I. Bewährung für die Demokratie
Es war die Niederlage einer Regierung, aber ein Sieg für die Demokratie. Mit den indischen Parlamentswahlen Ende November 1989 endete die fünfjährige Amtszeit von Ministerpräsident Rajiv Gandhi. Die Bilanz des zu Beginn seiner Regierungszeit unter dem Eindruck der Ermordung seiner Mutter Indira im Oktober 1984 und einem ein Jahr danach überwältigenden Wahlsieg hochgelobten Gandhi fiel im Endergebnis negativ aus — jedenfalls in den Augen der Wählermehrheit. In den Schlagzeilen der Medien war vom Ende der Nehru-Dynastie zu lesen. Hatte man dies nicht auch schon vernommen, als Indira Gandhi, Nehrus Tochter, 1977 in die Opposition geschickt wurde — und dann doch 1980 triumphalisch zurückkehrte an die Macht? Was immer die Zukunft unter der Koalitionsregierung von Vishvanath Prasad Singh bringen wird: Die Wahlen vom November 1989 waren Ausdruck der Lebendigkeit und tiefen Verwurzelung demokratischen Geistes und demokratischer Institutionen in einem der widersprüchlichsten, extremsten und schwierigsten Länder der südlichen Hemisphäre. Die Mehrheit der 500 Millionen Wahlberechtigten hat gesprochen — und ihr Verdikt zählt in Indien, anders als im bevölkerungsmäßig noch zahlreicheren China.
Der durch seine früheren literarischen Werke als ein ebenso profunder wie unbestechlich-kritischer Beobachter Indiens aufgefallene Schriftsteller Vidiadhar Surajprasad Naipaul hatte schon Monate vor den Parlamentswahlen auf diese einzigartige Leistung der Geschichte des unabhängigen Indiens hingewiesen: „Democracy is working beautifully in India. People don’t feel desperate, they don’t feel utterly without a voice.“ Um dies zu würdigen, lohnt es, den Blick nach China zu wenden oder aber zu orientieren an den in der Tat die menschliche Hoffnungskraft nicht selten übersteigenden sozialen und kulturellen Konflikten in Indien. Gewiß lassen sich Kritikpunkte und Defizite ausmachen — in der Summe aber funktioniert die gewaltengeteilte Demokratie in Indien; dies wurde 1977, am Ende der Notstandsregierung Indira Gandhis nicht weniger sichtbar als nun, da der Stern ihres einst glanzvoll aufgestiegenen Sohnes verlosch.
Am 3. Dezember 1989 wurde Vishvanath Prasad Singh als siebter Ministerpräsident Indiens von Staatspräsident Venkataraman vereidigt. Es war ein kompliziertes Suchen nach einer tragfähigen Mehrheit gewesen, hatten die Wahlen doch ein unbefriedigendes Ergebnis im Sinne der Koalitionsarithmetik hervorgebracht. Von 525 Sitzen in der Lok Sabha — zwei werden durch Sonderregelungen vergeben — gingen 195 an die Kongreßpartei Rajiv Gandhis, 142 an die von Singh geführte Janata Dal Party, 86 an die hindufundamentalistische Bharatiya Janata Party. 32 an die kommunistische Partei (marxistischer Orientierung), 11 an die Kommunistische Partei Indiens. 59 an unabhängige Kandidaten. Singh, noch vor wenigen Jahren Finanzminister unter Rajiv Gandhi, muß nun eine Koalition zusammenhalten, die von den radikalen, vor allem in Bengalen verwurzelten Kommunisten bis zu den Hindufundamentalisten reicht, die mit ihren Forderungen nach einem Bann des Kuhschlachtens, dem Ende der muslimischen Zivilgerichte und der Aufhebung von Urdu als zweiter nationaler Sprache die Agenda für eine weitere Polarisierung in diesem äußerst sensiblen Bereich der indischen Politik gelegt haben. Vereint wurde die Singh-Koalition in der Ablehnung der Kongreßpartei und des ausscheidenden Ministerpräsidenten. Wie noch stets in der indischen Politik aber erwuchs die stärkste Oppositionsgruppe und jetzige Regierungspartei, die Janata Dal Party, aus der Kongreßpartei selbst, ist Abtrünnling aus dem Schoß jener Partei, die noch immer auf dem Weg von der nationalen Sammlungs-und Unabhängigkeitsbewegung zu einer modernen. programmatisch profilierten Partei ist. Neben der Koalitionsproblematik könnte auch der Extremismus der Sikhs ein neuerlicher Alptraum für V. P. Singh werden. Im Parlament, der Lok Sabha, sitzen auch die Witwe und der Vater von den beiden Attentätern Indira Gandhis! Die strukturelle Aufgabe, die an Singhs Integrationsleistung gestellt ist, berührt ein Regierungsprinzip insgesamt: „the absorption of the different identities into the governing principle of the Indian state“ Wie er sich mit seinem Kabinett darin bewähren wird, unterliegt vorerst den Spekulationen. Zur ersten krisenhaften Zuspitzung und Bewährungsprobe ist indessen der Konflikt in und um Kashmir geraten, wo eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung mehr Autonomie, wenn nicht sogar Unabhängigkeit fordert und die Regierung Singh zu gewalttätigen Gegenaktionen provoziert hat; der Konflikt mit Pakistan geriet im April 1990 bis an die Grenze eines Krieges. Mitte Juli 1990 kam es zur ersten wahrhaft turbulenten Regierungskrise, deren Wirkungen auf den dauerhaften Bestand der Regierungskoalition offen bleiben muß. Die Fragilität der Singh-Koalition wurde bis aufs äußerste durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Devi Lai gereizt, dessen unselige Verbindungen in den Bundesstaat Haryana, dem er früher als Chefminister vorgestanden hatte, zu einer Kraftprobe mit Ministerpräsident Singh führten.
II. Kommunaler Chauvinismus
Eine besonders häßliche Seite des vergangenen Wahlkampfes lag darin, wie die kommunalen Empfindlichkeiten für politische Zwecke auf demagogische und blutige Weise ausgenutzt worden sind. Die kommunalen Gegensätze — gemeint ist damit in erster Linie das Verhältnis zwischen der mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung Indiens und der muslimischen Minderheit des Landes — reichen tief in die indische Geschichte zurück. Was mit der islamischen Invasion Nordindiens ab dem 10. Jahrhundert und der Errichtung der Moghul-Herrschaft im 16. Jahrhundert begann, fand zur Zeit der britischen Kolonialregierung eine unrühmliche Fortsetzung. Mit einer Politik des „divide et impera“ suchten die Engländer den bestehenden Keil zwischen Hindus und Muslims noch tiefer zu treiben, um dadurch ihre eigene Herrschaft zu erleichtern.
Die Teilung des indischen Subkontinents zwischen Indien und Pakistan lag in der Konsequenz dieser Haltung, doch sie bleibt verbunden mit unsagbarem Leid während der 1947/48 versuchten „Bevölkerungsentmischung“. Diese aber blieb mehr ein Torso: Nicht nur hinterließ sie in Pakistan eine hinduistische Bevölkerungsminderheit und die Teilung in Ost-und Westpakistan, die erst in einem blutigen Krieg 1971 zur Unabhängigkeit von Bangladesh führte; sie hinterließ auch in Indien 100 Millionen Muslime — mehr als die pakistanische Gesamtbevölkerung. Damit beheimatet Indien nach Indonesien und Bangladesh die drittgrößte muslimische Bevölkerung der Welt.
Die Kongreßpartei suchte in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit diese Gegensätze, die vor allem in den Kommunen wirksam werden, zu lindern. Ihr Credo von einem säkularen Indien — verankert auch in der Verfassung des Landes — fand Annahme in breiten Kreisen der Bevölkerung und vermochte die Gegensätzlichkeiten zu neutralisieren. So jedenfalls schien es. In den vergangenen fünfzehn Jahren aber erlebt und erleidet Indien eine Neuauflage der kommunalen Konflikte — communalriots genannt —, die an Grausamkeiten, Verwüstungen, an Bitterkeit und Haß nichts ausgeklammert lassen. Die kämpferischen Aktivisten des Chauvinismus — in beiden Lagern anzutreffen — haben mit ihren brutalen Aktionen vielen Indern das Fürchten gelehrt. Gipfelpunkt der jüngsten Welle kommunaler Differenzen war die blutige Auseinandersetzung um den Rama-Tempel in Ayodhya in Nordindien
Der Ort gilt in der Hindu-Mythologie als Geburtsstätte des Gottes Rama. Zur Zeit der Moghul-Kaiser wurde dort angeblich auf den Fundamenten eines zuvor zerstörten Rama-Tempels eine Moschee errichtet. Friedliches Nebeneinander der Gläubigen beider Religionen endete 1855, als Hindus die Moschee zu erobern suchten und nach einem blutigen Kampf mehrere hundert Tote auf beiden Seiten zu beklagen waren. Hindu-und Muslimfundamentalisten haben nun eine neue Runde im Ringen um den Ayodhya-Tempel eingeleitet. Die Muslim-Fundamentalisten sehen in der dortigen Moschee ein Symbol der Einheit aller Mohammedaner Indiens; für die Hindu-Chauvinisten geht es um die Abstreifung der von außen aufgezwungenen islamischen Komponente ihrer Kultur, Geschichte und Gegenwart. Hinter der Ayodhya-Kontroverse, in deren Verlauf es zu Hunderten von Todesopfern an verschiedenen Orten Indiens, vor allem aber in Bihar und Rajastan im Herbst 1989 kam, scheint eine zunehmende Radikalisierung und Fanatisierung der religiösen Empfindungen auf beiden Seiten auf — zwischen den islamischen Fundamentalisten und den Verfechtern eines Hindustan-Indien, eines Reiches der Hindus. Geld fließt von Gastarbeitern aus Saudi-Arabien und Libyen; allerorten sprießen Moscheen aus dem Boden. Der Sohn des Imam von Delhis großer Jamaa Majid, der Hauptmoschee Indiens, Ahmed Bukhari, führt die muslimischen Fundamentalisten, die Adam Sena-Bewegung. Ihre hinduistischen Gegenstücke — die Vishwa Hindu Parishad und die ihr verwandte, ältere Rashtriya Swayamsevak Sangh — suchen eine Rekonvertierung von Muslimen (und Christen) und eine kulturell-geistige Säuberung Indiens im Zeichen eines unverwechselbaren Hindu-Rashtra: Jeder Inder soll ein Hindu sein.
Eng verwoben mit der religiösen Fanatisierung sind wirtschaftliche Fragestellungen: Die muslimische Bevölkerung, obgleich durch verschiedene Maßnahmen besonders gefördert, liegt ökonomisch zurück. Die beschleunigte Entwicklung, die in den letzten Jahren eingesetzt hat und die mit dem Ruck einer neuen Dynamik in Indien spürbar geworden ist, läßt soziale Konflikte schärfer sichtbar werden, führt zu Abwehrstimmungen und vor allem zu einem Bedürfnis der kulturellen Selbstvergewisserung unter den ökonomisch Zurückbleibenden.
Damit gewinnen die kommunalen Konflikte in Indien eine neue Dimension. In ihnen artikuliert sich die spezifisch indische Form einer religiösen Versteifung auf einen fundamentalistischen Kern der eigenen Überzeugung — dies eine weltweit erkennbare Tendenz —. zugleich aber ist sie ein Reflex auf die Umbruchtendenzen und Modernisierungserscheinungen in der indischen Sozialstruktur. Die kommunalen Konflikte, verstärkt durch ethnische Auseinandersetzungen in den Regionen Punjab (Sikh-Problematik), Tamil Nadu (eng verflochten mit den Spannungen auf Sri Lanka, in die Indien seit 1987 militärisch involviert ist), Kashmir (wo V. P. Singh unterdessen eine der Zentralregierung genehme Führung eingesetzt hat, aber auch bereits mit gewaltsamer Eskalation konfrontiert wurde) sowie Assam und Nagaland (strategisch verwundbar seit dem indisch-chinesischen Krieg von 1962 und verbunden mit der Immigration von bengalischen Muslimen in den Nordosten Indiens) werden immer wieder zu politischen Zwecken mißbraucht. Und rasch kommt in Indien der Verdacht auf, ausländische Interessen seien am Werk, um Indiens Stabilität zu untergraben, sein Ansehen in der Welt zu diskreditieren.
Gewiß übertrieben waren und sind die Prognosen eines rasch bevorstehenden Zerfalls der Indischen Union. Die Resistenz gegen offene Sezessionstendenzen kann aber auch nicht unterschätzt werden — das historische Bewußtsein ist auch in dieser Hinsicht lang in Indien. Das jedoch eigentlich besorgniserregende und in jüngster Zeit an Gewicht zunehmende Thema ist der sich verbreitende Fundamentalismus in Indien als Gegenbewegung gegen die offenbar unvermeidlich gewordene Modernisierung des Landes. Religiöse Toleranz gehört zur Geschichte Indiens, einem Land mit einer außerordentlichen kulturellen und religiösen Vielfalt. Zahlreich wie die kosmologische Vielfalt des indisch-hinduistischen Götterpantheons ist die Kultur des Landes. Darin gründen die Faszination und die Stärke Indiens. Problematisch ist also nicht der Pluralismus des Landes — unübertroffen von kaum einer anderen Region der Welt —, sondern die immer bewußter werdende innere Verstrickung der indischen Gesellschaft in die Ambivalenzen des Fortschritts, der in der letzten Dekade beschleunigt diesen Subkontinent erfaßt hat.
Lange Zeit hindurch orientierte sich Indien in seiner wirtschaftlichen Entwicklung an den inneren Möglichkeiten des Landes. „Be Indian, buy Indian“ war ein Slogan, der tief im Bewußtsein des Landes — und in den Strukturen seiner Wirtschaft — Nährboden und Verankerung fand. Das Land schien sich oftmals selbst genug, ruhte ebenso in seinen inneren Kräften wie es seine Widersprüche — Kasten; Massenarmut und vereinzelter intensiver Reichtum direkt nebeneinander — ertrug. Es begann mit der Grünen Revolution und der Verbreitung von Fahrrad und Transistorradios über das ganze Land mit seinen 500 000 Dörfern Die Spinnradsymbolik Mahatma Gandhis begann angefochten zu werden. Nicht, daß sogleich Nehrus Kursrichtung einer raschen Industrialisierung, der Nutzbarmachung der modernen Technologien für Zwecke der Entwicklung allgemeine Verbreitung und tiefverwurzelte Annahme gefunden hätte. Aber die reine Lehre des Mahatma — ungebrochen hochverehrter Vater der Nation und geistiger Wegbereiter des unabhängigen Indien —, nämlich die Ablehnung der Moderne im Namen der überlieferten Dorfhandwerke und -industrien wurde doch erschüttert.
Die Modernisierung konnte nicht oder noch nicht rasch genug in der gebotenen Breite soziale Wirkungen zeigen, die eine beruhigte Orientierung der gesamten indischen Gesellschaft zu ihren neuen Ufern ermöglicht hätte. Im Gegenteil: Die Herausbildung einer indischen Mittelschicht von über 100 Millionen Menschen im Verlauf der achtziger Jahre schuf zwar bei vielen der armen Menschen die Hoffnung, auch selbst bald teilzuhaben an den Hervorbringungen der Moderne — eine Uhr zu tragen, einen Ventilator unter der Decke laufen zu haben, ein Motorrad zu erwerben —, sie verfehlte aber viele und provozierte damit Unzufriedenheiten und Rückversicherungsbemühungen wider einen offenbar weltweit nicht zu bremsenden Strom der Zeit hin zur modernen Technologie-und Industriezivilisation. So fielen fundamentalistische und chauvinistische Töne auf fruchtbaren Boden, so begann in Indien eine neue Phase kommunaler Probleme und so konnte die Ayodhya-Tempel-Kontroverse zum dominierenden nationalen Thema der Parlamentswahlen von 1989 werden.
III. „Middle-class revolution“
Indien hat während der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit bemerkenswert positiven Wirtschaftsnachrichten zu überraschen gewußt — und dennoch vermochte Rajiv Gandhi die Wähler nicht von sich zu überzeugen. In den fünfziger Jahren entschied sich die politische Führung des Landes unter Jawaharlal Nehru für einen staatsinterventionistischen Wirtschaftsweg. Sozialistische Planung nahm konkrete Züge an und begann zu wuchern mit all den damit verbundenen Nebeneffekten wie Überbürokratisierung und Korruption, Lethargie des privaten Sektors und protektionistische Abschließung des Staatssektors. Die meisten Menschen befanden sich außerhalb einer modernen Marktordnung; die Orientierung an ihren Bedürfnissen durch die staatliche Politik schien naheliegend zu sein.
Doch gefördert wurde im wesentlichen der Aufbau einer Schwerindustrie, der das Land auf den zehnten Platz unter den Industrienationen der Welt katapultierte, der Armut aber weder ihren Stachel noch ihre immer weiter ausufemden Dimensionen nahm. Eine jährlich konstant bleibende Wachstumsrate von 3, 5 Prozent — als „Hindu rate of growth“ bespöttelt — vermochte nicht, die erwünschte Aufschwungbewegung in der sozialen Entwicklung zu bringen. Sozialismus indischer Art — orientiert an der Maßgabe, die „commanding heights“ der Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle zu halten — schuf weder rapides Wachstum noch größere soziale Gerechtigkeit. Katastrophale Ernterückschläge in der Mitte der sechziger Jahre ließen die Welt besorgt nach Indien schauen. Malthus’ Prognose, daß die Landwirtschaftsproduktion mit einer wachsenden Bevölkerung nicht Schritt halten könne, schien ihre Bestätigung zu finden. Die Grüne Revolution, begründet in einer Veränderung der Agrartechnologien, führte jedoch zu einer Ausweitung der Ernteerträge. Indien begann landwirtschaftlicher Selbstversorger zu werden. Die Nebeneffekte aber blieben nicht unbemerkt: eine zunehmende soziale Diskrepanz zwischen Großbauern und Kleinbauern beziehungsweise Pächtern sowie die wachsende Abhängigkeit von Düngemitteln und damit verbunden eine rasante Versalzung vieler fruchtbarer Böden. „Nur ein Drittel des nutzbaren Bodens ist noch in guter Verfassung, zwei Drittel sind ganz oder weitgehend unfruchtbar. Von 630 000 Quadratkilometern registrierten Waldes sind nach Meinung von Fachleuten noch 280 000 gesund.“
Ebensowenig wie ein Zurück zur traditionellen, naturschonenden Landwirtschaft denkbar ist, scheint ein Ende der industriell bedingten Umweltzerstörung Indiens abzusehen zu sein. Der Preis für die zunehmende Industrialisierung, in den Städten symbolisiert durch eine bemerkenswert rasche Ausbreitung der individuellen Verkehrsmittel; ist hoch und eine durchgreifende Umweltpolitik keineswegs absehbar. Luft-und Wasserverschmutzung mit stark gesundheitsschädigenden Effekten sind nicht zu übersehen. Die Jahresproduktion von Motorrädern, Mopeds und Autoscootern hat sich während der achtziger Jahre verzehnfacht; der Autoverkauf stieg um das Vierfache auf 160 000 pro Jahr. Bemerkenswert hierbei ist der Erfolg des mit japanischer Kooperation gebauten Maruti/Suzuki, der im-mer häufiger auf Indiens Straßen zu sehen ist, wenngleich nach wie vor die altehrwürdigen Modelle vergangener englischer Zeiten das Bild beherrschen Der Smog spricht in jedem Fall für sich.
Neben die Autoproduktion sind andere Indikatoren getreten, die ein helleres Bild der indischen Wirtschaftsentwicklung zu zeichnen beginnen, als dies das stereotype Modell im Westen bisher vermochte: 25 Millionen Haushalte besitzen ein Fernsehgerät, Waschmaschinen und Staubsauger beginnen populärer zu werden, ebenso Kühlschränke und Ventilatoren. Man geht von sechs Millionen Aktionären in Indien aus, und selbst Lebensversicherungen haben einen 40prozentigen Kundenzuwachs im Jahr. Indien ist zu einer Entwicklung aufgebrochen, die der „Economist“ bereits euphorisch als „middle-class revolution“ beschrieben hat Im Kern wird die neue Regierung an diesem Kurs nichts zu ändern vermögen.
Seit Beginn der achtziger Jahre — nach der Rückkehr der Kongreßpartei unter Indira Gandhi an die politischen Schalthebel in Neu Delhi im Frühjahr 1980 — setzte sich die Einsicht für eine notwendige Liberalisierung der indischen Wirtschaftsplanung durch. Die staatliche Wirtschaftsplanung geht auf das Jahr 1951 zurück mit Investitionslenkungen in der Landwirtschaft, in der Infrastruktur sowie im industriellen Sektor. Aus dem Ziel der self-reliance, einer Nichtabhängigkeit vom Ausland, erwuchs die Entwicklung der indischen Wirtschaft.
Die in den achtziger Jahren unternommenen Liberalisierungen „do not as yet add up to a dramatic change“ Dennoch sind sie Ausdruck einer veränderten Orientierung in Teilen der indischen Gesellschaft und der indischen Politik, stoßen nicht mehr per se auf Widerstand der konservativen, nationalwirtschaftlich orientierten Kräfte in der aufgeblähten Bürokratie. Vor allem aber: Sie finden Widerhall in einer dynamischer gewordenen Haltung in der modernen indischen Industrie. Auch die neue politische Mehrheit in Neu Delhi wird an dieser Entwicklung keine grundlegenden Veränderungen vornehmen.
Das politische Ziel der mit Rajiv Gandhi angetretenen Reformer war es gewesen, wirtschaftliche Ent-Scheidungen weitgehend zu entpolitisieren. Im Dreieck von Deregulierungen, Importliberalisierungen und einem leichteren Zugang zu ausländischen Technologien sollten künftig Resultate eine Rolle spielen, nicht länger ideologische Prädispositionen. Nur so wird Indiens Wirtschaft in der Tat internationale Wettbewerbsfähigkeit gewinnen können. Opposition dazu ist jedoch bereits aus den traditionell nach innen hin orientierten Sektoren der indischen Industrie sowie von links-und gandhianisch-orientierten politischen Kräften und schließlich von ländlichen Gruppen artikuliert worden -Grenzen fand Indiens bisherige Wirtschaftsöffnung nach außen auch hinsichtlich der Beteiligungsregelung. Entschieden wird von Seiten der Wirtschaft auf die anhaltende Limitierung der ausländischen Kapitalbeteiligungen an joint-ventures in Indien hingewiesen. Die Steigerung auf 40 Prozent ist nicht ausreichend; die erhoffte 5Iprozentige Kapitalbeteiligung hätte zwar in den Augen ausländischer Investoren vorrangig nur psychologische Wirkungen, dürfte aber dennoch in Indien nicht zu sehr auf die leichte Schulter genommen werden, wenn die Erfolgskurve der achtziger Jahre anhalten soll. Neben der anhaltenden Korruption und den bürokratischen Beschwernissen beim Weg auf den indischen Markt gehört dies zu den Dauer-klagen der ausländischen Wirtschaft — auch der am Indiengeschäft durchaus interessierten deutschen Unternehmer.
Dennoch scheinen die Dinge in die richtige Richtung zu laufen. So verweist der Bundesverband der deutschen Industrie darauf, daß 37, 9 Prozent der deutsch-indischen Unternehmen Mitte der achtziger Jahre in Indien auf Wettbewerber stießen und wertet dies als positiven Ausdruck der mit dem 7. Fünfjahresplan eingeleiteten Liberalisierungspolitik. Auch sei trotz eines insgesamt um 4, 2 Prozent rückläufigen Exports nach Indien 1987 eine zehnprozentige Exportzunahme von Maschinen für die Textil-und Lederherstellung zu verzeichnen gewesen. Resümee nach Abwägung der Vor-und Nachteile: „daß es sich lohnt, in Indien zu investieren, da das Land mehr Chancen bietet als in vorangegangenen Jahren“ Von 170 Milliarden Dollar Auslandsinvestitionen 1988 kamen 22 Milliarden aus der Bundesrepublik Deutschland.
So schwierig es bleibt, die rigiden Formen des in langer Tradition gewachsenen und erstarrten indischen „Feudalsozialismus“ rasch zu überwinden, so bemerkenswert war das stetige Wirtschaftswachstum des Landes in den achtziger Jahren von jährlich bis zu zehn Prozent. Und auch sozialbezogene Einzelindikatoren sprechen eine positive Sprache: Während der großen Dürre 1988 mußte niemand in Indien verhungern. Für 1989 konnte mit einer Rekordernte von 170 Millionen Tonnen Getreide gerechnet werden. Die Lebenserwartung ist seit der Unabhängigkeit von 32 auf 58 Jahre gestiegen, die Zahl der Malariatoten ging von jährlich 750 000 auf 200 während des gleichen Zeitraumes zurück
Optimistische Beobachter sehen Indien bereits auf dem Sprung in die globale Technologie-Spitzengruppe. Sie verweisen auf das große technologische Potential des Landes und die außerordentlich hohe Zahl indischer Ingenieure und Wissenschaftler. Dagegen kontrastiert allerdings die anhaltend durchschnittliche Qualität der indischen Industrieproduktion — und die verzehrende Massenarmut. Gewiß aber trifft zu, daß Indien ein größeres Potential und bessere Ausgangsbedingungen besitzt als China, um den Sprung in die hochtechnologiegestützte Phase der industriellen Entwicklung zu finden.
Eine bisher ungenutzte „Ressource“ für die Weiterentwicklung Indiens sind die im Ausland lebenden Inder. Die Zahlen variieren und gehen in die Millionen. Allein für die in den USA lebenden Inder schwanken die Angaben zwischen 32 000 und 600 000 Andere Schätzungen sprechen von circa 15 000 in den USA lebenden software-Ingenieuren und 10 000 Biotechnologen indischer Herkunft -Sie zu einer Mitarbeit am weiteren Ausbau der indischen Wirtschaft und Technologie zu bewegen, könnte der Ökonomie Indiens in der Tat einen großen Schub verleihen. Voraussetzung aber ist nicht nur ein psychologischer Durchbruch, der ihnen den Eintritt Indiens in den Kreis der technologisch ambitionierten Länder plausibel und ihr Engagement dabei lohnenswert erscheinen ließe; Voraussetzung wäre auch die Schaffung ausreichend attraktiver — und das heißt vor allem finanziell zufriedenstellender — Arbeitsplätze in Indien. Mit Vehemenz bemüht man sich neuerdings auch um Investitionen durch Auslands-Inder; ihr derzeitiges Engagement, das allerdings in Hartwährung repatriierbar ist, wird auf neun Milliarden US-Dollar geschätzt
Indiens wirtschaftliche Entwicklung wird nicht zuletzt daran gemessen werden, wie sich der Außenhandel und mit ihm die Schuldenlage des Landes gestalten werden. Aufgrund seiner eher autozentrierten Entwicklungsstrategie vermochte Indien in der Vergangenheit mit einer weithin ausgeglichenen Außenhandelsbilanz und ohne größere Schuldenprobleme aufzuwarten. Die wirtschaftliche Liberalisierung der achtziger Jahre hat hier neue Akzente erzeugt. Ende 1988 belief sich die Auslands-schuld Indiens (staatlich und privat) auf circa 52 Milliarden US-Dollar; in Vorbereitung auf das Budget 1988/89 ließ die Regierung Anfang 1988 erklären, Indiens staatliche Auslandsverschuldung belaufe sich auf 16, 7 Milliarden US-Dollar Neueste Zahlen lassen noch auf sich warten; in Bankenkreisen aber wird schon jetzt auf die Veränderung des indischen Schuldenprofils hingewiesen: Der Anteil der auf dem privaten Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite erhöhte sich während der achtziger Jahre überproportional. Im Verlauf der nächsten Jahre wird daher mit einer weiteren Zunahme der Verschuldung des Landes gerechnet, zugleich aber eine rasche Zunahme indischer Exporte eher für unwahrscheinlich gehalten.
Prekär bleibt weiterhin — zumal angesichts der anhaltenden Bevölkerungszunahme, die zu einer Gesamtbevölkerung von 1, 2 Milliarden in den nächsten zwanzig Jahren führen kann — die Energieversorgung für den industriellen Sektor Indiens. In den dreißig Jahren, die seit dem Beginn des ersten Fünfjahresplanes 1956 vergangen sind, hat sich der private Energieverbrauch verachtfacht. Auch im Agrarsektor hat der Energieverbrauch massiv zugenommen — um 20, 7 Prozent allein zwischen 1971 und 1988, vor allem aufgrund des Baus von Bewässerungsanlagen. Das Energiedefizit belief sich 1987/88 auf 10, 9 Prozent, in manchen Regionen auf 30 Prozent
Die letzte verfügbare Statistik aus dem Jahr 1974/75 erwähnt, daß nahezu 44 Prozent der Energie aus Feuerholz, landwirtschaftlichen Abfällen und Kuhdüng erzeugt wurden, der Rest weiterhin auf Kohlebasis beruhe. Die ökologischen Folgen dieser Energiepraxis sind weithin sichtbar und drohen überhand zu nehmen. Die immer stärkere Orientierung an der Nuklearenergie erscheint ebenso notwendig wie problematisch, da schon die heute verfügbaren indischen Kernkraftwerke entscheidende Opcrations-und Sicherheitsmängel aufweisen.
So bleibt Indiens wirtschaftliche Entwicklung zu Beginn der neunziger Jahre eingespannt zwischen sei-ner wachsenden weltwirtschaftlichen Verflechtung und den Potentialen einerseits sowie den drückenden Problemen des Landes andererseits. Die heutige Ausgangslage hat sich gegenüber dem Beginn der achtziger Jahre verbessert. Die Ergebnisse am Ende der neu begonnenen Dekade aber dürften nicht nur an Wirtschaftsindikatoren abgelesen wer-den, sondern auch an der Frage, inwieweit die Bekämpfung der absoluten Armut vorangeschritten sein wird und welche substanziellen Anstrengungen zum Schutz der natürlichen Umwelt unternommen worden sein werden. Daran wird sich die neue indische Regierung schon im Verlauf ihrer soeben begonnenen Amtszeit messen lassen müssen.
IV. Militärisch-strategische Aktionsfelder
In seiner außenpolitischen Orientierung wird Indien seit der Unabhängigkeit des Landes geprägt von der Sicherung der eigenen Aktionsspielräume. Allein durch seine geographische Ausdehnung und Lage, durch seine Bevölkerungszahl von derzeit über 800 Millionen Menschen und sein militärisches Potential nimmt Indien eine herausragende Stellung als südasiatische Regionalmacht ein. Leitbild der von Nehru entworfenen und seither voran-getriebenen non-alignment-Politik Indiens ist es, von außen nicht dominiert zu werden. Nicht Gleichheit der Beziehungen zu anderen Staaten und namentlich Äquidistanz zu den beiden Supermächten ist das Prinzip, sondern die Sicherung der eigenen Unabhängigkeit ist leitender Grundsatz der außenpolitischen Überlegungen der politischen Elite Indiens. Darin knüpft das Land an geistige und politisch-strategische Traditionen der weltpolitischen Betrachtung an, wie sie in der Tiefe der Kultur des Landes gründen
Im Zeichen einer neuen Phase der detente zwischen den Weltmächten wächst die Bedeutung der regionalen Führungsmächte. Zu ihnen zählt Indien, auch wenn die Regierung des Landes immer wieder versichert. Indien habe keinerlei Machtambitionen und sehe sich nicht in der Rolle eines regionalen Polizisten. In den Augen seiner kleineren südasiatischen Nachbarn dagegen erscheint Indien als dominierende, den eigenen Gestaltungsspielraum einschränkende Großmacht. Konziliante Töne der neuen Regierung Singh wurden positiv in den Nachbarländem aufgenommen, aber die strukturellen Unterschiede in Gewicht und Möglichkeiten werden bei allen Ausgleichsbemühungen stets zugunsten von Indiens Führungsrolle in der südasiatischen Region ausfallen, geradezu ausfallen müssen. Mit einer Armee von über einer Million Soldaten, einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben zwischen 1985 und 1988 um fast 90 Prozent sowie mit der sechstgrößten Marine der Welt und mit einer hochqualifizierten, modernen Luftwaffe läßt Indien allerdings auch bei weiter entfernten Anrainerstaaten des Indischen Ozeans neuerdings Fragen nach seinen strategischen Absichten aufkommen
Die Zündung einer Mittelstreckenrakete hat 1989 Erinnerungen an den Atomtest von 1974 wachwerden lassen und die Frage nach den Absichten dieser Aktivitäten gestellt. 28 000 Beschäftigte arbeiten heute in vierzig indischen Rüstungsfirmen. Das Land ist in den zweifelhaften Ruf geraten, der führende Rüstungsimporteur der Welt geworden zu sein. Die Rüstungsausgaben Indiens belaufen sich auf über sieben Milliarden US-Dollar, dreimal so viel wie diejenigen Pakistans (und ein Drittel der Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland). So wird, nicht überraschend, auf den doppelten Widerspruch Indiens hingewiesen: einerseits die anhaltende Spaltung des Landes in einen kleinen, hochmodernen Sektor und die bedrückende Massenarmut mit den damit einhergehenden Infrastruktur-defiziten, die an Winston Churchills Diktum erinnern lassen, wonach ein Land keine Weltmacht sein könne, das nicht in der Lage sei, das Kanalisationssystem seiner Hauptstadt in Ordnung zu halten; andererseits der Grundwiderspruch zwischen der moralisch ambitionierten außenpolitischen Rheto-rik Indiens seit den Tagen des die Gewaltlosigkeit predigenden Mahatma Gandhi und einer Rüstung, wie sie in dem Atomtest 1974 ihren bisherigen Höhepunkt erfuhr. Indien selbst war nie sonderlich um sein diesbezügliches außenpolitisches Ansehen bemüht, sondern verwies stets auf den chinesischen Angriff 1962 sowie auf die insgesamt drei mit Pakistan — erzwungenermaßen — geführten militärischen Auseinandersetzungen seit der Unabhängigkeit 1947 (1947/48, 1965, 1971).
Im Westen wurde Indien vor allem immer wieder seine außen-und sicherheitspolitische Orientierung an der Sowjetunion verübelt, seitdem das Land — als Reaktion auf Pakistans Krieg in Bangladesh und die damaligen massiven amerikanischen Waffenlieferungen an Pakistan — 1971 einen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion schloß. Im Zuge eines erfolgreichen Staatsbesuches von Rajiv Gandhi in den USA 1985 erfolgte eine Neubelebung der wechselseitigen Beziehungen. Doch ebensoswie die indisch-sowjetischen Beziehungen nie unproblematisch waren — so erfuhr Gorbatschow bei seinem Besuch in Delhi 1986 zwar einen freundlichen Empfang, inhaltlich aber eine Absage für seinen Vorschlag einer asiatischen Sicherheitskonferenz nach dem Vorbild der KSZE —, so blieben auch die indisch-amerikanischen Beziehungen nicht ohne Irritationen; gegenseitige Empfindlichkeiten stoßen hier ebenso aneinander wie konkrete Handels-und strategische Interessen. Ausdruck des indischen Selbstverständnisses einer Verhaltensweise im Sinne des non-alignment gibt zum Beispiel eine Zeitungsausgabe vom 4. November 1989: Da wird nebeneinander von der für Anfang 1990 vorgesehenen Lieferung eines zweiten nuklearbetriebenen Unterseebootes durch die Sowjetunion wie vom Verkauf hochmoderner „Doppler" -Radaranlagen durch die USA für die indische Marine berichtet. Das erste Geschäft steht in der Linie der sowjetisch-indischen Militärkooperation, das zweite Geschäft wird als „mark of deepening defence relations between India and the US“ überschrieben. Parallel dazu erscheint auf der gleichen Zeitungsseite ein Statement des designierten neuen US-Botschafters William Clark, wonach eine graduelle politische Vertiefung der indisch-amerikanischen Zusammenarbeit möglich sei, sowie ein bedauernder Kommentar von Senator Edward Kennedy, demzufolge Indien trotz der neuen detente leider noch immer in einigen amerikanischen Zirkeln wegen seiner angeblichen Verflechtungen mit der Sowjetunion beargwöhnt werde
Unabhängig von Indiens Beziehungen zu den beiden Weltmächten erregt immer wieder die Nuklearpolitik des Landes die kritische Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Dies hat direkte Effekte vor allem in bezug auf das Verhältnis des Landes zu Pakistan einerseits und zur Volksrepublik China andererseits Die Formulierung einer indischen Nuklearpolitik begann frühzeitig in den fünfziger Jahren. Kernforschung wurde damals als Schlüssel gesehen, um den Entwicklungszielen des Landes die notwendige Energieversorgung zur Seite zu stellen. Chinesische Erfolge im Nuklear-und Weltraumsektor führten zu Beginn der siebziger Jahre „auf indischer Seite zu vermehrtem Druck auf Delhi in der Frage der Nuklearwaffen-Option“ Trotz erster Anfangserfolge in der Kernforschung wurde es für Indien in den siebziger Jahren indessen schwieriger, Zugang zu nuklearen Technologien zu erhalten. So klaffen nukleare Planung und Wirklichkeit trotz des Atombombentests von 1974 bis heute „teilweise noch immer beträchtlich auseinander“ Indien verfügt derzeit über fünf aktive Forschungsreaktoren. Eine Plutoniumproduktion, die auch militärisch nutzbar gemacht werden kann, ist möglich. Bis Ende 1988 stand Indien — nach amerikanischen Schätzungen — genügend Plutonium 239 für insgesamt 17 bis maximal 57 Nuklearwaffen zur Verfügung Für die neunziger Jahre rechnen Experten damit, daß das indische Mittelstreckenraketensystem einsatzbereit gemacht werden kann. Damit erweitern sich die Optionen Indiens im militärisch-strategischen Bereich erheblich.
In Wechselwirkung mit den indischen Entwicklungen steht die anhaltende Rüstungsausdehnung in Pakistan, das weit stärker auf die USA angewiesen ist als Indien auf die Sowjetunion. Indiens Ziel ist gewiß nicht die Planung aggressiver Maßnahmen, aber doch die eindeutig und durch militärische Optionen gesicherte politische Vormachtrolle in Süd-asien. Solange Indien weiterhin den nuklearen Nichtweiterverbreitungsvertrag ablehnt, läßt es Ungewißheiten und kritische Kalkulationen über seine tatsächlichen oder vermuteten Absichten in der Region und darüber hinaus zumindest fahrlässig zu.
Indien ist fest entschlossen, auch gegenüber potentiellen Druckversuchen von Ländern mit Nuklearwaffen unverwundbar zu werden. Die Möglichkeiten, in Südasien, im Bereich des Indischen Ozeans eine Zone gesicherten, atomwaffenfreien Friedens zu schaffen, sind heute noch sehr vage. Obgleich Indien von keiner einzelnen Macht dieser Region Angriffe, zu erwarten hätte, dehnt das Land hier seine strategischen Projektionen weit aus. Der Hinweis auf potentielle massive Bedrohungen durch China läßt heute nur einen Schluß zu: daß die Ablösung der bipolaren durch eine eher multipolare Struktur der internationalen Beziehungen zwar Globalkonflikte entschärfen oder in Zukunft möglicherweise ganz verhindern kann, daß aber regionale Konflikte und eventuelle Eskalationen von regionalen Kontroversen nicht nur nicht ausgeschlossen sind, sondern sogar noch wahrscheinlicher werden könnten. Indien wird sich in den nächsten Jahren auf seine Fähigkeit zur Selbstbegrenzung hin befragen lassen müssen.
Ob Indien die zugewachsene regionalpolitische Rolle zur allseitigen Befriedigung und Befriedung sowie zum Wohlergehen aller Völker und Staaten in Südasien wird wahrnehmen können, hängt nicht zuletzt in den neunziger Jahren davon ab. ob Indien seinem außenpolitischen Profil eine sichere Grundlage in seiner inneren Stabilität geben kann. Die Akzente, die die neue Regierung unter Ministerpräsident Singh hier setzen wird, werden gewiß nicht nur in Islamabad oder Peking, sondern auch in allen anderen Nachbarstaaten und schließlich nicht weniger in Mos-kau wie in der westlichen Welt aufmerksam registriert werden