Von der Wirtschaftskrise der achtziger Jahre ist die Dritte Welt besonders betroffen gewesen. Zu den Folgen gehören auch Kürzungen im Bildungs-und Gesundheitssektor. Zudem hat die Verelendung breiter Bevölkerungsteile der Entwicklungsländer zu Verfallserscheinungen in den Familien geführt. Dies sind die Rahmenbedingungen für Kindheiten in der Dritten Welt, die sich zum Teil kraß von europäischen unterscheiden. Die Kinder wachsen in instabilen Verhältnissen auf, was sich in allen ihren Lebensbereichen auswirkt. Sofern sie nicht zu der hohen Zahl derjenigen gehören, die das sechste Lebensjahr gar nicht erreicht, bleibt für sie ein Dasein am Existenzminimum und unter unwürdigsten Bedingungen. Ihre körperliche Verfassung ist von Unterernährung und in deren Folge von zahlreichen Krankheiten bestimmt. Ebenso schlecht steht es um die psychische Verfassung, die meistenteils von Gewalterfahrungen bestimmt wird und sie in Aggression oder Depression treibt. Die komplexen Probleme können nicht kurzfristig gelöst werden, doch müssen — soll das millionenfache Kindersterben in der Dritten Welt entscheidend gesenkt werden — Hilfs-und Umverteilungsmaßnahmen forciert werden.
I. Zur .. Kindheit“ von Kindern
Die Vorstellung von Kindheit, wie wir sie kennen, ist auch für den europäischen Bereich relativ jung. Vielfach kritisiert — längst ist sie schon wieder verabschiedet zur Fiktion oder zur Mythologie erklärt worden —, hat sie sich erst in den letzten drei bis vier Jahrhunderten in dieser Form herausgebildet Kindheit entstand als eine Art Schon-frist, in der der Mensch vornehmlich lernen und reifen soll. Besonders unter dem Einfluß der Kinderarbeit trat im vergangenen Jahrhundert der Gedanke auf, daß Kindern zuerst einmal ein besonderer Schutz zuteil werden sollte Getrennt werden muß zwischen der Kindheit als Phase sozialkultureller Prägung sowie als (biographische) Phase des Heranwachsens und Herausbildens genereller menschlicher Fähigkeiten. So gesehen ist Kindheit und selbst Jugend immer auch defizitär beschrieben, was in der sozialkulturellen Rückwirkung unseres Kulturkreises zur Folge hat, über einen sehr langen Zeitraum kindliche Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Einflußnahme stark einzuschränken, erwachsenengemäß vorzustrukturieren und überhaupt unter Erwachsenendominanz zu stellen.
Vor diesem Hintergrund entsteht bei der Betrachtung der Stellung von Kindern in anderen Ländern leicht der Eindruck, es handele sich um „Kinder ohne Kindheiten“. Getrennt werden muß dabei allerdings zwischen kulturabhängigen Unterschieden, die als solche zunächst zu tolerieren sind, und Einflüssen auf Kindheiten, die politische und vor allem wirtschaftliche Gründe haben sowie ihrerseits die Ursachen dafür sind, daß diese Kinder in ihren Kulturen in Elend leben und keine Möglichkeit zu einer relativ „entlasteten Reifung“ haben. Bei der Darstellung von Kindheit in der Dritten Welt werden sich sowohl Befremdlichkeiten gegenüber einer anderen, kulturbedingten Ausgestaltung von dem, was wir Kindheit zu nennen gewohnt sind, zeigen, als auch Mißstände in diesen verarmten Ländern, die aus Ausbeutung und Unterdrückung resultieren. Nicht immer einfach, manchmal unmöglich ist die Trennung dieser beiden Faktoren, und meistens sind sie eng miteinander verwoben. Dabei sei darauf hingewiesen, daß der Begriff „Dritte Welt“ Länder umfaßt, die sowohl kulturell als auch wirtschaftlich höchst verschieden sind. Auch innerhalb der einzelnen Länder herrschen große Unterschiede und werden bestimmte Probleme erst erkannt, wenn weitere Differenzierungen vorgenommen werden. Es ist notwendig, Länder in städtische und ländliche Regionen zu unterteilen, da es gerade ländliche Gebiete sind, die unter einer Reihe von Strukturschwächen leiden, die in Städten nicht vorhanden sind oder kompensiert werden können Die Bevölkerung einzelner Länder ist ebenfalls nicht homogen. Überall geht es der kleinen Ober-und Mittelschicht gut, während die Unterschicht in absoluter Armut lebt
II. Die Lebensbereiche der Kinder
Abbildung 2
Schaubild 1: Ursachen des Kindersterbens Quelle: WHO-und UNICEF-Schätzungen.
Schaubild 1: Ursachen des Kindersterbens Quelle: WHO-und UNICEF-Schätzungen.
In vielen Ländern der Dritten Welt läßt sich eine „Krise der Familie“ feststellen. Sie zeigt sich sowohl in der zunehmenden Verelendung der Familie als auch in dem Verfall ihrer traditionellen Strukturen. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage der Dritten Welt in den achtziger Jahren hat für den Großteil der jeweiligen Bevölkerung katastrophale Folgen Die Familien sind aufgrund der ungerechten Verteilung von Boden, Kapital und Arbeit kaum noch in der Lage, ihre Existenz zu sichern, oder nur noch mit einem Aufwand, der die bisherige Struktur zerstört, ohne eine neue in Aussicht zu stellen. Die größte Veränderung ist, daß die Frau zur Zweitverdienerin wurde, weil der Mann mit seinem Verdienst die Familie nicht mehr ernähren kann. Oft ist er arbeitslos oder geht nur noch Gelegenheitsjobs nach Mit diesen Veränderungen hat sich das Leben der Kinder tiefgreifend gewandelt.
Galt bisher, daß Kinder im Familienalltag immer „mitliefen“, einfach fast überall „dabei waren“, so sind sie heute verstärkt auf sich alleine gestellt. Die traditionellen Sozialbezüge lösen sich mehr und mehr auf. Die Großfamilie ist in kleinere Haushalte zerfallen, Dorf-oder Siedlungsgeflechte brechen aufgrund von Landflucht und der zunehmenden Verstädterung auseinander. In dieser Situation werden die Kinder schon früh in häusliche Aufgabenverteilung einbezogen. 1. Kinderarbeit Weit über das Maß familiärer Aufgaben hinaus, die in fast allen Kulturen Feldarbeit u. ä. beinhaltet, geht das der Kinderarbeit. Darunter wird verstanden, daß Kinder mehr oder weniger regelmäßig mindestens einer Beschäftigung nachgehen, um den eigenen oder den familiären Lebensunterhalt zu sichern. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ging 1988 von rund 100 Millionen arbeitender Kinder aus und gab an, daß in asiatischen Ländern die Quote bei sieben Prozent der Kinder unter 15 Jahren lag, in manchem afrikanischen Land bei ca. 20 Prozent, in Lateinamerika zwischen zwölf und 25 Prozent Obwohl sich das Ausmaß der Kinderarbeit in einigen Ländern verringert hat, ist davon auszugehen, daß das Problem in den achtziger Jahren zunahm.
In Ländern Lateinamerikas wie Kolumbien beträgt der Anteil der arbeitenden Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren 40— 50, in ländlichen Gebieten sogar 60— 70 Prozent Kinderarbeit, aus der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten entstanden, ist heute in vielen Ländern zu einem nicht unerheblichen gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsfaktor geworden, obwohl sie fast überall gesetzlich verboten ist. 2. Schulbildung Bei den Ausmaßen der Krise in den Ländern der Dritten Welt verwundert es nicht, daß eines der größten Probleme die Schulbildung ist. Schule ist selbst da, wo sie vorhanden und zugänglich wäre, unattraktiv, zuweilen auch ineffektiv.
Zwei Indikatoren für die Messung von Schulbildung sind die Anmeldequote in den Grundschulen — in den meisten Ländern besteht keine Schulpflicht oder automatische Erfassung — und die Abbruch-quote. Beide Quoten haben sich in den meisten Ländern der Dritten Welt in den achtziger Jahren verschlechtert In manchen Ländern melden sich nicht einmal 25 Prozent der Kinder in den Grundschulen an. Die UNESCO geht davon aus, daß 1987 in den Entwicklungsländern rund 60 Millionen Kinder zwischen sechs und elf Jahren nicht eingeschult wurden.
Nur rund die Hälfte aller Grundschüler schließen die Grundschule ab. In Bolivien gehen Kinder durchschnittlich lediglich 3, 7 Jahre zur Schule. Für alle Länder Lateinamerikas wird die Rate der Kinder, die nie eine Schule besuchen, auf ca. 13 Prozent geschätzt, das sind 8, 5 Millionen Kinder
In den meisten Ländern sind aufgrund der wirtschaftlichen Rezession der achtziger Jahre die Ausgaben für den Bildungssektor reduziert worden. Hinzu kommt häufig eine ungerechte Verteilung dieser Gelder. 80— 90 Prozent aller Schuleinschreibungen — bestehend hauptsächlich aus Kindern an Grundschulen — erhalten lediglich die Hälfte der Bildungsausgaben während die höheren Schulen relativ gut ausgestattet sind. Ländliche Regionen verfügen gelegentlich über gar keine Schulen. 3. „Straßenkinder“
Noch gravierender stellt sich das Schulproblem bei der Masse der „Straßenkinder“ in der Dritten Welt dar, die heute auf ungefähr 30 Millionen geschätzt wird Da sie sich selbst ernähren müssen, bedarf es schon großer Anstrengungen und vor allem einiger Entlastungen, um sie für den Schulbesuch zu gewinnen, sofern das überhaupt versucht wird.
Das Phänomen der auf der Straße lebenden Kinder ist in allen Ländern der Dritten Welt verbreitet, die absoluten Zahlen für Lateinamerika und Asien sind immens, aber kaum schätzbar. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ging Ende 1984 von ca. acht Millionen „Straßenkindern“ in Lateinamerika aus. Viele dieser Kinder sind von Zuhause weggelaufen, weil sie sich aufgrund der absoluten Armut ihrer Familien auf eigene Faust durchschlagen wollen oder sollen. Viele von ihnen gehen aber auch von der Familie fort, um der in der Krise zunehmenden Gewalt innerhalb der Familien zu entgehen. Andere sind ausgesetzt worden. Sie alle finden sich häufig in Banden zusammen, um sich in ihrem täglichen Überlebenskampf größere Sicherheit zu geben, oder die Gruppen versuchen, bessere Verdienstmöglichkeiten zu organisieren. „Straßenkinder“ werden für illegale Tätigkeiten ausgenutzt, zunehmend offenbar für den Drogenhandel Für Mädchen gilt, daß ihre sicherste Einnahmequelle die Prostitution ist.
Ein Dasein als „Straßenkind“ führen zu müssen, ist auch die Konsequenz für viele Waisen oder Halb-waisen, für die Kinder der „Verschwundenen“ in den Ländern der Dritten Welt, falls sie nicht durch einen Rest sozialei Sicherung Stabilität erfahren. Das Phänomen der durch polizeiliche, paramilitärische und militärische Gewalt vereinsamten Kinder ist aus Asien genauso bekannt wie aus Afrika und Lateinamerika. Die „Vereinigung von Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen Lateinamerikas und der Karibik“ (FEDEFAM) ging Ende 1988 alleine für Guatemala von rund 100 000 Halb-oder Vollwaisen aufgrund politischer Gewalt aus. 4. Kinder im Krieg In rund dreißig Ländern der Welt herrschen zur Zeit Krieg oder kriegsähnliche Zustände. Kinder sind nicht ausschließlich Opfer struktureller Gewalt oder Opfer der Gewalt gegen ihre Eltern, sie sind längst zum direkten Ziel von Gewalt geworden. Betroffen sind sie von der zunehmenden Einbeziehnung von Zivilisten in Kriegshandlungen. Darüber hinaus gehören sie zu Angegriffenen, wenn sie bekämpften Bevölkerungsschichten angehören, dann ist es die Absicht, gerade auch sie nicht überleben zu lassen (Genozid).
Stark zugenommen hat auch die Rekrutierung von Kindern in militärische Einheiten. Zuerst in massivem Ausmaß bekannt wurde die Zwangsrekrutierung von Kindern vom kambodschanischen Pol Pot-Regime In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war es der Iran, der Kinder zu Tausenden als lebendige „Minenräumer“ oder als „Kanonenfutter“ in den Krieg schickte. In vielen Ländern kämpfen auch Kinder in den Reihen kriegführender Parteien
Nicht in allen Fällen sind die Kinder, die in militärischen Einheiten kämpfen, zwangsrekrutiert. Es gehört, besonders in Kriegsgebieten, zur „Logik“ der Aussichtslosigkeit von Krisensituationen, daß ein Sich-Anschließen an das Militär oder an paramilitärische Einheiten ein durchaus „rationaler“ Schritt sein kann. So gut wie immer ist damit ein gewisses Maß an Versorgung wie Kleidung, Unterkunft und Nahrung verbunden. Reaktionen auf diese Aussichtslosigkeit sind ebenso die vielen Jugendunruhen der vergangenen Jahre, in denen der Kinderanteil teilweise recht hoch war.
Damit ist der Extrempunkt kindlichen Daseins in der Dritten Welt beschrieben. Die Konsequenzen sind die hohe Zahl getöteter Kindersoldaten sowie physische und psychische Folgen, die, wenn überhaupt, nur mit größter therapeutischer Unterstützung wieder ausgeglichen werden können. Das zeigen Entwicklungen in Uganda und Mosambik, wo ehemalige Kindersoldaten oft nur schwer für „normale“ Verhaltensweisen und Aufgaben wie Schulbesuch interessiert werden können. 5. Flucht Viele Menschen, ganze Volksgruppen und ethnische Minderheiten, versuchen, sich der beschriebenen Extremsituationen durch Flucht zu entziehen. Gegenwärtig kann man von weltweit rund 15 Millionen Flüchtlingen ausgehen Dabei sind nur diejenigen berücksichtigt, die eine offizielle Landesgrenze bei der Flucht überschreiten. Nicht eingerechnet sind die landesinternen Flüchtlinge. Der Kinderanteil bei den anerkannten Flüchtlingen wird auf rund 50— 60 Prozent geschätzt. Damit ist Flucht in bedeutendem Umfang ein Kinderproblem
Die Flucht selbst bringt nicht nur Kinder, aber diese besonders, in Extremsituationen und in Vereinsamung, wenn sie etwa den Anschluß an Fluchtgruppen verlieren Bedeutet die Aufgabe des Wohnorts bereits einen Verlust an Sicherheit, so sind Kinder darüber hinaus von der Nahrungsmittelnot und dem Ausgeliefertsein der Witterung und den Klimabedingungen besonders betroffen. Hinzu kommt, daß eine Reihe von Fluchtbewegungen von militärischen Aktionen ausgelöst werden, was bedeutet, daß Flucht oft eine direkte Bedrohung des eigenen Lebens beinhaltet und schnell geschehen muß. In solchen Situationen stellen Kinder geradezu ein Hemmnis für die Erwachsenen und die flüchtenden Gruppen dar.
Die Kinder, die eine Flucht überleben, finden sich fast immer entweder in Flüchtlingslagern oder in den Randgebieten größerer Städte oder in Slums wieder.
Sofern Kinder am Fluchtort in Lagern und ähnlichen Unterkünften leben, befinden sie sich zunächst in einer relativen Sicherheit, gerade wenn die Flüchtlingslager unter internationaler Aufsicht (UNHCR) stehen. Ist dies nicht der Fall, stellen militärische Übergriffe sowohl aus dem Heimat-als auch aus dem Gastland keine Seltenheit dar. In den international beaufsichtigten Lagern ist meistens für ein Mindestmaß an Nahrung, Unterkunft und gesundheitlicher Betreuung gesorgt.
Bei Kindern führt diese Lebenssituation, die fast immer unter dem Vorzeichen des Wartens auf die mögliche Rückkehr in die Heimat steht, zu großen Identitätsproblemen und Verunsicherungen. Das Sich-Versteckt-Halten-Müssen (oft gelten die Flüchtlinge als illegal Eingereiste) und die Sorge um Abschiebung bewirkt Angst vor Fremden. Das macht die Kinder anpassungsbereit und ausbeutbar bis zur Selbstaufgabe.
III. Zur physischen Verfassung der Kinder
Abbildung 3
Tabelle 2: Säuglings-und Kleinkindersterblichkeit
Tabelle 2: Säuglings-und Kleinkindersterblichkeit
Immer noch sterben täglich rund 40 000 Kinder infolge von Unterernährung und an längst behandelbaren Krankheiten in den Ländern der Dritten Welt. Die achtziger Jahre waren sogar ein Jahrzehnt, in dem sich in vielen Entwicklungsländern die Zustände der Gesundheitssysteme erheblich verschlechtert haben gegenüber einigen Errungenschaften der siebziger Jahre. In den Entwicklungsländern wurden von 1983 bis 1986 die Ausgaben für das Gesundheitswesen um 13, 3 Prozent gekürzt, gegenüber neun Prozent im Militärbereich (und im Bildungssektor um 10, 5 Prozent) -Dies betrifft überall auch und gerade Kinder. Dabei sind Mädchen von der Unterernährung stärker betroffen. Die zwei wichtigsten Indikatoren für das Wohlergehen von Kindern in einer Gesellschaft sind die Säuglingssterblichkeit (Kinder unter fünf Jahre, SRU 5J) und die Kleinkindsterblichkeit (Kinder bis ein Jahr, KKSR). In den Zahlen von 1988 ausgedrückt, gibt es noch immer fünfzehn Länder, in denen jedes fünfte Neugeborene das sechste Lebensjahr nicht erreicht
In den dreißig Ländern mit den höchsten Säuglingssterblichkeiten — darunter 21 afrikanische — erreicht die tägliche Kalorienaufnahme pro Kopf durchschnittlich gerade 90 Prozent des notwendigen Bedarfs. In Mosambik (69 Prozent), Tschad (69 Prozent), Äthiopien (71 Prozent), Ghana (76 Prozent) und Guinea (77 Prozent) werden täglich nicht einmal 80 Prozent des Bedarfs aufgenommen. Diese Unterernährung fällt immer mit einer einseitigen Ernährung und damit mit Mangelerscheinungen zusammen; wichtige Stoffe wie Vitamine können nicht durch die notwendigen Nahrungsmittel — hauptsächlich Obst und Gemüse — zugeführt werden, da sie zu teuer oder für die breite Bevölkerung nicht verfügbar sind. Dieses Problem beginnt natürlich nicht erst bei der Geburt. Die schlechte Ernährung der Mütter wirkt sich bereits auf Ungeborene aus. In den Ländern mit den höchsten Kindersterblichkeiten kommen rund 15 Pro-zent aller Neugeborenen mit Untergewicht zur Welt In vielen Ländern ist die Kalorienzufuhr von 1985 bis 1987 sogar gefallen.
Die Folge aus dieser schlechten Ernährungslage sind zahlreiche Krankheiten, die häufig wiederum Diarrhoe und schließlich den Tod hervorrufen. Immer noch sterben daran weit über eine Million Kinder jährlich. Und das, obwohl es eine relativ billige und einfache Lösung gibt: Mit der sogenannten „oral rehydration therapy“ (ORT) können die Wasser-und Salzverluste ausgeglichen werden. Die Behandlungsrate stieg in den achtziger Jahren ständig: von drei Prozent weltweit (1980) auf 18 Prozent (1985) und 30 Prozent (1987); allerdings ist das Ziel Weltgesundheitsorganisation der (WHO) von 50 Prozent für 1989 vermutlich nicht erreicht worden. Auch bei anderen Immunisierungsprogrammen sind die Quoten im letzten Jahrzehnt rapide gestiegen, wenngleich die Verbreitung immer noch unbefriedigend ist. Auf dem Gebiet der Immunisierungen vor allem der Krankheiten Masern, Tetanus, Keuchhusten, Diphtherie, Tuberkulose und Kinderlähmung hat es in den achtziger Jahren Fort-schritte gegeben. Waren noch 1974 weniger als fünf Prozent der Kinder in Entwicklungsländern gegen diese Krankheiten geimpft, sind es heute 50— 60, in einigen Ländern sogar 80— 90 Prozent. Das bedeutet, daß 70— 80 Prozent aller 1990 geborenen Kinder innerhalb ihres ersten Lebensjahres geimpft werden können
Für die kommenden zehn Jahre wird damit gerechnet, daß am Ende des Jahrzehnts jedes Neugeborene auf der Erde innerhalb eines Jahres gegen diese Krankheiten immunisiert werden kann.
IV. Zur psychischen Verfassung der Kinder
Abbildung 4
Quelle WHO und UNICEF UCI-Berichte Schaubild 2: Impfrate der Kinder unter einem Jahr in den Entwicklungsländern, 1980— 1988
Quelle WHO und UNICEF UCI-Berichte Schaubild 2: Impfrate der Kinder unter einem Jahr in den Entwicklungsländern, 1980— 1988
Der psychische Zustand dieser Kinder ist bisher nicht annähernd so ausführlich untersucht worden wie die rein körperliche Gesundheit, die unter den beschriebenen Bedingungen zunächst dringlicher ist. Trotzdem sind breiter angelegte Studien über psychische Folgen, insbesondere über Langzeitfolgen vonnöten.
Zunächst läßt sich feststellen, daß die von Kindern in der Dritten Welt erlebten Umweltbedingungen sie mit extremen Erfahrungen konfrontieren. Dabei stellt sich die Frage, wie Kinder solche Erfahrungen verarbeiten. Das Leben am Existenzminimum, die ständig präsente Gewalt und vielfach die militärische Bedrohung konfrontieren das Kind immer mit dem eigenen Tod. Viele dieser Erfahrungen bleiben zudem für das Kind unerklärlich
Häufig beobachtet wird, daß Kinder in den Krisengebieten auf viele Erlebnisse traumatisch reagieren, vor allem auf selbst erlebte oder anderen zugefügte, von ihnen miterlebte Gewalt. Betont wird von Fachleuten in diesen Ländern, daß die oft willkürlich angewendete Gewalt den Kindern Erklärungsmuster verunmöglicht. Gestärkt wird damit das Gefühl der eigenen Ohnmacht. Traumata, Ängste, Alpträume, aber auch Depressionen sind die Folgen, die aufgrund des unbewältigbaren Stresses auch zu einem Anstieg von Kinderselbstmorden in einigen Ländern geführt haben
Psychosomatische Begleiterscheinungen sind hauptsächlich Bettnässen, Magenbeschwerden, Stottern, Bronchialasthma, Schlafstörungen und Allergien. Viele Kinder leiden unter Konzentrationsschwierigkeiten, die sich vor allem im schulisehen Bereich auswirken.
Es gibt allerdings auch Kinder, die entgegengesetzt reagieren, sie identifizieren sich mit der Gewaltanwendung und wenden ihrerseits aggressive, gewalttätige Handlungsmuster an, um sich im Alltag durchzusetzen und zu behaupten. In verschiedenen Ländern gab es in den vergangenen Jahren Jugend-unruhen, an denen viele ältere Kinder und Jugendliche beteiligt waren.
V. Aufgaben für die Zukunft
Abbildung 5
Quelle WHO und UNICEF UCt-Berlebte Schaubild 3: Durch Impfung vermeidbare Krankheiten: Anzahl der Todesfälle und Anzahl der verhinderten bzw. noch aufgetretenen Poliofalle, 1988
Quelle WHO und UNICEF UCt-Berlebte Schaubild 3: Durch Impfung vermeidbare Krankheiten: Anzahl der Todesfälle und Anzahl der verhinderten bzw. noch aufgetretenen Poliofalle, 1988
Die meisten der angesprochenen Probleme stehen in komplexeren Zusammenhängen und sind auch nur in diesen zu lösen. Die Probleme der Kinder sind nicht von den generellen Dritte-Welt-Fragen abzukoppeln. Es ist besonders UNICEF zu verdanken, daß der Zusammenhang von Wirtschaftskrise und dem Gesundheitszustand von Kindern in Entwicklungsländern ausführlich dargestellt worden ist. Konkret heißt das, daß das Elend der Kinder mit der Schuldenlast der Entwicklungsländer gegenüber den Industrieländern in Beziehung zu setzen ist. Auch hat sich in den achtziger Jahren gezeigt, daß wirtschaftliche Anpassungsprogramme die Lage der meisten Menschen dann nicht verbessern, wenn mit ihnen — wie. oft vom Internationalen Währungsfonds (IWF) praktiziert — Auflagen zur Reduzierung von staatlichen Subventionen und Sozialleistungen verbunden sind. Die Situation der Kinder in diesen Ländern ist also in erster Linie von weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Veränderungen abhängig.
Im medizinischen Bereich hat es im vergangenen Jahrzehnt Fortschritte gegeben, vor allem im Zusammenhang mit dem Impfschutz (vgl. Schaubild 3). Diese Zahlen sind dennoch nicht zufrieden-stellend, denn so gilt etwa für Masern, daß im Jahr 1988 zwar 1, 35 Milhonen Kinder vor dem Tod durch Masern gerettet werden konnten, doch stand dem immer noch die Zahl von 1, 52 Millionen Todesfällen gegenüber. Ähnlich sieht es bei der Neugeborenentetanie aus, bei der auf die 360 000 geimpften Kinder, bei denen der Ausbruch der Krankheit verhindert wurde, 790 000 Sterbefälle kamen. In diesem Bereich sieht UNICEF denn auch für die neunziger Jahre große Herausforderungen, jedoch auch die Aussichten, daß diese gelöst werden, d. h. daß bis zum Ende des Jahrzehnts weltweite Immunisierung erreicht werden kann. Ein wichtiger Schritt hin zu diesem Ziel wäre, alle Kinder, die sich zu einer Behandlung in einer Klinik aufhalten, zu impfen. Dies ist eine große Schwierigkeit der achtziger Jahre gewesen: Bei 24 Prozent aller eingelieferten Kinder, die bei der Krankenhauseinlieferung bereits vollen Impfschutz besaßen, wurden lediglich sieben Prozent der ganz oder teilweise Nicht-Geimpften mit benötigten Impfun27 gen versehen. Das bedeutet, daß es bei 69 Prozent aller Fälle der über einen Klinikaufenthalt erreichbaren Kinder versäumt wurde, sie zu impfen.
Zur vielleicht größten Herausforderung der kommenden Jahre wird die Bedrohung der Kinder durch AIDS. Das gilt besonders für Afrika und dort hauptsächlich für die Länder unterhalb der Sahara Viele Kinder werden durch ihre infizierten Mütter bereits mit dem HIV-Virus geboren. Die WHO geht davon aus, daß gegenwärtig weltweit rund 1, 5 Millionen Frauen — eine Million davon in Afrika — infiziert sind. Die von ihnen geborenen Kinder sind zu 25— 40 Prozent ebenfalls Träger des Virus. In einigen afrikanischen Regionen sind rund 25 Prozent aller Frauen von AIDS infiziert. Dies und die völlig unzureichenden hygienischen Zustände in vielen Ländern, die auch zur Verbreitung von AIDS beitragen, könnten die Fortschritte auf anderen Gebieten überlagern und unbedeutend machen.
Sind schon die medizinischen Bereiche der Gesundheitssysteme in den meisten Entwicklungsländern ungenügend ausgestattet, so gilt dies in noch stärkerem Maß für die psychosoziale Betreuung. Erst allmählich bilden sich hierfür kinderspezifische Einrichtungen aus. Eine beispielhafte Arbeit leistet auf den Philippinen in diesem Bereich das unabhängige Kinderrehabilitationszentrum (CRC), das sich inzwischen von Manila aus in andere Städte ausgeweitet hat und ländliche Regionen mit ambulanten therapeutischen Diensten betreut
Weit schwieriger stellen sich positive Veränderungen der kindlichen Lebensbereiche dar, eben weil sie von globaleren und komplexeren Veränderungen abhängen. So wäre es unrealistisch, in einem überschaubaren Zeitraum Kinderarbeit in den Ländern der Dritten Welt abschaffen zu wollen. Als mittelfristiges Ziel allerdings ist ein Arbeitsschutz für Kinder zu gewährleisten, der sie vor Ausbeutung bewahrt. Dazu muß ganz besonders die Kinderprostitution gezählt werden.
Da mit der weiterhin zunehmenden Industrialisierung auch die Bildungsanforderungen an die Kinder steigen werden, müssen sich die Schul-und Bildungssysteme der Länder angemessen und konsequent verbessern. Formale Bildung muß auch und verstärkt praktische Ausbildung beinhalten. In vielen ländlichen Gebieten müssen Schulen überhaupt erst eingerichtet oder neu belebt werden. Gleichzeitig hat sich die Schule an die jeweiligen Lebensumstände anzupassen, nach dem im Alltag notwendigen Wissen zu fragen sowie etwa mit den Schulzeiten den arbeitenden Kindern entgegenzukommen.
Bezüglich des Problems der Straßenkinder ist es notwendig, diese Entwicklung zu stoppen. Darüber hinaus müssen Wege gefunden werden, diese Kinder wieder stärker sozial zu integrieren. Erste Möglichkeiten sind offene Heime oder betreute Wohngemeinschaften. Einrichtungen, die Essen und Unterkunft, aber auch Freizeitmöglichkeiten etc.der Kinder bereithalten; sie ermöglichen die Erarbeitung persönlicher und sozialer Stabilitäten. Auch die Revitalisierung verwandtschaftlicher Strukturen ist anzustreben.
Beendet werden muß die Tendenz der letzten 20 Jahre, Kinder in Kriege einzubeziehen, sei es als Kombattanten oder als in Kauf genommene unbeteiligte Opfer. Solange keine neuen Kommunikationsformen für nationale und internationale Konflikte entwickelt werden und Kinder von Krieg betroffen bleiben, ist es unbedingt erforderlich, sie in Kriegssituationen zu schützen und sie nicht in kämpfende Einheiten einzuziehen. Große Schwierigkeiten bereitet in vielen Ländern die Betreuung kriegsversehrter Kinder (etwa bei der laufenden Anpassung von Prothesen).
Besonderen Schutz sollten auch Kinderflüchtlinge aus Krisengebieten erhalten. Mittel-und langfristig ist es das Ziel, Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen. Dazu gehört auch, Landflucht durch Fördermaßnahmen rückgängig zu machen oder aufzuhalten. Infrastrukturverbesserungen müssen Kindern und Jugendlichen Perspektiven auch in ländlichen Regionen bieten.
Um den vom Tod bedrohten Kindern in der Dritten Welt in Zukunft gezielter helfen zu können, werden neuerdings innerhalb der Forschung Berechnungen angestellt, die den effektiveren Einsatz von Hilfe ermöglichen sollen. Dabei wird als Indikator die Säuglingssterblichkeitsrate durch einen Säuglingssterblichkeitsindex ersetzt, der stärker auf die Todesursachen und auf strukturelle Faktoren der Todesursachen bezogen ist Mit einer solchen Analyse wären die Zustände in bestimmten Regionen weit differenzierter beschreibbar und könnten Hilfsmaßnahmen gezielter und wirksamer ergriffen werden. Solche Ansätze dürfen aber nicht vergessen, daß sie auch zu einer fortschreitenden Kalkulierbarkeit und zu einer Ökonomisierung von Menschenleben führen können. Der effektivere Einsatz von Hilfsleistungen würde dann eine Vernachlässigung von als strukturell „aussichtslos“ geltenden Regionen zur Folge haben. So sinnvoll und vor allem auch nötig der wirksamere Einsatz von Hilfsmitteln ist, darf nicht übersehen werden, daß hinter den Operationen mit gigantischen Zahlen Einzel-schicksale stehen.
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