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Myanmar (Birma) auf dem Wege zur Demokratie? | APuZ 32/1990 | bpb.de

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APuZ 32/1990 Indien auf dem Weg zu einer regionalen Führungsmacht? Anhaltende Spannungen in Tibet Kambodscha zwischen Krieg und Frieden Myanmar (Birma) auf dem Wege zur Demokratie?

Myanmar (Birma) auf dem Wege zur Demokratie?

Günter Siemers

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Am 27. Maj 1990 fanden erstmals in der Geschichte Myanmars (Birmas) geheime Parlamentswahlen statt. Sie verliefen korrekt und brachten der regierungskritischen „National League for Democracy" (NLD) eine Dreiviertelmehrheit. Nach der Unabhängigkeit 1948 bestand zunächst eine parlamentarische Demokratie, der allerdings Aufstandsbewegungen ethnischer Minderheiten und der Kommunisten erheblich zu schaffen machten. Als 1962 in Yangon (Rangun) Repräsentanten von zwei Minderheiten über ihr eventuelles Ausscheiden aus der Birmanischen Union berieten, putschte das Militär unter seinem Kommandeur General Ne Win, der in der Folge bis 1988 „starker Mann“ im Lande blieb. Der „birmanische Weg zum Sozialismus“ dieser 26 Jahre sowie nicht ideologisch bedingte Fehlentscheidungen führten das Land in eine schwere Wirtschaftskrise. 1988 kam es zu Massenkundgebungen für Demokratie, die zu einem teilweisen Zusammenbruch der öffentlichen Verwaltung führten. Das Militär putschte erneut, führte aber gemäß seines Versprechens 1990 eine freie und faire Parlamentswahl durch. Das Parlament soll eine Verfassung ausarbeiten, auf deren Grundlage eine Zivilregierung gebildet wird. Die Forderung vieler Minderheitenorganisationen nach myanmarischen Teilstaaten mit eigenen Streitkräften und das Beharren des Militärs auf nationaler Einheit stehen sich im Moment unvereinbar gegenüber. Nur ein Kompromiß in dieser Frage ermöglicht eine Fortsetzung der Demokratisierung.

Am 27. Mai 1990 fand in Myanmar (Bezeichnung bis Juni 1989: Birma) eine Parlamentswahl statt, an der mehrere Parteien teilnahmen. Nach Ansicht der Regierungsgegner verlief sie frei und fair. Sie war die erste geheime Wahl zum Parlament in der Ger schichte des Landes überhaupt. Das herrschende Militärregime hat damit ein Versprechen eingelöst, das es bereits beim Putsch am 18. September 1988 gegeben hatte.

Für den südostasiatischen Staat mit seinen über 40 Millionen Einwohnern und einer Landfläche von mehr als der 2%fachen Größe der Bundesrepublik Deutschland hat sich nun ein Scheideweg aufgetan: Erstmals seit Jahrzehnten ist eine Einigung der zerstrittenen, einander z. T. sogar mit Waffengewalt bekämpfenden politischen Kräfte konkret möglich — wenn auch angesichts festgefahrener, teilweise in der modernen Geschichte begründeter Positionen keineswegs sicher.

I. Von der Kolonialzeit zum Militärputsch 1962

Abbildung 5

Das einst mächtige Reich der Birmanen, dessen Herrschaft im 18. Jahrhundert unter der Konbaung-Dynastie zeitweise bis ins heutige Indien, Laos und Thailand hineinreichte, zerfiel, als es mit einer expandierenden, modernen Kolonialmacht zusammenprallte: England, das von Indien aus vordrang. brachte das Land in drei Kriegen, von 1824 bis 1886, schrittweise unter seine Kontrolle; 1885 fand das birmanische Königtum ein Ende, 1886 wurde Myanmar als Provinz an Britisch-Indien angegliedert.

Wichtig für die Zukunft des Landes sollte die Zweiteilung der britischen Verwaltung in dieser Periode werden: Das Kernland, in dem die ethnische Gruppe der Birmanen die Mehrheit der Bevölkerungstellte, unterstand — zusammen allerdings mit den Gebieten der ethnischen Minderheiten der Mon und Arakanesen — unmittelbar britischer Kontrolle, während in den mehr peripheren Territorien der Minderheiten der Schan, Karenni (heute: Kayinni). Kachin. Chin. Karen (heute: Kayin) u. a. die traditionelle politische Struktur unter lediglich britischer Oberhoheit weitgehend beibehalten wurde; 1922 wurden diese Gebiete unter einer eigenen Grenzverwaltung zusammengefaßt. Die administrative Trennung sowie die britische Praxis, sich zur Herrschaft über die Birmanen häufig Angehöriger ethnischer Minderheiten zu bedienen, mündeten schließlich in einen bewaffneten inneren Konflikt.der jetzt bereits seit Jahrzehnten andauert.

Ab 1923 erhielt das heutige Myanmar stufenweise mehr innere Selbstverwaltung. 1937 wurde es wieder von Indien abgetrennt. Während des Zweiten Weltkrieges besetzten japanische Truppen den größten Teil des Landes und gewährten ihm im August 1943 die (nur auf dem Papier stehende) Unabhängigkeit, verloren es in schweren Kämpfen bis 1945 aber wieder an die Alliierten, so daß Großbritannien zunächst erneut sein Kolonialregime etablieren konnte. Im Widerstand gegen die britische und japanische Fremdherrschaft dieser Periode wuchsen die meisten Führer des modernen Myanmar heran — unter ihnen der Nationalheld General Aung San, U Nu und U Ne Win, die alle zunächst der 1931 von antikolonialistischen Studenten gegründeten „Dobama Asiayone“ („Organisation Wir Birmanen“; auch:

„Thakin-Partei") angehörten und später der 1944 auf breitester politischer Basis gebildeten anti-japanischen „Anti-Fascist People’s Freedom League“ (AFPFL) beitraten. Aung San arbeitete für sein Land sowohl gegen die Briten als auch gegen die Japaner: Als Generalmajor Kommandeur einer gegen die Alliierten kämpfenden myanmarischen Truppe, der „Burma Defence Army“ (BDA) — in der Ne Win als Brigadegeneral Dienst tat —, wandte er sich insgeheim bald gegen das zunehmend verhaßte japanische Besatzungsregime und wurde gleichzeitig AFPFL-Vorsitzender. 1945 brachen Alliierte, BDA und der von der AFPFL aufgebaute bewaffnete Untergrund gemeinsam den Widerstand der verbliebenen japanischen Truppen. Dennoch wäre der Unabhängigkeitskampf weiter-gegangen, hätte in Großbritannien nicht die Labour Party die Regierung übernommen. Der neue Premier Attlee aber leitete Verhandlungen über das Ende der Kolonialherrschaft ein. Da auf britischer Seite Besorgnisse hinsichtlich des Schicksals der ethnischen Minderheiten in dem künftigen souveränen Staat bestanden, wurde nach Panglong (im Schan-Staat) eine Konferenz mit den Birmanen und den ethnischen Minderheiten einberufen. Als deren Ergebnis wurde am 12. Februar 1947 im „PanglongAbkommen“ die Bildung einer „Birmanischen Union“ vereinbart, der sowohl die ethnische Gruppe der Birmanen als auch die ethnischen Minderheiten angehören sollten. Die Schan und die Karenni (Kayinni) sollten nach zehn Jahren über Austritt oder Verbleib in der Union entscheiden können — eine nie verwirklichte Abmachung —; den Kachin wurde zwar nicht diese Möglichkeit, aber die Bildung eines eigenen Staates innerhalb der Union zugestanden. Die Karen (Kayin) nahmen in der vergeblichen Hoffnung, mit Großbritannien eine Sondervereinbarung erzielen zu können, an der Konferenz nur als Beobachter teil. Für sie kam es zu keiner besonderen Statusvereinbarung.

Am 4. Januar 1948 wurde Myanmar wieder ein souveräner Staat. General Aung San, dem das Land sehr viel auf dem Wege dorthin zu verdanken hatte, war knapp ein halbes Jahr zuvor im Auftrag eines kaum bekannten politischen Rivalen ermordet worden. Seine Nachfolge an der Spitze der AFPFL hatte U Nu angetreten, der nun erster Regierungschef der unabhängigen „Birmanischen Union“ wurde.

Der praktizierende Buddhist U Nu sah sich nicht nur vor die schwierige Aufgabe gestellt, den wirtschaftlichen Wiederaufbau eines vom Kriege darniederliegenden Landes — mit allerdings ausreichender Grundnahrungsmittelversorgung — zu betreiben, sondern wurde zunehmend auch mit Aufruhr konfrontiert.

Muslimische Sezessionisten in Arakan (heute: Rakhine) standen in offener Rebellion; die trotzkistischen „Rote-Flagge-Kommunisten“ hatten sich schon 1946 von der AFPFL gelöst und kämpften seit Januar 1947 im Untergrund (ihre Untergrund-tätigkeit endete erst 1970 mit der Gefangennahme ihres Führers Thakin Soe). Kurz nach der Unabhängigkeit gingen auch die zahlenmäßig stärkeren „Weiße-Flagge-Kommunisten“ in den Untergrund (ihre unverändert illegale „Burmese Communist Party“ [BCP] war bis zur Zersplitterung im Frühjahr 1989 größte Guerilla-Organisation des Landes). Die Karen (Kayin) bildeten eine „Karen National Defense Organization“ (KNDO), die sich, weil eine Verfassungsbestimmung für ihre Volksgruppe in der „Birmanischen Union“ nur ein kleines eigenes Gebiet mit der Bezeichnung „Kawthulay“ vorsah.seit September 1948 ebenfalls im Guerillakampf befand. Hinzu kam im Januar 1949 der Ausbruch einer Meuterei in den Streitkräften, dem sich die meisten Kayin-Regimenter anschlossen (der Kommandeur der Streitkräfte, ein regierungstreuer Kayin, wurde daraufhin seines Postens enthoben und durch seinen bisherigen Stellvertreter. General Ne Win, ersetzt). Auch andere Gruppen stellten sich gegen die Regierung. 31 Städte wurden von den Aufständischen eingenommen, darunter auch der frühere Königssitz Mandalay. Die wenigen verbleibenden, ethnisch birmanischen Einheiten konnten nur mit Hilfe loyaler Chin-Truppen das Land wieder weitgehend unter ihre Kontrolle bringen. Nicht wenigen der heutigen Birmanen ist diese Periode als Trauma in Erinnerung geblieben und hat sie mit starkem Mißtrauen gegenüber den Organisationen der ethnischen Minderheiten erfüllt. Das Militär, das damals kurz vor der endgültigen Niederlage und damit Auflösung stand, sieht offenbar auch heute noch in größeren Konzessionen an die ethnischen Minderheiten eine Gefahr für den Fortbestand des Staates.

Unter dem Zivilisten U Nu, der nur von Juni 1956 bis März 1957 das Amt des Regierungschefs an einen anderen Politiker abtreten mußte, übernahmen im Dezember 1958 die Streitkräfte (unter General Ne Win) erstmals seit der Unabhängigkeit des Landes direkt die politische Führung — jedoch for37 mal legal auf Ersuchen U Nus in einer innenpolitisch sehr gespannten Situation. Als jedoch trotz guter Resultate ihrer „Caretaker-Regierung“ bei der Parlamentswahl im Februar 1960 nur 41 von insgesamt 250 Sitzen auf die vom Militär geförderte Partei entfielen, während U Nus Partei unter geschickter Ausnutzung des im Lande als Religion vorherrschenden Buddhismus 159 Mandate errang, zog sich das Militär in die Kasernen zurück.

Einem Wahlkampfversprechen folgend, ließ U Nu am 26. August 1961 vom Parlament eine Verfassungsänderung verabschieden, durch die der Buddhismus zur Staatsreligion erklärt wurde — was in Militärkreisen mit Unbehagen als ein Anlaß für verschärfte Spannungen mit den in erheblichem Umfang christlichen Kayinni und Kachin gesehen wurde. Als dann noch gegen Ende Februar 1962 Führer der Schan und der Kayin in Rangun (heute: Yangon) zusammenkamen, um vor dem Hintergrund des Panglong-Abkommens von 1947 über Verbleib oder Nicht-Verbleib ihrer Volksgruppen in der „Birmanischen Union“ zu beraten, sahen die Streitkräfte — so zumindest heutige offizielle Erklärungen — die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Staates. Am 2. März 1962 übernahmen sie unter ihrem Kommandeur General Ne Win in einem fast unblutigen Putsch erneut die Macht. In den folgenden mehr als 26 Jahren war Ne Win der „starke Mann“ im Land.

II. Die Ära Ne Win (1962-1988)

Oberstes Machtgremium war nun ein ausschließlich aus Militärangehörigen gebildeter, 17köpfiger „Revolutionsrat“, der durch Erlasse regierte. Bereits am 3. März löste er das Parlament auf; am 9. März übertrug er alle exekutive, legislative und richterliche Gewalt auf General Ne Win, bestand aber selbst fort.

Als politische Partei des Militärregimes wurde im Juli 1962 die „Birmanische Sozialistische Programmpartei“ (BSPP; auch: „Lanzin-Partei") gegründet, doch wurden erst im März 1964 alle anderen Parteien verboten. Die BSPP verstand sich zunächst als reine Führungselite. Noch 1971 hatte sie ganze 24 Vollmitglieder (plus mehrere hunderttausend „Kandidaten“), von denen 13 dem Revolutionsrat angehörten. Danach wurde ihre Rolle erweitert: Der 1. BSPP-Parteitag beschloß im Sommer 1971 ihre Umwandlung in eine Volkspartei; gleichzeitig sollte im staatlichen Bereich eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Die Mitgliederzahl der BSPP wuchs in der Folge bis Ende Januar 1985 auf 1, 022 Millionen Vollmitglieder und 1, 278 Millionen „Kandidaten“ (noch nicht stimmberechtigte Mitglieder) an, zusammen also auf über 2. 3 Millionen Parteiangehörige; für Ende März 1988 wurde sogar eine Gesamtmitgliederzahl von 2, 896 Millionen bekanntgegeben.

Die Verfassung trat nach Billigung in einer Volksabstimmung (mit 90, 2 Prozent Ja-Stimmen) am 4. Januar 1974 in Kraft. Sie schrieb als legislatives Organ ein Ein-Kammer-Parlament („Pyithu Hluttaw“) vor, auf dessen Basis eine zivile Regierung zu bilden war, bestimmte aber in Artikel 11: „Der Staat soll ein Ein-Parteien-System einführen. Die Birmanische Sozialistische Programmpartei ist die einzige politische Partei, und sie soll den Staat führen.“ Das Ergebnis war also eine Art „parlamentarische Diktatur“.

Die BSPP war straff zentralistisch organisiert: An der Spitze stand ein „Zentralkomitee“ (ZK; ab 1985 280 Personen), in dem den eigentlichen Machtkern der vom ZK gewählte (1985 17köpfige) „Zentrale Exekutivausschuß“ — vergleichbar etwa einem Politbüro oder Parteivorstand — darstellte; sein Vorsitzender war gleichzeitig Parteivorsitzender. Die mittlere Parteiebene bildeten 14 „Regionalkomitees“ — parallel zur Einteilung der „Birmanischen Union“ in sieben Provinzen und sieben Unionsstaaten; ihre Mitglieder wurden jedoch nicht etwa von den darunterliegenden „Parteisektionen“ — die auf „Parteizellen“ als Basiseinheit aufbauten — gewählt, sondern vom ZK ernannt.

Die organisatorische Erfassung der Bevölkerung beschränkte sich keineswegs auf die Parteimitglieder: Im Vorfeld der BSPP tätige „Freunde der Partei“ und die parteinahen Kinder-und Jugendorganisationen hatten zusammen eine noch höhere Mitgliederzahl, so daß im März 1988 schätzungsweise 20 Prozent aller Einwohner der BSPP oder einer ihr nahestehenden Organisation angehörten. Darüber hinaus wirkten BSPP-Mitglieder in die Massenorganisationen hinein: Ende Januar 1985 waren z. B. von den über 7, 5 Millionen Mitgliedern des „Bauernverbandes“ 11, 2 Prozent und von den mehr als 1, 8 Millionen Mitgliedern des „Arbeiterverbandes“ rund 21 Prozent gleichzeitig BSPP-Mitglied. In den Regierungsbehörden unterhielt die BSPP eigene Zellen, und sogar knapp 170 000 Soldaten gehörten Ende Januar 1985 nach offiziellen Angaben der BSPP an; geht man von einer Gesamtstärke der Streitkräfte von damals 186 000 Mann aus, so waren dies mehr als 91 Prozent des Militärs.

Wichtige Partei-und Regierungspositionen wurden nicht selten von aktiven oder ehemaligen Militärangehörigen eingenommen. (General Ne Win und andere hohe Offiziere traten 1974 in den militärischen Ruhestand, um zivile Funktionen zu übernehmen.) Da alle Mitglieder des Exekutivrates (= Kabinetts) und des übergeordneten Staatsrates nach der Verfassung von 1974 dem Parlament angehören mußten und die Aufstellung als Parlaments-kandidat letztlich von der BSPP abhing, konnten auch Karrieren in der staatlichen Exekutive von der Partei gesteuert werden. Damit basierte die Macht im Staat auf den personell miteinander verflochtenen drei Säulen Partei — Zivilverwaltung — Sicherheitskräfte.

An der Spitze dieses Systems stand U Ne Win — nach Abgabe seiner 1962 erhaltenen Sondervollmachten von 1974 bis 1981 als Staatsratsvorsitzender und damit Präsident Myanmars, von 1973 bis zum Juli 1988 als Vorsitzender der Einheitspartei BSPP. Es ist wichtig, sich dieses Machtschema und die Machtkonzentration vor Augen zu halten, will man den Grad der ab 1988 eingetretenen Umwälzungen beurteilen.

Ideologisch schuf sich die 1962 an die Regierung gekommene Gruppe eine eigene Basis, die nach dem Titel einer im April 1962 veröffentlichten Schrift als „birmanischer Weg zum Sozialismus“ bekannt wurde. Dieser lehnte'sich sowohl an marxistisches als auch an buddhistisches Gedankengut an. In der Praxis sah er zwar ebenfalls eine Über-führung von Landwirtschaft, Industrieproduktion, Warenverteilung, Nachrichtenübermittlung und Außenhandel in staatlichen Besitz vor, unterschied sich vom Sozialismus kommunistischer Prägung aber in grundlegenden Punkten; so sah er keinen Klassenkampf und keine Diktatur des Proletariats — oder irgendeiner anderen Klasse — vor, sondern nur eine wohlwollende staatliche Ägide.

Die Entprivatisierung der Wirtschaft wurde, von einzelnen Sektoren abgesehen, nur langsam in die Tat umgesetzt. Kurz vor den Veränderungen von 1988 war der staatliche Sektor erst mit 37. 2 Prozent an der Entstehung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) beteiligt, der genossenschaftliche mit 7, 2 Prozent, der private immer noch mit 55, 6 Prozent. In der Landwirtschaft z. B. wurden noch fast 91 Prozent der Produktion privat erwirtschaftet (wobei Grund und Boden zwar verstaatlicht worden waren, den Bauern aber — mit Einschränkungen — zur privaten Nutzung überlassen wurden).

Im Ergebnis hat sich dieses System, gekoppelt mit der staatlichen Bevormundung im politischen Bereich, als ineffizient erwiesen. Nicht ideologisch bedingte Fehlentscheidungen trugen ein übriges zum wirtschaftlichen Niedergang und einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung bei — so die plötzliche ersatzlose (!) Entwertung der drei höchsten Geldnoten am 5. September 1987, durch die mehr als 50 Prozent der Bargeldmenge aus dem Umlauf gezogen wurden, obwohl erst wenige Tage zuvor der Reishandel freigegeben worden war und die Verbraucherpreise für dieses wichtigste Grund-nahrungsmittel daher im Steigen begriffen waren. Die Politik einer weitgehenden Abkapselung vom Ausland, die wesentlich die myanmarische Kultur bewahren half, wirkte sich in der Wirtschaft ebenfalls negativ aus: Moderne Technologie wurde in dem wenig industrialisierten Myanmar aus Devisenmangel immer knapper, was wiederum die Qualität mancher Exportprodukte und damit erneut die Deviseneinnahmen verringerte. Davon unabhängig entwickelten sich allerdings auch die Weltmarktpreise für den myanmarischen Außenhandel ungünstig.

Als BSPP-Generalsekretär U Aye Ko auf einem Sonderparteitag vom 23. bis 25. Juli 1988 offen Bilanz zog, mußte er daher u. a. einräumen: Im staatlichen Wirtschaftssektor gab es eine sinkende Effizienz der Staatsbetriebe, hohen Ausschuß, bürokratisches Management; im privaten Sektor wurde Kapital zunehmend für Geschäfte am Schwarzmarkt eingesetzt (der einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung mit Konsumgütern leistete); die Schuldendienstrate gegenüber dem Ausland stand 1986/87 bereits bei 59, 2 Prozent. Moral und persönliches Engagement waren im Niedergang begriffen, Zweckentfremdung öffentlicher Mittel, aktive und passive Bestechung sowie Protektion verbreitet.

Vor diesem Hintergrund und angesichts einer Welle öffentlicher Demonstrationen und Protestkundgebungen — die aber die Regierung zu diesem Zeitpunkt keineswegs gefährdeten — erklärte U Ne Win auf dem Sonderparteitag überraschend seinen Rücktritt vom Parteivorsitz. Zugleich schlug er eine Volksabstimmung über die Einführung eines Mehrparteiensystems vor, die der Parteitag in ungewohntem Widerstand gegen den Willen von „Number One“ jedoch ablehnte.

III. 1988: mehrfacher Regierungswechsel und Militärputsch

Die Unruhen, die den Anstoß für die politischen Veränderungen gaben, begannen im März 1988 aus minimalen Anlässen, weiteten sich aber rasch aus. Innerhalb weniger Tage fanden nach offiziellen Angaben etwa 70 Personen den Tod, 625 wurden vorübergehend festgenommen. Drei Monate danach, am 13. Juni, kam es im Hochschulbereich in Yangon zu neuen Protesten, die sich auf andere Bevölkerungsteile ausdehnten. Über Yangon und drei weitere große Städte wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, über eine von ihnen, Prome, am 22. Juli auch das Kriegsrecht.

Der Sonderparteitag und die anschließende außerordentliche Sitzung des Parlaments am 27. Juli brachten den Rücktritt einer Anzahl weiterer Spitzenpolitiker, darunter von Präsident U San Yu. Zum neuen BSPP-Vorsitzenden und Präsidenten Myanmars wurde U Sein Lwin gewählt, ein für hartes Vorgehen bekannter Ex-General und enger Vertrauter U Ne Wins. Die Opposition sah sich durch seine „Machtübernahme“ in ihrer langjährigen Hoffnung auf durchgreifende Veränderungen beim Abtreten U Ne Wins enttäuscht und verstärkte ihre Protestaktionen. Am 8. August breiteten sie sich schlagartig auch auf bis dahin im wesentlichen ruhige Städte aus — wurden also offensichtlich koordiniert. Gewalttätigkeiten und Plünderungen von Lebensmittelvorräten nahmen zu, es kam zu sinnlosen Zerstörungsaktionen. U Sein Lwin ließ schießen. Obwohl am 11. August eine leichte Beruhigung eintrat, gab der Staatsrat am 12. August 1988 unerwartet U Sein Lwins Rücktritt bekannt.

Ausländische Presseberichte haben die Zahl der Toten durch die Unruhen unterschiedlich auf 1 000 bis 3 000 beziffert und an diesen Zahlen festgehalten, obwohl bei Hunderttausenden von Demonstranten, in die auch hineingeschossen wurde, jede Zählung illusorisch war. Von Regierungsseite wurde später eine Zahl von etwa 530 Toten eingeräumt — auch dies aber Zeichen für ein sehr hartes Vorgehen.

Am 19. August übernahm die beiden Spitzenämter in Partei und Staat der 63jährige Zivilist U Maung Maung, ein in Yale promovierter Jurist. Obwohl am 22. August ein von der Opposition ausgerufener landesweiter Generalstreik begann, zog er am 23. August die Sicherheitskräfte aus den Randbezirken bild der Städte zurück und hob am 24. August Kriegsrecht und Ausgangssperren — die nur lokal bestanden — wieder auf; am 25. August wurden die letzten der seit dem 3. August festgenommenen 2 750 Personen auf freien Fuß gesetzt. Noch am 24. August kündigte er über Rundfunk neue Sondersitzungen von Parlament und BSPP-Zentralkomitee zur Entscheidung über die Einführung eines Mehrparteiensystems an; außerdem gab er bekannt, er und alle übrigen Mitglieder des Staatsrates, des Ministerrates und dreier weiterer Führungsgremien würden bei der angestrebten demokratischen Wahl nicht mehr kandidieren, d. h. aus der Spitzenpolitik ausscheiden. Nur der Forderung der Opposition nach sofortiger Bildung einer (oppositionellen) Interimsregierung ohne parlamentarische Basis widersetzte er sich nachdrücklich.

Die Demonstrationen nahmen jetzt solche Ausmaße an, daß selbst zentrale Regierungsstellen nur noch z. T. arbeiteten und in der zweitgrößten Stadt des Landes. Mandalay, die Zivilverwaltung zusammenbrach. Banken sowie zahlreiche Geschäfte und Industriebetriebe blieben geschlossen, der öffentliche Verkehr zu Lande, zu Wasser und in der Luft kam zum Erliegen — was die Nahrungsmittelversorgung in den Städten dramatisch verschlechterte —, Plünderungen und andere Gewalttaten hielten an. Am 9. September erklärte sich der 1962 durch den Militärputsch gestürzte Premierminister U Nu öffentlich zum wieder amtierenden Regierungschef — ein Anspruch, den er trotz ausbleibender allgemeiner Anerkennung auch 1990 noch aufrecht erhielt.

Der Beschluß von BSPP-Parteitag und Parlament am 10. /11. September, eine Parlamentswahl mit Mehrparteiensystem durchzuführen, und die anschließende Einsetzung von fünf erfahrenen Pensionären — von drei verschiedenen Ethnien und drei verschiedenen Religionen — als Wahlkommission brachte keine Besserung der Lage. Am 16. September ordnete U Maung Maung an, daß mit Wirkung vom selben Tage kein Angehöriger des öffentlichen Dienstes mehr einer politischen Partei angehören dürfe. Damit war der BSPP und dem alten Regime die Machtgrundlage entzogen. Am 18. September 1988 putschten die Streitkräfte.

IV. Politik und Wirtschaft unter dem SLORC

Neues zentrales Machtgremium wurde ein „State Law and Order Restoration Council“ (SLORC), dem 19 Offiziere — außer zwei Obersten alle im Admiralsrang — unter Generals-oder angehörten, ihnen die Kommandeure aller acht Kommandobereiche der Streitkräfte. SLORC-Vorsitzender war General Saw Maung, vorher schon Kommandeur der Streitkräfte und Verteidigungsminister.

Der SLORC nannte in seiner ersten Verlautbarung am Putschtag vier Ziele: Ruhe und Ordnung wiederherzustellen; den Verkehr zu normalisieren; die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Unterkunft zu gewährleisten; eine freie und faire Parlamentswahl mit Mehrparteiensystem durchzuführen. Er strebte damit — obwohl das Militär zweifellos auch hinter den vorausgegangenen Regierungen gestanden hatte — nicht eine Fortsetzung des alten Regimes an, sondern den Übergang zu einer demokratischen Staatsform. Entsprechend wurde die bereits bestehende Wahl-kommission sofort in ihrem Amt bestätigt.

Dem SLORC ist im Ausland häufig undemokratisches Verhalten vorgeworfen worden — zurecht: Sogar er selbst hat sich nie als demokratisch angesehen. Vielmehr wurde die geltende Verfassung von 1974 de facto außer Kraft gesetzt. Regierung und Parlament wurden aufgelöst, ein öffentliches Versammlungsverbot sowie eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Mit diesem Coup galt potentiell im ganzen Land Kriegsrecht; es wurde jedoch konkret erst im Juli 1989 — beschränkt auf den zentralen Landesteil — verhängt und bis Mai 1990 weitgehend wieder aufgehoben.

Während der SLORC die Rechte des früheren Staatsrates — bei Fehlen eines Parlaments verbunden mit legislativer Gewalt — wahrnahm, wurden die Regierungsgeschäfte von einem Kabinett mit General Saw Maung als Premier geführt. Es umfaßte einen einzigen Zivilisten und sonst ausschließlich Offiziere. Auf Provinz-bzw. Unionsstaatebene und darunter wurden „Law and Order Restoration Councils“ (LORCs) mit jeweils einem Offizier an der Spitze gebildet. Die Streitkräfte hatten das Land damit fest unter Kontrolle. Bei der Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“ wurde Widerstand erneut mit Waffengewalt gebrochen. Es gab neuerlich Tote — jedoch wesentlich weniger als im August. Danach kehrte (von der Dauer-Guerilla abgesehen) Ruhe ein. Verwaltung und Verkehr normalisierten sich. Im Sommer 1989 wurde der bei den Unruhen 1988 eingestellte Unterricht an den Schulen stufenweise wiederaufgenommen; ausgesetzt blieb er allerdings im größten Teil des Hoch-schulwesens. Der Sozialismus wurde vom SLORC abgeschafft, das „Sozialistische Republik“ im Staatsnamen gestrichen. Wie in Grundzügen bereits in der Übergangsphase vor dem Putsch beschlossen, wurde die Wirtschaft für Privatinitiativen und ausländische Investitionen geöffnet (das neue Investitionsgesetz läßt bis zu 100 Prozent ausländischen Besitz an Unternehmen zu). Der Staat reservierte sich dabei allerdings bestimmte Bereiche wie den Bergbau. Außerdem wurden die bestehenden Staatsbetriebe nicht aufgelöst, sondern sie arbeiten in Konkurrenz zu Privatfirmen, denen sie den Vorteil voraus haben, durch ihre direkte Abrechnung gegenüber dem Staat zinsfreie staatliche Investitionsmittel erhalten zu können und Defizite automatisch abgedeckt zu bekommen. Um der geringen Akkumulation von Investitionskapital in der vorausgegangenen sozialistischen Periode zu begegnen, wurden ab 1989 „joint venture Companies“ mit öffentlich verkauften Anteilen gebildet.

Anders als etwa osteuropäische Staaten, erhält Myanmar beim Wiederaufbau der Wirtschaft kaum ausländische Hilfe. Die Bundesrepublik Deutschland — vorher zweitgrößter bilateraler Entwicklungshilfegeber —, weitere EG-Staaten und zunächst auch Japan stellten nach dem harten Vorgehen gegen Demonstranten 1988 die Entwicklungszusammenarbeit ein. Dies hat sicherlich die Ergebnisse in der Wirtschaft weniger gut ausfallen lassen als sie sonst gewesen wären, aber Myanmar keineswegs wirtschaftlich in die Knie gezwungen und den SLORC nicht zu einem Einlenken gegenüber seinen Gegnern oder gegenüber den Vorwürfen in der Menschenrechtsfrage veranlaßt.

Vielmehr wich Myanmar aus. Zunächst wurde der Grenzhandel mit der VR China und Thailand intensiviert. Zur Aufbesserung der beim Putsch 1988 nahezu auf Null gesunkenen Devisenreserven wurden dann Fischerei-und Hartholzeinschlaglizenzen an ausländische Konzessionäre aus asiatischen Ländern — für den Holzeinschlag an Thailänder — vergeben (eine als „wirtschaftlicher Ausverkauf“ kritisierte Maßnahme, die aber sicherlich keinen bedeutenden ausländischen Einbruch in die Wirtschaft des Landes darstellt, sondern eher unter Umweltschutzaspekten Angriffsflächen bietet). Schließlich konnte Myanmar eine Reihe größerer Partnerschaftsverträge mit ausländischen Unternehmen abschließen — so im Erdölsektor, in dem sich die weltweit wichtigsten Großkonzerne (auch aus den USA und den EG-Staaten) fest engagiert haben, oder in einem 1990 unterzeichneten Rahmenvertrag mit dem zweitgrößten Firmenkonglomerat Japans, der Dai-ichi-Gruppe, über Investitionen in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar im Verlauf von etwa 15 Jahren.

Auf politischem Gebiet wurde die Vorbereitung der angekündigten freien und fairen Wahlen konsequent angegangen. Neun Tage nach dem Putsch, am 27. September 1988, erließ der SLORC ein Parteiengesetz, das allen Angehörigen des öffentlichen Dienstes (einschließlich ausdrücklich von Militär und Polizei) jedwede Mitgliedschaft in einer Partei verbot. Auf dieser Basis ließen sich bis zum Ablauf der Registrierfrist Ende Februar 1989 233 Parteien eintragen. Ende Mai 1989 trat ein Wahlgesetz in Kraft, das zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine geheime Wahl mit Stimmzetteln vor-schrieb und gleichzeitig wiederum allen Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei und des übrigen öffentlichen Dienstes eine Kandidatur für das Parlament verbot. Das Verbot öffentlicher Versammlungen wurde drei Monate vor der Wahl aufgehoben. Alle 93 zur Parlamentswahl am 27. Mai 1990 antretenden Parteien erhielten eine gleichlange Sendezeit für ihre Selbstdarstellung im staatlichen Rundfunk und Fernsehen. Der SLORC hielt sich aus der Parteipolitik und dem freien Wahlkampf heraus, verbot unter Verweis darauf allerdings auch Angriffe auf die bestehende Regierung.

Regierungsgegner und ausländische Massenmedien haben dies fast nicht zur Kenntnis genommen, sondern zumeist ein Bild von völliger Unterdrückung der „Opposition“ verbreitet — gipfelnd in der von keinem Zweifel erschütterten Behauptung, die Wahl werde unfrei und unfair sein. Diese Kampagne war so erfolgreich, daß sogar alle Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam eine Entschließung einbrachten (Drucksache 11/7066 vom 7. Mai 1990), derzufolge der Deutsche Bundestag die Besorgnisse teilte, daß „freie, geheime und faire Wahlen am 27. Mai 1990 in Myanmar“ nicht gewährleistet seien, und die — vom SLORC abgelehnte — Zulassung ausländischer Wahlbeobachter forderte. Zur Begründung wurde u. a. darauf hingewiesen, führende Persönlichkeiten einzelner politischer Parteien seien vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen worden.

Dies traf zu: Ex-Premier U Nu stand unter Hausarrest, weil er weiter darauf bestand, Regierungschef zu sein; der Vorsitzende der „National League for Democracy“ (NLD), Ex-General U Tin U, verbüßte eine dreijährige Haftstrafe wegen des Versuchs, 1988 aktive Soldaten zur Abkehr von der Regierung zu veranlassen; NLD-Generalsekretärin Daw Aung San Suu Kyi, Tochter des Nationalhelden General Aung San, stand wegen verschiedener bekanntgegebener (hier naturgemäß nicht nachprüfbarer) Vorwürfe unter Hausarrest und wurde unter Hinweis auf ihre engen Beziehungen zu England von der Kandidatur ausgeschlossen. Darüber hinaus gab es unbestätigte Meldungen über Verhaftungen von Parteifunktionären. Umgekehrt konnte aber die NLD, obwohl klar regierungskritisch, nach eigenen Angaben im Wahlkampf in den nur gut eineinhalb Jahren seit ihrer Gründung zwei Millionen Mitglieder werben und in fast allen Wahlkreisen einen Kandidaten aufstellen — was angesichts eines bekannt effizienten myanmarischen Geheimdienstes der Regierung ganz sicher bekannt war und damit das Bild von der Unterdrückung doch sehr einschränkt.

Nicht nur der Verlauf der Wahl hat bestätigt, daß sie frei, fair und geheim war — auch das Ergebnis: Die NLD errang 392 der insgesamt 485 Mandate, während auf die „National Unity Party“ (NUP), Nachfolgerin der alten BSPP, nur zehn Sitze entfielen; viele der übrigen Mandate gingen an Parteien ethnischer Minderheiten. Insgesamt war dies ein Resultat, das dem Militär trotz seiner parteipolitischen Neutralität vor Augen führte, daß es sich bei der Bevölkerung sehr unbeliebt gemacht hatte.

V. Nach der Wahl: Demokratie, Diktatur oder Chaos?

Seit Sommer 1989 ist von Regierungsseite immer wieder erklärt worden, was nach der Parlamentswahl geschehen soll: Das neue Parlament solle eine Verfassung ausarbeiten — oder, wenn gewünscht, eine frühere Verfassung mit Abänderungen übernehmen —, dann werde der SLORC die Regierungsgewalt an eine auf der Grundlage dieser Verfassung gebildete Regierung übergeben. Neuerliche Äußerungen lassen vermuten, daß der Verfassungsentwurf zusätzlich zur Volksabstimmung vorgelegt wird.

Mit ihrer überwältigenden Mehrheit im Parlament könnte die NLD auf den ersten Blick die künftige Staatsstruktur damit mehr oder weniger nach eigenem Dafürhalten gestalten. In der Praxis wird dies allerdings wohl nicht eintreten — vor allem wegen eines seit über vier Jahrzehnten in Myanmar unge-lösten Problemes: der anhaltenden Guerilla. Vor den Unruhen von 1988 wurde die numerische Stärke des bewaffneten Untergrundes von kompetenter ausländischer Seite auf etwa 30 000 „Vollzeit“ -Kämpfer sowie mehr als 35 000 „Kämpfer bei Bedarf“ (Milizen. Reserven u. ä.) veranschlagt — bei insgesamt ca. neun bis zehn Millionen Mitgliedern ethnischer Minderheiten (sichere Zahlen dazu gibt es nicht). Die Aufständischen gliederten sich im wesentlichen in drei Gruppen: — In der größeren Dachorganisation „National Democratic Front“ (NDF) arbeiteten zehn Organisationen von Angehörigen ethnischer Minderheiten zusammen — darunter „Karen National Union“ (KNU), „Kachin Independence Organization“ (KIO) und „Karenni National Progressive Party“ (KNPP). Bewaffnete Gesamtstärke damals: ca. 12 000 „Vollzeit“ -und ca. 28 000 „Teilzeit" -Kämpfer. Die NDF arbeitete taktisch, aber nicht ideologisch mit der BCP (s. u.) zusammen. — In der kleineren Dachorganisation „Tai Revolutionary Council“ (TRC) kooperierten vor allem die von Khun Sa — in der Presse bekannt geworden als „Opium-König“ — geführte „Shan United Army“ (SUA) und die „Shan United Revolutionary Army“ (SURA) mit insgesamt etwa 3 500 „Vollzeit" -Kämpfern. (Beide gemeinsam firmieren inzwischen als „Mong Tai Army“ [MTA]). — Mit Abstand größte Einzelorganisation war die verbotene „Burmese Commnnist Party“ (BCP) mit etwa 10 000 „Vollzeit“ -und ca. 8 000-10 000 „Teilzeit“ -Kämpfern.

Die BCP.deren Führung aus Birmanen, ihre sonstige Mitgliedschaft aber zumeist aus Angehörigen ethnischer Minderheiten bestand, hat sich im Frühjahr 1989 gespalten und wesentlich geschwächt; Teile der Angehörigen ethnischer Minderheiten aus der Partei stehen jetzt auf Regierungsseite. Innerhalb der NDF mußte vor allem die KNU seit 1988 starke Verluste durch Regierungsoffensiven hinnehmen, bei der sie die meisten ihrer Stützpunkte und nach Regierungsangaben rund die Hälfte ihrer vorher 4 000 Bewaffneten verlor.

Zwei Monate nach dem Militärputsch gründete im November 1988 die NDF zusammen mit zwölf weiteren gegen die Regierung gerichteten Organisationen — darunter die unbewaffnete Exilantenorganisation „Comittee for the Restoration of Democracy in Burma“ (CRDB) und die aus geflohenen Studenten gebildete Jetzt teilweise bewaffnete „All Burma Student Democratic Front“ (ABSDF) — eine Dachorganisation mit der Bezeichnung „Democratic Alliance of Burma“ (DAB); Vorsitzender wurde General Bo Mya (KNU), stellvertretender Vorsitzender der KIO-Führer Brang Seng. Die DAB spielt seither die zentrale Rolle in der Koordinierung des Großteils der nicht legalen Anti-Regierungs-Organisationen.

In einem Artikel in ihrem Organ „Alliance Bulletin“ legte die DAB im Juli 1989 ihre Vorstellungen von der künftigen Struktur Myanmars dar: Allen Regierungssoldaten — bei denen es sich ausschließlich um Freiwillige handelt — solle erlaubt werden, nach Hause zu gehen, wenn dies ihr Wunsch sei; Myanmar solle eine Föderation sein, in der alle (Teil-) Staaten ihre eigenen Streitkräfte hätten. Thailändische Presseberichte nach der Wahl vom 27. Mai haben bestätigt, daß die DAB auch jetzt acht Teilstaaten mit jeweils eigenen Truppen fordert — darunter einen für die Bevölkerungsmehrheit der ethnischen Gruppe der Birmanen. Die Zentralregierung soll die „Aufsicht“ („supervision“) über die Streitkräfte der Staaten haben und für Finanzen und Außenpolitik zuständig sein. Wenn diese Lösung in die Verfassung einginge, wäre das Resultat eine Föderation mit machtloser Zentralregierung, aber mit Teilstaaten, die ihr aufgrund eigener Streitkräfte den eigenen Willen aufzwingen. sich potentiell dazu noch untereinander bekämpfen könnten (zu Kämpfen zwischen Aufstandsorganisationen ist es in der Vergangenheit bereits gekommen). Ein Auseinanderbrechen des Staates wäre damit möglich, zumal auch zwei Aufstandsorganisationen — die „Mong Tai Army“ und (zumindest vor dem 27. Mai) das DAB-/NDF-Mitglied KNPP — unter Berufung auf das Panglong-Abkommen von 1947 offen eine Sezession anstreben. Der SLORC hat 1989 und 1990 immer wieder erklärt. auch nach der Abgabe der Regierungsgewalt an eine Zivilregierung werde das Militär darüber wachen, daß der Staat nicht auseinanderfalle — aber für sich selbst Verhandlungen mit den Aufständischen (wie sie in der Vergangenheit mehrfach, jedoch ohne Erfolg, stattfanden) abgelehnt. Äußerungen nach der Wahl vom 27. Mai lassen darauf schließen, daß er im Sinne einer Erhaltung der nationalen Einheit auf die Formulierung der neuen Verfassung einwirken will (wobei noch offen ist, ob eine Zivilregierung dann Verhandlungen mit den Aufständischen führen könnte).

Das NLD-dominierte Parlament wird sich bei der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes daher in einer Zwickmühle sehen: Schreibt es die DAB-Forderungen fest, wird das Militär nahezu mit Sicherheit dem Inkrafttreten einer solchen Verfassung unter Nutzung seiner Machtmittel entgegentreten. Gibt das Parlament den DAB-Forderungen umgekehrt nicht nach, wird der Aufstand — der viele Opfer fordert, auf beiden Seiten Menschenrechtsverletzungen mit sich bringt und zudem die Wirtschaft des Landes erheblich schwächt — weitergehen oder sich sogar verstärken.

Auch dem Entscheidungsspielraum des SLORC sind jedoch Grenzen gesetzt: Käme es zu einem offenen Konflikt in dieser Frage mit der Parlamentsmehrheit, so hätte er nur die Wahl zwischen Einlenken oder Ausschaltung des Parlaments als verfassungsgebender Versammlung. Der letztere Schritt könnte die gegenwärtige Lage, die u. a. durch eine den Lebensstandard einschließlich der Ernährung verschlechternde hohe Inflationsrate bereits gespannt ist, leicht in eine explosive Situation verwandeln, die entweder in harte Unterdrückung oder einen chaotischen Bürgerkrieg überginge.

Es bleibt daher zu hoffen, daß Militär, NLD und Aufständische sich auf einen Kompromiß einigen, der eine echte Zentralregierung erhält, aber den ethnischen Minderheiten dennoch ausreichende interne Autonomie einräumt. Auch dann würde das Militär sich vermutlich weiter als Wächter über die nationale Einheit fühlen, aber in einem weitgehend befriedeten Myanmar könnte sich der zur Zeit in Ansätzen vorhandene wirtschaftliche Aufschwung stabilisieren und die Demokratisierung unter einer Zivilregierung fortschreiten.

Die Meinungen über die aktuelle und künftige Entwicklung in Myanmar sind geteilt -Obwohl einer Einigung sehr große Hindernisse entgegenstehen, erscheint sie derzeit nicht ganz ausgeschlossen: Die DAB-Mitglieder haben im Juni einen einseitigen Waffenstillstand beschlossen, und der SLORC teilte mit, er habe Vorbereitungen für Gespräche mit der NLD getroffen.

Literatur:

Cady, J. F. A., History of Modern Burma, Ithaca 1958.

Fleischmann. Klaus, Die neue Verfassung der Union von Birma. Hamburg 1976.

Ders., Die Kommunistische Partei Birmas, Hamburg 1989.

Lintner, Bertil, Outrage, Hongkong 1989.

Shway Yoe, The Burman, His Life and Notions, New York 1963.

Siemers, Günter. Die birmanischen Streitkräfte, in: Südostasien aktuell, (1985), S. 566— 580. Ders., Regierungswechsel in Rangun, in: Asien, (1989) 30, S. 60— 88.

Silverstein. Josef (ed.). Independent Burma at Forty Years: Six Assesments, Ithaca 1989. Steinberg. David J., Burma. A Socialist Nation of South-East Asia, Boulder 1982. Taylor, Robert, The State in Burma, London 1988.

Tinker, Hugh (ed.), The Struggle for Independence 1944 — 1948, 2 Bde., London 1984.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe u. . Großes Los. Die Wahlsiegerin Aung San Sun Kyi kann ihren Triumph nicht in Politik umsetzen, in: Der Spiegel. Nr. 27 vom 2. Juli 1990, S. 134— 138.

Weitere Inhalte

Günter Siemers, M. A., geb. 1938; Studium der Ostasienkunde in Bonn; 1964 bis 1967 Tätigkeit beim Japanischen Rundfunk (NHK) in Tokyo; seit 1968 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Asienkunde in Hamburg, dort seit 1982 u. a. Referent für Myanmar (Birma). Veröffentlichungen u. a.: Regelmäßige Berichte in der vom Institut herausgegebenen Zwei-Monats-Zeitschrift „Südostasien aktuell“ zu Myanmar, den Philippinen, Brunei, Papua-Neuguinea; zahlreiche Veröffentlichungen zu Ländern der Region.