I. Problemaufriß
Jahrzehntelang schienen die Strukturen des Ost-West-Konflikts zumindest im Grundsätzlichen unveränderbar. Zwei sich selbst als antagonistisch verstehende politische Systeme standen sich gegenüber. Ihre Unvereinbarkeit fand nicht zuletzt in hochgerüsteten Militärbündnissen seinen Ausdruck. Beiderseits der innerdeutschen Grenze standen sich die quantitativ und qualitativ stärksten Truppenkonzentrationen der Welt unmittelbar gegenüber; beide deutsche Staaten stellten die jeweils zweitstärksten Militärkontingente beiderseits des Eisernen Vorhangs, übertroffen nur durch die jeweiligen Supermächte USA und UdSSR.
Sowohl die NATO als auch der Warschauer Pakt beteuerten stets ihre eigene Defensivität, gingen aber gleichzeitig von der Angriffsfähigkeit des andern aus: Die NATO beurteilte das Potential der Warschauer-Pakt-Streitkräfte als invasions-und überraschungsangriffsfähig, während das östliche Bündnis der NATO vorwarf, am nuklearen Ersteinsatz festzuhalten und sich weit in die Tiefe wirkende zusätzliche konventionelle Feuerkraft beschafft zu haben -Aus der Bewertung des jeweils eigenen Verhaltens als friedfertig ergibt sich zwingend eine entgegengesetzte Einschätzung des Gegners: „Die Vorstellungen eines friedlichen Selbst und eines aggressiven Feindes ergänzen und verstärken sich.“
Die Forderung nach „ständiger Einsatzbereitschaft“ — bis vor kurzem noch Dogma der Streitkräfte in Ost und West — macht nur Sinn im Hinblick auf die Annahme einer latenten, jederzeit aktualisierbaren Bedrohung. Die Berufung auf diese Bedrohung diente stets als gewichtiges Argument — gleich, ob es um die Höhe des Verteidigungsetats, um Belastungen der Bevölkerung durch Manöver und Tiefflug, um rüstungstechnische Entscheidungen oder um militärinterne Organisationsprinzipien ging. Kurz: Die perzipierte Bedrohung durch einen möglichen Gegner sowie deren interne und öffentliche Behauptung besaßen sowohl eine eminente politische als auch militärische Bedeutung und Funktionalität.
Jahrzehntelang war für die Streitkräfte in Ost und West klar, wo die jeweilige Bedrohung auszumachen war. Am „potentiellen Gegner“ oder „imperialistischen Klassenfeind“ richtete sich der militärische Auftrag aus; der „Feind“ war fester Bestandteil der Lagebeurteilung von Soldaten beider Lager und bestimmte nicht nur Stärke, Bewaffnung und Ausrüstung der Armeen, sondern — so ist zu vermuten — auch das Bewußtsein der Soldaten.
Machten Geschichte und geostrategische Lage das geteilte Deutschland in der Vergangenheit zu einem Brennpunkt des Ost-West-Konfliktes, so kann das zur Vereinigung strebende Deutschland nunmehr einen erheblichen Beitrag zu seiner möglichen Überwindung leisten. Der Weg zu stabilen Strukturen einer neuen Friedensordnung ist derzeit jedoch noch weit. Wohl aber steht fest, daß den sicherheitspolitischen und militärischen Fragen dabei erhebliche Relevanz zukommt, die Streitkräfte also in den Prozeß der Veränderung mit eingebunden sind.
Dabei geht es nicht nur um Panzer, Geschütze, Raketen usw., sondern immer auch um die Menschen, die in diesen Streitkräften Dienst tun. Hier soll vor diesem Hintergrund der Frage nachgegangen werden, wie sich Berufsoffiziere der Nationalen Volksarmee mit den gravierenden sozio-politischen Veränderungen auseinandersetzen. Angesichts des — im Wortsinn — laufenden deutschen Vereinigungsprozesses gewinnt diese Frage an zusätzlicher Aktualität.
II. Zum Konzept sozialer Deutungsmuster
Die Komplexität der den Menschen umgebenden Welt muß — um für ihn verständlich und „handhabbar“ zu sein — von ihm reduziert und umgeformt werden zu dem, was wir „Wirklichkeit“ nennen. Die Möglichkeit, Welt zu erleben, ist prinzipiell offen, tatsächlich jedoch durch historisch-konkrete gesellschaftliche Tatbestände und die individuelle Lerngeschichte bestimmt. Die zunächst individuell und subjektiv erscheinende Deutung der Welt als eine bestimmte Wirklichkeit ist keine „private“ Deutung des einzelnen. Er bedient sich dazu vielmehr bereits vorliegender Deutungsschemata, die ihm von der Gesellschaft vermittelt wurden.
Die Aneignung solcher Interpretationsmuster geschieht durch soziale Interaktion. Auf diese Weise sind das Individuum und die ihn umgebende Gesellschaft miteinander verbunden, wird aufeinander bezogenes sinnvolles Handeln möglich. Die Konstruktion der Wirklichkeit geschieht als sozialer Prozeß, dessen Grundlage und wesentlicher Bestandteil soziale Deutungsmuster sind. Unter „sozialen Deutungsmustern" werden zusammenhängende Argumentationsfiguren verstanden, gesellschaftlich gültige „Interpretationsfolien“, vor deren Hintergrund es möglich ist, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen.
Angesichts des sozialen Kontextes ihrer Genese ist offensichtlich, daß sich in sozialen Deutungsmustern überindividuelle Erfahrungszusammenhänge und Ergebnisse von Sozialisationsprozessen wiederfinden. Das bedeutet auf der anderen Seite, daß die Analyse der Deutungsmuster Einzelner Rückschlüsse auf die in bestimmten sozialen Gruppen vorhandenen Deutungsmuster insgesamt zuläßt.
Für das Offizierkorps der Nationalen Volksarmee ist diese Annahme um so plausibler, als die vorgegebenen politisch-ideologischen Normen explizit auf die Herausbildung eines einheitlichen, eben „klassenmäßigen“ Bewußtseins gerichtet waren. Konfrontiert mit den Umwälzungen der Gegenwart, erleben die Offiziere der NVA den Zerfall des politischen Systems, dessen militärischer Schutz ihre Aufgabe war. Bisher tragfähig erscheinende Deutungsmuster müssen unter dem Ansturm der Veränderungen geprüft, verändert und verworfen werden. Skizzenhaft soll im folgenden versucht werden, diesen Prozeß anhand von Befragungen nachzuzeichnen und verstehbar zu machen.
III. Zur Befragung
Der Versuch, soziale Deutungsmuster zu erheben, zielt auf die Rekonstruktion von Sinn-und Begründungszusammenhängen. Das zieht eine Reihe methodologischer und methodischer Konsequenzen nach sich, auf dre hier nicht näher eingegangen werden kann Die nachfolgende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf 15 Intensiv-Interviews mit Offizieren der Nationalen Volksarmee (Landstreitkräfte) sowie auf zahlreiche Hintergrundgespräche.
Die Befragung fand im Juni 1990 in den Standorten Potsdam, Brandenburg und Oranienburg statt Es handelt sich um nichtstandardisierte, problem-zentrierte Interviews von jeweils ca. einstündiger Dauer. Die Gespräche wurden auf Tonband mitgeschnitten, zu Protokollen verarbeitet und einer vergleichenden Analyse unterzogen.
Die Gesprächspartner waren allesamt als Bataillonskommandeure eingesetzt, d. h. jeweils unmittelbar für die Führung von etwa 500 Soldaten verantwortlich -Dabei schwanken Alter, Dienstgrad und Stehzeit in der Funktion nicht unerheblich. So gibt es den 27jährigen Hauptmann als Kommandeur ebenso wie den 48 Jahre alten Oberstleutnant Ebenso variiert die Waffengattungszugehörigkeit: Mot. Schützen, Artillerie, Panzer-und Raketentruppen sind ebenso vertreten wie die den Spezialtruppen/Diensten zugerechneten Sanitäts-, Pionier-, Transport-und Nachrichtenbataillone.
Die Teilnahme war selbstverständlich freiwillig; keiner der angesprochenen Offiziere weigerte sich, an der Befragung teilzunehmen. Die Interviews fanden als Vier-Augen-Gespräch statt, meist im Dienstzimmer des Kommandeurs.
IV. Ergebnisse
Bei der Frage nach der Reichweite und Verallgemeinerungsfähigkeit der dargestellten Befunde muß einerseits dem explorativen Charakter der Untersuchung Rechnung getragen werden, andererseits gilt, daß die hier erhobenen Deutungsmuster immer auch Ausdruck kollektiv verankerter Realitätsverarbeitung sind. Ob und wie weit diese Deutungen kollektive Geltung für die Offiziere der NVA besitzen, läßt sich daran erkennen, in welchem Umfang sie von den Gesprächspartnern als wahr, angemessen und selbstverständlich präsentiert werden In der Darstellung der Ergebnisse wird der Generalisierungsgrad durch vorsichtige Quantifizierungen wie „manche, einige“ usw. ausgedrückt, um den tentativen Charakter der Untersuchung zu unterstreichen.
Häufig wird auf wörtliche Zitate aus den Interviews zurückgegriffen. Sie sollten weder als Illustration, noch als Belege für die vorgestellten Erkenntnisse dienen. Sie sind vielmehr als Bemühung zu verstehen, die Betroffenenperspektive deutlicher zu machen, als dies eine nüchterne Wissenschaftssprache vermag. 1. Begründung der Berufswahl „Warum sind Sie eigentlich Offizier geworden?“ Die Antworten auf diese Frage lassen sehr unterschiedliche Beweggründe sichtbar werden, die häufig miteinander verwoben sind. Genannt werden etwa die Faszination der Militärtechnik, der Umgang mit Menschen, die Gelegenheit zum Studium, die gesicherte berufliche Perspektive, die vergleichsweise gute Bezahlung, Familientradition.
Ausdrücklich politische Motive beim Eintritt in die NVA sind eher die Ausnahme als die Regel: „Ich weiß noch genau, wann ich mich entschlossen habe, Berufsoffizier zu werden: am 13. August 1961! Für mich war das Schließen der Staatsgrenzen ein völlig logischer und notwendiger Schritt, um ein Ausbluten der DDR zu verhindern . . . Ich kann mich noch gut an ein Zeitungsfoto erinnern, das einen Angehörigen der Betriebskampfgruppen zeigt, wie er, nur mit dem Gewehr bewaffnet, vor einem amerikanischen Panzer steht. — Da habe ich mir gesagt: Hier lebst du! Das ist dein Staat! Den mußt du verteidigen.“ (Oberstleutnant, 48 Jahre)
Auch wenn die Entscheidung, Offizier zu werden, nur selten ein bewußtes politisches Bekenntnis darstellte, implizit war ein grundsätzliches Einverständnis mit den Zielen des Marxismus-Leninismus stets vorhanden. Dafür sorgte schon die staatlich verordnete politisch-ideologische Erziehung vom Kindergarten über die Schule bis hin in die verschiedenen Jugendorganisationen
Hinzu kam nicht selten eine entsprechende Verstärkung durch das Elternhaus. „Junge, geh’zur Fahne! Da leistest du etwas für das Vaterland und hast eine gesicherte Perspektive. “ (Major, 33 Jahre) 2. Offiziere der SED Die drei-bis vierjährige Ausbildung zum Offizier erfolgte an einer Offiziershochschule, deren Lehrstoff zu einem Fünftel gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung umfaßte. „Dort lernten wir, was Sozialismus sein sollte, was Kapitalismus ist. Da wurden wir politisch geprägt und ausgerichtet, wurden uns die Grenzen gezeigt, innerhalb derer wir uns bewegen konnten." (Major, 34)
Spätestens hier erfolgte auch die Einvernahme durch die SED. „Der Offiziersschüler, der im ersten Jahr in die Partei eintrat, warfür die Vorgesetzten ein sehr guter Genosse. Wer im zweiten Jahr , den Weg zur Parteifand', wie das hieß, war ein guter Genosse, da gab es schon eineAbstufung. Und wersich erst im dritten Jahr dazu entschloß, der wurde sowieso von der Seite angeguckt. “ (Oberstleutnant, 47 Jahre)
Etwa 98 Prozent aller Offiziere waren Parteimitglieder. Politische Schulung und Parteiarbeit hatten auch im Truppenalltag ihren herausgehobenen Stellenwert. „Andere Ausbildungsvorhaben wurden aufgrund irgendwelcher Friktionen gelegentlich gekürzt oderfielen aus, nicht aber die politische Schulung!“ (Hauptmann, 27 Jahre)
Alternative, nicht konforme Vorstellungen zu entwickeln, schien den meisten Offizieren kaum möglich, zumal ihnen systematisch der Weg zu anderen als den offiziellen Informationen durch Verbote (Westfernsehen, -Zeitungen und -kontakte waren nicht erlaubt!) zumindest erschwert wurde. Die sozialistische Überzeugung nahm für die meisten Offiziere den Charakter des Selbstverständlichen an. 3. Die aggressive NATO
„Sicher habe ich manchmal geschwankt, war unsicher, aber im allgemeinen hatte ich einen klaren Standpunkt. . . Wesensmerkmal des Kapitalismus ist sein Expansionsdrang mit dem Ziel, durch Gewinnen neuer Absatzmärkte seine Profite zu vergrößern. Dabei macht er auch vor militärischer Gewaltanwendung nicht Halt. Ihn davon abzuhalten, ist die Aufgabe des NVA-Soldaten. Die Erhaltung des Friedens gegen die imperialistischen Kräfte! —S. Damit konnte ich mich identifizieren. Das war meine politische Motivation!" (Hauptmann, 29 Jahre)
Aus dem Blickwinkel des durchschnittlichen NVA-Offiziers war die Rollenverteilung auf der Welt-bühne sicherheitspolitischen Geschehens weitgehend eindeutig: Hier das friedliebende sozialistische Lager, dort die angriffslüsterne NATO. „Im Vordergrund stand der mögliche Einsatz der Massenvernichtungswaffen. Auf dem Sektor der A-Waffen ist die NATO überlegen. Außerdem hielt sie an der Option des atomaren Ersteinsatzesfest. Da war es einfach, ihr aggressive Tendenzen zuzuschreiben. Die Strategie der Vorne-Verteidigung war für uns eine Angriffskonzeption. Das war Fakt!" (Oberstleutnant, 40 Jahre) 4. Widersprüche Nun ist es keinesfalls so, als seien die Offiziere der NVA blind gewesen gegenüber auftretenden Widersprüchen. Im ökonomischen Bereich etwa waren eklatante Mängel offensichtlich, z. B. die Wohnungssituation, der Zustand der Häuser, das Angebot an Konsumwaren. Auftretende Diskrepanzen zwischen dem Anspruch der Ideologie und der konkreten Wirklichkeit wurden innerhalb des vorgegebenen Rahmens theoretisch begründet und system-konform umerklärt. „Es hieß, natürlich würde man lieber die staatlichen Ressourcen zur Verbesserung der realen Lebensbedingungen einsetzen, aber zur Abwehr des Imperialismus müsse man das Geld eben anderweitig verwenden . . . Zum anderen haben wir gehört, die DDR zähle zu den zehn größten Industrieländern. Und im Vergleich zu den anderen sozialistischen Staaten waren wir ja auch weiter. Von daher haben wir schon irgendwie daran geglaubt, es ginge aufwärts.“ (Hauptmann, 28 Jahre)
Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges sollten gar nicht erst aufkommen. Dem diente unter anderem auch das Verbot, West-Fernsehen zu sehen. Viele hielten sich daran, manche aus Furcht vor möglichen Konsequenzen, manche aus der Überzeugung heraus, ein Soldat habe gegebene Befehle zu akzeptieren und nicht in Frage zu stellen. Wurde jedoch gegen die bestehenden Vorschriften ein Westsender eingeschaltet, dann richtete sich das Interesse vornehmlich auf Sport-und Unterhaltungssendungen. „Diepolitischen Sendungen im West-Fernsehen haben mich nicht interessiert . . . meine politische Richtung stand ja fest. Mein politisches Informationsbedürfnis habe ich vorwiegend über die Zeitungen gedeckt." (Hauptmann, 27 Jahre)
Diese Selbstzensur verhinderte oft auch Selbstzweifel. 5. Parteidisziplin Die enge Parteibindung tat ein übriges, mögliche Kritik schon im Ansatz zu unterbinden. „Es gab nur den parteilichen Standpunkt. Wenn einer davon abwich, wurde er wieder auf Linie gebracht. Jeder, der Kritik übte, weil er bestimmte Dinge nicht richtig sah, der wurde moralisch in die Ecke gestellt, fertig-gemacht und dann wieder aufgerichtet. — Die Partei hat immer Recht! Du hast dich der Partei unterzuordnen! Dazu bist du als Parteimitglied verpflichtet! Das hast du unterschrieben!“ (Oberstleutnant, 48 Jahre)
Die „Treue zur Arbeiterklasse und ihrer Partei“ sowie die Fähigkeit, die marxistisch-leninistische Theorie und die Beschlüsse der Partei zu vertreten, standen an erster Stelle der in den dienstlichen Beurteilungen zu bewertenden Eigenschaften und Fähigkeiten. Berücksichtigt man zudem, daß Verwendungsvorschläge eine Stellungnahme der zuständigen Parteiformation enthalten mußten, ist die normative wie faktische Wirkung des Parteieinflusses mehr als deutlich.
Erkannte Widersprüche, Schwierigkeiten und Probleme konnten — ohne persönliche Nachteile befürchten zu müssen — nicht offen angesprochen und diskutiert werden. Als entlastendes Ventil diente häufig die Kameradenrunde. „Im engen Kreis der Truppenoffiziere wurde ja prinzipiell anders gesprochen, da wurden die Dinge beim Namen genannt. Es gab die offizielle Linie und die private Meinung, die man im engen Kameradenkreis äußern konnte.“ (Hauptmann, 28 Jahre)
Sicherlich ist auch richtig, daß die Forderungen des Truppenalltags ihre eigenen Gesetze hatten. „Das Soldatenleben besteht nicht nur aus Ideologie, sondern in erster Linie aus militärischem Handwerk. Mit Karl Marx in der Hand gewinnt man kein Gefecht. Dazu muß man schießen können.“ (Oberstleutnant, 47 Jahre)
Dennoch, der Rückzug auf das Militärhandwerk befreite nicht von der Verpflichtung, den Soldaten auch ideologisch vom Sinn seines Dienstes zu überzeugen, und das bedeutete stets ein Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus und die Vermittlung eines klaren Feindbildes. 6. Feindbild Bundeswehr Das Verhältnis zur Bundesrepublik und zur Bundeswehr wurde wesentlich durch politisch-ideologische Gesichtspunkte bestimmt. „Wir waren eine selbständige, abgeschirmte Deutsche Demokratische Republik, im Warschauer Vertrag und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe mit anderen sozialistischen Staaten verbunden. Mit der anderen Hälfte Deutschlands verband uns nichts.“ (Major, 32 Jahre) Diese hier zum Ausdruck kommende Abgrenzung wurde verstärkt durch die offizielle Bewertung der Bundeswehr „als Speerspitze des Imperialismus“ und die Forderung, die Armeeangehörigen der NVA zum Haß auf die bundesdeutschen Soldaten zu erziehen. „Der Bundeswehrsoldat dient der herrschenden Klasse. Die herrschende Klasse drüben sind die Kapitalisten, der Kapitalist drängt wesens-mäßig zu Aggression. Also ist die Bundeswehr ein aggressives Instrument, ist der Bundeswehrsoldat mein Feind . . . Ich bin mit diesem Bild erzogen worden. Ich habe es all die Jahre geglaubt. Und ich mußte diese Überzeugung auch gegenüber den Soldaten in der Polit-Schulung vertreten.“ (Major, 37 Jahre)
Einhellig stellten alle Offiziere dar, daß die Bundeswehr von ihnen als logischer und naheliegender möglicher Gegner gesehen worden sei. Eine Übertragung von der kognitiven Ebene in den affektiven Bereich sei jedoch — so übereinstimmend alle Gesprächspartner — nicht erfolgt. „Das war mein Gegner — aber gehaßt habe ich ihn nicht." (Hauptmann, 27 Jahre) 7. Am Wendepunkt Dem Umbruch der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse standen die meisten Offiziere der NVA fassungslos gegenüber. Hineingewachsen in den real existierenden Sozialismus der DDR, war für sie die herrschende Ideologie weitgehend unhinterfragtes Deutungsmuster der politischen Zusammenhänge und wesentliches sinnstiftendes Element ihres Berufsverständnisses. Sich selbst stets als loyale Diener der politischen Dreieinigkeit Staat, Partei und Volk betrachtend, mußten sie plötzlich feststellen, einer Fiktion aufgesessen zu sein: das Volk wendete sich gegen Partei und Regierung. „Zu Beginn der Ereignisse ist das von uns sehr kritisch betrachtet worden. Man hat nicht die Massen gesehen, hat nicht gesehen, daß es das Volk war, das da aufdie Straße ging. Wir haben nur die Forderung gesehen. Die waren aufeinmal so scharf. — Man hat gedacht, da bricht die Welt zusammen. Wir haben gedacht, der 17. Juni wiederholt sich. Es hieß auch wieder, die seien aufgehetzt, von Außen gesteuert." (Major, 32 Jahre)
Als sich die Ereignisse dramatisch zuspitzten, war es mit einer reinen Zuschauerrolle der Armee vorbei. Teile der NVA wurden in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt. „Und am gleichen Tag sagt ein General im Fernsehen, es habe nie eine erhöhte Gefechtsbereitschaft gegeben. — Das war so ein letzter Anstoß ... Da hat man die Wirklichkeit gesehen und ihre Verzerrung durch hohe Vorgesetzte und Politbüro-Mitglieder. Und da war uns klar, wenn hier die Armee keine positive Rolle spielt, dann ist ein, Blutbad nicht auszuschließen.“ (Hauptmann, 29 Jahre)
Es stand auf des Messers Schneide. Etliche Bataillonskommandeure erhielten den Befehl, Einsatz-Hundertschaften zu bilden. „Wir saßen in einem Saal, verfolgten die Demonstrationen im Fernsehen und hielten uns für einen Einsatz verfügbar. Helm, MP, Magazin lagen aufdem Fahrzeug . . . Ich stand unter Befehl, sicher, aber wenn mirjemand befohlen hätte, mit meinen Männern auf diefriedliche Menge loszugehen — ich glaube, das hätte ich nichtgekonnt. Ich hab innerlich gefleht, daß die Armee sauber bleibt! Zum Glück blieb mir die Entscheidung erspart. Es gab keinen Einsatzbefehl.“ (Hauptmann, 27 Jahre)
Der Zerfall der bisherigen Autoritäten Staat und Partei erschütterte die Nationale Volksarmee nachhaltig. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Überwindung der gegenwärtig zu beobachtenden Orientierungslosigkeit, die Entwicklung einer Zukunftsperspektive und tragfähiger Zukunftskonzepte stehen noch aus. Fest steht aber bereits das Ziel der gesamtpolitischen Entwicklung: „Deutschland, einig Vaterland!“ 8. Sinn-und Existenzkrise Der revolutionäre Wandel hat die meisten Offiziere der NVA in eine tiefe Krise gestürzt. Sie stehen vor dem Scherbenhaufen eines politischen Systems, dem sie mit ideologischer Überzeugung — wenn auch in unterschiedlichem Ausmaße — gedient haben. Das Ende des real existierenden Sozialismus zwingt die meisten zu einer persönlichen Bilanz.
Nicht wenige empfinden sich als Opfer der am Klassenkampf ausgerichteten Dogmatik des Marxismus-Leninismus. Das Ende des Kalten Krieges wird als Niederlage gedeutet. „Ich fühle mich als Besiegter, weil sich die Ideologie, der ich angehängt habe und teilweise auch heute noch anhänge, sich hat besiegen lassen. Ich habe verloren — ich persönlich, aber vor allem das ganze System." (Oberstleutnant, 47 Jahre)
Dennoch brechen nur wenige radikal mit der „reinen Lehre“ des Marxismus; eine ganze Reihe hält vielmehr seine Ziele und Ideale nach wie vor prinzipiell für richtig. Sein Scheitern in der DDR wird vor allem auf stalinistische Methoden und eine unfähige, teilweise korrupte Staats-und Parteiführung zurückgeführt. Gegen sie sowie gegen die höhere militärische Führung richtet sich der besondere Zorn der Truppenoffiziere. Sie fühlen sich in der Vergangenheit ausgenutzt und „mißbraucht. „Ich fühle das ganz besonders, weil ich alle bewußten Jahre meines Lebens auf den Glauben an die Richtigkeit der Sache abgestellt habe. “ (Oberstleutnant, 48 Jahre)
Der psychologische Schritt vom Mißbrauchten zum Unschuldigen liegt nahe, dennoch tun ihn nur wenige. „Ich sehe meine Mitschuld an dem, was jetzt so alles offengelegt wird. Wir haben dieses System mit-getragen. Wer das für sich selbst leugnet, macht sich etwas vor. . . Wir waren doch alles vernünftige Menschen, wir haben gewußt, vieles kann gar nicht richtig sein. Aber wir waren zu feige, zu fragen, und unfähig, etwas zu ändern.“ (Oberstleutnant, 40 Jahre)
„Ich bin bereit, mich meinen unterstellten Soldaten in einer Diskussion zu stellen und meine Mitschuld darzulegen. (Major, 33 Jahre)
Während viele der Truppenoffiziere bereit sind, zu ihrer Verantwortung zu stehen und zumindest eine gewisse Mitschuld durch ihr eigenes Schweigen und ihre eigene Untätigkeit eingestehen, distanzieren sie sich verbittert von der „Wendigkeit“, die auf höheren Führungsebenen derzeit demonstriert wird. „Diese Leute sind gegenwärtig dabei, uns gegenüber einen doppelten Verrat zu begehen. Erst haben sie uns aufeinen Sozialismus verpflichtet, der sich als brüchig erwiesen hat, jetzt, wenden'sie sich mit atemberaubender Geschwindigkeit, um ihre Posten zu retten und kümmern sich einen Dreck um die Probleme der Truppe!" (Oberstleutnant, 40 Jahre)
Die aber sind schwierig genug. Die Truppenteile sind nach herkömmlichen Kriterien derzeit kaum noch funktionsfähig. Aufgrund der verkürzten Wehrdienstzeit und des neuen Zivildienstgesetzes fehlt es in großem Maße an Soldaten. Allein die Aufgabe, für die Sicherheit der Waffen-und Munitionsbestände zu sorgen, lastet die meisten Bataillone wegen des reduzierten Personalbestandes schon aus. Offiziere und Unteroffiziere stehen Wache und gehen Streife — aus Einsicht in die Notwendigkeit. An eine geregelte Ausbildung ist kaum zu denken. Verschärft wird die Situation durch die persönlichen Existenzängste der Berufssoldaten. „Beijeder Unterhaltung kommt die Frage hoch: Was wird aus uns, aus uns Berufskadern? Fakt ist, daß beide Armeen stark reduziert werden müssen . . . Dabei wird sicherlich vor allem die NVA betroffen ..." (Major, 32 Jahre)
Die meisten wollen „eigentlich“ gern Soldat bleiben; wenn sie aber gehen müssen, soll dies so sozial abgefedert werden, daß sie Chancen im Zivilleben haben. Trotz vielfältiger, formal hoher Qualifikationen ist dies jedoch ungewiß. „Ich bin Hochschulingenieurökonom — das klingt vielsagend und ist wenig bedeutend. Draußen würde es nur heißen: Wegtreten!“ (Major, 32 Jahre)
Zur Sinnkrise tritt also zunehmend auch die Existenzkrise. 9. Die Aufgabe von Militär Auch wenn der bisherige militärische Auftrag der NVA obsolet geworden ist, der Ost-West-Konflikt als weitgehend überwunden gilt und die Prozesse des Wandels in Osteuropa als unumkehrbar betrachtet werden, an eine Welt ohne Armeen vermögen die befragten Offiziere kaum zu glauben. „Noch gibt es ein erhebliches Konfliktpotential, das sich jederzeit entfalten und zur Explosion kommen kann . . . Nun kann man nicht sagen, der Gegner kommt aus einer bestimmten Richtung! Aber ich benötige ein gewisses Maß an militärischer Macht, damit ich unser Territorium zuverlässig schützen kann, damit ich jedem möglichen Angreifer sagen kann: Laß mich in Ruhe, oder es gibt Ärger!“ (Oberstleutnant, 47 Jahre)
Auf diesen — zugegebenermaßen sehr vereinfachten, deshalb aber nicht falschen — Nenner lassen sich die Argumentationsfiguren bringen, die zur Begründung der Beibehaltung von Streitkräften auch in der Zukunft herangezogen werden. Sozusagen flankierend werden zusätzliche Einsatzbereiche genannt, etwa Umweltschutz oder Katastrophen-hilfe. Aber auch die Option „UNO-Einsatz“ spielt eine wichtige Rolle. Über die Operationalisierung derartiger Aufgaben, ihre Umsetzung in Struktur, Organisation, Stärke, Ausrüstung und alltäglichen Dienstbetrieb gibt es jedoch noch keine klaren Vorstellungen. Das ist nicht überraschend, weil für die meisten der Offiziere auf der Hand liegt, daß der Entscheidungsspielraum der DDR-Regierung erheblich eingeschränkt ist. Da sind zum einen internationale Aspekte — etwa die Abrüstungsverhandlungen —, aber natürlich auch die bevorstehende Einigung Deutschlands. 10. Ein Land — eine Armee Die Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO erscheint den meisten befragten Offizieren als nahezu selbstverständlich, wenn sie auch künftig eine stärkere Akzentuierung der politischen Aufgaben des Bündnisses wünschen. Das meint vor allem eine Veränderung der bisherigen „militärischen Frontstellung“ und läuft auf eine Respektierung der Sicherheitsinteressen der UdSSR hinaus. Dadurch könnte der Anschein vermieden werden, die NVA würde sozusagen die Fronten wechseln. „Von heute auf morgen zu sagen, jetzt gehts in die andere Richtung — das finde ich nicht gut; das könnte ich auch nicht.“ (Hauptmann, 27 Jahre)
Daher berufen sich viele NVA-Offiziere auf das Entstehen gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen, die ein derartiges Dilemma gar nicht erst entstehen lassen, könnten doch die Interessen des ehemaligen „Waffenbruders“ und Bündnispartners auf diese Weise durchaus berücksichtigt werden.
Was immer die Zukunft bereithalten mag. für alle befragten Offiziere ist klar, daß es nur eine deutsche Armee geben wird. Der Versuch der politischen Führung, in diesem Bereich eine Eigenständigkeit der DDR — womöglich noch für eine längere Zeit — zu reklamieren, gilt den meisten als Ausweis mangelnden Realitätssinns. Dennoch: „NVA und Bundeswehr kann man nicht einfach so Zusammenlegen!“ (Major, 36 Jahre)
Wie Bundeswehr und Nationale Volksarmee verklammert werden sollen, ja, ob dies überhaupt möglich ist, gilt vielen als offene Frage. Bei ihrer Beantwortung nehmen die vermuteten Schwierigkeiten mit dem Konkretisierungsgrad und dem Ausmaß des Gefühls der persönlichen Betroffenheit zu. Die Unterstellung unter einen einheitlichen politischen Oberbefehl wird als logische Konsequenz der Neugestaltung Deutschlands von allen Offizieren ohne Wenn und Aber akzeptiert, genauso wie ihre daraus erwachsende Loyalitätsverpflichtung.
Ebenso herrscht weitgehend Einigkeit über den angestrebten Status der Landstreitkräfte der NVA: Sie sollen Teil des Territorialheeres der gesamtdeutschen Streitkräfte werden Dahinter steht die Vorstellung, die damit einhergehende Regionalisierung des Militärs könne der NVA ein gewisses Maß an Eigenleben ermöglichen, könne den Über-gang zu den erwarteten Umstellungen weniger abrupt werden lassen. „Die Eigentümlichkeitder NVA im Hinblick auf Ausrüstung, Bewaffnung, Gliederung, Führungsgrundsätze und Ausbildung können nicht von heute auf morgen der Bundeswehr angeglichen werden. “ (Oberstleutnant, 48 Jahre)
Dennoch erscheinen die mit diesen eher verfahrenstechnischen Fragen verknüpften Friktionen in einer relativ kurzen Übergangszeit durch entsprechende organisatorische Maßnahmen lösbar. Als erheblich schwerer lösbar gelten Probleme auf dem Sektor Personal. Im Zuge der Abrüstung rechnen die NVA-Offiziere mit einer deutlichen Reduzierung der deutschen Streitkräfte. Bundeswehr und Nationale Volksarmee bilden die gemeinsame Masse, die es zu verringern gilt. „Und da stellt sich die Frage, wer zieht seine Uniform aus? Der Bundeswehroffizier oder wir?“ (Hauptmann, 29 Jahre)
Für einige ist diese Frage längst durch den zeitgeschichtlichen Ablauf entschieden. „Warum soll ein Offizier der Bundeswehr entlassen werden? Der war doch immer auf der richtigen Seite. Die haben gewonnen!“ (Major, 34 Jahre)
Angesichts ihrer mangelnden rechtlichen und sozialen Absicherung ist die persönliche Zukunftsperspektive der Berufssoldaten eine zentrale Größe bei der Beurteilung ihrer Lage. Dabei geht es keineswegs ausschließlich um materielle Sicherheit. „Vor allem für uns ältere Offiziere hat das bittere Konsequenzen. Wir werden als erste entlassen. Was sollen wir tun? Was haben wir gelernt? Ich kann ein Batail Ion richtig einsetzen! — Aber das kann ich als Zivilist nicht gebrauchen. Was bleibt übrig für den 50jährigen Offizier? Dabei geht es nicht nur um Geld; der Mensch will auch eine sinnvolle Aufgabe haben!“ (Oberstleutnant, 48 Jahre)
So setzen viele auf eine pragmatische Lösung. „Es dürfte schwierig sein, alle NVA-Offiziere einfach durch Bundeswehroffiziere zu ersetzen. Zumindest für eine längere Übergangsphase werden wir noch gebraucht.“ (Hauptmann, 29 Jahre)
Die Vorstellung, daß Offiziere beider deutscher Armeen, die gelernt hatten, sich gegenseitig als möglichen Gegner zu betrachten, einem gemeinsamen Ziel verpflichtet nebeneinander Dienst tun, erscheint als reale Möglichkeit. Vom ehemaligen Klassenfeind zum Kameraden? Ein durchaus gangbarer, aber nicht einfacher Weg. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich Soldaten der Bundeswehr meinem Befehl unterstellen würden. Umgekehrt ist das schon eher denkbar, obwohl. . . In der Bundeswehr haben wir jahrelang eine imperialistische Aggressionsarmee gesehen. Und jetzt steht da plötzlich ein Bundeswehroffizier, der ist vielleicht mein Vorgesetzter! — Unter einem Bundeswehroffizierzu dienen, ist für mich vom Gefühl her schwer zu akzeptieren; sachlich halte ich esfür notwendig." (Oberstleutnant, 40 Jahre)
In diesem Zusammenhang spielen vermutete Vorbehalte eine entscheidende Rolle. Über deren Berechtigung allerdings gehen die Meinungen weit auseinander. „Was habe ich denn Schlechtes gemacht? Ich habe fast 25 Jahre lang Soldaten ausgebildet. Was ist daran schlimm gewesen?“ (Oberstleutnant, 48 Jahre)
Die Reduzierung auf das Militärhandwerkliche blendet den ideologischen Teil einfach aus. Eine andere Argumentation greift dem gegenüber gerade diesen Aspekt besonders auf: „Ich bin dreißig Jahre lang so erzogen worden, daß das Eintreten für den Sozialismus gleichbedeutend mit dem Einsatz für den Frieden ist. Daran habe ich geglaubt, wie ich auch von der Richtigkeit des Sozialismus überzeugt war. Viele Dinge waren falsch, das habe ich mittlerweile erkannt, aber es gab auch viele richtige Dinge!“ (Major, 37 Jahre)
Eine dritte Position fragt vor allem nach der moralischen Bewertung: „Ich habe immer West-Fernsehen geschaut; mit schlechtem Gewissen, weil ich damit gegen bestehende Vorschriften verstoßen habe. Ich habe im Politunterricht den Soldaten erklärt, wie schlecht das kapitalistische System ist — und mich dabei unwohl gefühlt. Das war alles nicht sauber ... Ich war ein Mitläufer. Die militärische Tätigkeit hat mir Spaß gemacht, ich hab gut verdient. Im übrigen habe ich versucht, möglichst nicht anzuecken.“(Oberstleutnant, 47 Jahre) Ohne den Versuch einer plumpen Gleichsetzerei — auf der Ebene des persönlichen Verhaltens werden durchaus Parallelen zum Leben während des Nationalsozialismus gesehen. „Jahrelang habe ich mit meinem Vater diskutiert, habe gefragt: Konntet ihr denn nichts gegen die Nazis machen? Da muß es doch Möglichkeiten gegeben haben! — Er konnte mir nie eine befriedigende Antwort geben. Jetzt kann ich ihn verstehen!“ (Oberstleutnant, 40 Jahre)
V. Ausblick
Gewiß ist es einfach und kommt vielen Attitüden entgegen, die Berufssoldaten, insbesondere die Offiziere der Nationalen Volksarmee pauschal als Stützen eines undemokratischen Systems zu verurteilen und die sofortige Auflösung der NVA zu fordern -Ein derartiges Verdikt erscheint mir außerordentlich problematisch; daher plädiere ich vor dem Hintergrund meiner Erkenntnisse für eine differenziertere Betrachtungsweise. An die Stelle einer rigiden moralischen (Vor-) Verurteilung sollte der Versuch treten, sich in die Lage der Betroffenen zu versetzen.
Herangewachsen im Glauben an die Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung haben sie gelernt, das politische System der Bundesrepublik Deutschland als „kapitalistisch“, „imperialistisch“ und potentiell aggressiv zu betrachten. Das erlaubte ihnen, den Dienst in der NVA als Dienst für den Frieden zu definieren. Zusammen mit der beruflichen Befriedigung und der gewährten materiellen Sicherheit bildete das ihre Berufsmotivation.
Vorwerfen kann man den Offizieren, daß sie auftretende Widersprüche im real existierenden Sozialismus nicht sehen wollten, eventuelle Zweifel verdrängten und so in der staatlich verordneten, aber eben auch selbstverschuldeten Unmündigkeit verblieben. Allerdings — wer will für sich die Gewißheit in Anspruch nehmen, sich in der gleichen Situation anders verhalten zu haben? Den Offizieren der NVA vorzuhalten, sie hätten sich per se für den Dienst in gesamtdeutschen Streitkräften moralisch disqualifiziert, bedeutet, etwa 35 000 Menschen ins gesellschaftliche Abseits zu drängen. Daß damit ein möglicherweise zur politischen Radikalität neigendes Potential geschaffen wird, liegt auf der Hand.
Die Bewältigung der Vergangenheit — das sollten wir gelernt haben — kann nicht durch Ausgrenzen und Verdrängen erfolgen, sondern nur durch aktive Aufarbeitung. Wer erfahren hat, wohin ideologische Einäugigkeit führt und daraus Folgerungen für sein Verhalten zieht, kann durchaus ein Gewinn für ein gesamtdeutsches Offizierkorps sein.
Ein anderer Aspekt kommt hinzu: Neben ihrem militärischen Fachwissen bringen die NVA-Offiziere ein erhebliches Potential vielfältiger Kontakte und Verbindungen zu den Armeen des ehemaligen sozialistischen Lagers ein. Wenngleich die Intensität dieser Beziehungen nicht überschätzt werden darf, so ließen sie sich doch zu soliden Bausteinen für das geplante europäische Haus weiterentwikkein. Damit soll nicht einer „internationalen Kameraderie der Soldaten“ das Wort geredet werden. Gleichwohl ist das Militär ein nicht unwesentlicher Bestandteil zukünftiger gemeinsamer Sicherheitsstrukturen und kann seinen Beitrag zur allgemeinen Vertrauensbildung leisten. Die bevorstehende Reduzierung gesamtdeutscher Streitkräfte auf 370 000 Mann darf nicht ausschließlich zu Lasten der Nationalen Volksarmee gehen. Vielmehr ist eine Lösung gefordert, die Augenmaß ebenso wie gesellschaftliches und politisches Verantwortungsbewußtsein erkennen läßt