I.
Bei allen Fragen die mit Deutschland Zusammenhängen, ist der völkerrechtliche Rahmen viel komplizierter als der verfassungsrechtliche. Auf beiden Ebenen geht es um das Dürfen, Sollen und Müssen, also um die rechtliche Zulässigkeit und die Rechts-folgen staatlichen Handelns. Der verfassungsrechtUche Rahmen betrifft das Handeln eines einzelnen Staates, der völkerrechtliche hingegen das Handeln einer Mehrzahl von Staaten, das in seiner Gesamtheit ein Geflecht von wechselseitigen Beziehungen darstellt. Auch wenn nur das Handeln eines einzigen Staates, oder einer kleinen Gruppe von Staaten. am Maßstab des Völkerrechts gemessen wird, ist diese Pluralität von Bedeutung. Sie drückt sich nicht nur in der zur Anwendung gebrachten Rechtsnorm aus, sondern auch in den Folgen einer jeden Anwendung, die eben auf der völkerrechtlichen Ebene niemals auf die unmittelbar Beteiligten beschränkt werden können.
Das Völkerrecht unterscheidet zwischen zwei Rechtszuständen: Krieg und Frieden. Schon die ersten Theoretiker des Völkerrechts, die ihre Werke im 16. Jahrhundert schrieben, machten die strenge Einteilung in diese beiden Rechtszustände zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen Im Falle eines Krieges, der trotz des Kriegsverbots ausgebrochen ist, findet das Kriegsrecht in gleicher Weise Anwendung auf alle am Konflikt beteiligten Parteien und schafft Rechte und Pflichten ohne Rücksicht darauf, welche Partei bei objektiver Betrachtungsweise der Aggressor ist Daraus folgt, daß der grundlegende Wandel der Völkerrechtsordnung, der sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vollzieht, die Hauptfunktion des Friedensvertrags unberührt gelassen hat. Wie im klassischen Völker-recht besteht sie darin, den Rechtszustand des Krie-ges in denjenigen des Friedens zu überführen. Der Friedensvertrag selbst gehört bereits dem Rechts-zustand des Friedens an. Dadurch unterscheidet er sich wesentlich vom Waffenstillstand, der ein kriegsrechtlicher Vertrag ist.
Freilich zeigt der Friedensvertrag Besonderheiten gegenüber allen anderen Verträgen, die im Rechts-zustand des Friedens geschlossen werden. Sie sind nicht rechtstechnischer, sondern politischer Natur.
An der Spitze steht die extrem ungleiche Machtlage zwischen den Vertragspartnern. Allerdings ist dies kein qualitativer Unterschied zu anderen Verträgen, sondern nur ein quantitativer; denn Verträge zwischen Partnern in einer Situation der absolut ausgeglichenen Machtlage bilden im Völkerrecht eher die Ausnahme. Bei den Friedensverträgen ist diese faktische Ungleichheit besonders groß. Trotzdem unterliegen die Friedensverträge hinsichtlich ihres Zustandekommens, ihrer Interpretation und ihrer Anwendung denselben Regeln wie alle anderen völkerrechtlichen Verträge. Die politischen Besonderheiten begründen keine rechtliche Sonderstellung des Friedensvertrags. Daß trotz extrem ungleicher Machtlage ein völkerrechtlicher Vertrag zustandekommt, den auch der Besiegte loyal zu erfüllen hat, gehört zu den nicht ganz leicht zu begreifenden Grundprinzipien des Völkerrechts. Eher verständlich ist die Tendenz der Besiegten, den Friedensvertrag als einen aufgezwungenen Vertrag bei sich bietender Gelegenheit beiseitezuschieben. Wenn die Völkerrechtsordnung die für ihren Fortbestand notwendige Akzeptanz bewahren will, muß sie auch Rechtsnormen enthalten, die den möglichen Inhalt von Friedensverträgen so begrenzen und formen, daß der einzelne Friedensvertrag der völkerrechtlichen Gesamtentwicklung entspricht und aus ihrer Sicht nicht zum Unrecht wird. Diese Aussage galt bereits für das klassische Völkerrecht. Sie gilt in noch viel höherem Maße für die gegenwärtig im Aufbau befindliche Völkerrechtsordnung; denn gerade im Zuge dieses Aufbaus hat sich der Gedanke Bahn gebrochen, daß das Völkerrecht zwingende Rechtsregeln enthält, die durch vertragliche Vereinbarungen nicht beeinträchtigt werden dürfen und können.
\ Zu den zwingenden Regeln des Völkerrechts, dem sogenannten jus cogens, gehört nach durchaus einhelliger Meinung das Gewaltverbot. Auch diese Frage ist mit dem Problem eines Friedensvertrags mit Deutschland verknüpft, und zwar auf dem Umweg über die Satzung der Vereinten Nationen. Das Gewaltverbot ist dort in Art. 2 Ziffer 4 verankert. Art. 107 derselben Satzung bestimmt aber, daß „Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war,. . . durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt“ werden.
Eine ähnlich verankert. Art. 107 derselben Satzung bestimmt aber, daß „Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war,. . . durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt“ werden.
Eine ähnliche Bestimmung findet sich in Art. 53 der Satzung der Vereinten Nationen. Für beide Bestimmungen hat sich die Bezeichnung „Feindstaatenklausel“ eingebürgert. Über ihre Fortgeltung ist in der Literatur lange Zeit gestritten worden, insbesondere im Zusammenhang mit den Ost-verträgen und dem Beitritt der beiden deutschen Staaten zur Organisation der Vereinten Nationen 3). Heute ist es durchaus herrschende Meinung, daß die Feindstaatenklauseln spätestens mit dem Beitritt der beiden deutschen Staaten zur Weltorganisation ihre Geltung verloren haben. Aber selbst wenn dies nicht so wäre, müßte darauf hingewiesen werden, daß die Feindstaatenklauseln niemals eine Freizeichnung der Siegermächte vom Gewaltverbot des geltenden Völkerrechts beinhalteten und den Siegermächten zu keiner Zeit das Recht gaben, gegen völkerrechtliche Grundnormen zu verstoßen. Die Grundregel, daß jeder Friedensvertrag, wenn er die völkerrechtliche Entwicklung nicht hemmen oder gar zurückwerfen soll, dem im Zeitpunkt seines Abschlusses erreichten Stand der völkerrechtlichen Entwicklung entsprechen muß, ist von den Feindstaatenklauseln völlig unabhängig.
Da zu den großen völkerrechtlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte vor allem die Festigung der Menschenrechte gehört, spielt die Menschenrechtsfrage eine entscheidende Rolle im Friedensvertrag mit Deutschland wie in jedem Friedensvertrag, der nach geltendem Völkerrecht abgeschlossen wird. Rein rechtstheoretisch ist diese Fra-gestellung problemlos. Die Problematik der Menschenrechtsfrage in Verträgen'— nicht nur in Friedensverträgen — wird erst in der Verknüpfung der Verträge mit faktischen Gegebenheiten deutlich. Es werden sich kaum Beispiele dafür finden lassen, daß Vertragspartner Vereinbarungen über die Begehung oder Duldung von Menschenrechtsverletzungen treffen. Vielmehr wird stets zu prüfen sein, ob der Inhalt eines Vertrages so beschaffen ist, daß die Durchführung des Vertrages Menschenrechtsverletzungen mit sich bringt, oder ob der Vertrag in der Weise interpretiert werden kann, daß er bereits begangene Menschenrechtsverletzungen ausdrücklich oder stillschweigend billigt. Die letzterwähnte Situation ist besonders schwierig. Zu fragen ist nämlich, ob ein Vertrag, der eine bestimmte Situation bereinigen soll, Menschenrechtsverletzungen mit Stillschweigen übergehen darf, die in dieser Situation verübt worden sind.
Auch in dieser Beziehung nehmen die Friedensverträge eine Sonderstellung ein. Die Situation, die sie bereinigen sollen, ist die eines völkerrechtlichen Gewaltzustandes, der in den des definitionsgemäß gewaltlosen Zustand des Friedens überführt werden soll. Hier ist daran zu erinnern, daß die völkerrechtliche Definition des Krieges lautet: „Der Krieg ist ein völkerrechtlicher Gewaltzustand unter Abbruch der diplomatischen Beziehungen.“ 4) Im klassischen Völkerrecht galt der Grundsatz „finis belli pax est“. Am Ende des Krieges steht der Frieden. Damit wurde nicht nur zum Ausdruck gebracht, daß der Besiegte einen Anspruch auf einen alsbaldigen Friedensvertrag hatte, sondern auch, daß im Rechtszustand des Friedens — zu dem ja der Friedensvertrag gehört — keine Spur vom Krieg mehr übrigbleiben darf. Die Mahnung Immanuel Kants, man möge keinen Friedensvertrag für einen solchen gelten lassen, der den Keim zu einem neuen Krieg in sich trage war nicht nur eine philosophische Spekulation, sondern entsprach durchaus auch der damals geltenden Völkerrechtsordnung.
Wenn hier im Zusammenhang mit den Überlegungen zu einem Friedensvertrag mit Deutschland die Menschenrechtsfrage in den Vordergrund gestellt wird, so könnte eingewendet werden, daß die Förderung der Menschenrechte niemals das Ziel von Friedensverträgen gewesen ist. Für das klassische Völkerrecht kann dies ohne weiteres behauptet werden, weil der Menschenrechtsgedanke in jener Epoche noch weit von einem konkreten Niederschlag in vertraglichen oder gewohnheitsrechtli-chen Völkerrechtsnormen entfernt war. Heute ist die Situation anders, obwohl zugegeben werden muß, daß es nicht der primäre Zweck von Friedensverträgen ist, die Entwicklung der Menschenrechte voranzutreiben. Aber Menschenrechtsfragen spielen in Friedensverträgen jedenfalls dann eine Rolle, wenn in solchen Verträgen Gebietsabtretungen vereinbart werden.
Die menschenrechtliche Dimension entsteht bei solchen Verträgen dadurch, daß auf dem abgetretenen Gebiet Menschen wohnen oder daß es Menschen gibt, die dort Eigentumsrechte haben. Selbst bei der Abtretung eines völlig menschenleeren Gebiets wird daher der menschenrechtliche Zusammenhang aktuell. Erst recht kann er nicht dadurch vermieden werden, daß die Behauptung aufgestellt wird, die Bevölkerung des abgetretenen Gebiets habe dieses freiwillig verlassen. Der zynische Ausspruch Stalins auf der Konferenz von Jalta, man brauche sich über das Schicksal der deutschen Ost-gebiete keine Gedanken zu machen, weil die Bevölkerung dieser Gebiete aus Angst vor der Roten Armee geflohen sei, entsprach weder dem damals geltenden Völkerrecht, noch war sie Maßstab für die Entwicklung des Völkerrechts in den folgenden Jahrzehnten
Frieden und Menschenrechtsschutz sind die beiden Hauptanliegen der künftigen Völkerrechtsordnung, an deren Aufbau seit Jahrzehnten gearbeitet wird. Alle anderen Einzelprobleme werden unter diesem Aspekt gesehen oder hängen mit ihm zusammen. Das ist an zahlreichen Einzelbeispielen immer wieder deutlich geworden. Zu ihnen gehört die Hilfe für Entwicklungsländer ebenso wie das internationale Flüchtlingsrecht, ja sogar das Umweltvölkerrecht.
Der Aufbau des völkerrechtlichen Systems des Menschenrechtsschutzes ist bisher vorwiegend durch völkerrechtliche Verträge erfolgt. Vertragliche Vereinbarungen über Menschenrechte finden sich nicht nur in den globalen und regionalen Menschenrechtskonventionen, sondern auch in anderen Vertragswerken. Sie sind zugleich Indizien für die Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft und für die Staatenpraxis. Auf ihrer Grundlage kann daher versucht werden, gewohnheitsrechtliche Sätze des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes herauszuarbeiten. An dieser doppelten rechts-fortbildenden Wirkung nehmen die Friedensverträge ebenso teil wie alle anderen völkerrechtlichen Verträge. Man kann sogar die Meinung vertreten, daß Friedensverträge in dieser Entwicklungsphase des Völkerrechts von besonderer Bedeutung für den weiteren Ausbau des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes sind. Über die friedenssichernde Kraft der Menschenrechte ist sich die Völkerrechtswissenschaft längst einig Eine Völkerrechtsordnung, in deren Mittelpunkt die allgemeine Friedenspflicht steht, muß den Staaten die Verpflichtung auferlegen, den Menschenrechtsschutz nicht nur durch den Abschluß spezieller Menschenrechtsverträge zu fördern, sondern auch durch die Beachtung der Menschenrechte in allen anderen Verträgen und insbesondere in den Friedensverträgen.
Der Friedensvertrag muß daher vor allen Dingen so formuliert sein, daß er unter keinen Umständen dahingehend interpretiert werden kann, als gestatte er eine Handlung, die gegen den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz verstößt. Ferner muß dafür Sorge getragen werden, daß bei der Durchführung des Friedensvertrags jegliche Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Wenn Menschenrechtsverletzungen in der Zeit zwischen dem Beginn des Kriegszustandes und dem Abschluß des Friedensvertrags stattgefunden haben, so muß der Friedensvertrag nach Möglichkeit denjenigen Zustand wiederherstellen, der vor den Menschenrechtsverletzungen bestanden hat. Soweit dies nicht möglich ist. muß der Friedensvertrag, wenn er die Fortentwicklung der Menschenrechte nicht behindern will, andere rechtliche Konsequenzen aus den Menschenrechtsverletzungen ziehen. Das bloße Schweigen des Friedensvertrags zu derartigen Menschenrechtsverletzungen würde einen schweren Rückschlag in der Gesamtentwicklung des Völker-rechts und einen Verstoß gegen die allgemeine Friedenspflicht des geltenden Völkerrechts bedeuten. Nimmt man den konkreten Fall „Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“, so ist festzustellen, daß die erste Funktion des Friedensvertrags in diesem Fall bereits ohne Friedensvertrag erfüllt worden ist. Die Überführung des Rechtszustands des Krieges in denjenigen des Friedens erfolgte nicht durch einen Friedensvertrag, sondern durch einseitige Erklärungen der Siegermächte. Die Situation ist allerdings kompliziert; denn der besiegte Staat, das Deutsche Reich, ist zwar nicht als Völkerrechtssubjekt untergegangen, aber im völkerrechtlichen Bereich handlungsunfähig geworden. Auf seinem Boden sind 1949 zwei Staaten entstanden, wobei überdies noch hinzu kommt, daß die Völkerrechtssubjektivität des einen Staates, nämlich der DDR, in Theorie und Praxis — nicht nur der Bundesrepublik Deutschland — noch lange Zeit umstritten blieb
Doch ist diese Komplikation weniger schwierig als die Sachlage vermuten läßt. Der Verfassungsgeber der Bundesrepublik Deutschland hat nämlich eine klare Entscheidung in bezug auf die völkerrechtliche Kontinuität Deutschlands getroffen. In völkerrechtlich eindeutiger und absolut abgesicherter Weise ist entschieden worden, daß die Bundesrepublik Deutschland die staats-und völkerrechtliche Kontinuität Deutschlands in der Form der Identität fortsetzt Die Bundesrepublik Deutschland heißt nicht nur so, sondern sie ist tatsächlich Deutschland im Rechtssinne Das ist keine bloße Theorie, sondern staatliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland in ungebrochener 41jähriger Tradition. Die Bundesrepublik Deutschland hat es verstanden, für die Praktizierung dieses Grundsatzes im internationalen Bereich Anerkennung zu finden. Das war auch mit Mühen und Opfern verbunden; denn aus der Praktizierung der staats-und völkerrechtlichen Kontinuität Deutschlands erwuchsen der Bundesrepublik Deutschland schwere Lasten. Aber die Anerkennung dieser Kontinuitätspraxis durch die anderen Staaten ist dennoch kein Wunder, keine Gnade und keine Gegenleistung im Rahmen eines internationalen Tauschgeschäfts, sondern ist eine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit. die darauf beruht, daß die staatsrechtliche Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland für die Fortführung der Kontinuität Deutschlands in der Form der Identität auf völkerrechtlich gesicherter Grundlage steht.
Da nach dem Zweiten Weltkrieg in bezug auf Deutschland die beiden ersten Funktionen des Friedensvertrags — nämlich die Überführung des Rechtszustands des Krieges in denjenigen des Friedens und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen — ohne Friedensvertrag bewirkt worden ist, bleibt nur noch die dritte Funktion des Friedensvertrags zu untersuchen, nämlich die Schaffung der Rechtsgrundlagen für die künftige Friedensordnung. Zu diesem Zweck haben die Friedensverträge seit eh und je Bestimmungen über die einzelnen im Zeitpunkt der Kriegsbeendigung anstehenden Probleme enthalten. Aber auch solche Probleme müssen nicht unbedingt in einem formellen Friedensvertrag geregelt werden, sondern können auch in anderen völkerrechtlichen Formen einer Lösung zugeführt werden. Will man prüfen, welche ungelösten Probleme heute noch im Verhältnis zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Kriegsgegnern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bestehen, so muß man Punkt für Punkt untersuchen, welche Probleme 1945 zu lösen waren und welche davon seither durch völkerrechtlich gültige Regelungen — in erster Linie kommen auch hier wieder Verträge der Bundesrepublik Deutschland mit dritten Staaten in Frage — gelöst worden sind. Bei der Untersuchung dieser Einzelpunkte ist jeweils wieder zu berücksichtigen, daß der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 2 des Deutschlandvertrags, durch den sie mit Wirkung vom 5. Mai 1955 die Souveränität wiedererlangte ). die völkerrechtliche Kompetenz zum Abschluß von Verträgen über die dort genannten Gebiete (Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung) fehlte. Aber dies schloß den Abschluß von Verträgen auf den genannten Vorbehaltsgebieten mit Billigung der drei anderen Signatarstaaten des Deutschland-vertrags nicht aus.
So entfaltete die Bundesrepublik Deutschland eine umfangreiche Vertragspraxis, bei der jeweils im Vorfeld geklärt werden mußte, ob die Vorbehalts-gebiete berührt wurden oder nicht. In jedem einzelnen Fall ließ die Bundesrepublik Deutschland entweder die Nichtberührung in einem diplomatischen Notenwechsel eindeutig feststellen oder sicherte sich die Zustimmung der drei Signatarstaaten, die ihrerseits durch Art. 7 Abs. 4 desselben Vertrags verpflichtet waren, die Bundesrepublik Deutschland in allen Angelegenheiten zu konsultieren, welche die Ausübung ihrer Rechte in bezug auf Deutschland als Ganzes berührten.
Ein Vergleich bietet sich an zwischen den Friedensverträgen am Ende des Ersten Weltkriegs — neben Versailles gehören dazu die Verträge von St. Germain, Sevres, Trianon und Neuilly-sur-Seine (mit Österreich, der Türkei, Ungarn und Bulgarien) — und den Friedensverträgen, die bisher nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen worden sind. Letztere stammen alle aus dem Jahre 1947 und betreffen die Verbündeten des Deutschen Reiches, nämlich Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Finnland und Japan. Es erscheint selbstverständlich, daß die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen könnten, je nach dem Blickwinkel, aus dem heraus der Vergleich angestellt wird. Aber man kann sich auf einen durchaus objektiv zu beurteilenden Aspekt konzentrieren, nämlich die Menschenrechte. Es ist durchaus möglich, einen solchen Vergleich auch ohne Detailkenntnisse über die allgemeine Menschenrechtsentwicklung anzustellen.
Der Textvergleich zeigt einen merkwürdigen Zwiespalt. Die Vertragstexte, die nach dem Ersten Weltkrieg abgefaßt worden sind, in ihren lassen Präambeln ebenso wie in den Mantelnoten, mit denen sie den Besiegten übergeben wurden, eine unbeugsame Härte aufscheinen. Die Worte geben Zeugnis von emotionaler Eiseskälte und Unversöhnlichkeit. Die territorialen und wirtschaftlichen Bestimmungen gehen weit über das hinaus, was auch mit der ausgedehntesten Interpretation des Begriffes „Wiedergutmachung“ noch zu erfassen wäre. Bei der Lektüre der Vertragstexte stellt man gleichwohl fest, daß die Friedensmacher von 1919 durchaus auch an das Schicksal der von den Verträgen betroffenen Einzelmenschen und Gruppen gedacht haben. In Hunderten von Artikeln regelten sie Eigentumsentzug und Entschädigung, Staatsangehörigkeit und Option, Plebiszit und Minderheitenschutz.
Nichts von alledem findet sich in den bisher abgeschlossenen Friedensverträgen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie erwecken den Eindruck, als würden menschenleere Räume hin und her geschoben. Das trifft nur für einen einzigen Fall tatsächlich zu. nämlich für die von Finnland an die Sowjetunion abgetretenen Gebiete Und auch dort wurde der juristische Kunstgriffangewendet, mit dem in praktisch allen Friedensverträgen von 1947 versucht worden ist, die Menschenrechtsproblematik auszuklammern; der Rückgriff auf einen Stichtag für die Wiederherstellung von Grenzen, die vorher — in der Regel sogar erst kurz vorher — unter Anwendung von Waffengewalt und diplomatischem Druck festgelegt worden waren.
Eine gewisse Ausnahme bildet der Friedensvertrag mit Italien, dessen Art. 10 Abs. 2 lautet: „Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben die zwischen der österreichischen und italienischen Regierung am 5. September 1946 vereinbarten Bestimmungen (deren Text im Anhang IV enthalten ist) zur Kenntnis genommen.“ Gemeint ist das Gruber-de Gasperi-Abkommen über Südtirol. Es war eine herbe Enttäuschung für die Südtiroler wie für alle engagierten Tiroler und Österreicher, weil es den Südtirolern die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verweigerte Die Vereinten Nationen mußten sich später (1961) die größte Mühe geben, um Italien dazu zu bewegen, wenigstens einige Korrekturen vorzunehmen, über deren Wirksamkeit noch heute gestritten wird. Aber gegenüber dem Friedensvertrag von St. Germain, der das Südtirol-Problem geschaffen hatte, bedeutete die verschleierte Bezugnahme auf eine, wenn auch unbefriedigende, Vereinbarung über dieses Problem doch einen gewissen Fortschritt.
Doch gerade angesichts dieser Erkenntnis muß es enttäuschend wirken, daß die Schöpfer des Friedensvertrags mit Italien sich nicht dazu entschließen konnten, das Südtirol-Problem offen anzusprechen. Sie haben seine menschenrechtliche Dimension nicht begriffen. Wie hohl und nichtssagend die allgemeine Verpflichtung auf die Menschenrechte ist, die im Friedensvertrag mit Italien in Art. 15 in wörtlicher Übereinstimmung mit den Artikeln 2 der Friedensverträge mit Ungarn und Bulgarien und Art. 3 des Frieden in wörtlicher Übereinstimmung mit den Artikeln 2 der Friedensverträge mit Ungarn und Bulgarien und Art. 3 des Friedensvertrags mit Rumänien enthalten ist, zeigte das Gutachtenverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH).
Das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof wurde alsbald eröffnet. Wie nicht anders zu erwarten, wandten die beschuldigten Staaten zunächst ein, daß die Generalversammlung nicht befugt gewesen sei, diese Fragen überhaupt dem IGH vorzulegen, da dies eine gemäß Art. 2 Ziffer 7 der Satzung der Vereinten Nationen verbotene Intervention in die inneren Angelegenheiten der betreffenden Staaten darstelle. In seinem Gutachten vom 30. März 1950 14) wies der IGH diesen Vorwurf zurück. Aber er bejahte seine Zuständigkeit nur deshalb, weil er nicht zu der Frage Stellung nehmen sollte, ob die beschuldigten Regierungen die Menschenrechte wirklich verletzt haben oder nicht. Damit zog sich der IGH auf Verfahrensfragen zurück und umging die eigentliche Kernfrage, wie es mit der Beachtung der Menschenrechte in den Friedensverträgen von 1947 wirklich stand. Auf dieser Grundlage ist das harte Urteil gerechtfertigt, das der Völkerrechtler Ulrich Scheuner gefällt hat: „Während die Sicherung des Minderheitenrechts nach 1919 dem Völkerbund anvertraut war, ist eine Befassung internationaler Instanzen mit dem Schutz der Menschenrechte in den Südoststaaten Europas nach 1945 nicht möglich gewesen.“ 15)
So offenbart sich in den Friedensverträgen nach dem Zweiten Weltkrieg ein ähnlicher Zwiespalt wie in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg, wenn auch in umgekehrter Richtung. In den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg steht die intensive Beschäftigung mit Rechten von Einzelmenschen und Minderheiten in einem gewissen Gegensatz zur allgemeinen Härte der Verträge. In den Friedensverträgen nach dem Zweiten Weltkrieg steht das Verschweigen oder Verschleiern der großen menschenrechtlichen Probleme im Gegensatz zur Erwähnung der Menschenrechte in einem eigens dafür reservierten Spezialartikel eines jeden Vertrags und zu der nicht von unversöhnlichem Haß durchtränkten Eingangsfloskel der Präambeln. So könnte man die Berücksichtigung von individuellen Rechten und Gruppenrechten in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg auch als einen letzten Widerschein der im klassischen Völkerrecht selbstverständlichen Humanität ansehen, die jeden Gedanken an eine Kollektivschuld der besiegten Völker und des Strafcharakters von Maßnahmen gegen einzelne Angehörige der Bevölkerung eines besiegten Staates von vornherein ausschloß. Weit davon entfernt, Vorläufer einer neuen Ära zu sein, würden dann diese Friedensverträge den Abschluß einer Epoche bilden, in welcher der einzelne von nachteiligen Wirkungen der Friedensverträge für seine individuelle Rechtsstellung möglichst verschont blieb.
In konsequenter Fortsetzung dieser Betrachtungsweise würden die Friedensverträge nach dem Zweiten Weltkrieg den einzelnen noch weiter aus dem Gesichtskreis des Völkerrechts verdrängen. Diese Betrachtungsweise hätte den Vorteil, daß sie das Schweigen der bisher vorliegenden Friedensverträge über ihre Auswirkungen auf die individuelle Rechtsstellung des einzelnen und die Kollektiv-rechte von Gruppen erklären würde.
Aber damit wäre ein vernichtendes Urteil über die Friedensverträge von 1947 gefällt. Denn es würde bedeuten, daß diese Friedensverträge alle Fortschritte, die das Völkerrecht seit dem Inkrafttreten der Völkerbundsatzung gemacht hat, einfach ignorierten. Man sollte deshalb mit diesem Urteil vorsichtig sein. Tatsache ist, daß die bisher geschlossenen Friedensverträge nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits das Bekenntnis zu den Menschenrechten enthalten und in ihren Formulierungen die Härte der Friedensverträge von 1919 vermeiden, andererseits aber die konkreten Menschenrechtsprobleme, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu lösen waren, überhaupt nicht ansprechen. Bei den bisher geschlossenen Friedensverträgen konnte dies mit Hilfe einigerjuristischer Kunstgriffe noch verschleiert werden. Beim Friedensvertrag mit Deutschland aber wird das nicht möglich sein. Der Friedensvertrag mit Deutschland wird der entscheidende Test für die Wahrhaftigkeit des Bekenntnisses der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zu den Menschenrechten und damit auch der entscheidende Test für die gesamte Fortentwicklung der Menschenrechtsidee sein.
Es sind insbesondere drei große Fragenkomplexe, über deren friedensvertragliche Lösung zu sprechen wäre. Einer davon ist zwar rechtstechnisch kompli-ziert, aber ohne Schwierigkeiten lösbar. Die beiden anderen dagegen stellen die eigentlichen völkerrechtlichen Hauptprobleme der Friedensregelung dar. Das erste ist die Reparationsfrage, die beiden anderen sind die Vertreibung und die Behandlung des Privateigentums in den Vertreibungsgebieten.
II.
Seit den Friedensschlüssen nach dem Ersten Weltkrieg spielt die Reparationsfrage in den Friedensverträgen eine Rolle. Im klassischen Völkerrecht konnte es eine Reparation in engerem Sinn, d. h. eine Wiedergutmachung von völkerrechtlichem Unrecht, nicht geben; denn der Krieg war im klassischen Völkerrecht nicht völkerrechtswidrig. Allenfalls konnte sich der Sieger im Friedensvertrag „einen prinzipiell rechtsgrundlosen Anspruch“ auf „Kriegsentschädigung“ ausbedingen Da sie nur dem Namen nach eine Entschädigung war und sich die vertragliche Rechtsgrundlage nur durch die schwache Stellung erklären ließ, die der Besiegte beim Abschluß eines Friedensvertrags hat, bezeichnet sie Grewe als „Erfolgsprämie“
Die Entschädigungspflicht trifft den besiegten Staat, der die Entschädigungsleistungen letztlich mit den Steuergeldern seiner Bürger erbringen wird, soweit er nicht vorhandene staatliche Vermögenswerte aus früheren Zeiten liquidieren kann. Aber das ändert nichts daran, daß dadurch der Schutz des privaten Eigentums gewährleistet bleibt. Der einzelne trägt seine Last als Staatsangehöriger des besiegten Staates, nicht als Eigentümer. Die Gesamtlast wird nach den Grundsätzen des Steuer-rechts angemessen verteilt. Sie wird nicht einzelnen Eigentümern nach den Zufällen der Existenz und der Belegenheit von Eigentumsobjekten aufgebürdet.
Wenn nach solchen Grundsätzen verfahren wird, läßt sich die Aufbürdung von Reparationslasten mit dem Menschenrecht auf Eigentum vereinbaren, das Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert und Art. 1 des ersten Zusatz-protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention ausdrücklich garantiert Die Menschen-rechtsfrage würde nur dann auftauchen, wenn etwa die in einem Friedensvertrag dem besiegten Staat aufgebürdete Reparationslast so hoch wäre, daß die Lebensbedingungen des betroffenen Volkes sich drastisch verschlechtern. Unter diesen Umständen könnte Art. 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der jedem einzelnen ein „Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ verspricht und Maßnahmen zur Senkung der Kindersterblichkeit usw. vorsieht, berührt sein. Auch zahlreiche andere menschenrechtliche Verbriefungen betreffen die Gesundheit, das körperliche Wohlbefinden und das wirtschaftliche Existenzminimum der Einzelmenschen, so daß in der Völkerrechtslehre bereits von einem „Menschenrecht auf Ernährung“ gesprochen wird Jedoch ist der Fall eines Verstoßes eines Friedensvertrags gegen derartige menschenrechtliche Bestimmungen so theoretisch, daß er hier nicht erörtert zu werden braucht.
Wie sich das Vorbild der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg auf die Entwicklung eines völkerrechtlichen Reparationsrechts ausgewirkt hat oder noch auswirken wird, steht noch nicht fest. Der von diesen Friedensverträgen bestätigte Grundsatz, daß der einzelne, der durch die Heranziehung seines Eigentums zur Begleichung von Reparationsschulden einen Vermögensverlust erlitten hat, hierfür entschädigt werden muß, entspricht dem völkerrechtlichen Grundsatz des Konfiskationsverbots, d. h.des Verbots der entschädigungslosen Enteignung. Dieses wird von der Völkerrechtslehre einmütig anerkannt
III.
Noch niemand hat sich die Mühe gemacht, die zahlreichen Fälle zusammenzustellen, in denen unter der Geltung des klassischen Völkerrechts durch einen Friedensvertrag Grenzen neu festgelegt wurden und weite Landstriche den Gebietsherrn wechselten. Noch viel weniger weiß man, wie viele Menschen als Bewohner solcher Gebiete von derartigen Änderungen betroffen wurden. Nur eines weiß man gewiß: Vertreibungen gab es nicht. Sie waren weder eine automatische Folge der Gebietsabtretungen, noch wurden sie in den Friedensverträgen oder Abtretungsverträgen vereinbart, und noch viel weniger läßt sich im klassischen Völkerrecht eine Rechtsnorm etwa des Inhalts nachweisen, daß der Staat, dem im Friedensvertrag ein Gebiet zugesprochen wurde, damit die Befugnis erhielt, mit der dort ansässigen Bevölkerung nach Belieben zu verfahren, sie ihrer Heimat, ihres Eigentums und ihrer Menschenwürde zu berauben und mittellos außer Landes zu jagen.
Zum ersten Mal in der ganzen europäischen Geschichte geschah dies nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Einmaligkeit wird noch dadurch unterstrichen, daß die Situation eigentlich umgekehrt war. Im klassischen Völkerrecht folgten dem Krieg in der Regel Gebietsabtretungen, niemals aber Vertreibungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keinen Friedensvertrag und folglich auch keine vertragliche Gebietsabtretung, wohl aber eine Vertreibung, von der in Deutschland 12 Millionen Menschen betroffen waren und in deren Verlauf 2 14 Millionen Menschen ihr Leben verloren.
Das historische Urteil über diesen Vorgang ist noch nicht gesprochen. Die Vertreibung hat das Gesicht Europas verändert. Damit ist nicht nur die Verschiebung von Grenzen und Siedlungsgebieten gemeint, sondern auch und gerade die Tradition der Humanität, aus der die Menschenrechte ursprünglich erwachsen sind. Bezüglich der gesamten Fort-entwicklung des Völkerrechts erhebt sich die bange Frage, ob in der neuen Völkerrechtsordnung etwas, das im klassischen Völkerrecht eine Selbstverständlichkeit war, nämlich das Recht der Einzelmenschen und Gruppen auf ihre angestammte Heimat in der neuen Völkerrechtsordnung, in der angeblich die Menschenrechte im Mittelpunkt stehen. preisgegeben worden ist oder werden soll.
Die Präzedenzlosigkeit des Vertreibungsvorgangs seit dem Entstehen des modernen Staatsbegriffs läßt sich leicht nachweisen. Wenn im nichtjuristischen Schrifttum gelegentlich auf die „Vertreibung der Protestanten“ aus Salzburg im Jahre 1732 hingewiesen wird, so ist dem entgegenzuhalten, daß diese, wie ähnliche Ausweisungen von Andersgläubigen aus den Territorien des Heiligen Römischen Reichs, einen völlig anderen rechtlichen Zusammenhang und eine ebenso völlig andere rechtliche und faktische Folgenbehandlung aufweist. Denn es handelte sich um eine Folge des seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 geltenden und durch den Westfälischen Frieden von 1648 bestätigten Grundsatzes cuius regio, eius religio.
Das Leid, das auch mit diesen Vorgängen verbunden war, soll nicht verharmlost werden. Aber das Studium der Details zeigt die Unterschiede zu den Vorgängen nach 1945 deutlich. Für die unverkauft zurückgelassene Habe der Protestanten zahlte Salzburg dem Preußischen Staat eine Entschädigung, die von diesem für die in Preußen wieder angesiedelten Salzburger verwaltet wurde. Daran erinnert noch heute die „Stiftung Salzburger Anstalt Gumbinnen“, die 1990 ihr 250jähriges Bestehen feiern kann. Die im Zusammenhang mit den Optionsklauseln der Pariser Friedensverträge von 1919 getroffenen Entschädigungs-und Eigentumsregelungen, die jener Regelung im 18. Jahrhundert gleichen, sind ebenfalls eine Bestätigung dafür, daß die Ausübung des Optionsrechts nichts zu tun hat mit der Rechtfertigung einer Vertreibung.
So vermittelt die Völkerrechtsgeschichte die Erkenntnis, daß ein völkerrechtliches Vertreibungsverbot im klassischen Völkerrecht nur deshalb nicht vertraglich verankert und in der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur erörtert wurde, weil das Völkerrecht vom historischen Augenblick seiner Entstehung an von der Seßhaftigkeit der Menschen ausging. Das entsprach den Grundgedanken vom Zusammenhang zwischen Staatsgebiet und Volk, die im Zeitpunkt der Entstehung des modernen Staatsbegriffs und damit zugleich des Völkerrechts herrschend waren.
Eine Trennung der angestammten Bevölkerung von ihrem Siedlungsraum hätte von Anfang an den Grundprinzipien des Völkerrechts widersprochen und lag völlig außerhalb des gedanklichen Horizonts aller Theoretiker des klassischen Völker-rechts. Man brauchte hierfür die Menschenrechte — die damals die völkerrechtliche Ebene noch nicht betreten hatten — nicht zu bemühen. Das Vertreibungsverbot war ganz einfach der Völker-rechtsordnung immanent. Deshalb ist es absurd, wenn — wie es gelegentlich vor allem von nichtju41 ristischer Seite geschieht — denjenigen, die auf das völkerrechtliche Vertreibungsverbot hinweisen, entgegengehalten wird, daß es hierüber noch keine Konvention oder sonstige vertragliche Vereinbarung gibt. Vielmehr müßten diejenigen, die die Behauptung aufstellen, das Völkerrecht gestatte unter bestimmten Voraussetzungen die Vertreibung von Völkern und Volksgruppen, den Nachweis führen, daß, wann und wie sich ein völkergewohnheitsrechtlicher Rechtssatz dieses Inhalts herausgebildet hat.
Wäre die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa eine vorübergehende Maßnahme gewesen, die in der Zwischenzeit rückgängig gemacht worden wäre, so könnte sich die Darstellung auf die Untersuchung der Rechtslage von 1945 und die darauf folgende Abwicklung beschränken. Sie ist aber nicht rückgängig gemacht worden. Der Friedensvertrag kann daher nicht umhin, zu ihr Stellung zu nehmen. Diese Aussage ist unabhängig von der Frage, ob im Zeitpunkt des Abschlusses eines Friedensvertrags oder der Setzung anderer Rechtsakte zur Herbeiführung einer Friedensregelung noch Vertriebene leben, und auch unabhängig davon, wie deren Nachkommen zu behandeln sind. Die Frage der „Vererblichkeit“ des Vertriebenenstatus oder des Rechts auf die Heimat ist hier nicht zu erörtern. (Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß das Recht auf die Heimat als Gruppenrecht solange besteht, wie die vertriebene Gruppe als solche existiert.) Hier geht es um die völkerrechtliche Beurteilung von Maßnahmen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Diese Beurteilung ist zunächst nach dem Entwicklungsstand des Völkerrechts im Jahre 1945 vorzunehmen. Für die Frage, wie sich die Friedensregelung hierzu stellen muß, ist dagegen der Zeitpunkt der Friedensregelung maßgeblich.
Die bedeutendste Grundlage für das völkerrechtliche Vertreibungsverbot ist und bleibt das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sich von 1917 bis 1945 von einem Prinzip zu einer Rechtsnorm verdichtet hat und in der Ära der Vereinten Nationen zum jus cogens geworden ist. Bezüglich der Rechtsnormqualität „verstärkt das Selbstbestimmungsrecht das völkerrechtliche Vertreibungsverbot“
Aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ist geschlossen worden, daß kein Staat einen Gebietsabtretungsvertrag abschließen darf, solange die auf dem betreffenden Gebiet lebende Bevölkerung nicht von ihrem Selbstbestimmungsrecht in einer Weise Gebrauch gemacht hat, die diesen Vertrag legitimiert. Damit hat das Selbstbestimmungsrecht eine Bedeutung im Vorfeld der Vertreibungssituation gewonnen: es verhindert oder ermöglicht Gebietsabtretungen. Es verhindert Gebietsabtretungen, durch die ein Volk oder eine Volksgruppe in die Gewalt eines Staates geriete, der zwar das Gebiet, aber nicht die darauf befindlichen Menschen haben möchte. Es ermöglicht Gebietsabtretungen in den Fällen, in denen eine Volksgruppe sich vorher in der Gewalt eines solchen Staates befand und nunmehr mit ihrem Gebiet die Angliederung an einen Staat erreicht, den sie als den ihren betrachtet. Nicht selten ist versucht worden, die Zulässigkeit von Vertreibungsmaßnahmen durch den Hinweis auf die sogenannten Umsiedlungsverträge zu rechtfertigen. Meist werden sie dann, um sie auch sprachlich in die Nähe der Vertreibung zu rücken, als „Zwangsumsiedlungsverträge“ bezeichnet.
Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Umsiedlungsverträge mit dem Völkerrecht in Einklang stehen, ist vom Institut de Droit International auf dessen Tagung in Siena im Jahre 1952 erörtert worden. Balladore Pallieri kam dort zu dem Ergebnis, daß „jede Form des Zwanges oder der Drohung verboten“ sei, „mit der eine Bevölkerung dahin gebracht werden soll, das Gebiet zu verlassen, auf dem sie sich befindet“. Wörtlich sagte er: „Nach meiner Auffassung bestätigt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, daß das moderne Völkerrecht jede Zwangsumsiedlung oderzwangsweise Bevölkerungsverschiebung verbietet, und zwar auch dann, wenn sie äußerlich vom Willen der Einzelperson abhängt, in Wirklichkeit aber auf indirekten Zwangsmaßnahmen beruht, oder wenn der Wille des einzelnen sich nicht frei äußern kann, weil der einzelne seine Entscheidung nicht zurücknehmen kann oder gezwungen ist, sich einer Mehrheitsentscheidung zu beugen.“
Man muß bedenken, daß das Institut keineswegs nach der Völkerrechtmäßigkeit von Vertreibungen fragte, sondern nur nach der Zulässigkeit von Umsiedlungsverträgen. In diesem Sinne verwendete auch Rolin den Begriff „Bevölkerungstransfer“, der manchmal auch für die Vertreibung verwendet wird, um den wahren Sachverhalt zu verschleiern In der Tat nahm keiner der befragten Völkerrechtler zur Vertreibung Stellung, aber manche ihrer Ausführungen lassen erkennen, daß sie die Tragweite der gesamten Problematik erfaßten und ihre menschenrechtliche Dimension richtig einschätzten. So begann der Franzose Georges Scelle seine Stellungnahme mit den Worten: „Es erscheint schwierig, juristische Regeln zu formulieren, die auf politische Maßnahmen anwendbar sind, die ihrer Natur nach gegen elementare und grundlegende Prinzipien des Völkerrechts verstoßen.“ Er fügte hinzu: „Jeder Bevölkerungstransfer stellt eine Verletzung der modernen internationalen Ethik dar, die die wichtigste Grundlage der internationalen Rechtsordnung ist. Jeder Massentransfer stellt eine Gewaltanwendung dar, die den allgemeinen Rechtsgrundsätzen widerspricht, ganz gleich, ob es sich um einen innerstaatlichen oder zwischenstaatlichen Transfer handelt.“ „Das Interesse der Staatengemeinschaft kann keine Rechtsverletzung rechtfertigen.“ Nur der Pole Bogdan Winiarski meinte, daß Umsiedlungsverträge durch Staatsinteressen und „höhere Interessen des internationalen Friedens“ zu rechtfertigen seien. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stünde dem nicht entgegen, da sie nur „die Beziehungen des Alltags“ betreffe. Dagegen habe die internationale Zwangsumsiedlung von Bevölkerungen bisher „einen absoluten Ausnahmecharakter“ gehabt. Der größte Teil seiner Ausführungen bezog sich auf das Potsdamer Abkommen, das er als eine solche Ausnahme zu rechtfertigen versuchte
Das Potsdamer Abkommen ist jedoch schon deshalb kein Umsiedlungsvertrag, weil es nicht zwischen dem die Bevölkerung abgebenden und dem die Bevölkerung aufnehmenden Staat abgeschlossen worden ist. Rechtlich ist es nichts anderes als das Schlußkommunique einer Konferenz von drei Siegermächten am Ende des Zweiten Weltkriegs. Ferner enthält es keineswegs die Anordnung oder auch nur Duldung eines „Bevölkerungstransfers“. Das Schlußkommunique behandelt vielmehr die bereits begonnenen Vertreibungsmaßnahmen als eine Tatsache, erklärt, daß die Notwendigkeit der „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind“ nach Deutschland anerkannt werde und fügt dann wörtlich hinzu: „Sie“ — nämlich die drei Mächte — „stimmen darin überein, daß jede derartige Über-führung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll . . . Die Tschechoslowakische Regierung, die Polnische Provisorisehe Regierung und der Alliierte Kontrollrat in Ungarn werden gleichzeitig von obigem in Kenntnis gesetzt und ersucht werden, inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen, bis die betroffenen Regierungen die Berichte ihrer Vertreter an den Kontrollausschuß geprüft haben.“
Aus diesem Wortlaut des Schlußkommuniques, in dem überdies wiederholt auf den noch ausstehenden Friedensvertrag verwiesen wird, kann keine Änderung des schon damals geltenden Völker-rechts abgeleitet werden. Mit Recht hat daher Winiarski mit seinem Argument bei den anderen Völkerrechtlern keinen Anklang gefunden. Mehrere Mitglieder des Institut de Droit International haben ausdrücklich erklärt, daß die im Potsdamer Abkommen enthaltenen Passagen über die Ausweisung der Deutschen völkerrechtswidrig sind
Die Tatsache, daß bei der Erörterung des Rechts auf die Heimat und des völkerrechtlichen Vertreibungsverbots auch auf völkerrechtliche Verträge hingewiesen wird, die erst nach dem Vertreibungsgeschehen von 1945/46 in Kraft getreten sind, wie z. B. die Völkermordkonvention von 1948, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das völkerrechtliche Vertreibungsverbot schon vorher bestand und unabhängig von seiner teilweisen oder vollständigen Kodifizierung in multilateralen Verträgen besteht. Freilich ist ebenso unleugbar, daß es eng mit der „in der Entwicklung befindlichen Gesamtmaterie der menschenrechtlichen Völkerrechtsnormen“ zusammenhängt und sich daher im Einklang mit der gesamten Menschenrechtsentwicklung zunehmend verfestigt. In der Zeit zwischen 1945 und 1990 hat das völkerrechtliche Vertreibungsverbot an Klarheit und Deutlichkeit gewonnen
Selbstverständlich muß der Friedensvertrag oder die anderweitige Friedensregelung der Tatsache Rechnung tragen, daß in den Vertreibungsgebieten Nichtdeutsche seßhaft geworden sind. Das daraus entstandene Rechtsproblem ist jedoch nicht als Konkurrenz zwischen zwei Heimatrechten zu begreifen, sondern als eine Frage des menschenrechtlichen Schutzes der inzwischen dort Angesiedelten. Da hier von vornherein nur von vertraglichen Rege-Jungen zu sprechen ist, erübrigt es sich, darauf hinzuweisen, daß die in jenen Gebieten jetzt lebende Bevölkerung schon durch das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot — dessen absolute Beachtung die Bundesrepublik Deutschland und innerhalb derselben gerade die Vertriebenenverbände immer wieder bekräftigt haben — auf jeden Fall vollständig vor jeder Zwangsmaßnahme geschützt ist. Aber auch der ganze Katalog der Menschenrechte, darunter das völkerrechtliche Vertreibungsverbot, dient ihrem Schutz. Ausgeschlossen bleiben nur zwei Möglichkeiten:
1. Der Friedensvertrag, oder die ihn ersetzende sonstige Friedensregelung, darf zur Frage der Vertreibung nicht schweigen.
2. Der Friedensvertrag, oder die sonstige friedens-vertragliche Regelung, darf die Vertreibung nicht billigen.
Selbstverständlich dürfen auch die rechtlichen Konsequenzen, die der Friedensvertrag oder die sonstige Friedensregelung aus der Mißbilligung der Vertreibung zieht, die Menschenrechte nicht verhöhnen. Ziel der diesbezüglichen Regelungen ist es ja, eine Wiederholung der Vorgänge, die sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgespielt haben, in Zukunft unmöglich zu machen. Diesem Ziel würde ein bloßes Lippenbekenntnis zum allgemeinen Vertreibungsverbot, oder eine formale Entschuldigung für die Vorgänge der Jahre 1945/46. nicht dienen. Aber aus eben diesem Grunde kann allen, die rechtliche Konsequenzen aus der ernstgemeinten Festigung des Vertreibungsverbotes und der mit ihm zusammenhängenden Menschenrechte befürchten, die Gewißheit gegeben werden, daß ihnen kein Leid und kein Rechtsverlust zugefügt werden wird. Von der Einsicht in diese Zusammenhänge wird der künftige Frieden in Europa abhängen. Noch ist ungewiß, ob diese Einsicht bei allen vorhanden ist, die an der Friedensregelung teilzunehmen haben. Staatsmänner wie Vaclav Havel berechtigen aber zu der Hoffnung, daß die Einsicht noch weiter wachsen wird.
Niemand zweifelt mehr daran, daß die Menschen-rechtsfrage im Mittelpunkt der Friedensregelung stehen muß. Schon ist das Wort vom „Gemeinsamen Haus der Menschenrechte“ gefallen Zumindest das Fundament dieses Gemeinsamen Hauses hat die Europäische Menschenrechtskonvention bereits geschaffen. Art. 3 Abs. 1 ihres vierten Zusatzprotokolls vom 16. September 1963 lautet: „Niemand darf aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch eine Einzel-oder eine Kollektivmaßnahme ausgewiesen werden.“
Die bisherigen Ostblockstaaten, die in das „Gemeinsame Europäische Haus“ wieder einziehen möchten und die deshalb schon jetzt einen Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention erwägen, können nicht hoffen, daß sie sich mit dem formalen Hinweis auf das erst spätere Inkrafttreten des vierten Zusatzprotokolls jeglicher Auseinandersetzung mit der Vertreibungsfrage entziehen können. Sie würden dadurch nicht nur ihre Glaubwürdigkeit verlieren, sondern das Fundament des Friedens erschüttern. Die Vertreibungsfrage ist nicht nur eine Frage der Moral oder der nationalen Ehre. Sie ist auch und vor allem eine Frage des Rechts. Das Recht aber ist das Fundament des Friedens. Auch unter diesem Aspekt erweist sich die Stellungnahme zur Vertreibung als Prüfstein der Friedensregelung.
IV.
Resümierend kann festgehalten werden, daß die Überlegungen zu einer friedensvertraglichen Regelung für ein wiedervereinigtes Deutschland immer wieder nicht nur zu einem Zusammenhang zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht führen, sondern auch mit besonderer Eindringlichkeit einen historischen Zusammenhang deutlich werden lassen, nämlich den Einbau der deutschen Verfassung in die internationale Friedensordnung Europas. Nicht zum ersten Mal wurde diese Verknüpfung sozusagen schlaglichtartig beleuchtet. Es ist weder Überheblichkeit noch Selbstbemitleidung, wenn davon gesprochen wird, daß der enge Zusammenhang zwischen der innerstaatlichen und der völkerrechtlichen Ordnung zum deutschen Schicksal gehört. Zwar existiert kein Staat in völliger Isolation von den anderen. In gewisser Weise ist daher jede Staatsverfassung in die völkerrechtliche Ordnung eingebettet. Aber das ist nicht gemeint, wenn von den engen Verknüpfungen der staatsrechtlichen Ordnung Deutschlands mit der völkerrechtlichen Ordnung Europas und damit der Völkergemeinschaft als solcher die Rede ist. Gemeint ist vielmehr, daß die Staats-und Nationsbildung in Deutschland sich von Anfang an im internationalen Kontext vollzogen hat und von ihm maßgeblich geprägt worden ist.
Nicht nur wegen des verlorenen Krieges muß es daher von den Deutschen akzeptiert werden, daß die deutsche Frage unter dem Aspekt des europäischen Friedens gesehen wird. Das hohe Maß an nationaler Selbstverleugnung, das die Anerkennung dieser Tatsache von den Deutschen fordert, wird nur zum Teil ausgeglichen durch die Rechts-positionen, die das geltende Völkerrecht auch dem deutschen Volk mit dem Selbstbestimmungsrecht und den übrigen Menschenrechten einräumt. Die historische Lehre aber ist für Deutsche und Nichtdeutsche — aus der Sicht des Jahres 1945: für Besiegte und Sieger — absolut gleich: die deutsche Frage kann nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gelöst werden.
Gegenwärtig nimmt die Vorstellung Gestalt an, eine solche Friedensregelung unter dem Dach der KSZE-Schlußakte von Helsinki und den Beschlüssen ihrer Nachfolgekonferenzen (man könnte auch sagen: im Zuge des KSZE-Prozesses) zu schaffen. Dieser Gedanke ist erfolgversprechend und zukunftsweisend. Möglich wäre allerdings auch die Einberufung einer eigenen Diplomatischen Konferenz. Doch unabhängig von der organisatorischen Vorbereitung und unabhängig davon, wieviel Zeit sie noch in Anspruch nehmen wird, ist schon jetzt auf die Grundprinzipien hinzuweisen, die bei dieser Friedensregelung zu beachten sind.
An erster Stelle steht die Forderung, die gesamte Friedensregelung und jedes ihrer einzelnen Teile auf die Grundlage des Völkerrechts zu stellen. Die Methode, die Behandlung des besiegten Staates und seiner Bevölkerung außerhalb des Völker-rechts zu stellen, ist nicht geeignet, eine tragfähige Grundlage für die europäische Friedensordnung zu schaffen.
Die zweite Forderung folgt zwangsläufig aus der ersten: Grundlage der zu schaffenden Friedensordnung muß das Völkerrecht in seiner gegenwärtigen Form sein, die ihrerseits auf künftige Entwicklungen angelegt ist. Letzteres ist keine zweckgerichtete Forderung, sondern eine Tatsache, die sich aus dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des gesamten Völkerrechts als einer im Umbruch befindlichen Rechtsordnung ergibt. Freilich sind Maßnahmen, die etwa 1945 gesetzt wurden, am Maßstab des damals geltenden Rechts zu messen. Aber die Bestimmungen des Friedensvertrags oder der an seine Stelle tretenden sonstigen Friedensregelung müssen sich an dem im Zeitpunkt der Schaffung jener Friedensregelung geltenden Völkerrecht orientieren. Sie dürfen ihm nicht widersprechen und sie dürfen seine weitere konsequente Entwicklung nicht behindern.
Im Mittelpunkt jener Entwicklung stehen die Menschenrechte. Vieles von dem, was 1945 und danach von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs unternommen wurde, verstieß schon damals gegen das Völkerrecht. Vieles davon ist mittlerweile geregelt worden. Von allen menschenrechtlichen Fragen, die die Maßnahmen der Sieger nach 1945 aufgeworfen haben, ist und bleibt die Vertreibung diejenige, die in einer Friedensregelung auf keinen Fall verschwiegen werden darf.
Die Zukunftsgerichtetheit des Völkerrechts sollte ein Ansporn für mutige politische Entscheidungen sein. Schon jetzt bietet das Völkerrecht Institutionen, Konfliktlösungsmechanismen und Organisationsformen an, die ein friedliches Zusammenleben von Einzelmenschen, Völkern und Volksgruppen in einem „gemeinsamen Haus der Menschenrechte“ ermöglichen. Nicht nur im Bereich der militärpolitischen und ökonomischen Maßnahmen gilt es, aus dem engen Denkschema der Vergangenheit auszubrechen, um die gewaltigen Möglichkeiten wahrzunehmen, die jetzt für die Schaffung von Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand gegeben sind. Es gilt auch und vor allem für die Friedensregelung mit dem wiedervereinigten Deutschland, ganz gleich, ob diese in einem noch abzuschließenden formellen Friedensvertrag enthalten ist oder im Rahmen des KSZE-Prozesses geschaffen wird. Der Völkerrechtler blickt den dafür notwendigen politischen Entscheidungen mit Sorge entgegen, weil er weiß, welche Bedeutung diese Friedensregelung für die Weiterentwicklung des Völkerrechts haben wird. Es geht nicht nur um Deutschland.