das freie Unternehmertum und das Recht auf freie Gewerkschaften impliziert. Diese Bedingungen können Serbien mit seinen Provinzen, Montenegro und Makedonien kurzfristig nicht erfüllen, so daß die Konföderationspläne die zumindest temporäre Spaltung Jugoslawiens in zwei oder mehr verschiedene Wirtschaftsund Rechtsgebiete notwendig mit sich bringen.