I. Die Ursachen des sozialpolitischen Handlungsbedarfes
Der Prozeß der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Integration zweier Gesellschaftssysteme in Deutschland, die auf nahezu diametral entgegengesetzten Sozialphilosophien und Wertesystemen beruhen und die sich in bezug auf ihre wirtschaftliche Potenz sehr stark unterscheiden, wirft naturgemäß erhebliche soziale Probleme auf; sie werden durch die gerechtfertigt erscheinende Geschwindigkeit des Integrationsprozesses verschärft. Die zentrale Ursache für diese sozialen Probleme liegt in den vielfältigen Einflüssen des Reform-und Integrationsprozesses auf die Lebenslage der Haushalte und der Individuen in der DDR. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß eine erfolgreiche Transformation eines ineffizienten in ein effizientes Wirtschaftssystem mehr soziale Probleme löst als schafft, so ist doch für eine Übergangsperiode mit einem hohen Bedarf an sozialer Flankierung zu rechnen. Dieser Bedarf läßt sich entsprechend seiner Ursachen in folgende vier Arten untergliedem:
Handlungsbedarf, der durch die Interdependenz der Ordnungen bedingt ist. Die Schaffung einer dem Leitbild einer Sozialen Marktwirtschaft entsprechenden Wirtschaftsordnung macht aufgrund der Interdependenz der gesellschaftlichen Teilordnungen die Schaffung einer leitbildadäquaten Sozialordnung erforderlich. Konkret: Unabhängig von ihrem sozialpolitischen Wert oder Unwert müssen in der DDR jene Regelungen der Arbeits-und Sozialordnung aufgegeben werden, die Ergebnis oder Begleiterscheinung charakteristischer Lenkungsinstrumente und Systemelemente der DDR-Wirtschaft waren, wie z. B. die Arbeitskräftelenkung, ein nahezu totaler Kündigungsschutz, die staatliche Lohnfestsetzung, die direkte Kontrolle und Planung des Zugangs zum Abitur und zu den Hochschulen sowie die massive Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Verkehrs-und Energietarifen. Der Abbau dieser und ähnlicher Elemente wird teils positive, teils negative sozialpolitische Konsequenzen haben. Die Preisgabe staatlicher Lohnfestsetzung und ihre Ersetzung durch ein System kollektiver Lohnverhandlungen z. B. wird zu einer Besserstellung der Arbeitnehmer führen, weil die Ausbeutung der Arbeitnehmer im Wege der Minimierung des Lohnfonds durch Staat und Partei entfällt. Ähnliches gilt für den Abbau der mit Konformitäts-und Ergebenheitsüberprüfungen gekoppelten Zugangskontrollen zu den Bildungseinrichtungen, der zu mehr Freiheit in der Wahl der Bildungswege und zu mehr Startgerechtigkeit führen wird. Dagegen kann die Verteuerung bzw. die Verringerung der Zahl von Kinderbetreuungsplätzen die wirtschaftliche und soziale Stellung erwerbstätiger Mütter beeinträchtigen. Die Freistellung der Erziehungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Hochschule vom Auftrag, „sozialistische Persönlichkeiten“ zu erziehen, ist dagegen positiv zu bewerten. Mit dem notwendigen Abbau des staatlichen Eigentums an Produktionsmitteln ist schließlich die Chance verbunden, die Reprivatisierung mit einer Politik breiter Streuung des Vermögens zu verbinden.
Handlungsbedarf, der durch Informationsdefizite bedingt ist. Er entsteht aus der für die DDR-Bevölkerung gegebenen Notwendigkeit, sich an ein Wirtschaftssystem anzupassen, das ihr nicht nur fremd ist, sondern das ihr jahrzehntelang als ein ausbeuterisches, unbarmherziges, zur Massenarbeitslosigkeit verurteiltes System ohne „soziale Errungenschaften“ dargestellt wurde. Wenngleich die verzerrte Darstellung eines sogenannten „kapitalistischen“ Systems von vielen als Propaganda erkannt wurde, so ist doch zum einen von einer weit verbreiteten Unkenntnis über das Wirtschafts-und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland in der DDR auszugehen, und zum anderen von mentalen und psychischen Problemen, ein grundlegend anderes System zu verstehen und sich in ihm mit einiger Sicherheit und mit Erfolg zu bewegen und zu behaupten. Daher erscheint es geboten, den Reformprozeß auch in dem Sinne sozial zu flankieren, daß die Bevölkerung gezielt und breit über die Soziale Marktwirtschaft informiert wird und daß darüber hinaus Orientierungs-, Anpassungs-und Umstellungshilfen gegeben werden, z. B.den Verbrauchern durch eine am Verbraucherschutzgedanken orientierte Verbraucheraufklärung, durch gezielte Unterrichtung über Möglichkeiten und Modalitä27 ten beruflicher Umschulung, Fort-und Weiterbildung, durch Kreditberatung und Existenzgründungsberatung.
Friktionsbedingter Handlungsbedarf. Er ergibt sich aus vermutlich nicht vermeidbaren Friktionen der Systemumstellung. Friktionen werden allein wegen des Zeitbedarfs der Umstellung unvermeidbar sein. In der aktuellen Diskussion wird trotz aller Unterschiede in den vermuteten Größenordnungen davon ausgegangen, daß die DDR-Wirtschaft ihre Produktion zu einem sehr großen Teil nach Art und Qualität umstellen muß, daß veraltete Technologien eine Verjüngung des Kapitalstocks vordringlich erscheinen lassen und daß fehlendes Know-how eine Barriere für eine schnelle Umstellung sein wird. Diese Umstellungsprobleme werden nicht nur friktioneile, sondern auch strukturelle Arbeitslosigkeit verursachen. Die Arbeitslosigkeit verdient größte Aufmerksamkeit und die Entwicklung von — selbstverständlich marktwirtschaftskonformen — Lösungen verdient höchste Priorität, weil vielen Bürgern der DDR eine länger anhaltende Arbeitslosigkeit größeren Umfanges fälschlicherweise nicht als eine vom alten System verursachte und zu verantwortende Hinterlassenschaft, sondern als eine Verifikation sozialistischer Kapitalismus-kritik erscheinen und die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft beeinträchtigen könnte. Zudem ist unfreiwillige Arbeitslosigkeit eine erhebliche, wenn nicht die gravierendste Beeinträchtigung und Gefährdung der Lebenslage.
Niveaubedingter Reformbedarf. Er resultiert aus Unterschieden im Niveau wirtschaftlicher und sozialpolitischer Leistungen zwischen beiden Teilen Deutschlands. Wenn die Unterschiede in den Arbeitseinkommen und im Sozialleistungsniveau zu groß sind bzw. zu groß bleiben, wird der Wanderungsprozeß aus der DDR in die Bundesrepublik mit allen negativen Folgen für beide Teile Deutschlands wieder stärker werden. Dies gilt um so mehr, als die Erwartungen der DDR-Bevölkerung darauf gerichtet sind, daß ihnen nicht nur die marktwirtschaftliche, sondern auch die soziale Komponente unserer Wirtschaftsordnung gebracht wird. Diese Erwartungen lassen es erforderlich erscheinen, die Mehrzahl der sozialpolitischen Regelungen, die sich in der Bundesrepublik bewährt haben, evtl, in mehreren Schritten, auf die DDR zu übertragen. Die einschlägigen Vereinbarungen des Staatsvertrages zur Sozialunion sehen dementsprechend die Übertragung der Ziele, Prinzipien, Organisationsstrukturen und Leistungsniveaus der Sozialversicherung der Bundesrepublik in die DDR vor.
Auch das Gleichbehandlungsgebot verlangt — jedenfalls als Endziel — bei einer staatlichen Vereinigung die Herstellung gleicher sozialpolitischer Standards. Mit diesem Hinweis auf die langfristig notwendige Angleichung des Sozialleistungsniveaus ist jedoch nicht gemeint, daß es nicht auch in der DDR sozialpolitische Regelungen gibt, die daraufhin überprüft werden sollten, ob sie nicht sinnvolle und dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft konforme Ergänzungen der Sozialordnung eines vereinigten Deutschland darstellen würden, wie z. B. Mindestrenten für Behinderte, die nicht erwerbsfähig sind, großzügigere Freistellungen für erwerbstätige Mütter erkrankter Kinder oder auch eine stärkere Gewichtung der Familienpolitik und die Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten im Arbeits-und Sozialrecht.
II. Ziele und Prinzipien der sozialen Flankierung
Als sozialpolitisches Minimalziel muß versucht werden. daß sich die Lebenslage der DDR-Bevölkerung im Durchschnitt nicht verschlechtert, d. h. daß die Realeinkommen der Erwerbstätigen und der Rentner nicht verringert werden. Das bedeutet u. a., daß die Kaufkraft des Arbeitslosengeldes in DM so hoch sein sollte wie die bisherigen Arbeitseinkommen und daß keine Rente an Kaufkraft verliert. Es bedeutet auch', daß versucht werden sollte, die Kapazitäten der Kinderbetreuungseinrichtungen zu erhalten, damit Mütter nicht gezwungen werden, die Erwerbstätigkeit aufzugeben.
Bei einer Umstellung der Löhne und der Renten im Verhältnis 1: 1 und einem Arbeitslosenunferstützungssatz bzw. einem Unterhaltsgeld bei der Teil-nähme an Maßnahmen der beruflichen Umschulung und Fortbildung von rund 70 Prozent des Arbeitsentgeltes dürfte das Minimalziel in der Regel erreicht werden. Selbstverständlich aber sollte alles darangesetzt werden, das Minimalziel bald zu übertreffen und den Status quo der sozialen Sicherung merklich zu verbessern, um den Erwartungen der Bevölkerung Rechnung zu tragen und eine breite Akzeptanz der neu entstehenden Wirtschafts-und Sozialordnung zu erreichen.
Das erscheint um so wichtiger, als es in der DDR erstaunlicherweise als ein wichtiges Ziel betrachtet wird, die sogenannten sozialistischen Errungenschaften zu erhalten. Dieser Wunsch dürfte zum einen aus der Befürchtung zu erklären sein, auch das Wenige an sozialem Besitzstand, das man hat, zu verlieren, zum anderen aus einer bis in die wissenschaftliche und politische Elite reichenden nahezu totalen Unkenntnis der Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland und nicht zuletzt auch aus den Wirkungen 40jähriger geistiger Isolierung vom Rest der Welt und 40jähriger gezielter systematischer und propagandistischer Indoktrinierung der Bevölkerung.
Der Berücksichtigung der sozialpolitischen Erwartungen der Bevölkerung sind Grenzen gesetzt, wobei die finanziellen Grenzen, so unübersehbar sie sind, nicht so wichtig erscheinen wie Grenzen, die sich in bezug auf die Ziele und Instrumente der Sozialpolitik ordnungspolitisch ergeben.
Da die Wirtschafts-und Sozialordnung eines vereinigten Deutschland am Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft orientiert sein soll, ist auch die Grundorientierung der Arbeits-und Sozialordnung vorgegeben. Ziele wie eine verfassungsmäßige Verankerung eines Rechts auf Arbeit, auf Bildung, auf Erholung, auf Freizeit, auf Fürsorge und andere sogenannte soziale Grundrechte sind mit der Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft unvereinbar und widersprechen dem in der Bundesrepublik vorherrschenden Staatsverständnis. Denn erstens würden damit dem Staat Aufgaben übertragen, die eigentlich Aufgaben der Gesellschaft sind und zweitens würden Gesetzgeber und Regierung einem Handlungsdruck ausgesetzt, der angesichts der begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten, innerhalb bestimmter Fristen sozialen Fortschritt zu verwirklichen, die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates ständig überfordern müßte. Schon Müller-Armack hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Soziale Marktwirtschaft kein System vorgegebener und unveränderlicher wirtschafts-und sozialpolitischer Ziele ist, sondern daß sie verstanden werden muß als eine auf die Grundwerte Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit bezogene Sozialtechnologie, als „ein der Ausgestaltung harrender progressiver Stilgedanke“, und daß zum Wesen des Menschen die geschichtliche Offenheit und die Freiheit gehört, jeweils neue und verschiedenartige Ziele zu setzen
Ordnungskonformität der Sozialpolitik bedeutet auch, daß sozialpolitische Ziele und Maßnahmen, die die Freiheit der Individuen und der Unternehmen erheblich einschränken — wie z. B. staatliche Einschränkungen des Zugangs zu den Bildungsein-richtungen, eine Wohnraumbewirtschaftung oder Auflagen an Betriebe, als verlängerter Arm des Staates bestimmte soziale Einrichtungen zu unterhalten —, als nicht systemkonform bald der Vergangenheit angehören müssen. Die soziale Flankierung des Reformprozesses sollte jedoch nicht nur aus ordnungspolitischen Gründen systemkonform sein, sondern auch aus pragmatischen Gründen der in der Bundesrepublik verwirklichten Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft im grundsätzlichen entsprechen. Denn für die in 40jähriger Entwicklung in der Bundesrepublik gewachsene Arbeitsund Sozialordnung gilt: sie ist erstens in hohem Maße verfassungskonform, zweitens in ihren Grundregelungen innenpolitisch unbestritten, sie hat sich drittens auch in den kritischen Jahren hoher Arbeitslosigkeit nach 1974 bewährt, sie hat viertens in einem bisher nicht bekannten Umfang auf deutschem Boden die Zielkombination Wohlstand, individuelle Grundrechte, soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und sozialen Frieden zu verwirklichen erlaubt und sie hält fünftens internationalen Vergleichen voll Stand und wird als vorbildlich angesehen.
Ordnungskonformität der Sozialpolitik bedeutet nicht nur, daß die Ziele und Instrumente der Sozialpolitik ordnungskonform sein müssen und nicht kontraproduktiv sein dürfen, sondern daß auch das Trägersystem ordnungskonform sein muß. Das-bedeutet konkret, daß nicht allein die Gewerkschaften, sondern nur die Gewerkschaften zusammen mit den Arbeitgebervereinigungen Träger und Organe der Sozialpolitik auf den Arbeitsmärkten und bei der Verwaltung der Sozialversicherung sein können und daß vermieden werden muß, einer der Arbeitsmarktparteien, etwa durch ein Verbot der Abwehraussperrung, ein Übergewicht zu verschaffen. Es bedeutet ferner, daß die Betriebe in der DDR von obligatorischen sozialpolitischen Aufgaben entlastet werden müssen und daß das System der Träger und Organe der Sozialpolitik durch Gestaltungsbefugnisse der Länder, der Gemeinden und insbesondere durch den Auf-und Ausbau von Verbänden der freien Wohlfahrtspflege als Träger sozialer Infrastruktureinrichtungen wie Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime usw. pluralistisch und im Sinne gesellschaftlicher Selbstverwaltung sozialer Angelegenheiten umgestaltet werden muß.
Neben dem Prinzip der Ordnungskonformität scheint es wichtig, der persönlichen Selbstverantwortung anstelle staatlicher Fürsorge, die mit persönlicher und rechtlicher Entmündigung gekoppelt war, ebenso mehr Raum zu geben wie der Subsidia-rität. Notwendig erscheint auch eine Diskussion des des Solidaritätsprinzips. Nach dem sozial-staatlichen Verständnis der Bundesrepublik kann Solidarität z. B. nicht bedeuten, den Betrieben und ihren Belegschaften die Aufgabe aufzubürden, leiInhaltes und leistungsunfähige Mitarbeiter mitzuversorgen.
III. Aufgaben und Prioritäten sozialpolitischer Flankierung des Reformprozesses in der DDR
In der folgenden Darstellung der Aufgaben und Prioritäten sozialpolitischer Flankierung des Reformprozesses ist es verständlicherweise nicht möglich, den sozialpolitischen Handlungsbedarf für die zahlreichen Handlungsfelder staatlicher Sozialpolitik. beginnend beim Arbeitnehmerschutz und der Sozialversicherung, über die Arbeitsmarktpolitik und die Betriebs-und Unternehmensverfassungspolitik bis hin zur Wohnungs-, Familien-, Vermögens-und Bildungspolitik systematisch abzuleiten und hinsichtlich Inhalt und Priorität eingehend zu begründen Diese Einschränkung gilt auch dann noch, wenn wir uns unter Vernachlässigung der Sozialpolitik als Ordnungs-und als gesellschaftsgestaltende Politik auf den Arbeitnehmerschutz, die Unfall-, die Renten-und Krankenversicherung, die Arbeitsförderungspolitik, die Sozialhilfe, die Wohnungs-und die Familienpolitik konzentrieren, also auf die Sozialpolitik als Schutz-und Ausgleichspolitik. 1. Arbeitnehmerschutz Die Normensysteme des Arbeitnehmerschutzes sind in beiden deutschen Staaten hochentwickelt. Es gibt jedoch bemerkenswerte Unterschiede, insbesondere in bezug auf die Arbeitszeit, die Urlaubsdauer und den Arbeitszeitschutz von Frauen und Müttern. Da jedoch die bestehenden Unterschiede die Lebenslage der Arbeitnehmer nicht gravierend beeinträchtigen, besteht kurzfristig im Arbeitnehmerschutz kein Handlungsbedarf mit Ausnahme von zwei Teilbereichen: 1. Die Ziele des technischen Arbeitsschutzes scheinen aufgrund der geringen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft in Verbindung mit einer bis vor kurzem fehlenden staats-und parteiunabhängigen Arbeitnehmervertretung außerhalb und innerhalb der Betriebe stark vernachlässigt Aus den technisch unzulänglichen und veralteten Arbeitsplatzausstattungen ergeben sich besondere Gefährdungen für die Arbeitskräfte. Da Gesundheit und Arbeitskraft wesentliche Grundlagen der Existenzsicherung sind, kommt der Verbesserung des technischen Arbeitsschutzes besondere Priorität zu. Weil jedoch die Verbesserung des Gefahrenschutzes in hohem Maße von Investitionen und der Erneuerung des Sachkapitalbestandes in großem und kurzfristig nicht finanzierbarem Umfang abhängt, kann die Bundesrepublik nur Beratungshilfe durch ihre Gewerbeaufsichtsämter, durch die Berufsgenossenschaften und die Gewerkschaften leisten. 2. Da der Kündigungsschutz erheblich aufgelockert werden muß und in Zukunft für nicht leistungsfähige Betriebe Konkurse unvermeidlich sein werden, erscheint es geboten, den Lohnschutz durch die Einführung eines Konkursausfallgeldes auszubauen. Die Finanzierung im Umlageverfahren dürfte keine großen Probleme bereiten. Aus der Sicht der Arbeitnehmer dürfte dieser Lohnsicherung besonderes Gewicht zukommen.
2. Unfallversicherung
In der Unfallversicherung der beiden deutschen Staaten stimmen zwar die Leistungsvoraussetzungen weitgehend überein, die Leistungshöhe ist in der DDR jedoch wesentlich niedriger und bewegt sich — wie die überwiegende Mehrzahl aller Sozialleistungen für die nicht mehr Erwerbstätigen — selbst bei Unfallvollrenten an der Grenze des Existenzminimums. Mit Ehegattenzuschlag betragen die Unfallrenten (Vollrente) rund 600 Mark, in der Bundesrepublik dagegen liegen die Unfallrenten im Durchschnitt bei 2 000 DM. Angesichts der merklichen Beeinträchtigung der Lebenslage durch Unfälle, die zur Invalidität führen, erscheint eine Anhebung des Leistungsniveaus geboten. Bei einer Arbeitgeberumlagefinanzierung, wie sie in der Bundesrepublik praktiziert wird, dürften keine nennenswerten Probleme auftreten. 3. Rentenversicherung Auch die Alters-und die Invalidenrenten stellen in der DDR, soweit es sich nicht um die vom System zum Teil massiv privilegierten Gruppen wie Angehörige der Volkspolizei, der nationalen Volksarmee, des Staatssicherheitsdienstes, der Partei-und der Staatsfunktionäre handelt, nur eine Grundsicherung knapp über dem Existenzminimum dar. Die Renten wurden bisher nur gelegentlich erhöht. Entsprechend der Produktions-und Wachstums-orientierung der Sozialpolitik der DDR, die auf die Maximierung und Sicherung des Arbeitskräftepotentials gerichtet war, wurden die nicht mehr Erwerbsfähigen und die nicht mehr Erwerbstätigen stiefmütterlich behandelt Das durchschnittliche Nettoeinkommen von DDR-Rentnerhaushalten beträgt etwa ein Drittel des Nettoeinkommens von Arbeitnehmerhaushalten, während das Einkommen von Rentnerhaushalten in der Bundesrepublik zwei Drittel des Nettoeinkommens von Arbeitnehmerhaushalten ausmacht Aus dem niedrigen Rentenniveau ergeben sich zwei Aufgaben sozialer Flankierung: 1. Da die Preisfreigabe bei Grundnahrungsmitteln, Energie-und Verkehrsleistungen gerade bei den Rentnerhaushalten relativ hohe Budgetanteile absorbieren wird, die möglicherweise nicht durch die zu erwartenden Preissenkungen bei langlebigen Gebrauchsgütern kompensiert werden, müßten wahrscheinlich die Mindestrenten erhöht werden. 2. Da die Renten in der Bundesrepublik in Verbindung mit dem höheren Lohnniveau einen Wanderungsanreiz darstellen und überdies die Sozialunion die Einführung des Rentensystems der Bundesrepublik in der DDR proklamiert, müssen die Renten an das Niveau der Arbeitseinkommen und seine Veränderungen gebunden werden. Eine merkliche Besserstellung der Altersrentner ist vor allem deswegen geboten, weil dieser Gruppe am längsten die Früchte ihrer Arbeit vorenthalten wurden und weil sie die geringsten Chancen zum Neubeginn hat.
Diese Aufgabe wird sich jedenfalls dann nicht nur mit einer Anschubfinanzierung lösen lassen, wenn die Arbeitslosigkeit größere Ausmaße annehmen sollte, weil dann für die DDR-Arbeitnehmer zu hohe Beitragssätze erforderlich wären. Bis zur Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus in der DDR werden also Zuschüsse der Bundesrepublik erforderlich sein. 4. Krankenversicherung Obwohl die DDR keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kennt, besteht in bezug auf das Krankengeld kein unmittelbarer Handlungsbedarf, da die Lohnersatzleistungen mit 90 Prozent des Nettoarbeitsentgelts in den ersten sechs Krankheitswochen und mit 65 bis 90 Prozent von der siebten Woche an bei einer Währungsumstellung 1: 1 keine Beeinträchtigung der Lebenslage darstellen dürften. Auch die im Prinzip notwendige organisatorische Lösung der Krankenversicherung aus der Einheitsversicherung’der DDR und ihre Überführung in eine Selbstverwaltungseinrichtung ist angesichts anderer gravierender Probleme nicht dringlich. Es bedarf gesonderter Prüfung, inwieweit positive Erfahrungen mit dem System der Ambulatorien und der Polikliniken für ein gesamtdeutsches Gesundheitssystem zu Verbesserungen führen könnten. Handlungsbedarf besteht aber in bezug auf die Verbesserung der Versorgungsqualität in den Praxen und Krankenhäusern, deren Bausubstanz veraltet ist und die dem neuzeitlichen medizinisch-technischen Standard nicht entsprechen. Wegen der Höhe der erforderlichen baulichen und apparativen Investitionen muß man sich zunächst auf die Beseitigung der gröbsten Defizite konzentrieren. Die akutesten Probleme könnten möglicherweise durch die Schenkung einwandfreier und leistungsfähiger Apparate der vorletzten Generation, die in westdeutschen Praxen und Krankenhäusern nicht mehr eingesetzt werden, behoben werden. 5. Arbeitsförderungspolitik Da in einer effizienten Volkswirtschaft jedenfalls friktionelle und strukturelle Arbeitslosigkeit nicht ausgeschlossen werden können und für die erste Phase der Systemtransformation in der DDR mit Arbeitslosigkeit zu rechnen ist, kommt dem Aufbau einer Arbeitsverwaltung, einer Arbeitsförderungspolitik und der Arbeitslosenversicherung wegen der großen Bedeutung des Arbeitseinkommens für die Lebenslage der Haushalte absolute Priorität zu. Dabei erscheint es besonders wichtig, angesichts des enormen Nachholbedarfes an Infrastrukturin31 vestitionen und im Dienstleistungssektor volkswirtschaftlich ertragreiche Investitionsprogramme und Umschulungs-bzw. Fortbildungsprogramme zu konzipieren, um möglichst vielen Gesellschaftsmitgliedern das Schicksal der Arbeitslosigkeit zu ersparen und die Zahlung von Arbeitslosengeld zu minimieren. 6. Sozialhilfe Im Bereich der Sozialfürsorge bzw.der Sozialhilfe divergieren in beiden Staaten Zielsetzungen und angewandte Prinzipien nicht wesentlich. Im Zuge der Systemumgestaltung dürfte aber der Bedarf an Sozialhilfeleistungen zunehmen, weil in der DDR wie in der Bundesrepublik ein wenn auch geringer Prozentsatz der Arbeitskräfte dem Kriterium der Vermittelbarkeit nicht mehr genügen und daher nach Ausschöpfung der Ansprüche gegen die Arbeitslosenversicherung auf Sozialhilfe angewiesen sein dürfte. Der Staatsvertrag sieht die Einführung eines Sozialhilfesystems vor, das dem der Bundesrepublik entspricht. 7. Wohnungspolitik Obwohl ein Vergleich der Wohnungsversorgung eindeutig zugunsten der Bundesrepublik ausfällt und die Wohnungswirtschaft der DDR mittel-und langfristig grundlegend umgestellt werden muß, wenn das Ziel einer ausreichenden, qualitativen Mindestbedingungen genügenden Wohnungsversorgung erreicht werden soll, dürfte es zweckmäßig sein, Reformen der Wohnungspolitik zurückzustellen, weil die Bevölkerung in den nächsten Jahren durch zahlreiche Systemumstellungen in der Arbeitswelt, in der Sozialordnung und in nicht wenigen Bereichen des Wirtschaftslebens eine nicht geringe psychische und mentale Anpassungslast auf sich nehmen muß und weil die Kenntnis der Zusammenhänge zwischen Miethöhe und Verfügungsrechten über Hauseigentum einerseits und dem Grad sowie der Qualität der Wohnungsversorgung andererseits in der Bevölkerung gering sein dürfte. Die relativ niedrige Priorität einer Reform der Wohnungspolitik sollte jedoch nicht davon abhalten, in Bälde mit einer dem Gedanken des Mieter-schutzes Rechnung tragenden Reprivatisierung kommunalen und staatlichen Wohnungseigentums zu beginnen. 8. Familienpolitik Am geringsten und am wenigsten dringend ist der Handlungsbedarf in der Familienpolitik, da diese — auch im Vergleich zur Bundesrepublik — stark entwickelt ist. Aus verschiedenen Gründen, zu denen Produktions-und bevölkerungspolitische zählen, wurden in der DDR vor allem seit 1972 zahlreiche Instrumente eingesetzt bzw. verbessert. Dazu gehören z. B. Ehestandskredite, Arbeitszeiterleichterungen für Mütter bzw. Väter, der Mutterschaftsurlaub, die Sicherung der Betreuung der Kinder in Krippen und Kindergärten, Geburtenprämien, stark familien-und kinderzahlorientierte Sozialleistungen und Kindergeld. Bei einem Vergleich der Familienpolitik in beiden Staaten ergibt sich, daß in der DDR die Freistellungen von Müttern großzügiger geregelt sind, daß die Ausstattung mit Kinderbetreuungsplätzen quantitativ besser und daß die Familienpolitik stärker aufFamilien mit drei und mehr Kindern ausgerichtet ist. Da die Frauen-und Familienpolitik der DDR von den Adressaten dieser Politik sehr positiv beurteilt wird — vor allem die Möglichkeit der Unterbringung der Kinder während der Erwerbsarbeit und in bezug auf die Freistellungsmöglichkeiten im Falle der Erkrankung der Kinder —, sollte versucht werden, für jene Kindergartenplätze, die von den Betrieben nicht mehr unterhalten werden können, durch kommunale Träger und Verbände der freien Wohlfahrtspflege Ersatz zu schaffen. Selbstverständlich ist es notwendig, die Kindergartenleitungen von dem bisher bestehenden Auftrag zu entbinden, die Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten zu formen. Zu prüfen wäre auch, ob das Kindergeld erhöht werden muß, um die durch die Preisreform eintretende Verteuerung der Lebenshaltungskosten zu kompensieren.
IV. Zusammenfassung
Aus der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion ergibt sich qualitativ und quantitativ beträchtlicher sozialpolitischer Handlungsbedarf zur sozialen Flankierung des Reformprozesses. Genannt seien 1. die Verbesserung des technischen Arbeitsschutzes,
2. die Einführung eines Konkursausfallgeldes, 3. die Lockerung des extrem starken Kündigungsschutzes,
4. die Anhebung des Niveaus der Unfall-, Invaliditäts-, Alters-und Hinterbliebenenrenten, 5. die Konzipierung einer effizienten Arbeitsförderungspolitik sowie der Ausbau der Arbeitslosenversicherung,
6. die Verbesserung der medizinischen Versorgung,
7. die Erhöhung des Niveaus der Sozialhilfeleistungen,
8. der Aufbau eines pluralistischen Systems demokratischer Selbstverwaltung sozialer Angelegenheiten und der Ausbau bzw. Aufbau der Verbände der freien Wohlfahrtspflege.
Dieser Bedarf kann sowohl wegen der begrenzten politischen Gestaltungskapazität als auch wegen des erforderlichen Mittelvolumens nicht gleichzeitig gedeckt werden. Außerdem ist das ökonomische Leistungspotential der DDR noch zu gering, um die sozialrechtlichen Standards der Bundesrepublik schon nach kurzer Zeit in der DDR einzuführen. Daher müssen Prioritäten gesetzt werden. In gewisser Weise setzt der Staatsvertrag solche Prioritäten, wenn er in Kapitel IV — Bestimmungen über die Sozialunion — die Übertragung der wichtigsten Prinzipien der Sozialversicherung der Bundesrepublik in die DDR als Aufgabe formuliert und die Einführung einer Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung, einer Renten-, Kranken-und Unfallversicherung sowie einer Sozialhilfe nach dem Vorbild der Bundesrepublik vorsieht, andere Aufgaben sozialer Flankierung aber nicht nennt.
Aus der Sicht der betroffenen Bevölkerung dürfte die Arbeitsförderungspolitik einschließlich der Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit, die Sicherung der Kaufkraft der Renten und die Anhebung des Rentenniveaus sowie die Aufrechterhaltung der Erwerbsmöglichkeiten der Frauen besondere Priorität haben.
Im Staatsvertrag ist im Zusammenhang mit der Sozialunion von einer „Anschubfinanzierung“ die Rede. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß eine solche Anschubfinanzierung nicht ausreicht, um den erwünschten Grad an sozialer Sicherung auch in der DDR zu erreichen. Für diesen Fall wären über mehrere Jahre hinweg laufende Finanzzuweisungen der Bundesrepublik erforderlich. Aktuell würde diese Notwendigkeit aber nur, wenn sich die Wiedervereinigung nicht im Rahmen der vorgesehenen Fristen herbeiführen läßt.
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wird in der Sozialpolitik nicht wenige Probleme mit sich bringen und manche Konflikte schaffen. Es besteht aber kein Grund, daran zu zweifeln, daß auf der Basis des hochentwickelten ökonomischen Potentials der Bundesrepublik und des entwickelbaren ökonomischen Potentials der DDR sowie auf der Grundlage der sozialpolitischen Tradition im deutschen Reich, in der Bundesrepublik und in der DDR diese Probleme mittelfristig gelöst werden können.