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Mütter und Kinder. Zur Individualisierung der Kinder-und Frauenrolle in der Gesellschaft | APuZ 40-41/1990 | bpb.de

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APuZ 40-41/1990 Gewalt gegen Kinder als gesellschaftliches Problem Kindheit in der Familie Kindheit in der Dritten Welt Mütter und Kinder. Zur Individualisierung der Kinder-und Frauenrolle in der Gesellschaft Artikel 1

Mütter und Kinder. Zur Individualisierung der Kinder-und Frauenrolle in der Gesellschaft

Hans Bertram

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Zusammenfassung

Die Institution Familie nimmt im Wertehorizont junger Menschen nach wie vor einen hohen Stellenwert ein, trotz tiefgreifender demographischer Veränderungen. Mit dem Geburtenrückgang wird Kindheit individualisiert; vor allem in den Großstädten müssen sich Kinder in einererwachsenenzentrierten Welt mit ihren mannigfaltigen Situationen individuell bewähren und frühzeitig adäquate Verhaltensweisen und komplexe Kompetenzen des Rollenhandelns entwickeln. Aus diesen Veränderungen sind nicht nur Konsequenzen für die Gestaltung von Wohnumwelt. Nachbarschaft und pädagogischen Institutionen abzuleiten, zu reflektieren ist auch der diesen gesellschaftlichen Prozessen inhärente Wandel der Frauenrolle. Verlängerte Lebenserwartung und lange, dem hohen Bildungsniveau entsprechende Ausbildungszeiten erfordern eine Neustrukturierung von Lebensplänen und -rollen. Bislang gültige Zeitmodelle bezüglich der Familiengründung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie hinsichtlich der Strukturierung des Alltags geraten ins Wanken und bedürfen der ausführlichen Diskussion. Nur dann wird es gelingen, die Bedeutung der Familie für die Sozialisation der Kinder und die demokratische Verfaßtheit der Gesellschaft auch in Zukunft zu sichern.

I. Demokratie und bürgerliche Familie

1831 reiste Alexis de Tocqueville in die Vereinigten Staaten von Nordamerika, um die Demokratie, ihr Streben, ihr Wesen, ihre Vorurteile und ihre Leidenschaften zu untersuchen. Er wollte die Demokratie in Amerika kennenlernen, um zu erfahren, was man von ihr zu erhoffen oder auch zu befürchten habe. Bei dieser Suche wollte Tocqueville aber nicht nur herausfinden, wie demokratische Regeln die Regierung beeinflussen und in welcher Weise in einer Demokratie Staatsgeschäfte ausgeübt werden, sondern er wollte auch analysieren, welchen Einfluß die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die demokratische Anwendung von staatlichen Regeln auf die bürgerliche Gesellschaft, die Gewohnheiten, das Denken und die Sitten haben. Im Rahmen dieser Untersuchungen arbeitete er auch heraus, wie sich in einer Demokratie die Autorität des Vaters, die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Erziehung der Kinder, die Beziehung der Geschwister zueinander sowie die Erziehung von Jungen und Mädchen in einer demokratischen Gesellschaft von denen einer aristokratischen unterscheiden. die nach Tocquevilles Die väterliche Autorität, Auffassung in nichtdemokratischen -Gesellschaf ten schon deswegen erforderlich ist, um als verlängerter Arm der Obrigkeit die anderen Familienmitglieder zu regieren, sei in der demokratischen Gesellschaft weitgehend verschwunden. Denn hier bedürfe es eines solchen Mittlers nicht, und so ist der Vater in den Augen des Gesetzes lediglich ein Bürger, der allenfalls älter und reicher ist als seine Söhne und Töchter. Er kann daher auch keine besonderen Vorrechte beanspruchen, er kann allenfalls aufgrund seiner größeren Erfahrung den Kindern ein Ratgeber und ein Vorbild sein. Dies hat zur Konsequenz, daß der Umgang zwischen Vätern und Söhnen sehr viel vertraulicher und milder wird als in hierarchisch strukturierten Gesellschaften. „Je demokratischer die Sitten und Gesetze werden, um so vertraulicher und milder wird — so denke ich — das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, Man findet darin weniger Vorschrift und Autorität. das Vertrauen und die Liebe sind oft größer und das natürliche Band scheint enger zu werden, wohingegen das gesellschaftliche Band sich lockert.“

Die Elemente Verlust der väterlichen Autorität, egalitäre Beziehungen zwischen den Geschwistern, gleiche Selbständigkeitserziehung für junge Männer und Frauen, unterschiedliche Aufgaben für Mann und Frau bei gleicher Bewertung dieser Tätigkeiten waren für Tocqueville ein wesentliches Fundament der demokratischen Sitten in den Vereinigten Staaten von Amerika. Hinter dieser Beschreibung des Familienlebens stand bei ihm die Vorstellung, daß in einer demokratischen Gesellschaft alle Mitglieder gleiche Rechte haben, die ihnen individuell zuerkannt sind und die allenfalls, etwa im Fall der Kinder, durch unterschiedliche Erfahrung zunächst verschieden ausgestaltet sind. Diese bürgerlich-demokratische Familie war für Tocqueville fest eingebettet in Nachbarschaft und Gemeinwesen, in der auch die anderen Familien nach den gleichen Grundsätzen und Prinzipien lebten und soweit wie möglich ihre privaten, aber auch die politisch-öffentlichen Angelegenheiten im Rahmen demokratischer Gesetze selber regelten.

Dieses Leitbild, das in Amerika auf eine 150jährige Geschichte zurückblicken kann, hat in Europa erst sehr viel später Fuß gefaßt. Denn die Vorrechte etwa des Vaters, die Gleichheit der Geschwister und die Erziehung der Töchter waren hier noch bedeutend länger auf den Prinzipien eines hierarchischen, obrigkeitsstaatlichen Systems aufgebaut. Dennoch hat sich aber auch hier die Familie gegenüber den Wirren der Geschichte als besonders widerstandsfähig erwiesen. Dies zeigte sich in besonderer Deutlichkeit nach dem Zerfall des Deutschen Reiches, als Familie und Verwandtschaft letztlich die einzigen Institutionen waren, die den Menschen nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung Halt und Sicherheit gaben. Als Helmut Schelsky den Versuch unternahm, das Lebensgefühl und die Lebensperspektive der 14-bis 25jährigen Jugendlichen in der Nachkriegszeit darzustellen, die Bedingungen des Aufwachsens und der Erziehung herauszuarbeiten, konnte er darauf hinweisen, daß die Familie jene soziale Institution gewesen ist, die den Menschen Stabilität und Sicherheit verhieß. Sozialen Halt — so Schelsky — konnten die Menschen damals allenfalls in Familie und Verwandtschaft erwarten, mit der Konsequenz, daß dadurch auch die soziale Bindung der Mitglieder und ihre Solidarfunktion erheblich gestärkt wurden. Diese Leistung der Familien bei der Stabilisierung sozialer Ordnung prägten auch die Verhaltensweisen von Jugendlichen der Nachkriegsgeneration. Es schien somit auch nicht verwunderlich, daß die nachwachsende Generation ebenso wie die Eltern vordringlich an der Rekonstruktion und wirtschaftlichen Sicherung der verwandtschaftlichen und familialen Beziehungen mehr interessiert war als an öffentlichen Angelegenheiten. Männer-und Frauenrolle, Vorstellungen der Jugendlichen über ihre zukünftige Ehe und Familie orientierten sich daher auch an den Verhaltensmustern und dem Alltagsleben der Familie. So zeigten sich zwischen Jungen und Mädchen deutliche Unterschiede in den Lebensentwürfen. Mädchen erwarteten von ihrem zukünftigen Ehepartner ein hohes Maß an Solidität und Häuslichkeit, während Jungen bei Mädchen gute Hausfraueneigenschaften wie Haushaltsführung und Kinderpflege antizipierten. Schelsky kritisiert in diesem Zusammenhang vor allen Dingen den Rückzug der Jugendlichen in Privatheit und Familie. Er führt dies im wesentlichen auf das Erziehungsmodell im Elternhaus und auf die Lebenserfahrungen der Jugendlichen Nachkriegszeit denn zurück, auch die Eltern kümmerten sich erst um ihre persönlichen und familialen Angelegenheiten und nahmen diese wichtiger als öffentliche Belange.

Vergleicht man die Beschreibungen bei Schelsky und Tocqueville, fällt auf, wie beide Autoren herausarbeiten, daß die väterliche Autorität gegenüber früheren Jahrzehnten erheblich an Bedeutung verloren hat. Bei Schelsky ist dieser Gesichtspunkt vor allem deswegen wichtig, weil das Heraufkommen des Nationalsozialismus auch mit der autoritären Struktur des väterlichen Verhaltens erklärt worden war Auch bei der Rollenzuschreibung von Mann und Frau und bei der Beziehung der Geschwister zueinander lassen sich zwischen Tocquevilles und Schelskys Beschreibungen kaum Unterschiede ent-decken. Man kann sicherlich unter einer empirischen Perspektive diese positiven Beschreibungen der bürgerlich-demokratischen Familie in den Vereinigten Staaten und der bürgerlichen Familie des Nachkriegsdeutschland in Frage stellen, weil in den verschiedenen Epochen Familien keinesfalls immer den Idealvorstellungen der vorgenannten Autoren entsprachen und auch nicht alle Kinder und Jugendlichen in Familien lebten. Aber trotz dieser Einschränkung ist davon auszugehen, daß die Lebensform der bürgerlich-demokratischen Familie damals für die Entwicklung der amerikanischen wie später der bundesrepublikanischen Gesellschaft von ganz erheblicher Bedeutung gewesen ist, weil Kinder und Jugendliche hier Einstellungen und Verhaltensweisen entfaltet haben, die sie in ihrem späteren Leben zur Grundlage ihres Handelns machten.

Wenn etwa Schelsky den Pragmatismus jener Jugendgeneration, ihre Skepsis gegenüber Ideologien, ihre Familien-sowie ihre Berufs-und Leistungsorientierung besonders hervorhebt, so unterscheiden sich diese Beschreibungen der damaligen 14-bis 25jährigen nicht von den Ergebnissen von Einstellungsuntersuchungen der heute 50-bis 65jährigen, wie sie Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher aufzeigen Das Gelingen des Lebens in einer Familie ist aber nicht nur von den Einstellungen und Verhaltensweisen der jeweiligen Betroffenen determiniert, sondern hängt darüber hinaus auch von bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ab, die Familien nur sehr partiell beeinflussen können. So haben etwa ökonomische Faktoren und die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung einen ganz erheblichen Einfluß auf die Stabilität des familiären Lebens, wie die Zeiten nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gezeigt haben. Familien sind zudem in vielfältiger Weise auf die Unterstützung durch Nachbarschaft und Verwandtschaft, Gemeinde und Staat angewiesen, um für ihre Kinder günstige Bedingungen des Aufwachsens in einer Gesellschaft zu schaffen. Sie sind darüber hinaus in einem differenzierten Verbund mit anderen gesellschaftlichen Institutionen, durch den das familiäre Leben in erheblichem Umfang beeinflußt wird.

Die Berufstätigkeit des Vaters, teilweise auch die der Mutter, die Schule, der Kindergarten, die Infrastruktur der Gemeinde bis hin zu den staatlichen Transferleistungen beeinflussen das familiäre Leben. In diesem Aufsatz soll die These entwickelt werden, daß aufgrund tiefgreifender demographischer Entwicklungen in unserer Gesellschaft dieses klassische Modell familiären Lebens erheblichen Veränderungen ausgesetzt ist. Auf diese Schwierig-keiten müssen Gemeinde, Wirtschaft und Gesellschaft konstruktiv reagieren, soll weiterhin die Familie jene Bedeutung für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft haben.

II. Zur Individualisierung der Kindheit

Die positive Einschätzung von Familie und Kindern und ihre Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft wird heute — so zeigen eine Vielzahl empirischer Untersuchungen — von den meisten, auch jungen Erwachsenen positiv eingeschätzt. Nicht nur die langjährigen Wiederholungsuntersuchungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach sondern auch Studien zur Orientierung und Einstellung junger Paare zu Ehe und Familie zeigen den hohen Stellenwert, den auch heute noch jüngere wie ältere Menschen Ehe, Familie und Kindern einräumen. Parallel dazu und im Gegensatz zu dieser positiven Einschätzung zeigen eine Vielzahl anderer Indikatoren, daß Ehe und Familie offenbar nicht mehr so stabil sind. Während nun viele Autoren diese Veränderungen als Ausdruck eines Werte-wandels, zumindest bei einem Teil der Bevölkerung nach 1968 interpretieren, soll hier gezeigt werden, daß die Bedingungen des Aufwachsens für Kinder in unserer Gesellschaft sich tiefgreifend verändert haben. Wir müssen also, wenn die Familie auch in Zukunft jene Bedeutung in unserer demokratischen Gesellschaft haben soll, die ihr Tocqueville zugemessen hat, erhebliche Veränderungen in der Organisation der Erziehung unserer Kinder vornehmen. Die meisten Theorien, die sich mit der Sozialisation und Erziehung von Kindern auseinandergesetzt haben, kommen zu dem Ergebnis, daß Kinder andere Kinder brauchen. Kinder orientieren sich in ihrer Entwicklung, beim Erproben neuer Verhaltensweisen, beim Umgang mit Sachen und Personen sehr stark an den Verhaltensweisen anderer Kinder, wobei gerade die älteren Kinder und Geschwister von erheblicher Bedeutung sind. Darüber hinaus — und dieses haben viele Entwicklungspsychologen nachgewiesen — brauchen Kinder aber auch andere Kinder, um mit ihnen im kindlichen Spiel Regeln der Kooperation und der Solidarität auszuprobieren und zu entwickeln. Historisch mag die Entwicklung von Kindern in unserer Gesellschaft unterschiedlich interpretiert werden. Doch als ein gravierender Unterschied im Vergleich zur Kindheit um die Jahrhundertwende, aber auch noch zu den fünfziger, sechziger und Anfang der siebziger Jahre ist festzustellen, daß der Umgang zwischen Kindern, rein quantitativ betrachtet, zunehmend erschwert worden ist. Dies gilt insbesondere in den großen urbanen Zentren der Bundesrepublik und anderer europäischer Länder.

Es hat sich seit Beginn dieses Jahrhunderts — vor allem seit Mitte der siebziger Jahre — eine geradezu dramatische Veränderung in der Zusammensetzung von Familien in der Bundesrepublik ergeben. Wuchsen um die Jahrhundertwende von 100 Kindern mehr als 50 Prozent mit drei oder mehr Geschwistern auf, so haben derzeit nur noch knapp fünf Prozent aller Kinder drei und mehr Geschwister, und selbst die Zahl der Dreikinderfamilien hat sich erheblich reduziert. 1961 wuchsen von 100 Kindern immerhin noch 40 in einer Drei-, Vier-und Mehrkinderfamilie auf, während es 1987 nur noch 18 bis 19 von 100 Kindern waren. Demgegenüber sind heute mehr als 80 Prozent Einzelkinder oder haben nur ein Geschwister. Diese dramatische Veränderung der Zusammensetzung von Familien ist ein säkularer Prozeß, der aber erst nach Abflauen des Baby-Booms Mitte der siebziger Jahre in seiner ganzen Bedeutung erkennbar wurde, und der auch im wesentlichen für die vielen demographischen Probleme, die für die Zukunft vorhergesagt werden, verantwortlich ist.

Die sozialisatorische Konsequenz dieses Prozesses ist leicht nachvollziehbar, weil wir davon ausgehen müssen, daß Kinder innerhalb von Familien nicht mehr notwendigerweise jene älteren Geschwister und Spielgefährten finden, die es ihnen ermöglichen, vorgelebte Verhaltensweisen und Einstellungen im Umgang mit Erwachsenen zu übernehmen. Vielmehr ist die jetzt heranwachsende Generation zunehmend darauf angewiesen, sich in einer erwachsenenzentrierten Welt zu entwickeln. Denn die Haupt-Interaktions-und Kommunikationspartner sind innerhalb und außerhalb der Familie Erwachsene. Dieser Prozeß hat ohne Zweifel für die Entwicklung der Kinder auch erhebliche Vorteile mit sich gebracht, weil der Umgang mit Erwachsenen und die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern für eines oder höchstens zwei Kinder die sozialen Fähigkeiten mehr fördern mögen, als dies in einer kinderreichen Familie der Fall sein dürfte. Vermutlich erklärt sich auch hieraus, daß heute 10-und 11jährige schon Verhaltensweisen zeigen, die wir vor zehn oder 20 Jahren noch jungen Menschen zwischen 14 und 16 Jahren zugerechnet haben. Dies hat zur Konsequenz, daß einige Jugendforscher inzwischen von einer Jugend 1 und einer Jugend 2 sprechen. Dieser Prozeß verläuft in der Bundesrepublik aber nicht gleichzeitig, sondern tritt in den urbanen Zentren dramatischer hervor als in bestimmten ländlichen Regionen. Beispielsweise sind in Kommunen wie Berlin oder München nur noch acht bzw. zwölf Prozent aller Haushalte solche mit zwei und mehr Kindern, wohingegen in ländlichen Regionen am Niederrhein oder in Niederbayern immerhin noch 40 bis 50 Prozent aller Haushalte diesem Typ zuzurechnen sind. Eben dies indiziert, daß die Veränderungen in den großen Städten besonders ausgeprägt sind.

Diese Entwicklung führt nun zu einer verstärkten Individualisierung der Jungen und Mädchen, da nicht mehr vorgegebene, von älteren Kindern vor-gelebte Rollen und Erwartungen übernommen werden. Daher ist die nachwachsende Generation zunehmend gezwungen, in direkter Interaktion mit Eltern und anderen Erwachsenen eigene Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie man mit erwachsenen Interaktionspartnern umzugehen hat. Dieser Individualisierungsprozeß wird dadurch verstärkt, daß insbesondere in den großen Städten die Kommunikation und Interaktion mit Kindern aus der Nachbarschaft erschwert ist, allein das ungehinderte Spielen auf den Straßen und Plätzen ist schon aufgrund des Straßenverkehrs kaum noch möglich. So bezeichnen in einer Untersuchung eines Stadt-bezirks in München die meisten 8-bis 12jährigen Kinder selbst die unmittelbare Wohnstraße als zu gefährlich zum Spielen. Kommunikation und Interaktion mit anderen Kindern ist nur dann möglich, wenn man dies bereits am Vormittag in der Schule plant oder aber sich am Nachmittag über das Telefon verabredet. Für jüngere Kinder, denen diese Möglichkeiten noch nicht zur Verfügung stehen, sind Kindergarten und organisierte Kindertreffs durch die Eltern häufig die einzigen Gelegenheiten, Kinder aus der Nachbarschaft zu treffen. Wenn man darüber hinaus noch zur Kenntnis nimmt, daß es in bestimmten sozialen Gruppen auch immer üblicher wird, den Nachmittag durch die Teilnahme an Veranstaltungen der Musikschule, der Volkshochschule oder des Sportvereins auszufüllen, so bedeutet dies zudem, daß Kinder schon früh lernen müssen, mit Erwachsenen in unterschiedlichen Situationen nach ganz verschiedenen Regeln zu interagieren. Sich in wechselnden Kontexten auf unterschiedliche Verhaltenserwartungen und Personen einzustellen, erfordert das Verfügen über komplexe Kompetenzen des Rollenhandelns, das in der Regel nur von Menschen bewältigt wird, die sich in solchen unterschiedlichen Situationen auch individuell behaupten können. Auch dies verstärkt die Individualisierungstendenzen von Kindern in unserer Gesellschaft.

Dieser veränderten Kindheit, die hier nur in ganz wenigen Punkten skizziert worden ist, entspricht auch weitgehend das Angebot an Spielzeug, das es Kindern ermöglicht, komplexe Interaktionsbeziehungen zwischen Menschen einschließlich komplizierter Arbeitsbeziehungen spielerisch nachzubauen und nachzustellen; dies geht bis hin zu Computerspielen, die — längst nicht mehr nur Reaktionszeiten abfordern, sondern in erheblichem Umfange Strategiespiele darstellen, einschließlich von Spielen, in denen soziale Verhaltensweisen simuliert werden. Eine solche hier sehr plakativ aufgezeigte Entwicklung kann man beklagen, nur zurückdrehen läßt sie sich mit Sicherheit nicht. Will man die skizzierten Individualisierungsprozesse von Kindern konstruktiv auffangen, wird man meines Erachtens drei Konsequenzen zu ziehen haben. Die Wohnumwelt, in der Kinder insbesondere in den großstädtischen Ballungszentren leben, kann nicht wie bisher allein den Interessen der Mobilität der Erwachsenen — vor allem der der kinderlosen — untergeordnet werden. Vielmehr sollten in Zukunft sehr viel mehr Möglichkeiten geschaffen werden, daß Kinder auch einmal unbeaufsichtigt und ohne den Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt zu sein, außerhalb der Wohnung mit anderen Kindern kommunizieren und spielen können. Diese Forderung ist leicht zu realisieren, weil Eltern mit Kindern in der Regel nicht über das ganze Stadtgebiet verstreut leben, sondern sich in den preisgünstigen Stadtrandsiedlungen zusammenfinden. Während aber bisher Fußgängerzonen und Verkehrsberuhigung in der Regel unter der Perspektive der Attraktivität der Innenstädte für Einkäufen und die wirtschaftliche Entwicklung einer Stadt betrieben werden, ist es heute sinnvoll, darüber nachzudenken, inwieweit in jenen Stadtrandsiedlungen, in denen überwiegend Kinder aufwachsen, nicht nur Parkraum und Straßen zum schnellen Abfluß des stehenden Verkehrs geschaffen werden, sondern auch den Spielbedürfnissen der heranwachsenden Generation Rechnung getragen wird Der Kindergarten als eine jener Institutionen, in denen auch kleinere Kinder in der Nähe der elterlichen Wohnung — so dieser Kindergarten wohnortnah konzipiert wurde — andere Kinder treffen können, bekommt als Ort, an dem die Jungen und Mädchen soziale Kompetenzen, Interaktion und Solidarität mit anderen Kindern entwickeln können, eine zunehmende pädagogische Bedeutung. Daneben aber wird er vermehrt als jener Ort ernstgenommen werden müssen, in dem junge Mütter und Väter die Möglichkeit haben, mit anderen Eltern in ähnlicher Situation sowie den Erzieherinnen in einen Austausch zu treten über die Entwicklungschancen und -möglichkeiten von Kindern in der Wohngegend. Den Eltern sollte auch die Möglichkeit zugestanden werden, von hier aus Einfluß zu nehmen auf die Gestaltung der Wohnumwelt ihrer Kinder. Die heute noch bestehenden starren Altersgrenzen zwischen den unter 3jährigen, die nicht in den Kindergarten dürfen, und den über 3jährigen, die dort Aufnahme finden, sind sicherlich auf Dauer ebensowenig pädagogisch legitimierbar wie die rigiden Abgrenzungen zwischen den Kindergarten-und den Schulkindern. Denn auch jene Kinder, deren Mütter nach fünf oder sechs Jahren wieder berufstätig werden wollen, selbst wenn es nur halbtags ist, benötigen einen verläßlichen Ort, an dem sie sich in vertrauter Umgebung aufhalten können.

Neben Wohnumwelt und Kindergarten wird aber auch die Schule sich die pädagogische Frage vorlegen müssen, ob die heute zu beobachtende, stark an individualistischer Leistungserbringung orientierte Pädagogik ein angemessenes Konzept ist, um mit jenen Individualisierungsprozessen, denen die Kinder in unserer Gesellschaft unterliegen, umzugehen. In der Industrie, in den großen Forschungszentren, aber auch teilweise in gut geführten Bürokratien des Öffentlichen Dienstes hat sich schon lange die Erkenntnis durchgesetzt, daß komplexe Leistungsanforderungen nur dann gelöst werden können, wenn angemessene Formen von Kooperationen gefunden werden. Diese Einsicht liegt angesichts der Entwicklung von Forschung und Technologie, aber auch der Komplexität politischer und sozialer Probleme nahe. Während problemorientierte Kooperation, Teamfähigkeit, das Einfügen in soziale Gruppen, die Identifikation mit dem Unternehmen sowie Formen gemeinschaftlicher Leistungsorientierung Grundlagen jeder modernen Firmenpolitik darstellen und obendrein Unternehmen sowie große Forschungseinrichtungen viel Geld und Intelligenz darauf verwenden, solche Einstellungen und Verhaltensweisen zu fördern und ihre Personalbeurteilungen und andere Systeme darauf ausrichten, ist die Pädagogik unserer Schulen seit den sechziger Jahren immer noch daran orientiert, das individuelle Leistungsverhalten der Kinder nach möglichst einheitlichen Kriterien zu bewerten. Nicht jene Leistungsfähigkeit, die sich in Kooperation und Zusammenarbeit mit anderen erweist, wird von der Schule gefördert. Vielmehr ist die Schule so sehr von ihrer Selektionsfunktion durchdrungen, daß sie Einzelleistungen bis hin zu Zehntelnoten differenziert, und zwar in einer Vielzahl von Fächern — selbst in solchen, die früher nicht in dieser Weise bewertet wurden, um sicherzustellen, daß eine möglichst objektive Selektion gewährleistet wird.

Ein solches Schulsystem, das im Gegensatz zu den Arbeitserfordernissen von Forschung, Industrie und Bürokratie lediglich die Leistung einzelner honoriert, nicht jedoch das kooperative Arbeiten, unterstützt Individualisierungsprozesse, die aufgrund der gewandelten Lebensbedingungen von Kindern heute stärker hervortreten als früher. Damit werden Verhaltensweisen und Einstellungen gestärkt, die für die Arbeit in Industrie, Handel, Öffentlichem Dienst und Forschung eher kontraproduktiv sind. Deshalb sollte man sich zumindest fragen, ob nicht in der pädagogischen Diskussion der Gegenwart und Zukunft die Formen kooperativer Leistungserbringung auch in der Schule sehr viel stärker im Mittelpunkt der Diskussion stehen müßten. Denn so sehr auf der einen Seite Individualisierungsprozesse zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und zur Fähigkeit, sich in unterschiedlichen Situationen zu behaupten, zu begrüßen sind, so sehr ist andererseits zu fragen, ob und inwieweit solche Individualisierungsprozesse nicht durch entsprechende pädagogische Konzepte so weiterentwickelt werden können, daß Kinder und Jugendliche in der Lage sind, sich später in jenen gefügeartigen Kooperationen, die in der Arbeitswelt vorherrschen, zu behaupten.

III. Individualisierungsprozesse im Jugendalter

Anders als die Familiensoziologen der fünfziger Jahre war Tocqueville bei seiner Untersuchung der amerikanischen Familie vor jetzt immerhin 150 Jahren so ehrlich, zuzugeben, daß die Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau in der amerikanischen Gesellschaft doch eine strukturelle Ungleichheit schafft. Denn der Mann konnte neben der ihm zugedachten Familienrolle relativ frei darüber entscheiden, welchen Beruf er ausüben wollte, und demgemäß wählte er die Berufsvorbereitung und Ausbildung. Im Vergleich dazu war die Frauenrolle schon im demokratischen Amerika (wie auch später in der Bundesrepublik) sehr viel stärker gesellschaftlich normiert. Sie gab den Betroffenen mit Sicherheit weniger Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume für die Gestaltung des eigenen Lebens, als dies bei den Männern der Fall gewesen war und heute noch ist.

Auch andere Klassiker der Politikwissenschaft wie John Stuart Mill haben diese Form der Ungleichheit, die sich ihrer Meinung nach darauf bezog, daß Männer in einer demokratischen Kultur stärker ihre individualistische Vorstellungen leben konnten als die Frauen, klar erkannt und herausgearbeitet. Bei Familiensoziologen wie Schelsky oder Parsons indes war dies überhaupt kein Thema mehr. Auch an diesem Beispiel kann man deutlich machen, daß es bestimmte historisch-demographische Prozesse gibt, die zum Zerbrechen jener gesellschaftlich vorgegebenen Werte und Verhaltenserwartungen an den weibüchen Teil unserer Gesellschaft geführt haben und damit die Individualisierungstendenzen verstärken.

Allgemein ist nicht bewußt, daß noch Anfang dieses Jahrhunderts lediglich vier bis sechs Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre wurden und daß die durchschnittliche Lebenserwartung einer 20jährigen Frau bei ca. 40 Jahren lag. Heute hingegen überschreiten fast 15 Prozent der Bevölkerung das 75. Lebensjahr, und die Lebenserwartung einer derzeit 20jährigen liegt bei ca. 60 weiteren Jahren. Daneben ist auch die Säuglingssterblichkeit deutlich zurückgegangen, und gleichzeitig hat sich die Zahl der Kinder verringert. Dies hat die Konsequenz, daß der Reproduktionszyklus einer Frau in der Regel sehr viel früher endet als der Reproduktionszyklus ihrer Großmutter. Konnte eine Mutter Anfang dieses Jahrhunderts noch davon ausgehen, daß sie mit durchschnittlich 58 Jahren die Pubertät des letztgeborenen Kindes erleben würde, kann eine Mutter heute erwarten, daß die Pubertät des letztgeborenen und häufig auch einzigen Kindes dann eintreten wird, wenn sie selbst am Anfang oder in der Mitte des 4. Lebensjahrzehnts steht. Im Durchschnitt hat sie noch 30 bis 40 Jahre zu leben, wohingegen ihre Großmutter in der Regel annehmen mußte, keine weitere Lebensperspektive mehr zu haben.

Unter diesen Aspekten waren weibliche Lebens-rolle, Mutter-und Großmutterrolle untrennbar miteinander verwoben. Im Gegensatz dazu ist nun zwischen der gesamten Lebensspanne und der Zeit der aktiven Mutterschaft eine Diskrepanz von 20 bis 30 Jahren entstanden. Darauf haben der Sozial-historiker Imhof Anfang der achtziger Jahre und im internationalen Bereich andere Sozialhistoriker schon Mitte bis Ende der siebziger Jahre hingewiesen Im 4. Familienbericht der Bundesregierung wird dieser Prozeß ausführlich dokumentiert, ohne daß aber bisher in der Bundesrepublik in Wissenschaft, Familienforschung und anderen Bereichen ernsthaft über die Konsequenzen dieser Veränderung für die Lebensentwürfe von Frauen in allen Altersstufen nachgedacht worden ist.

Möglicherweise ist das veränderte Bildungsverhalten von jungen Frauen heute auch damit zu begründen, daß Eltern, Mädchen und junge Frauen erkannt haben, daß der eigene Lebensentwurf nicht allein auf die Mutterrolle hin konzentriert werden kann, weil sich die Lebensperspektiven gegenüber denen der Großeltern und Eltern strukturell verändert haben. So konnte Ludwig von Friedeburg in einer empirischen Untersuchung Anfang der sechziger Jahre nachweisen, daß jene Muster von Verhaltenserwartungen an junge Frauen, wie sie Schelsky in seiner Studie skizziert hatte, noch fest in den Köpfen der Eltern verankert waren Sie gingen davon aus, daß für die Söhne eine Ausbildung und für die Töchter eine Aussteuer wichtig sei. Man darf auch nicht vergessen, daß sich das Erwerbsverhalten junger Frauen seit Mitte der sechziger Jahre dramatisch verändert hat. Gingen damals noch die meisten entweder direkt nach der Schule oder nach einer Lehre arbeiten, um Geld für die Aussteuer zu sparen, um dann nach der Heirat aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, verbleiben heute sehr viel mehr im Schul-und Ausbildungssystem. Unterhalb der Universitätsebene ist zwischen beiden Geschlechtern überhaupt kein Unterschied mehr in der Bildungs-und Ausbildungsbeteiligung zu erkennen. Imhof, der den Begriff der „gewonnenen Jahre“ geprägt hat, kommt daher auch in einem anderen Zusammenhang zu dem Schluß, daß wahrscheinlich dies die erste Generation von jungen Erwachsenen sei, und dabei bezieht er sich insbesondere auf die Frauen, die ihr Leben nicht mehr an vorgegebenen Rollenerwartungen der früheren Generationen orientieren können. Vielmehr müssen sie aufgrund eigener Überlegungen und Beratung mit anderen ihr Leben planen und Entscheidungen treffen, die eine Lebensgestaltung weit über die Mutterrolle hinaus ermöglichen. Auch dieses sind Individualisierungsprozesse, weil jene festgefügten Wertvorstellungen über die Lebensrolle von Frauen in unserer Gesellschaft nicht mehr mit der tatsächlichen Lebenserwartung und dem tatsächlichen Reproduktionsverhalten übereinstimmen. Die Veränderungen, die am Beispiel des weiblichen Lebensentwurfes deutlich gemacht wurden, führen dazu, daß viele jener Normen und Vorstellungen, die die Lebensentwürfe von Menschen strukturiert haben, heute nicht mehr passen. Denn Werte und Normen sind auch Regulierungen von Verhaltensweisen in einer Gesellschaft angesichts bestimmter historischer Situationen. Die klassische Dreiteilung: Kindheit und Jugend auf der einen Seite, dann die Erwachsenenphase und abschließend die Ruhe-oder Rentenphase war ein Lebensentwurf, der mit solchen Vorstellungen und Verhaltensweisen, wie Abschluß der Schule, Arbeit, um eine Aussteuer zu bekommen, Familien-und Kinderphase, Großmutterrolle und Rente des Mannes, vorzüglich harmonierte.

In dem Umfange, in dem sich aufgrund der geänderten Lebensperspektiven die Ausbildungszeiten verlängern, verschiebt sich der Berufseintritt in jene Phase, in der traditionellerweise die Mütter-generation der heute 20-bis 30jährigen Frauen bereits in der Familienphase war, ökonomisch unselbständig mit einem Ehemann in einem Haushalt lebte. Dieses diffizile Konzept stimmt mit den heute gelebten Realitäten nicht mehr überein. Wenn es den Erwachsenen nicht gelingt, gemeinsam mit der nachwachsenden Generation Entwürfe zu entwickeln für eine Neukonzeption der Beziehung, um Entwicklung von Lebensrollen für die Heranwachsenden, Berufseintritt, Familiengründung und Berufstätigkeit in ein neues Verhältnis zu bringen, dann werden die Diskrepanzen, die sich aus diesen Ungleichgewichten zwischen traditionellen Normen und neuen strukturellen Entwicklungen ergeben, zu einer Verschärfung von Problemen etwa bei der Familiengründung, aber auch bei der Berufsfindung von jungen Menschen führen. Fragt man junge Leute, so wird deutlich, daß junge Frauen und Männer den verschiedenen Anforderungen aus dem beruflichen, dem familiären und dem Bereich der Ausbildung gerecht werden wollen. Was aber bieten Politik, Gesellschaft und Wissenschaft eigentlich an neuen Perspektiven, die diese Situationen sinnvoll miteinander verbinden lassen? Anregungen könnten möglicherweise aus einer Diskussion über die Notwendigkeit einer entsprechend langen Arbeitsplatzgarantie für junge Frauen mit Kleinstkindern entstehen oder auch aus einem Diskurs zu der Frage, wie im Wissenschaftssystem mit seinen langen Ausbildungszeiten über Diplom, Promotion und Habilitation sichergestellt werden kann, daß die unterschiedlichen Lebensbereiche angemessen aufeinander bezogen werden können.

Solche konkreten Diskussionen über die Neustrukturierung der Lebensrollen von Mann und Frau werden aber gar nicht geführt. In der öffentlichen Rhetorik liest man eher von den Schwierigkeiten, die sich für die Familiengründung aufgrund der angeblichen Emanzipationsbestrebungen junger Frauen ergeben, oder von den Folgeproblemen des zu langen Verweilens in Schule und Hochschule. Um diesen Gedanken noch etwas weiterzuführen: Die hier angedeuteten Probleme einer Neustrukturierung und Neudefinition von Verhaltenserwartungen, die es erlauben, verschiedene Lebensbereiche angemessener zu integrieren, tangieren nicht nur die Frage, wie man Ausbildung, Beruf und Familiengründung sinnvoll aufeinander beziehen kann. Zu erörtern ist auch, ob unsere klassischen Zeitvorstellungen über die Aufgabenteilung zwischen Familie, Beruf und Schule tatsächlich noch der Gegenwart entsprechen. Wir gehen immer noch davon aus, daß der Mann überwiegend seine Lebenszeit für Ausbildung und Beruf aufwendet, um die ökonomische Basis der Familie zu sichern. Junge Frauen indes sollten sich zwar heute besser qualifizieren können, aber danach sich überwiegend der Kindererziehung widmen. Selbst wenn die Kinder älter sind, ist ein klares, arbeitsteiliges Modell zwischen Elternhaus, Schule und Beruf vorgesehen. Der vollerwerbstätige Vater ist von der Betreuung der Kinder weitgehend ausgenommen, wohingegen die Mutter allenfalls vormittags arbeiten kann, weil sie selbstverständlich am Nachmittag, wenn die Schule geschlossen hat, zur Betreuung der Kinder zur Verfügung steht.

Dieses Zeitmodell stimmt aber mit den heutigen Vorstellungen von Männern und Frauen nicht mehr überein. Es trifft schon gar nicht zu, wenn etwa junge Frauen mit etwas größeren Kindern wieder berufstätig werden wollen. Wenn beispiels-weise der Presse zu entnehmen ist, daß die Bundesrepublik das geringste Ausmaß an Teilzeitarbeitskräften im Vergleich zu entsprechenden Industrieländern und eine verhältnismäßig hohe Rate von teilzeitsuchenden Arbeitslosen aufweist, so ist zu fragen, ob das nicht direkte Folge der Tatsache ist, daß dieses Zeitmodell den gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr entspricht. Denn es würde voraussetzen, daß sämtliche Teilzeitstellen vormittags zwischen acht und zwölf besetzt sind. Selbst das aber wäre problematisch, denn wenn der Kindergarten oder die Schule um zwölf Uhr schließt, ist Teilzeittätigkeit nur möglich, wenn eine weitere Person in der Zeit bis zum Abholen der Kinder die Beaufsichtigung übernimmt. Wenn auch in diesem Zusammenhang von Individualisierung gesprochen wird, so deswegen, weil in der Phase zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr jene traditionellen Verhaltenserwartungen, jene Strukturierung des Verhaltens von jungen Erwachsenen in bezug auf Berufseintritt, Ausbildung und Familiengründung sowie die Integration von Familie und Beruf sich heute anders darstellen als für die Generation der Eltern. Nun ist es den jungen Erwachsenen freigestellt, wie sie diese Probleme bewältigen.

IV. Schlußfolgerungen

Bezüglich des Wandels der Lebensbedingungen ist herausgearbeitet worden, daß Kinder heute insbesondere in den großen urbanen Zentren der Bundesrepublik schon von frühester Kindheit an, mehr als Einzelpersönlichkeiten aufwachsen und in ihrer Individualität gefördert werden, als dies noch für die Kinder des Baby-Booms gegolten hat. So sehr für die kindliche Persönlichkeit diese individualisierte Form der Förderung zur Bewältigung der eigenen Lebenssituation, sei es zur Anpassung an die Verhaltenserwartungen in höchst unterschiedlichen Kontexten, sei es im Umgang mit Erwachsenen, sinnvoll sein mag. so sehr scheint es erforderlich, aus diesen Individualisierungsprozessen Konsequenzen zu ziehen. Die Wohnumwelt ist so zu gestalten, daß Kinder die Möglichkeit haben, sich auch unbeaufsichtigt von den Eltern mit anderen Kindern außerhalb der Wohnung zu treffen. Dies fordert zunächst nur städtebauliche Konsequenzen, da für solche Begegnungen sichergestellt werden muß, daß die Stadt, zumindest in den Wohngegenden, in denen Kinder aufwachsen, stärker den Spiel-und Kommunikationsbedürfnissen der Jungen und Mädchen Rechnung trägt.

Es ist allerdings zu fragen, ob neben diesem eher städtebaulichen Aspekt auch sozialpädagogische Konzepte entwickelt werden müssen, die die Kommunikation und Interaktion von Eltern und Nachbarn wieder so intensivieren, daß Kinder sich darauf verlassen können, außerhalb des Elternhauses andere Kinder zu treffen, vertraute und bekannte Nachbarn zu sehen. Dies setzt voraus, daß eben in solchen Nachbarschaften die Möglichkeit für Eltern besteht, sich untereinander kennenzulernen. Hierfür kann einerseits der Kindergarten ein Ort der Begegnung sein, andererseits ist auch zu überlegen, ob nicht durch Nachbarschaftszentren oder Mütter-zentren — wie auch immer solche Initiativen heißen mögen — diese Form der Kommunikation von Eltern mit Nachbarn und anderen Eltern gefördert werden kann. Dies gewährleistet einerseits den Kindern die freie Bewegungsmöglichkeit in einer vertrauten Umgebung mit vertrauten Personen und andererseits den Eltern die Möglichkeit, in Notfällen sich auf die Hilfeleistung der Nachbarschaft verlassen zu können.

Ein solches Konzept, das auf die Bewegung der Kinder in der Nachbarschaft setzt, ist nur denkbar, wenn Kindergärten vor allem wohnortnah gebaut werden, die Kinder also nicht zu den Kindergärten transportiert werden müssen. Dies hat erhebliche Konsequenzen in manchen Städten und Gemeinden, etwa was die Größe der Kindergärten angeht, scheint aber sicherlich für die Entwicklung von Kindern in bezug auf ihre soziale Kompetenz außerordentlich sinnvoll zu sein. Die Individualisierung der kindlichen Lebensperspektiven setzt allerdings auch voraus, daß neben dem Nachdenken über neue Formen der Wohnumwelt, der Nachbarschaft sowie der Wohnnähe des Kindergartens, die pädagogischen Konzepte von Kindergarten und Schule so entwickelt werden, daß Formen der Kooperation, des Zusammenspielens und der Solidarität zwischen Kindern und Jugendlichen im Vordergrund der Bemühungen stehen. Solche pädagogischen Konzepte könnte man sicherlich als Formen eines kooperativen Individualismus bezeichnen. Gemeint ist damit ein pädagogisches Konzept, das auf der einen Seite anerkennt, daß Kinder zunehmend als eigenständige Persönlichkeiten aufwachsen, das aber andererseits gerade deshalb Wert darauf legt, daß Kinder und Jugendliche lernen, im Interesse gemeinsamer Ziele und Aufgaben miteinander zu kooperieren, ohne ihre Individualität aufgeben zu müssen.

Ein solcher kooperativer Individualismus, der auch später im Berufsleben in erheblichem Umfange abgefordert wird, ist sicherlich eher zu erreichen, wenn in Schule und Ausbildung jene Konzepte der Leistungserbringung, wie sie heute in Industrie, Handel und Forschung gefordert werden, Teil der Schul-und Ausbildungspädagogik werden — nämlich Teamfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und die gemeinsame Lösung von bestimmten Aufgaben. Ohne eine deutliche Änderung von Schul-und Ausbildungspädagogik im Sinne eines kooperativen Individualismus, wird es nicht gelingen, die Individualisierungstendenzen der heutigen Kinder und Jugendlichen auch mit jenen Erwartungen und Vorstellungen, die stets im Arbeitsleben auf diese Kinder zukommen, abzustimmen. Denn von ihnen wird später nicht Anpassung und Unterordnung unter eine Betriebshierarchie erwartet, sondern die meisten dieser Kinder und Jugendlichen werden aufgrund ihrer qualifizierten Ausbildung und Bildung in relativ komplexen Arbeitsvollzügen arbeiten, die Kooperation auf der Basis von Individualismus und individuellem Können voraussetzen. Solchen Verhaltenserwartungen und Anforderungen stellt sich die Schule bisher aber nicht.

Neben neuen pädagogischen Konzepten und einer Neustrukturierung von Nachbarschaft und Wohnumwelt werden wir vermutlich die gesamte Zeitorganisation, die heute Eltern und Kindern mit dem Kindergarten, der Schule und dem Berufsleben verbindet, ebenso einer kritischen Prüfung unterziehen müssen wie unsere traditionellen Vorstellungen von Lebensrollen für Mann und Frau. Das traditionelle Zeitmodell in bezug auf die Betreuung von Kindern, das zwischen Elternhaus und Schule gegolten hat, wonach die Eltern bis zum 6. Lebensjahr für ihre Kinder allein verantwortlich sind, bis die Schule am Vormittag die Erziehung übernimmt, während am Nachmittag das Elternhaus, insbesondere die Mütter zuständig sind, wird vermutlich auf Dauer kaum durchzuhalten sein.

In dem Umfang, in dem sich die Auffassung durchsetzt, daß vor allen Dingen in den ersten drei Lebensjahren die Eltern ihre Kinder betreuen sollen und ihnen durch entsprechende sozialpolitische Maßnahmen auch zunehmend die Möglichkeit dazu gegeben wird — durch Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld und Arbeitsplatzgarantie, die es Müttern und Vätern erlauben, ohne Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes oder um den Preis der ökonomischen Einschränkung, sich der Erziehung der Kinder zu widmen —, stellt sich die Frage, ob die strikte Vormittagsorientierung des Kindergartens tatsächlich aufrecht zu erhalten sein wird. Ebenso dürfte auch die strikte Vormittagsorientierung der Schule problematisch werden. Bei allen Flexibilisierungserwartungen an Industrie, Handel und Gewerbe ist kaum vorstellbar, daß Teilzeitstellen für Mütter mit kleinen Kindern nur am Vormittag geschaffen werden können. Denn bestimmte Arbeiten, sei es im Handel oder im Verkauf, sei es im Öffentlichen Dienst oder in der Industrie, lassen sich eben nicht nur am Vormittag erledigen, sondern sind über den gesamten Arbeitstag verteilt. Auch wenn es richtig ist, hier vor allem von der Industrie ein Höchstmaß an Flexibilisierung von Arbeitszeit zu erwarten, wird man dennoch an Kindergarten und Schule die Erwartung richten, das traditionelle Zeitmodell der Zweiteilung der Betreuung, d. h. vormittags durch öffentliche Institutionen und nachmittags durch die Eltern kritisch zu überdenken.

Will man also Eltern unterstützen und ihnen einen Teil des Stresses nehmen, der sich daraus ergibt, daß Berufszeit und institutionelle Betreuungszeit oftmals diskrepant sind, wird man hier auch in bezug auf Kindergarten und Schule zu neuen Lösungen kommen müssen. Wer dies nicht akzeptiert, muß in Kauf nehmen, daß die Probleme für Eltern und Kinder, die verschiedenen Anforderungen von Arbeitswelt, Schule, Kindergarten und Betreuung der Kinder, nicht durch die Unfähigkeit der Eltern oder der Industrie — hier bei der Schaffung flexibler Arbeitsplätze — hervorgerufen werden, sondern durch das Versagen des Staates und der politischen Parteien, die bis heute nicht in der Lage sind, jene traditionellen Zeitmodelle durch solche zu ersetzen, die den gewandelten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern in unserer Gesellschaft entsprechen. Daß hier traditioneller orientierte Länder wie beispielsweise Frankreich uns weit voraus sind, ist vielleicht auch eine der Ursachen dafür, daß in diesen Ländern ein so dramatischer Rückgang der Geburten ausgeblieben ist. Möglicherweise ist gerade das übergroße Beharrungsvermögen unserer staatlichen Institutionen auf diesem Zeitmodell mit eine Ursache dafür, daß die unterschiedlichen Erfordernisse von Beruf und Betreuung der Kinder in der Bundesrepublik kaum zusammengebracht werden können. Dies hat zur Konsequenz, daß zunehmend auf Kinder verzichtet wird.

Die mangelnde Möglichkeit, zeitliche Erwartungen im konkreten Alltag aufeinander zu beziehen, ist aber nur ein Aspekt der gegenwärtigen Diskrepanz zwischen familialen Rollenerwartungen und der Integration von Familie, Schule, Beruf, Ausbildung und Wirtschaft. Auch im Lebensverlauf zeigt sich, daß unsere traditionellen Vorstellungen darüber, wie Bildung, Ausbildung, Berufseintritt, Familiengründung und ökonomische Selbständigkeit integriert werden, den heute gelebten Lebensentwürfen von jungen Menschen nicht mehr entsprechen. Dieses ist weder allein auf einen Wertewandel noch auf den demographischen Wandel, wie er weiter vorne beschrieben worden ist, zurückzuführen. Heute kumulieren die Phase der Familiengründung, der Abschluß der Ausbildung sowie der Berufseintritt für Mann und Frau. Hinzu kommen Probleme mit all den damit verbundenen Integrationsprozessen in eine neue soziale Umwelt mit deren jeweils unterschiedlichen Verhaltenserwartungen. In dem Umfange aber, in dem Männer und Frauen diese Ungleichbehandlung nicht mehr hinnehmen, sondern in gleicher Weise an Beruf und Familie partizipieren wollen, führt das Festhalten an dem traditionellen Zeitmodell zu einer Überforderung junger Familien. Ausbildungsabschluß von Mann und Frau, die Gründung einer eigenen Familie, die Etablierung einer Wohnung und die Gewinnung ökonomischer Selbständigkeit kumulieren zu einem Zeitpunkt. Dabei gibt es praktisch keine Unterstützung seitens öffentlicher Institutionen, wie beispielsweise Möglichkeiten der Kinderbetreuung in der Universität, in Betrieben oder auch zumindest kurzfristig in Krippen, um diese schwierige Übergangsphase zu bewältigen. Gelingt es nicht, auch hier neue Formen der zeitlichen Organisation von Ausbildungsabschluß, Berufseintritt und Familiengründung zu finden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Familiengründung von einer zunehmend größeren Zahl von jungen Menschen zeitlich immer weiter nach hinten geschoben wird, um zunächst den Ausbildungsabschluß, den Berufseintritt und die ökonomische Selbständigkeit zu schaffen und erst dann eine Familie zu gründen. Dabei wissen wir: je später eine Familie gegründet wird, um so kleiner wird diese auf Dauer bleiben. Auch hier wird es darauf ankommen, entsprechende Modelle zu entwickeln, die zu einer neuen Zeitorganisation in diesem Bereich beitragen können.

Wenn Tocqueville — wie später noch andere Autoren, sei es Schelsky, sei es Parsons — auf die Bedeutung der Familie als einer selbständigen Erziehungsinstitution für eine demokratische Gesellschaft hingewiesen und deren Relevanz für die Sozialisation von Kindern hervorgehoben hat, dann konnte er davon ausgehen, daß die Einbettung der Familie in sie umgebende Systeme, die Beziehung zwischen Familie, Beruf und Arbeitswelt, zwischen Familie und Schule und anderen Erziehungsinstitutionen unserer Gesellschaft im Rahmen längerfristiger historischer Entwicklungsprozesse so aufeinander abgestimmt waren, daß diejenigen, die sich entsprechend der gesellschaftlichen Erwartungen verhalten, bei der Neugründung einer Familie eine problemlose Integration in die anderen gesellschaftlichen Systeme vor sich hatten. Heute müssen wir davon ausgehen, daß die Familie, die Entwicklung der Kinder und die Integration von jungen Männern und Frauen in Ausbildung, Beruf, Nachbarschaft und Verwandtschaft aufgrund demographisch sehr lang laufender Prozesse in vielen Punkten außerordentlich prekär geworden sind. Viele der Probleme sind allein dadurch entstanden, daß die staatlich organisierten oder unterstützten Institutionen wie Schule und Kindergarten sowie die staatlich stark mit beeinflußten Lebenswelten von Familien sich kaum mit dieser geänderten Lebensrealität auseinandergesetzt haben. Jungen Erwachsenen und Familien sind Anpassungsleistungen aufgebürdet, die weder im Amerika Tocquevilles noch in den fünfziger Jahren, als Schelsky über die Familie schrieb, von ihnen erwartet wurde. Soll also die Familie für die Erziehung der Kinder und damit für die Entwicklung des demokratischen Staates jene Bedeutung behalten, die ihr von den verschiedenen Autoren zugemessen wurde, so werden wir uns von den überkommenen Zeitvorstellungen der Organisation des Verhältnisses von Elternhaus, Kindergarten und Schule, sowie in der Gestaltung des Eintritts in Beruf und Familie verabschieden und neue Wege in diesen Bereichen suchen müssen. Unterlassen wir dies, sollte es nicht verwundern, wenn wir uns Mitte der neunziger Jahre über die verschwindende Bedeutung der Familie sowohl für die Sozialisation der Kinder als auch für den demokratischen Staat auseinander-setzen müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A.de Tocqueville. De la Dmocratie en Amrique, 4 Bde.. 1833— 1835. zit. nach: Über Demokratie in Amerika, Zürich o. J., S. 288.

  2. Vgl. H. Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957.

  3. Vgl. M. Horkheimer (Hrsg.), Autorität und Familie, Paris 1936.

  4. Vgl. E. Noelle-Neumann, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern. Stuttgart 1987; R. Köcher, Einstellungen zur Ehe und Familie im Wandel der Zeit. Eine Repräsentativuntersuchung, Stuttgart 1985.

  5. Vgl. ebd.

  6. Vgl. G. Erler/M. Jäckel/R. Pcttinger/J. Sass, Kind? Beruf? Oder beides? Eine repräsentative Studie über die Lebenssituation und Lebensplanung junger Paare zwischen 18 und 35 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland im Auftrag der Zeitschrift Brigitte, Hamburg-München 1988.

  7. Vgl. M. Scholle, Spiellandschaft Stadt, in: Bundesministerium für Jugend, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Zur Zukunft von Familie und Kindheit. Beiträge zum Mainzer Kongreß, Bonn 1989.

  8. Vgl. A. E. Imhof, Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben, München 1981.

  9. Vgl. L. v. Friedeburg (Hrsg.), Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln 1965.

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