Die laufende Uruguay-Runde des GATT und ihre Bedeutung für die Entwicklungsländer
Siegfried Schultz
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Zusammenfassung
Als Provisorium hat sich das GATT als erstaunlich lebensfähig erwiesen. Allerdings stand seine Leistungsfähigkeit in Zusammenhang mit der Entwicklung des Welthandels. In der Aufschwungphase nach dem Zweiten Weltkrieg fielen die Handelsschranken, und die Rezession dersiebziger Jahre war der Auslöser für die protektionistische Welle. Nachdem die wichtigsten Zölle auf ein Maß geschrumpft sind, das sie als handelspolitische Waffe stumpf macht, äußert sich der neue Protektionismus vor allem in mengenmäßigen Beschränkungen. Nicht-tarifäre Hemmnisse sind ein klarer Verstoß gegen den GATT-Vertrag. Da jedoch insbesondere die stärkeren Welthandelspartnersich ihrer bedienen, kann nur nachlassender ökonomischer Druck oder politischer Konsens zum Abbau führen. Nur wenige Länder sind mit dem Weithandcissystem in seiner jetzigen Form zufrieden, denn die Regeln sind vage formuliert und können oft nicht durchgesetzt werden. Da es dem GATT an exekutiver Macht fehlt, lebt es vom Konsens. Führende Handelsnationen beeinflussen heute ihren Außenhandel auch mit Blick auf die interne Beschäftigungslage. In dieser Situation sind multilaterale Verhandlungen über die künftige Organisation des Welthandels zwar kein Allheilmittel, können aber den Weg in liberaleres Fahrwasser bereiten helfen. An die laufende Verhandlungsrunde knüpfen sich unterschiedliche Erwartungen der Industrie-und der Entwicklungsländer. Zu den seit längerem ungelösten Problemen zählt der Subventionswettbewerb, vor allem im Agrarsektor. Ebenso umstritten sind die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Schutzklauseln. Relativ neu hingegen sind die Themen des Handels mit Dienstleistungen. Auslandsinvestitionen. Schutz geistigen Eigentums und die Stärkung der Funktionsfähigkeit des GATT durch institutionelle Reformen. Die Halbzeitbilanz der laufenden Uruguay-Runde war alles andere als überzeugend. Zwar sind die Verhandlungen im April 1989 wieder in Gang gekommen und einige kleinere Reformen in die Tat umgesetzt worden. Für die kontrovers diskutierten Themen ist noch kein Durchbruch in Sicht. Zwar werden für einige Sektoren und Teilprobleme Lösungen gefunden werden. Es ist jedoch zu befürchten, daß der Uruguay-Runde durchgreifende Liberalisierungserfolge versagt bleiben.
I. Einleitung
Das GATT ist ein hervorragendes Beispiel eines lebensfähigen Provisoriums. Ohne je einen festen statuarischen Rahmen bekommen zu haben, war dieser Mangel an „formaler Legalität“ in der Phase der wirtschaftlichen Expansion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kein Hindernis, eine wirksame Plattform für den Abbau von Hemmnissen und Diskriminierungen im internationalen Handel zu bilden. Entscheidende Voraussetzungen dafür waren ein günstiges wirtschaftliches Umfeld und der politische Wille der Beteiligten. Freilich hat diese „Medaille“ auch die Kehrseite, daß bei Fehlen vorteilhafter Voraussetzungen GATT-Regeln ignoriert und Handelsschranken außerhalb der vertraglichen Vereinbarungen neu errichtet werden. Dies kennzeichnet die derzeitige Lage, aus der die „Uruguay-Runde“ einen Ausweg bieten soll.
II. Entstehungsgeschichte
Auf Initiative Großbritanniens und der USA sollte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Welthandelsordnung geschaffen werden, um allen Staaten unter gleichen Bedingungen den Zutritt zu Rohstoffen und die Teilnahme am internationalen Handel zu ermöglichen. Ein multilateral auszuhandelndes Vertragswerk mit Regeln für alle Beteiligten sollte zu diesem Ziel führen. Es war geplant, die „International Trade Organisation“ zum institutionellen Träger zu machen. Diese internationale Handelsorganisation hätte im Bereich des Welthandels eine ähnliche Institution werden sollen, wie es die im Rahmen des Bretton-Woods-Abkommens von 1944 geschaffene Weltbank für die Finanzierung des Wiederaufbaus bzw.der Internationale Währungsfonds für die Weltwährungsordnung waren. Die Grundgedanken über die Ziele und Prinzipien der Handelsorganisation wurden in dem Entwurf einer Welthandels-Charta niedergelegt, die — nach diversen Modifikationen — von einer internationalen Konferenz im März 1948 in Havanna unterzeichnet wurde (Havanna-Charta).
Parallel zu den Vorarbeiten der Havanna-Konferenz wurden bereits konkrete Verhandlungen über eine Reduzierung von Zöllen und anderen Handels-hemmnissen geführt. Das Ergebnis dieser Verhandlungen wurde als das „Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen“ (GATT) am 30. Oktober 1947 von 23 Staaten in Genf unterzeichnet und trat am Januar 1948 vorläufig in Kraft. Die Ziele sind in der Präambel des Abkommens festgelegt. Neben dem Abbau von Zöllen und anderen Handelshemmnissen sowie der Beseitigung diskriminierender Eingriffe in die zwischenstaatliche Arbeitsteilung sollen die Handels-und Wirtschaftsbeziehungen der beteiligten Staaten zu einer Erhöhung des Lebensstandards, zur Vollbeschäftigung, zur Erreichung eines hohen und ständig steigenden Niveaus des Realeinkommens und der wirksamen Nachfrage, zur vollen Erschließung der Ressourcen der Welt und der Steigerung der Produktion und des Austausches von Waren beitragen.
Das GATT hatte ursprünglich nur die Aufgabe, die bereits erzielten Handelserleichterungen vertraglich abzusichern und in die Charta der geplanten internationalen Handelsorganisation einzubringen.
Das frühzeitige Verhandeln über materielle Verbesserungen ergab sich daraus, daß die Konsensbildung über tragfähige Prinzipien einer weltweiten Handels-und Wirtschaftsordnung mehr Zeit als vorgesehen in Anspruch nahm und allseits der Wunsch bestand, die aus der Kriegszeit stammenden Handelshemmnisse so schnell wie möglich abzubauen. Ausschlaggebend für das beschleunigte Verfahren war aber der Umstand, daß das amerikanische Angebot aufgrund des damals in den USA geltenden Handelsgesetzes Ende 1947 auslief. Die Form eines Vertrages — und nicht die einer Organisation — wurde gewählt, weil die amerikanische Regierung nur über den Abschluß von Handelsverträgen zu entscheiden ermächtigt war 1).
Die meisten Signatarstaaten der Havanna-Charta hatten vor dem Abschluß der eigenen Ratifizierungsverfahren darauf gewartet, wie die Charta in den USA weiter behandelt wurde. Angesichts der überwiegend ablehnenden Haltung im Kongreß verzichtete Präsident Truman schließlich auf die Vorlage zur Ratifizierung. Damit waren Charta und Handelsorganisation gescheitert. Das GATT, als Vorgriff auf eine umfassende Regelung konzipiert, blieb damit ein Torso ohne eigene Rechtspersönlichkeit. Am juristisch provisorischen Charakter des GATT hat sich bis heute nichts geändert. Es ist ein Handelsabkommen, das auch von den Vertragspartnern nur „vorläufig“ angewendet wird. Das Protokoll über die Anwendung des GATT, das gleichzeitig mit dem Text des Abkommens paraphiert wurde, verpflichtet die Unterzeichner, die GATT-Artikel nur anzuwenden, wenn sie mit innerstaatlichen Regeln vereinbar sind. Geltende nationale Gesetze bleiben also unverändert in Kraft, auch wenn sie mit einzelnen GATT-Bestimmungen kollidieren (,, Großvater“ -Klausel).
De iure ein Handelsabkommen, hat sich das GATT de facto jedoch zu einer Organisation entwickelt: Artikel XXV des Abkommens sieht periodische Zusammenkünfte der Mitgliedsländer — im GATT „Vertragsparteien“ genannt — vor. Dies ist die in aller Regel einmal jährlich tagende Vollversammlung der Mitgliedsländer. Sofern sie gemeinsam handeln, werden sie gemäß der GATT-Konvention als „Vertragsparteien“ bezeichnet. Zwischen den Vollversammlungen tagt in etwa monatlichen Abständen der GATT-Rat („Council of Representatives“), während die laufenden Geschäfte vom Sekretariat mit Sitz in Genf erledigt werden. Zwar hat auch das Sekretariat rechtlich nur einen provisorischen Status, dennoch hat das GATT „praktisch im Laufe der Zeit die Arbeitsformen einer internationalen Organisation angenommen“ Trotz der institutioneilen Schwäche sind vom GATT wesentli-che Anstöße zur Liberalisierung der Weltwirtschaft ausgegangen, und es ist unangefochten das internationale Gremium zur Diskussion der derzeitigen Probleme des grenzüberschreitenden Waren-und Dienstleistungsverkehrs.
Derzeit sind 96 Staaten Vollmitglied des GATT, weitere 28 wenden die GATT-Artikel de facto an. Gut 20 weitere Länder verfolgen die Arbeit des GATT mit Beobachterstatus. Von den Mitglieds-ländern des „Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) gehören Polen, Rumänien, die Tschechosloswakei und Ungarn dem GATT an. Unter den wichtigsten Interessenten für eine Mitgliedschaft sind seit 1986 die Volksrepublik China, Bulgarien und die Sowjetunion. Das Gründungsmitglied China hatte sich Anfang der fünfziger Jahre aus politischen Gründen aus dem GATT zurückgezogen. Da rund 85 Prozent des chinesischen Außenhandels mit GATT-Partnern abgewickelt werden, ist der Wunsch zur Rückkehr verständlich, aber angesichts der gravierenden Unterschiede zwischen dem zentral organisierten Außenhandelssystem und dem marktwirtschaftlichen Grundsystem der GATT-Mitglieder nicht zügig zu verwirklichen.
Ähnliches gilt für Bulgarien und die Sowjetunion. Die Sowjetunion hatte — erfolglos — um die Ein-räumung des Beobachterstatus kurz vor Beginn der Uruguay-Runde nachgesucht. Der Versuch scheiterte an der sofortigen Intervention des US-Vertreters. Diese Position hat sich inzwischen aufgelockert, und es gibt Anzeichen für eine Annäherung der Sowjetunion an das GATT. Dennoch ist für die US-Handelspolitik gegenüber Moskau noch immer das Jackson-Vanik-Amendment bestimmend, das eine wirtschaftliche Kooperation an die Gewährung von humanitären Grundrechten, vor allem eine liberale Auswanderungspolitik, knüpft.
III. Grundsätze des GATT
Unter dem Ziel, den internationalen Handel von — vor allem staatlichen — Behinderungen zu entlasten, sind im Regelfall nur Zölle als Instrument der Außenhandelsregulierung statthaft. Aber auch sie sollen — schrittweise und im gegenseitigen Einvernehmen — reduziert und schließlich beseitigt werden. Sonstige Handelsbeschränkungen sind im Prinzip unzulässig; Ausnahmen sind freilich möglich. Mit den folgenden Grundregeln sind die Weichen für multilateral, also nicht nur zwischen zwei Handelspartnern, ablaufende Handelsbeziehungen gestellt: — Bei der Meistbegünstigung hat jede Vertragspartei allen anderen Unterzeichnern des Abkommens die gleichen Handelsvorteile unverzüglich und bedingungslos einzuräumen, die sie einem einzelnen Land gewährt (Prinzip der Nichtdiskriminierung). Dies gilt unabhängig davon, wie weit die anderen Vertragsparteien mit ihrer Handelsliberalisierung fortgeschritten sind. Das heißt, daß jede Vertragspartei in den Genuß des günstigsten Zollsatzes kommt, den eine Vertragspartei irgendeinem anderen Land bei der Ein-und Ausfuhr eines gleichen Produktes bereits einräumt, es sei denn, eine der zahlreichen Ausnahmeregeln wird geltend gemacht. Die Meistbegünstigung gilt auch für die übrigen, bei der Ein-und Ausfuhr erhobenen Abgaben und Belastungen sowie die dabei anzuwendenden Formalitäten.
Unter bestimmten Voraussetzungen gilt der Grundsatz der Meistbegünstigung nicht für regionale Zusammenschlüsse. So verletzen z. B. die EG und die EFTA mit dem gemeinsamen Außenhandelstarif das Meistbegünstigungsprinzip. Dasselbe gilt für die handelspolitischen Abkommen zwischen den USA und Israel sowie den USA und Kanada. Jedoch erfüllen Zollunionen und Freihandelszonen insofern den Vertragszweck, als der Handel zwischen den teilnehmenden Staaten in besonderem Maße erleichtert wird. Je größer das wirtschaftliche Gewicht derartiger Zusammenschlüsse, desto mehr sind freilich die Interessen Außenstehender berührt. Dafür sind die derzeitigen Reaktionen aus Drittländern auf den sich abzeichnenden Europäischen Binnenmarkt ein deutlicher Beleg. Eine weitere wichtige Ausnahme vom Meistbegünstigungsprinzip ist die Vorzugsbehandlung von Entwicklungsländern. — Soweit Handelshemmnisse nicht beseitigt werden konnten, gilt auch hier das Prinzip der Nicht-diskriminierung unter den Vertragsparteien. Mit anderen Worten, unabhängig davon, wie frei oder wie behindert der Handel mit einem Land vor sich geht, sind zumindest alle in das Vertragswerk eingebundenen Länder gleich zu behandeln.
— Ein weiterer wesentlicher Baustein des GATT-Systems ist die Forderung nach Gleichstellung von Importgütern mit Erzeugnissen aus inländischer Produktion in bezug auf binnenwirtschaftliche Abgaben und Rechtsvorschriften. — Gebot der Marktöffnung'. Mengenmäßige Beschränkungen, Dumping und (Export-) Subventionen, die die Interessen anderer Mitgliedsländer beeinträchtigen, sind zu unterlassen. Lediglich Zölle sind zur Regulierung von Außenhandelsströmen zugelassen; sie sollen harmonisiert und insgesamt gesenkt werden.
Es ist zulässig, vorübergehend die vertraglichen Vereinbarungen auszusetzen — so in Phasen des wirtschaftlichen (Wieder-) Aufbaus, bei kurzfristig existenzgefährdender Bedrohung inländischer Branchen durch ausländische Konkurrenten, zum Schutz nationaler Agrarpolitik oder bei schwerwiegenden Zahlungsbilanzproblemen. Die Möglichkeit, Liberalisierungsschritte im Falle wirtschaftlicher Notlagen wieder aufzuheben, soll die Schwellenangst niedrig halten, sich überhaupt auf die Beseitigung von Handelshindernissen einzulassen. Protektionistische Maßnahmen sind also nicht kategorisch verboten. Aber ihre Anwendung soll kanalisiert werden, und die Ausnahmeregelungen sind unter multilaterale Kontrolle gestellt. Im Verlauf der sechziger und vor allem der siebziger Jahre sind die Ausnahme-regelungen jedoch immer großzügiger interpretiert worden.
Unterschiedliche Auslegung von Absprachen oder gar offener Streit zwischen einzelnen Mitgliedern soll, so die „Philosophie“ des Abkommens, im Wege von Konsultationen beigelegt werden. „Verstößt ein Land gegen das Abkommen und gelingt es in diesen Konsultationen nicht, das betreffende Land zur Rücknahme seiner Regelverletzung oder zum Angebot einer kompensierenden Handelserleichterung zu bewegen, so kann das durch diese Maßnahme geschädigte Partnerland zur Befreiung von einer vertraglichen Verpflichtung gegenüber dem Vertragsbrüchigen Land ermächtigt werden.“
Mit dem GATT wurde zu keiner Zeit angestrebt, etwa im Rahmen eines internationalen Handelsgerichtshofs Urteile zwischen streitenden Parteien zu fällen, sondern materiell einen Ausgleich der Interessen herzustellen — sei es durch anderweitige Zugeständnisse des Regelverletzers, sei es dadurch, daß der beeinträchtigte Partner eine früher gemachte Konzession zurücknehmen kann. Eine derartige „Retorsion“ kann in einer Rücknahme von Zollvergünstigungen, der Nichtanwendung der Meistbegünstigung wie auch der gezielten Einführung von Einfuhrbeschränkungen bestehen. Da es dem GATT an exekutiver Macht mangelt, lebt es vom Konsens.
IV. Multilaterale Verhandlungen und ihre Ergebnisse
Die schrittweise Liberalisierung des Welthandels vollzog sich in einer Reihe von Verhandlungsrunden, deren Hauptgegenstand der Zollabbau war. Nach der ersten Zollsenkungsrunde bereits im Gründungsjahr des GATT folgten bis Mitte der sechziger Jahre fünf weitere Konferenzen dieser Art. Unter den bisherigen Verhandlungsrunden war die Kennedy-Runde (1964— 1967) insofern die erfolgreichste, als es gelang, eine durchschnittliche Zollsenkung von gut 30 Prozent für industrielle Gü-ter auszuhandeln. Starkes Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa sowie eine kräftige Zunahme des Warenaustausches der Haupthandelspartner verstärkten sich gegenseitig. In der Kennedy-Runde vollzog sich der Übergang von der bilateralen zur multilateralen Verhandlungsweise. Zudem sollte nicht mehr über einzelne Tarifpositionen, sondern über eine Reduzierung des gesamten Zollniveaus verhandelt werden. Bei der Fülle der Ausnahmewünsche vom Prinzip einer linearen Zollsenkung blieb dieser Ansatz in der Praxis jedoch schnell stecken.
Die Ergebnisse der Kennedy-Runde konzentrierten sich auf die folgenden Hauptpunkte: — Der Versuch der USA, den Handel mit Agrarprodukten voll in die Verhandlungen einzubeziehen und möglichst weitgehend zu liberalisieren, stieß auf den hinhaltenden Widerstand der EG. In einem Memorandum über die Struktur eines weltweiten Getreideabkommens einigten sich die Zeichnerstaaten auf einige Grundsätze im internationalen Getreidehandel — Die Problematik der nicht-tarifären Handels-hemmnisse wurden angesprochen, ohne daß es jedoch zu substantiellen Verhandlungen gekommen wäre. — Die Sonderbehandlung der Entwicklungsländer wurde 1966 in einem ergänzenden Teil IV („Handel und Entwicklung“) des GATT-Abkommens festgeschrieben. Dabei wird in modifizierter Form der bereits in der Havanna-Charta enthaltene Gedanke aufgegriffen, Präferenzabkommen zugunsten der Dritten Welt abzuschließen, also den Produkten von wirtschaftlich rückständigen Ländern auf den . Märkten des „Nordens“ einen besseren Zugang zu verschaffen.
Bei der Abwicklung des Außenhandels der Industrieländer mit den Entwicklungsländern wird beabsichtigt, über den gezielten Abbau von Handels-schranken bzw. durch die Gewährung von Zollpräferenzen insbesondere den Export von Halb-und Fertigwaren aus der Dritten Welt zu fördern. Industrieländer sollten bei ihren Zugeständnissen an Entwicklungsländer nur dann Gegenleistungen verlangen dürfen, wenn diese mit dem jeweiligen Entwicklungsstand des Partnerlandes vereinbar sind So gibt es seitdem unter anderem die folgenden Ausnahmebestimmungen für Entwicklungsländer: 1. Freistellung vom Prinzip der Meistbegünstigung, 2. eine großzügige Auslegung des zulässigen Importschutzes unter dem Stichwort „Erziehungszoll" und in Fällen einer kritischen Zahlungsbilanzsituation sowie 3. Verzicht auf gleichwertige Zugeständnisse im Rahmen von multilateraler Handelsliberalisierung (keine „Reziprozität“).
Die damals neu aufgenommenen Artikel des Abkommens sind vergleichsweise unverbindlich formuliert. Die Diktion in einigen Passagen läßt — zwei Jahre nach der ersten UNCTAD-Vollversammlung — „das Bemühen des GATT erkennen, den Anspruch zur Wahrnehmung auch der Interessen von Entwicklungsländern nicht völlig an die UNCTAD zu verlieren“ Insgesamt hat diese Ergänzung des Abkommens der Zielgruppe der Entwicklungsländer keine durchschlagenden Vorteile gebracht; die in einzelnen Vertragsartikeln festgeschriebenen „Sonderrechte“ gehen nicht wesentlich über das hinaus, was auch Nichtmitgliedern de facto zugestanden wurde
Die Tokio-Runde (1973— 1979) stand bereits im Zeichen der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse nach der ersten Ölpreiskrise. Weiteres weltwirtschaftliches Spannungspotential hatte sich aufgebaut durch die EG-Erweiterung zur Neuner-Gemeinschaft, neue Ausformungen des Protektionismus und eine Exportwelle japanischer Produkte. Erneut konnte jedoch eine weitere Reduzierung der Zölle für gewerbliche Produkte erreicht werden, und zwar um durchschnittlich rund ein Drittel, verteilt über acht Jahre. Die Zollsenkungen für Produkte, an denen vor allem Entwicklungsländer ein Exportinteresse haben, fielen allerdings deutlich geringer aus. Dies gilt vor allem für die unterdurchschnittlichen Ergebnisse für Textilien, Eisen und Stahl sowie verarbeitete landwirtschaftliche Erzeugnisse. Die praktischen Folgen der Nicht-Reziprozität, der wichtigsten Neuerung in Teil IV des Abkommens, waren insofern alles andere als befriedigend
Die Tokio-Runde unterschied sich jedoch von ihren Vorgängern in bezug auf die Belange der Entwicklungsländer in zwei wesentlichen Punkten. So wurde das Ziel der Diversifizierung der Ausfuhr und der Steigerung der Exporterlöse ausdrücklich anerkannt. Dazu gehört die Verbesserung der Zugangsbedingungen zu den Märkten der Industrieländer. In der Tokio-Erklärung wurde sogar eine bessere Verteilung der aus der Handelsexpansion erwachsenden Vorteile zwischen Entwicklungsund Industrieländern angesprochen Überdies wurde eine rechtliche Basis für die Sonderbehandlung der Entwicklungsländer im internationalen Handel geschaffen. Seither legitimiert die soge-nannte Enabling Clause (1979) Ausnahmen vom Meistbegünstigungsgebot insofern, als Entwicklungsländer günstiger behandelt werden dürfen, ohne daß — wie zuvor — jeweils eine Ausnahmegenehmigung („waiver“) gewährt werden muß. Andererseits sollen sich Entwicklungsländer nach dem Grundsatz der Graduierung mit fortschreitender Industrialisierung und Verbesserung ihrer Außenhandeisverhältnisse wieder den allgemeinen GATT-Regeln ohne Vorzugsbehandlung unterwer-fen. Die „Enabling Clause“ findet seither im einzelnen Anwendung auf — die präferentielle Zollbehandlung seitens der Industrieländer für Waren aus Entwicklungsländern, — die differenzierende, d. h. großzügigere Behandlung der Dritten Welt bei nicht-tarifären Handelshemmnissen, — die gezielte Vorzugsbehandlung der ärmsten gegenüber den anderen Entwicklungsländern und — die regionalen und überregionalen Integrationsund Freihandelsräume von Entwicklungsländern.
V. Die Situation nach der Tokio-Runde
Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen gibt es im GATT bislang keine feste Gruppierung als Interessenvertretung der Dritten Welt. Unter den Entwicklungsländern überwiegt jedoch die Einschätzung des GATT als „rieh man’s club“. Während früherer Verhandlungsrunden gab es keine großen Erwartungen in bezug auf positive Verhandlungsergebnisse, solange der Genuß von Präferenzen sowie die Besserstellung in bezug auf handelspolitische Verpflichtungen gewährleistet waren.
Die Vorteile dieser positiven Sonderbehandlung begannen jedoch nach der Tokio-Runde zu schrumpfen, weil das Ausmaß der zollmäßigen Vorzugsbehandlung nach dem allgemeinen Präferenz-system bei Zollsenkungen auf Meistbegünstigungsbasis kleiner wurde sowie durch — von Industrie-ländern eingeführte bzw. in Anspruch genommene — Ausnahmen und Schutzklauseln ausgehöhlt wurde.
Einigkeit herrscht darüber, daß es Entwicklungsländern gestattet ist protektionistische Handels-maßnahmen (beispielsweise für junge Industrien oder für die gezielte Förderung der eigenen Entwicklung) zu ergreifen. Entwicklungsländer werden in bezug auf die formalen Regeln weniger streng behandelt als die Industriestaaten. So ist im GATT-Text festgelegt, daß ein Entwicklungsland Konsultationen mit den Vertragsparteien über handelsbeschränkende Maßnahmen, die mit Blick auf Zahlungsbilanzprobleme ergriffen werden, nur alle zwei Jahre abhalten muß. Von Industrieländern, die sich auf ähnliche Restriktionen berufen, wird jährliche Berichterstattung erwartet. Die Konsultationen mit Entwicklungsländern können zudem nach einem vereinfachten Verfahren stattfinden. Ähnlich ist Entwicklungsländern stärker als Industrieländern eine Subventionierung von Fertigwarenexporten gestattet. Nach Teil IV des Vertragstextes sollen die Industrieländer die Interessen von Entwicklungsländern beeinträchtigenden Handels-hemmnisse möglichst abbauen und keine neuen ergreifen.
Dissens besteht eher in bezug auf die Anwendung und die Auswirkung einzelner Regelungen. Zwar hat eine Reihe von Entwicklungsländern von den Präferenzen und der Reduzierung von Handels-schranken in wichtigen Einfuhrbereichen, etwa bei tropischen Produkten, im allgemeinen profitiert. Aber in anderen Sektoren stellen die Handelsbarrieren für diese Länder weiterhin eine starke Behinderung dar: Importzölle auf einige Entwicklungsländerexporte, wie verarbeitete landwirtschaftliche Produkte, Textilien und Bekleidung, sind in Industrieländern oft höher als deren Durchschnittszoll auf Fertigwaren. Zudem betreffen die nicht-tarifären Hemmnisse, die im Rahmen des Multifaserabkommens sanktioniert wurden, hauptsächlich Ausfuhren der Dritten Welt.
Nach der Tokio-Runde bestimmten im wesentlichen die ungelösten handelspolitischen Konflikte zwischen Industrie-und Entwicklungsländern die Themen der Zusammenarbeit in den GATT-Gremien Eine Konsultativgruppe, in der auch Entwicklungsländer wie Pakistan, Argentinien, Brasilien und Indien vertreten waren, legte Mitte 1981 einen Bericht vor, in dem Vorschläge erörtert wur-den, wie die Liberalisierungsimpulse der Tokio-Runde gesichert werden könnten und wie der GATT-Rahmen den veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen und Problemsituationen besser Rechnung tragen könnte. Von der Wachstums-schwäche in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre waren vor allem Westeuropa und die USA betroffen. Auf vielfältige Weise reagierten die Regierungen dieser Länder in verstärktem Maße auf das niemals ganz abgeklungene Schutzbegehren der Industrie in besonders gefährdeten Wirtschaftszweigen. Da in der Tokio-Runde das Niveau der Zölle deutlich gesenkt worden war, artikulierte sich der neue Protektionismus „nicht-tarifär", und zwar vor allem im Agrar-, Textil-und High Tech-Bereich im Wege sogenannter Selbstbeschränkungsabkommen. Er richtete sich vor allem gegen exportstarke Entwicklungsländer und gegen Japan. Damit wurden diese Länder im Verhältnis zu dem Liberalitätsgrad, den die westeuropäischen Länder untereinander, aber auch im Handel mit den USA erreicht hatten — und im wesentlichen beibehielten —, diskriminiert.
Der Bericht betonte — insbesondere vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Ottawa und der Wiederaufnahme des Nord-Süd-Dialogs in Mexiko — die zentrale Rolle des GATT als globales Regelwerk für die internationalen Handelsbeziehungen; Kernpunkt der Vorschläge war eine Ministerkonferenz, in der ein Gesamtkonzept für die achtziger und neunziger Jahre entwickelt werden sollte. Eine unzureichende Vorbereitung des Programms, insbesondere die ungenügende Präzisierung der Diskussionsthemen spiegelte deutlich den auch unter den Industrieländern bestehenden Gegensatz zwischen der Vorliebe für offene Märkte und den verstärkten Tendenzen zur handelspolitischen Reglementierung wider, den die Tokio-Runde nicht hatte lösen können.
Die Ergebnisse des GATT-Ministertreffens im November 1982 waren enttäuschend. Der Versuch der USA, die EG zum Abbau der Subventionierung der Agrarproduktion und des -exports zu bewegen, scheiterte. Hinsichtlich des Verzichts auf neue Handelshemmnisse beschränkte sich die Abschlußerklärung auf die Empfehlung, Maßnahmen zu unterlassen, die mit den GATT-Regeln nicht vereinbar sind. Der US-Vorstoß zugunsten von Verhandlungen über Dienstleistungen, Investitionen und Technologie lief wegen des Widerstands vieler Entwicklungsländer, aber auch der EG, die offensichtlich ihre diesbezügliche Position erst noch bestimmen mußte, ins Leere. Obwohl die Nord-Süd-Thematik ausdrücklich auf die Tagesordnung gesetzt worden war, blieben aus der Sicht der Dritten Welt die Ergebnisse unbefriedigend. Das GATT wurde mehr denn je als ein den Interessen und Problemen der Entwicklungsländer nicht angemessener Rahmen angesehen.
Die Zusammenarbeit in der Konsultationsgruppe zur Vorbereitung eines neuen Ministertreffens gestaltete sich schwierig. Die Entwicklungsländer bestanden in den Sondierungsgesprächen darauf, sich vorrangig mit jenen Bereichen zu befassen, bei denen sie ein wesentliches Interesse hatten und die hinreichend vorbereitet worden waren. Dabei handelte es sich um den Agrarbereich, tropische Produkte und Textilien sowie um das Instrument der mengenmäßigen Beschränkungen. Stark gegensätzliche Positionen gab es nach wie vor für den Bereich der Dienstleistungen. Während einige Entwicklungsländer, die ein Exportinteresse in diesem Sek-j tor haben (z. B. Hongkong, Singapur), an informellen Konsultationen teilgenommen hatten, widersetzten sich unter den leistungsfähigen Anbietern der Dritten Welt vor allem Brasilien und Indien der Zuständigkeit des GATT für die Erörterung der Dienstleistungsproblematik. Unter den Industrieländern forderte neben den USA auch Japan die Einbeziehung von Dienstleistungen in künftige Verhandlungen. Die EG hielt sich in dieser Frage zurück; sie drängte auf generell mehr Reziprozität in der handelspolitischen Auseinandersetzung zwischen Nord und Süd.
Ein 1984 auf Initiative des brasilianischen Finanzministers zustande gekommenes Treffen der Handelsminister in Rio de Janeiro'befaßte sich in erster Linie mit grundsätzlichen Aspekten der internationalen Handelspolitik, soweit sie aus der Perspektive der Entwicklungsländer besondere Bedeutung hatten: den Zusammenhang von Handels-und Schuldenproblematik und die Überwindung des Neuen Protektionismus in den Industrieländern. Das Ergebnis dieses Ministertreffens, auf dem insgesamt etwa 90 Prozent des Welthandels vertreten waren und an dem seitens der Entwicklungsländer außer Brasilien auch Mexiko, Indien, die Philippinen, Korea und Argentinien teilnahmen, blieb allgemein und ohne Verbindlichkeit.
Auf den anschließenden Routinetagungen des GATT stießen die kontroversen Positionen erneut aufeinander, wobei insbesondere die USA zu einer Zielscheibe von Angriffen der Vertreter der Dritten Welt wurden. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen stellten die USA ihren Beitrag zum Haushalt des GATT in Frage und drohten zeitweilig mit ihrem Rückzug aus dem Abkommen. Die Entwicklungsländer verwiesen auf unerfüllte Verpflichtungen der Industrieländer aus der Tokio-Runde und machten ihre Zustimmung zu einer neuen Runde insbesondere davon abhängig, daß die Industrieländer sich stärker an früher eingegangene Verpflichtungen hielten, das 1982 beschlossene Arbeitsprogramm erfüllten und in einer nächsten Verhandlungsrunde der Öffnung der eigenen Märkte für die Produkte der Dritten Welt den Vorrang einräumten. Mitte 1985 gab es verschiedene Stellungnahmen aus dem Kreis der Entwicklungsländer. Während die ASEAN-Staaten und Südkorea die Dringlichkeit einer effektiven Handelsliberalisierung betonten, nannte eine gemeinsame Stellungnahme von 23 Entwicklungsländern unter Federführung der Schwellenländer eine Reihe von Voraussetzungen für die Zustimmung zu einer neuen Handelsrunde: Erfüllung der Verpflichtungen der Industrieländer aus der Tokio-Runde, Ausklammerung der Dienstleistungen, Einbeziehung des nach dem Multifaserabkommen restriktiv geregelten Handels mit Textilien und Bekleidung in das GATT-System, größere Konsequenz bei Subventionen und Schutzklauseln im Sinne der GATT-Vereinbarungen, Liberalisierung bei tropischen Produkten und Abbau von nicht-tarifären Handelshemmnissen gegenüber Entwicklungsländern. Der harte Kern der Ablehnung formierte sich in der sogenannten „Zehnergruppe“ Vor dem Eingehen neuer Verpflichtungen sollten zuerst alte eingelöst und die — entgegen allen Zusicherungen — von Industrieländern neu eingeführten (GATT-regelwidrigen) Schutzmaßnahmen beseitigt werden. Es müsse gewährleistet sein, daß Verpflichtungen für alle Parteien verbindlich seien und nicht nur dort beachtet würden, wo es im Interesse der Industrieländer läge. Zudem stand das Interesse an einer Behandlung der akuten Probleme der Verschuldung und an Verhandlungen über eine stärkere externe Unterstützung der Entwicklung im Vordergrund — sei es im Wege spürbar verbesserter Exportchancen, verstärkter kommerzieller Kreditgewährung oder großzügigerer Kapitalhilfe. Die Wortführer Brasilien und Indien stützten ihre Ablehnung auf die Überzeugung, daß die OECD-Länder sich zu keiner nennenswerten Liberalisierung des Handels in jenen Sektoren bereitfinden würden, in denen Entwicklungsländer komparative Vorteile haben (etwa bei Textilien und Massenstahl).
Die skeptische Haltung der Mehrheit der Entwicklungsländer und der amerikanische Vorstoß, einen formellen Beschluß der Vertragsparteien zur Eröffnung einer weiteren Verhandlungsrunde herbeizuführen, verschärfte die handelspolitischen Spannungen. Sie waren Ausdruck tieferliegender Interessenkonflikte. Während die USA neue, für sie re-levante Themen behandelt sehen wollte, hegte eine Reihe von Entwicklungsländern die Befürchtung, bei einer Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs zwar wichtige Inputs kostengünstiger als aus eigener Produktion zu erhalten, aber gleichzeitig — in als wirtschaftlich und politisch wichtig eingestuften Branchen — unter den Einfluß von Unternehmen aus Industrieländern zu geraten und im Warenverkehr nicht den für eine Lösung der Verschuldungs-und Entwicklungsprobleme notwendigen Zugang zu den Industrieländermärkten zu erhalten. Umgekehrt verfolgten die Industrieländer mit einiger Besorgnis, wie distanziert sich die Mehrzahl der Entwicklungsländer gegenüber dem GATT verhielt und wie sehr selbst die Schwellenländer sich zierten, eine gewisse Konzessionsbereitschaft zu signalisieren. Aber auch Streitpunkte der Industrieländer untereinander, wie etwa die diametral entgegengesetzten Positionen der USA und der EG im Bereich des Agrarhandels, waren wichtige Stolpersteine auf dem Weg zu neuen weltweiten Handelsgesprächen.
Nachdem verschiedene Kompromißmöglichkeiten ausgelotet worden waren — hier taten sich insbesondere mittlere und kleinere Länder hervor —, überwog bei der Mehrzahl der Kontrahenten doch das Interesse an der Aufrechterhaltung und Sicherung eines möglichst freien internationalen Handelsverkehrs. Insgesamt vergingen nahezu vier Jahre, ehe über die Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde Konsens hergestellt werden konnte. Der Durchbruch gelang, nachdem 14 Länder mit nennenswertem Agrarhandel (CairnsGruppe) eine Einigungsformel gefunden hatten und kontroverse Themen wenigstens soweit andiskutiert werden konnten, daß Übereinstimmung erzielt wurde, sie auf die Tagesordnung zu setzen. Der Interessenkonflikt bei den Dienstleistungen konnte durch den verfahrenstechnischen Trick überbrückt werden, daß über diesen Themenkomplex zwar parallel, aber nicht in dem etablierten GATT-Rahmen verhandelt wurde. Über das die Interessen vieler Entwicklungsländer berührende Multifaserabkommen — es war in verschärfter Form noch kurz vor Konferenzbeginn für weitere fünf Jahre fortgeschricben worden — sollte ebenfalls verhandelt werden mit dem Ziel, exzessive Handelshemmnisse wieder abzubauen und die verbleibenden Beschränkungen unter das GATT-Dach zurückzubringen.
VI. Die Uruguay-Runde: Ungelöste alte Probleme und neue Themen
Die gegenwärtig wichtigsten protektionistischen Instrumente sind nicht-tarifäre Handelshemmnisse, während der Protektionismus alter Prägung versuchte, die ausländische Konkurrenz vor allem durch Zölle, in geringerem Maße durch Kontingente oder Einfuhrverbote einzudämmen. Mit Devisenbewirtschaftung konnte dieses Arsenal flankiert werden. Die im Rahmen früherer Verhandlungsrunden getroffenen Vereinbarungen haben die Wirksamkeit des Zollschutzes entschärft. So sind die Zölle der Industrieländer auf ein Maß geschrumpft, das sie als handelspolitische Waffe stumpf macht. Die wichtigsten Senkungen betrafen Fertigwaren, die meisten Primärerzeugnisse waren schon vorher zollfrei oder hatten nur geringe Zoll-sätze.
Im Zuge des wieder verschärften Schutzes der inländischen Wirtschaft ist der Neue Protektionismus vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er in mehrfacher Hinsicht selektiv ist: Bei vordergründigem Bekenntnis zu einem multilateralen Welthandel richten sich die Eingriffe gegen einzelne starke Konkurrenten; der Rückfall in den Bilateralismus vollzieht sich in einzelnen Sektoren und auf bestimmten Märkten. Außerdem haben als „temporär“ eingeführte Maßnahmen sich zu dauerhaft eingesetzten Instrumenten entwickelt. Textilien und Bekleidung waren bereits in den fünfziger Jahren Gegenstand dieses Schutzes. Seit 1977 ist eine Reihe weiterer Produkte hinzugekommen. Zu ihnen zählen vor allem Stahl, Elektronikartikel und Personenkraftwagen.
Die wichtigsten mengenmäßigen Beschränkungen kleiden sich in folgende Formen — „Freiwillige“ Exportbeschränkungen laufen in der Regel auf bilateral verabredete Minderlieferungen des Exporteurs hinaus. Die Abkommen sind formelle oder informelle Vereinbarungen, in denen ein exportierendes Land — meist auf Verlangen des Abnehmers — einwilligt, mit seinen Liefermengen unter dem bisherigen Niveau zu bleiben. Die Zustimmung wird erleichtert durch anfängliche Befristung der Maßnahme. Die sogenannte Selbstbeschränkung ist in aller Regel eine „Flucht nach vorn“ zur Abwehr einseitiger — und wahrscheinlich stärker einschneidender — Aktionen von Seiten des Importlandes. Die Akteure können auf beiden Seiten sowohl einzelne Unternehmen als auch Regierungen sein. Die Liefermengen werden vom Importland überwacht, während die Durchsetzung der Absprache — einschließlich der eventuellen Quotierung unter den Lieferfirmen — dem Lieferland obliegt. — Bei den „Orderly Marketing Arrangements“ ist das staatliche Engagement kennzeichnend. Damit suchten namentlich die USA industriell aufstrebende asiatische Länder zu Lieferrestriktionen zu nötigen. Im Grunde ist die Unterscheidung von der „freiwilligen" Beschränkung sachlich unerheblich; sie wird im wesentlichen von inneramerikanischen Regeln bestimmt: „marketing arrangements" werden im US-Bundesanzeiger veröffentlicht, die Beschränkungsabkommen bleiben im Dunkeln. — Organisierter Freihandel ist — von dem sprachlichen Widersinn abgesehen — ein Sammelbegriff für die zum Teil weltweite Quotierung von Märkten. Dabei sollen durch eine Reihe bilateraler Marktregelungen Lösungen für strukturell krisen-empfindliche Produkte gefunden werden. Dieses Ordnungsprinzip kommt manchen der von Entwicklungsländern vorgeschlagenen Ideen zur Ausgestaltung der Neuen Weltwirtschaftsordnung nahe, wird aber in Krisenzeiten in einigen Industrieländern durchaus nicht als systemfremdes Element empfunden.
Nicht-tarifäre Hemmnisse sind ein klarer Verstoß gegen Geist und Buchstaben des GATT-Vertrages. Da insbesondere die stärkeren Welthandelspartner sich ihrer bedienen, wird nur nachlassender ökonomischer Druck oder politischer Konsens im Sinne einer gemeinsamen Anstrengung zum Erfolg führen. Die Tokio-Runde hat mit ihren Kodizes in diesem Punkt nur bescheidene Ergebnisse gebracht. Daher drängen vor allem angebotsstärkere Entwicklungsländer darauf, daß keine neuen GATT-widrigen Protektionsmaßnahmen ergriffen werden („stand still“) und bestehende nicht GATT-konforme Protektionismen schrittweise nach einem festzulegenden Plan wieder abzubauen sind („roll back“) (s. Abbildung auf folgender Seite).
Der Agrarhandel war und ist einer der am stärksten umstrittenen Bereiche. Formal in das GATT-System integriert, gibt es für den Agrarsektor eine Reihe von Ausnahmeregelungen, die ihn de facto zu einem Sonderfall machen. Neben unter bestimmten Bedingungen zulässigen Importbeschränkungen und Exportsubventionen gibt es einen großen Bereich der Grauzone, der nicht ausdrücklich geregelt ist; hierzu ist insbesondere das EG-System der variablen Abschöpfung zu rechnen, des-sen GATT-Konformität nach wie vor umstritten ist, oder „freiwillige“ Export-Selbstbeschränkungsabkommen, die vor allem von den wirtschaftlich starken Staaten ihren Lieferanten nahegelegt werden.
In praktisch allen Industrieländern ist der Agrarsektor staatlich reguliert. Spielte früher die Versorgungssicherung eine Rolle, so steht heute die Preis-und Einkommenspolitik für landwirtschaftliche Erzeuger im Vordergrund. Aber auch die Bekämpfung des Nahrungsmitteldefizits in Entwicklungsländern wird als Motiv genannt. Kern des Problems sind Importquoten und Produktionssubventionen. Das überhöhte Niveau landwirtschaftlicher Erzeugerpreise führt zur Überkapazität und Überschußproduktion, die auf den ausländischen Markt drängt. Da die Exportgüter dort überteuert sind, ist der Absatz nur über Subventionen möglich. Vergeltungsmaßnahmen sind allein eine Frage der Zeit. Die Länge und Intensität der Auseinandersetzungen zwischen den USA und der EG sind ein Beleg dafür. „Die Instrumentarisierung der Handelspolitik im Sinne binnenwirtschaftlicher oder innenpolitischer Zielsetzungen ist in kaum einem anderen Bereich so deutlich geworden wie im Agrarbereich.“
Abgesehen von den Preisverzerrungen und den Kosten für die Verbraucher auf den geschützten Märkten hat der Agrarprotektionismus den kleineren Anbietern der westlichen Welt (Kanada, Australien etc.) sowie den Entwicklungsländern geschadet. Nachdem in der Eröffnungsdeklaration von Punta del Este beschlossen wurde, die produktionsabhängigen Subventionen und die damit verursachten strukturellen Überschüsse einzudämmen, richten sich die Verhandlungen darauf, zu klären, inwieweit Regierungsinterventionen zurückgenommen und die Bestimmung der produzierten und gehandelten Mengen dem Markt überlassen werden sollen. Sowohl die USA als auch die „Cairns-Gruppe“ favorisieren die vollständige Beseitigung von Zöllen und nicht-tarifären Maßnahmen im Rahmen eines Stufenpro-gramms Die EG möchte, bei gemeinsamem Vorgehen, die Exporte ausgewählter Erzeugnisse verringern, während Japan und einige EFTA-Länder bereit sind, einseitig durch Produktionseinschränkung Exportüberschüsse zu vermeiden und ihre Märkte in begrenztem Umfang zu öffnen.
Auch Subventionen sind ein zentrales Thema. Sie waren Gegenstand einer Reihe von Streitfällen, vor allem auch im Agrarsektor. Die GATT-Regeln gestatten lediglich im Agrarbereich sowohl Entwicklungs-wie auch Industrieländern Subventionen, freilich nur unter bestimmten Voraussetzungen. Es waren in erster Linie die USA, die im Hinblick auf die EG-Agrarpolitik die Aufnahme des Subventionsthemas in das Arbeitsprogramm der Uruguay-Runde betrieben hatten. Aber auch vitale Interessen leistungsfähiger Anbieter von Agrarprodukten und Verarbeitungserzeugnissen aus der Dritten Welt standen auf dem Spiel. Die Forderung der Entwicklungsländer lief darauf hinaus, bestimmte Bereiche — darunter auch den Agrarhandel — mit Vorrang zu verhandeln und sozusagen auf einer „Überholspur“ (fast track) an den übrigen Themen vorbei zu führen. Für einen radikalen Abbau aller Agrarsubventionen wurde auf einem Symposium von OECD und Weltbank im Oktober 1989 plädiert. Dies würde, so die Kernaussage, den meisten Entwicklungsländern und dem Großteil der Industrieländer erhebliche Vorteile bringen.
Das Subventionsproblem ist unter anderem deshalb so schwierig zu lösen, weil nur schwer festzulegen ist, welche Intervention zu unfairen Wettbewerbs-bedingungen führt Nicht zuletzt deshalb war dem Kodex über Subventionen und Ausgleichs-maßnahmen der Tokio-Runde so wenig Erfolg beschieden: Es gibt keine allseits akzeptierte Definition einer Subvention. Gäbe es sie, könnte die Wirkung auf das Handelsvolumen nicht hinreichend bestimmt werden. Selbst wenn über den Schaden eines Handelspartners Einigung wäre, erzielt würde sich die Frage auf eine geeignete Methode zur Bestimmung der Höhe der Kompensation konzentrieren. Und schließlich hängt die Wirksamkeit eines Kodex davon ab, wieviel Staaten sich zum Beitritt bereitfinden.
Ein „Dauerbrenner“ auf der Tagesordnung internationaler Handelsgespräche ist das Thema der Schutzklauseln. Zwar läßt der GATT-Vertrag zu, im Falle eines massiven, plötzlichen Importdrucks Notmaßnahmen zu ergreifen. Sie müssen dann allerdings gegenüber allen Anbietern dieses Produkts gelten und ziehen im übrigen die Pflicht zu einer gewissen Kompensation der verhinderten Exporteure nach sich. Angesichts dieser Auflagen haben sich die Industrieländer jedoch entschlossen, das im Zuge der durchgreifenden strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft stärker gewordene Angebot aus konkurrenzfähigen Entwicklungsländern mit anderen Instrumenten abzuwehren. Das diskriminierend wirkende Multifaserabkommen, aber auch z. B. die informellen Produzentenabkommen im Stahlsektor, sind beredte Beispiele für diese Tendenz. Dadurch werden vor allem Länder der Dritten Welt getroffen. Die Entwicklungsländer bekämpfen daher die „freiwilligen“ Übereinkommen mit Langfristwirkung und möchten auf das Regelwerk des GATT zurückkommen. Anderenfalls würden die Praktiken des „managed trade“ sich noch stärker durchsetzen.
Die skeptischen Stimmen zur Aufnahme neuer Themen in die Agenda kamen aus der Dritten Welt: die Befürchtung wurde laut, daß diese den Fortschritt bei der Lösung alter Probleme beeinträchtigen könnten Die Industrieländer, allen voran die USA, vertraten dagegen die Überzeugung, daß die sich verändernden Strukturen des Welthandels auch die Einbeziehung neuer Aspekte unerläßlich machten. Der Kompromiß bestand darin, parallele Verhandlungen über Waren und Dienstleistungen zu eröffnen: Während die anwesenden Minister in ihrer Funktion als Vertreter der GATT-Vertragsparteien die Verhandlungen über den Warenverkehr einleiteten, wurde der Beschluß zum Thema Dienstleistungen durch die Minister in ihrer Funktion als Ressortchefs für Wirtschaft bzw. Handel herbeigeführt.
Unter den kontrovers diskutierten Themen steht der internationale Handel mit Dienstleistungen im Vordergrund. Die Verhandlungen waren zu Beginn im wesentlichen auf die Bereiche Definitionen und statistische Erfassung beschränkt. Die fehlende begriffliche Klarheit über den Verhandlungsgegenstand erklärt sich aus den heterogenen Teilbereichen des Dienstleistungssektors, wie z. B. Bankwesen, Versicherungen, Verkehr, Ingenieurleistungen. Telekommunikation, grenzüberschreitender Datenaustausch und Tourismus. Zu einem beträchtlichen Teil handelt es sich dabei um Leistungen, die nur zusammen mit — im GATT nicht geregelten — Investitionen zu erbringen sind und insofern nicht erfolgreich getrennt verhandelt werden können. Starke Bezüge zu Waren bestehen dort, wo diese nur eng verbunden mit der Bereitstellung von Diensten hergestellt werden können, soge-nannten compacks („complex packages“).
In der Debatte über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Waren-und dem Dienstlei-stungshandel haben sich folgende Punkte herauskristallisiert — Die Instrumente des Schutzes unterscheiden sich für Waren und Dienstleistungen, denn es gibt für Dienstleistungen keine Zölle oder sonstige Beschränkungen, die an den Tatbestand des Grenzübertritts anknüpfen. Statt dessen spielt sich der Schutz in Form eines eingeschränkten Niederlassungsrechts für ausländische Anbieter und/oder in Form von diskriminierenden Verwaltungserlassen bzw. sonstigen Vorschriften ab. — Das Engagement der öffentlichen Hand in bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen und deren internationalen Austausch ist in diesem Sektor größer als im Warenbereich (Beschäftigungspolitik, Zahlungsbilanzerwägungen, „infant industry“ -Po! itik, Verbraucherschutz, nationale Sicherheit, Wahrung sozialer und kultureller Eigenheiten). — Dienstleistungen sind nicht lagerfähig. Die gleichzeitige Anwesenheit von Erzeuger und Konsument ist erforderlich. Hierzu gibt es diverse Ausnahmen, die mit der Ausbreitung moderner Technologie — insbesondere der Telekommunikation — rasch zunehmen.
Schwierig sind die Verhandlungen im Bereich der Dienstleistungen aus folgenden Gründen: Der Markt international gehandelter Dienstleistungen ist ein Bereich mit ausgeprägt dynamischer Entwicklung. Beschränkungen in diesem Sektor müssen sich auf den gesamten Außenhandel auswirken. Zudem sind Dienstleistungen in Entwicklungsländern ein politisch hoch sensibler Teil der Wirtschaft. Dem Aufbau eigener Dienstleistungsbranchen wird strategische Bedeutung zugemessen. Sollte sich überdies, wie zu vermuten, der weltwirtschaftliche Strukturwandel weiter in der Weise vollziehen, daß das Verarbeitende Gewerbe in Industrieländern zugunsten des tertiären Sektors schrumpft, würden die Entwicklungsländer zwar gern die sich für sie vergrößernden Marktchancen in diesem Sektor wahmehmen, müssen aber feststellen, daß die protektionistischen Maßnahmen gegenüber ihren Exporten eher zunehmen. Zudem möchten sie nicht von der Expansion im Dienstleistungsbereich abgekoppelt sein. Dies hieße, die traditionelle Form internationaler Arbeitsteilung fort-zuschreiben und die Abhängigkeit von Industrie-ländern aufrechtzuerhalten. Im Verhandlungskontext besteht daher aus der Sicht der Entwicklungsländer die Gefahr, Konzessionen im Bereich von Dienstleistungen mit besserem Marktzugang für ihre Industrieerzeugnisse verknüpft zu sehen („neue Reziprozität“ d. h. sie fürchten, einen Preis zahlen zu müssen für eine Gegenleistung der Industrieländer, die diese ihnen aus früherer Zeit schulden. Außerdem geht es den Entwicklungsländern darum, ein Abkommen zu erzielen, das auch Arbeitskräftemobilität einschließt. Inwieweit hier die Diskussionsbereitschaft der Industrieländer rein formaler Natur ist, bleibt abzuwarten.
Außenhandelsorientierte Investitionsmaßnahmen (Trade-Related Investment Measures „TRIMs“) möchten die USA deshalb diskutiert sehen, weil einige der Regulierungen im Zusammenhang mit ausländischen Direktinvestitionen die Interessen der Handelspartner nachteilig berühren. Dazu zählen Vorschriften über den Zwang zur Verwendung eines bestimmten Anteils an lokalem Input, Einhaltung einer festgelegten Exportquote, eingeschränkte Transfermöglichkeiten für Gewinne, Gewährleistung von Technologietransfer sowie Beteiligung von örtlichem Risikokapital. Die Entwicklungsländer stellen sich diesem Wunsch nicht entgegen, möchten sich aber zur Durchsetzung von entwicklungspolitischen Zielen nicht aller Instrumente entledigt sehen, um ausländische Investitionen zu steuern. Insofern bezweifeln sie, daß das GATT für Fragen der Inländerbehandlung und des Niederlassungsrechts in bezug auf Investitionen überhaupt zuständig ist.
Handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums, also Patente, Handelsmarken, Copyrights, usw. (TradeRelated Aspects of Intellectual Property Rights „TRIPs“), stehen deshalb auf der Tagesordnung, weil komparativer Vorteil und Wettbewerbsstärke auf internationalen Märkten heutzutage immer weniger auf der Ausstattung mit Bodenschätzen oder niedrigen Lohnkosten beruhen, sondern von der Fähigkeit zur Innovation, Anpassung oder Verbesserung von Technologie abhängen Vor allem die USA befürchten, ohne eine zwischenstaatliche vertragliche Regelung einen Nettoverlust auf dem Gebiet geistiger Eigentumsrechte und damit eine Schwächung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu erleiden. Aus dem Blickwinkel der Länder der Dritten Welt sollten die Gespräche sich nicht allein auf die Aspekte des Handels beziehen, sondern ebenso Fragen der nationalen Entwicklung, hier vor allem des Technologietransfers, berücksichtigen.
Schließlich geht es auch um institutioneile Reformen. In der zunehmenden Nichtbeachtung vorhandener Regeln und Absprachen sowie dem wuchernden Protektionismus in Form nicht-tarifärer Praktiken drückt sich die Unzufriedenheit einflußreicher Handelspartner mit dem Funktionieren des bisherigen Systems aus. Insbesondere das Streitschlichtungsverfahren ist verbesserungsbedürftig. Ziel der Reform ist die Veränderungen in der Struktur der Weltwirtschaft zu berücksichtigen und gleichzeitig die Möglichkeiten zur Umgehung der GATT-Vorschriften einzuschränken. Zu diesem Zweck soll das GATT institutionell gestärkt werden. Man erhofft sich dadurch einen Gewinn an politischem Gewicht und faktischer Leistungsfähigkeit. Dazu gehört, daß in regelmäßigen Abständen auf Ministerebene durchsetzbare Beschlüsse gefaßt werden.
Ferner wird darüber diskutiert, dem GATT-Sekretariat mehr Handlungsspielraum einzuräumen, um es damit anderen supranationalen Institutionen gleichzustellen. Dahinter steht die Absicht, die internationale Schiedsrichterrolle des GATT bei Handelskonflikten zu stärken. Nach Art eines Frühwarnsystems im Rahmen einer GATT-Überwachung sollen nach den Vorstellungen einiger Mitglieder alle Vertragsparteien ihre handelsrelevantcn Maßnahmen regelmäßig dem Sekretariat mitteilen Ferner soll in regelmäßigen Abständen die handelspolitische Situation der einzelnen Länder durchleuchtet werden. Erörtert wird auch — wie jüngst von der EG vorgeschlagen — eine engere Zusammenarbeit des GATT mit dem IWF und der Weltbank. Darüber hinaus wurde vom Kanadischen Handelsminister im Frühjahr 1990 angeregt, eine neue Welthandelsorganisation mit stärkeren Kompetenzen zu schaffen.
VII. Perspektiven der Uruguay-Runde
Die offenkundige Schwäche des GATT hat verschiedene Ursachen. Dazu zählen vor allem Probleme in der Bewältigung des Strukturwandels in Industrieländern bei einem hohen Sockel von Arbeitslosigkeit. Dies schwächt den politischen Willen zur Erhaltung und Stärkung des multilateralen Handelssystems. Aber auch prozedurale Aspekte spielen eine Rolle. So fällt es bei einer steigenden Zahl von Verhandlungspartnern objektiv schwerer, die verschiedenen Interessen in multilateralen Verhandlungen zusammenzufassen.
Die Halbzeitbilanz der Montreal-Konferenz im Dezember 1988 war nicht überzeugend. Zwar waren die Verhandlungen in elf von insgesamt 15 Komitees vorangekommen und erste gemeinsame Entwürfe formuliert worden. Auf den vier am stärksten umstrittenen Feldern konnte jedoch keine Überein-stimmung erzielt werden, und die Konferenz wurde von den meisten Beobachtern als gescheitert eingestuft. Bei den kontrovers diskutierten Themen handelte es sich um die Agrarproblematik, den Bereich Textil und Bekleidung, den Schutz geistigen Eigentums sowie die Schutzklauseln.
Grund für das Scheitern der Gespräche war der ungelöste Konflikt über landwirtschaftliche Subventionen zwischen den USA und der EG sowie die schleppende Berücksichtigung von Themen, die — wie z. B. Textilien — im Interesse der Entwicklungsländer liegen. Dies hatten einige lateinamerikanische Länder (Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Uruguay und Chile) zum Anlaß genommen, die Gesamtverhandlungen zu blockieren. Damit wäre der planmäßige Ablauf der Uruguay-Runde im Dezember 1990 gefährdet gewesen.
Nach rund vier Monaten intensiver diplomatischer Bemühungen und vagen, übergreifenden Formulierungen in den Beschlußvorlagen kam wieder Bewegung in die festgefahrenen Gespräche, und das Treffen im April 1989 in Genf kann insofern als Erfolg gelten, als der Weg zur Fortsetzung der Verhandlungen wieder freigelegt wurde. Dies war nicht nur Rhetorik und auf die Ambivalenz der Kompromisse zurückzuführen, sondern auch Ausdruck der Einsicht der Hauptkontrahenten, daß fehlende Kompromißfähigkeit mit hoher Sicherheit eine neue protektionistische Welle ausgelöst hätte.
Trotz einiger Fortschritte (Senkung von Zöllen und anderen Zugangsbeschränkungen für tropische Erzeugnisse; versuchsweise Einführung verschärfter Regeln bei der Streitschlichtung; Überprüfung der handelspolitischen Praktiken aller Mitgliedstaaten; mindestens alle zwei Jahre ein Ministertreffen) bleiben die hauptsächlich kontroversen Punkte weiterhin ungelöst — Die EG zeigt sich zwar bereit, die Subventionierung ihres Agrarsektors zu reformieren, nicht aber sie abzuschaffen. Aber auch für die Reform gibt es keine zeitliche Festlegung. Ohne nennenswerte Liberalisierung der Landwirtschaftspolitik wird die Cairns-Gruppe kaum ihre Zustimmung zu anderen Verhandlungskomplexen geben. — Zwar verpflichten die Beschlüsse von Genf die Teilnehmerstaaten auf Verhandlungen mit dem Ziel, den Sektor Textil und Bekleidung unter das GATT-Dach zurückzubringen und eine Liberalisierung anzustreben. Im Kern stehen sich jedoch die Vorstellungen der Entwicklungs-und der Industrieländer diametral gegenüber: Die einen wollen das Multifaserabkommen, notfalls mit einem Stufen-plan, auslaufen lassen; die anderen wollen das Thema nicht ernsthaft aufgreifen.
— Es besteht Übereinstimmung in dem Bestreben, für den Schutz geistigen Eigentums Prinzipien aufzustellen und wirksame Instrumente zur Durchsetzung der Urheberrechte zu erarbeiten. Aspekte der nationalen (technologischen) Entwicklung sollen dabei, wie es heißt, „berücksichtigt“ werden.
— In bezug auf die Schutzklauseln ist bislang lediglich die Generallinie formuliert, „Grauzonen" -Maßnahmen („freiwillige“ Exportbeschränkungen, Orderly Marketing Arrangements, etc.) zu beseitigen und eine effektive multilaterale Überwachung einzuführen. Weiterhin offen ist freilich die zentrale Frage, ob sich Schutzmaßnahmen selektiv gegen einzelne Anbieter/Länder richten dürfen — dies wird von der EG gewünscht, von den Entwicklungsländern aber abgelehnt.
Von besonderer Bedeutung ist ein frei(er) es Welthandelssystem für den Entwicklungsprozeß und die längerfristige Lösung des Verschuldungsproblems. Der Protektionismus der Industrieländer verringert die Exporterlöse der Schuldnerländer, die wiederum weniger einführen können als es bei ungehinderten Ausfuhrmöglichkeiten möglich wäre. Die Gläubigerländer verbauen sich damit nicht nur ihre eigenen Exportchancen, sondern auch die Option, daß angebotsstarke Schuldnerländer aus ihrer Situation gleichsam herauswachsen. Wachstums-orientierte Anpassung der Schuldnerländer — die oft benutzte Zauberformel — macht auch auf längere Sicht wenig Sinn, wenn die Industrieländer nicht auf die Konservierung wettbewerbsschwacher Industrien verzichten. Ohne eine nachhaltige Marktöffnung für die Produkte der Entwicklungsländer bleibt es fraglich, ob überhaupt eine Lösung der Verschuldungsprobleme gefunden werden kann. Staatliche Entwicklungshilfe kann in keinem Fall die notwendige Kompensation für z. B. verschlossene Agrar-und Textilmärkte sein
Angesichts der Komplexität der Themen und des Mangels an Übereinstimmung unter den knapp 100 GATT-Mitgliedern gibt es Vorschläge, zunächst eine kleine Gruppe von Ländern, die vom Konzept der offenen Märkte überzeugt ist, die Voraussetzungen für einen solchen Austausch schaffen und diesen dann unter sich praktizieren zu lassen Diese Gruppe sollte für „Newcomer“ offen sein. Es stimmt jedoch bedenklich, daß gerade diejenigen Länder (USA, Japan) bzw. Ländergruppen (z. B. die EG), die am ehesten für solche Initiativen in Frage kämen, starke Interessengegensätze und aktuelle Handelskonflikte miteinander haben.
Beherrscht vom Defizit der Handelsbilanz setzen die USA auf die Strategie, mit der Drohung des Einsatzes protektionistischer Handelsgesetzgebung die Partner zu veranlassen, ihre Märkte für US-Produkte zu öffnen. Die EG hätte das ökonomische Gewicht, in die Neuordnung des Welthandelssystems richtungsweisend einzugreifen, ist aber gegenwärtig stark mit der Vollendung des Binnenmarktes und der Öffnung Ost-Europas befaßt. Japan hat zwar seit dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel den Ruf nach einer neuen GATT-Runde unterstützt, scheint aber nicht an schnellen Veränderungen interessiert zu sein. Kritische Stimmen vermuten gar hinter der Zustimmung nur den Wunsch, von den Spannungen in den bilateralen Handelsbeziehungen abzulenken, denn die permanent hohen japanischen Leistungsbilanzüberschüsse sind ein wichtiger Teil der gegenwärtigen Probleme im Welthandelssystem. Obwohl es, im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen, im Rahmen des GATT keinen in sich geschlossenen Block der Entwicklungsländer gibt, ist ihr Gewicht in den Verhandlungen gewachsen, und sie sind in die Uruguay-Runde weit stärker als zuvor aktiv eingebunden. Ohne ausreichende wirtschaftliche Machtbasis haben sie, zusammen mit den kleineren Industrie-ländern, ein natürliches Interesse an einer Stärkung des GATT. Wie das Blockade-Veto von Montreal gezeigt hat, stehen nicht mehr nur die großen Handelsmächte im Mittelpunkt der achten Welthandelsrunde. Es gibt auch neue Allianzen, die über die Grenzen der üblichen politischen Blöcke hinweggreifen: Der Entwurf für die Erklärung von Punta del Este aufgrund einer Initiative von Kolumbien und der Schweiz; das gemeinsame Auftreten einer Reihe von Entwicklungs-und Industrieländern in der Cairns-Gruppe; das vereinte Vorgehen von Brasilien, Indien und Japan gegen Aktionen unter Artikel 301 („unfair trading practices“) des amerikanischen Handelsgesetzes.
Viele Entwicklungsländer möchten jede erzielte Übereinkunft so schnell wie möglich verwirklicht sehen. Demgegenüber sehen die meisten Industrieländer die zu erwartenden Übereinkommen eher als Teil des Gesamtpakets, das in einem Zuge in die Tat umgesetzt werden soll, wenn alle umstrittenen Punkte geklärt sind. Eine herausragende Rolle werden Dienstleistungen auch im Gesamtergebnis der Uruguay-Runde spielen, weil die kreuzweise Verrechnung von gegenseitigen Zugeständnissen auf den Gütermärkten und im Dienstleistungsbereich von den Industrieländern als Ausdruck eines umfassenden Interessenausgleichs verstanden, von den Entwicklungsländern aber als Ausnutzung ihrer schwächeren Verhandlungsposition angesehen wird.
Siegfried Schultz, Dr. rer. pol., geb. 1936; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Der Neue Protektionismus: Merkmale, Erscheinungsformen und Wirkungen im industriellen Bereich, in: Neuer Protektionismus in der Weltwirtschaft und EG-Handelspolitik, Baden-Baden 1985; Protektionismus im Dienstleistungsverkehr, in: H. Giersch (Hrsg.), Probleme und Perspektiven der weltwirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1985; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.
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