Die Novemberereignisse in der DDR bilden den vorläufigen Höhepunkt eines grundsätzlichen Wandels, dem Mittel-und Osteuropa seit Beginn der Ära Gorbatschow unterliegen. Mit der Aufhebung der Teilung Europas werden gleichzeitig Fragen nach dem künftigen Charakter und der Rolle der beiden Bündnissysteme und Streitkräfte aufgeworfen. Die Perspektiven der sicherheits-und verteidigungspolitischen Planung verändern sich in wesentlichen Punkten.
Wie geschlossen reagiert die westliche Allianz auf die Veränderungen in Europa? Wie paßt sie ihre Planung der politischen Entwicklung an? Wie be
I. Ganz Deutschland in die NATO — die Haltung der Bündnispartner zur Neuordnung Europas
Es ist die einhellige Auffassung der westlichen Bündnispartner, daß ein wiedervereinigtes Deutschland der NATO erhalten bleiben muß. Zwar räumen die politischen Führungen in den USA, Großbritannien und Frankreich ein, daß die künftige Truppenstärke von NATO-Einheiten auf deutschem Gebiet „flexibel“ gehandhabt werden könne Der Vorschlag Genschers, die Aufnahme ganz Deutschlands in die NATO solle mit Rücksicht auf Moskau nicht zu einer Verlegung von NATO-Truppen auf das DDR-Territorium führen, ist in den westlichen Hauptstädten rasch auf lebhaftes Interesse gestoßen. Auch eine Begrenzung der derzeitigen Bundeswehrstärke von 495 000 Mann und den Abbau der NATO-assignierten Streitkräfte auf dem Gebiet der jetzigen Bundesrepublik halten die meisten für unvermeidbar. Entscheidend aber ist: Das künftige Deutschland bleibt im Interesse der Sicherheit und einer stabilen Ordnung in Europa unverzichtbarer Bestandteil der Allianz.
In der Bundesrepublik wurde lange Zeit argumentiert, die Teilung stelle eine Bedrohung des Friedens in Europa dar. Umgekehrt bildete die Eindämmung Deutschlands durch die Teilung und Ein-gegnet die Sowjetunion dem deutschen Einigungsprozeß und den Auflösungserscheinungen des War-schauer Paktes?
Die folgende Problemskizze untersucht kritisch diese Fragestellungen im Rahmen der zwei aktuell diskutierten Szenarien für die künftige (sicherheits-) politische Ordnung in Europa: Erstens, ein wiedervereinigtes Deutschland bleibt politisch wie militärisch integraler Bestandteil der NATO. Zweitens, das wiedervereinigte Deutschland zieht sich aus dem westlichen Bündnis zurück und erhält einen neutralen Status. bindung beider Teile in die jeweiligen Bündnissysteme nach Einschätzung der Siegermächte ein wesentliches Element der Stabilität der Konfrontationsjahre. Mit dem Wegfall dieses Stabilitätsfaktors könnte von einem wiedervereinigten Deutschland erneut eine Bedrohung für die politische Stabilität in Europa ausgehen. Ein geeintes Deutschland wird von seinen Verbündeten mehr oder weniger offen als eine politische, wirtschaftliche und auch militärische Herausforderung besonderer Art betrachtet. Entsprechende Vorbehalte, die sowohl historisch bedingt sind als auch in dem Potential eines wiedervereinigten Deutschlands begründet liegen, stellen die außenpolitischen Schwierigkeiten auf dem Weg zur Einheit dar. 1. Die amerikanische Position In den USA macht man sich in erster Linie Gedanken darüber, wie man die künftige europäische Ordnung weiter mitgestalten kann. Die Frage, wie und wann die deutsche Einheit vollzogen wird, spielt demgegenüber lediglich eine untergeordnete Rolle, da sie in Washington als Angelegenheit der Deutschen gilt. Die Bush-Administration hat weder die Absicht, sie dem deutschen Volk vorzuenthalten. noch teilt sie die Bedenken und Einwände, die besonders anfangs in London und Paris dagegen geltend gemacht wurden Falls man die Amerikaner befragte, so ließ kürzlich US-Botschafter Walters verlauten, so würde sich zeigen, daß sie mehrheitlich die Teilung einer Nation als unnatürlich und nicht aufrechterhaltbar betrachten
Diese positive Einstellung kann angesichts der starken Verwurzelung demokratischer Normen in den USA, zu denen vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Völker zählt, kaum überraschen. Washington hat auch aus diesem Grund in der Vergangenheit immer wieder die Wiedervereinigung gefordert und den Abbruch der Mauer angemahnt. In diesen Tagen kann man bis in die politischen Führungskreise hinein häufig eine Stimmung perzipieren. wonach nicht etwa der Marshall-Plan oder die strategische Verteidigung als der größte amerikanische Beitrag für Europa angesehen wird, sondern die Selbstbeschränkung in der Ausübung amerikanischen Machteinflusses Bereits im Deutschlandvertrag habe man vor mehr als 35 Jahren Verständnis für den Wunsch nach Einheit dokumentiert. Und an dieser Haltung habe sich nichts geändert. heißt es in Washington.
In der Tat hat die Bush-Administration Positionen zur Wiedervereinigung formuliert, die eine bemerkenswerte Kontinuität zu den Grundgedanken des Artikel 7. Absatz 2 des Deutschlandvertrages erkennen lassen. Außenminister Baker faßte sie bei einem Besuch in Berlin am 12. Dezember vergangenen Jahres zusammen
1. Die Selbstbestimmung muß ungeachtet des Ergebnisses erfolgen. 2. Die Wiedervereinigung sollte sich im Rahmen der anhaltenden Verpflichtung Deutschlands gegenüber der NATO und einer zunehmend integrierten Europäischen Gemeinschaft und unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der alliierten Mächte vollziehen. 3. Die Wiederherstellung der Einheit muß im Interesse der allgemeinen europäischen Stabilität friedlich und schrittweise vonstatten gehen. 4. In der Frage der Grenzen sollten die in der Schlußakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze bekräftigt werden.
Angesichts der geographischen Verhältnisse ist es verständlich, daß die amerikanische Führung insgesamt gelassener auf den Wiedervereinigungsprozeß reagiert. Die Angst vor dem deutschen Bündnis-partner wächst natürlich mit der Nähe zum Ort des Geschehens. Im Vergleich zu den USA nimmt sich auch ein wiedervereinigtes Deutschland ohnehin nicht als Großmacht aus. Dies schon eher für die europäischen Nachbarn.
Für die Amerikaner gilt es deshalb erst einmal, die Verbindungen zum europäischen Kontinent nicht abreißen zu lassen. Washington sucht die Partnerschaft mit der EG. Mit dem Wandel in Europa hat die politische Führung einen „neuen Atlantizismus" ausgerufen. Die Amerikaner haben zwar erkannt, daß die EG die treibende Kraft für einen demokratischen Umbruch in Osteuropa ist. Man will sich aber die Einflußmöglichkeiten mit Blick auf die Veränderungen im Osten und die Entwicklung in Deutschland sichern. Ein Rückzug aus Europa er-schiene der Bush-Administration angesichts der Gefahr neuerlicher europäischer Instabilitäten völlig unangebracht. Zusammen mit der EG will man den Veränderungen in Europa einen stabilen Rahmen verleihen
Deswegen sucht man in Washington nach Möglichkeiten eines gemeinsamen „Managements dieses Wandels“ Dabei vertraut man zum einen auf die völkerrechtliche Verankerung demokratischer Verfahrensweisen. zum anderen auf eine differenzierte Anwendung von vorwiegend wirtschaftlichen Anreizen. Die amerikanische Regierung hat vorgeschlagen, das Recht auf freie Wahlen unter mehreren Parteien im Rahmen der KSZE zu einem Menschenrecht zu erklären Entsprechend machte Präsident Bush seine Zustimmung zu einer vorgezogenen KSZE-Gipfelkonferenz. auf der im Herbst 1990 die Veränderungen in Europa diskutiert werden sollen, zunächst von der Behandlung dieses Tagesordnungspunktes abhängig. Die Anreize, die die Regierung den RGW-Staaten für die Einrichtung demokratischer Strukturen anbietet, umfassen direkte wirtschaftliche Hilfe (wobei diese auf Grund anhaltender Auseinandersetzungen um eine Reduzierung des amerikanischen Haushaltsdefizits beschränkt ist), den Ausbau von Informationszentren in den östlichen Hauptstädten und den Abzug diplomatischen Personals aus anderen Bereichen zur Unterstützung der Reformregierungen
So ergibt sich aus dem Dilemma zwischen demokratischer und geostrategischer Verantwortung einerseits eine Politik wohlwollender Unterstützung der Reformbestrebungen in Osteuropa, andererseits eine Politik vorsichtiger Zurückhaltung. Entsprechend fällt die amerikanische Unterstützung des sowjetischen Reformkurses wesentlich differenzierter aus. In bezug auf Moskau halten die USA ganz bewußt an dem „linkage“ zwischen sowjetischen Reformbemühungen nach innen wie nach außen und amerikanischen Zugeständnissen fest. Man traut in den USA dem Frieden zur Zeit noch nicht so recht, verweist auf die unzureichenden Reform-ansätze in Richtung Demokratie und die insgesamt labilen innenpolitischen Verhältnisse in der Sowjetunion.
Parallel zur Entwicklung in Osteuropa will Washington den Wiedervereinigungsprozeß in kontrollierte Bahnen lenken. Bei aller Zurückhaltung in bezug auf die Frage nach dem Procedere auf dem Weg zu einer möglichen gesamtdeutschen Bundesverfassung will man doch ein Fortbestehen der Einbindung Deutschlands zur Gewährleistung des Friedens in Europa Die Amerikaner warnen vor einem „rein deutschen Prozeß“ zur Schaffung eines geeinten Deutschlands. Ein einziger deutscher Staat sollte im Rahmen eines größeren Assoziierungsprozesses entstehen, der Ost-und Westeuropa zusammenführt; dieser Prozeß soll mitunter über die NATO gesteuert werden. Sie ist und bleibt Hauptelement amerikanischen Engagements und deshalb auch für die Bush-Administration das wesentliche Instrument für den Stabilitätsausgleich in Europa. Ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung haben die Amerikaner vor allem von zwei Bedingungen abhängig gemacht: der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und der fortdauernden Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO.
Seit die Wiedervereinigung in den Bereich des Möglichen gerückt war, hat die Bush-Administration immer wieder betont, daß auch in diesem Fall die Bedingungen der KSZE-Schlußakte eingehalten werden müssen Für die Bundesrepublik bedeutete dies, daß sie an der dort festgeschriebenen Unverletzlichkeit bestehender Grenzen festhalten sollte. Sie hat diesem Anliegen aller Bündnispartner dann auch entsprochen und versichert, die polnische Westgrenze werde weder heute noch in Zukunft in Frage gestellt.
Damit rückte alleine die Frage nach der deutschen Mitgliedschaft in der NATO in den Mittelpunkt amerikanischer Interessen. Für die Amerikaner gab es von Beginn an keinen Zweifel daran, daß es ohne Deutschland keine NATO und ohne die NATO keine amerikanische Präsenz in Europa gibt. Washington betrachtet die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO als wesentliches Element eben dieser Einbindung in die Gemeinschaft westlicher Demokratien, eine Neutralität hingegen als Inbegriff der Instabilität.
Die Bundesrepublik ist längst zum wichtigsten Bündnispartner der Amerikaner in Europa geworden. Bonn wird schon auf Grund seiner besonderen geostrategischen Lage als Zentrum der amerikanisch-europäischen Sicherheitsallianz betrachtet. Der traditionelle Wunsch vor allem der Franzosen nach mehr Zuständigkeiten in der Außen-und Sicherheitspolitik macht es für Washington umso dringlicher, verläßliche politische Kommunikationskanäle nach Bonn zu erhalten und mit deren Unterstützung die institutionalisierten Zugänge in Europa weiter auszubauen. Sollte sich nämlich das französische Drängen durchsetzen, fürchten die Amerikaner, so könnte es trotz aller Garantieerklärungen aus Paris für die amerikanische Präsenz in Europa auf Dauer womöglich doch zu einem Abbruch der transatlantischen Verbindungen kommen. Natürlich begrüßt es Washington, daß die Europäer mehr für die eigene Sicherheit tun wollen. Allerdings traut man ihnen nicht zu. die amerikanische Nukleargarantie kurzfristig zu ersetzen. Ebensowenig sieht die amerikanische Führung eine realistische Chance, die NATO bereits jetzt durch neue, aus der KSZE entstehende Sicherheitsstrukturen in Europa abzulösen. Bush zweifelt daran, daß bei der KSZE-Gipfelkonferenz im Herbst auch nur die Umrisse eines neuen Systems sichtbar werden könnten Er ist zwar bereit, den KSZE-Prozeß insgesamt zu stärken. Allerdings fördert er die politische Einigung Europas auch nicht mit dem Ziel, in Europa eine unabhängige „Dritte Kraft“ entstehen zu lassen. Washington setzt vielmehr auf die völlige Integration in Form einer echten atlantischen Partnerschaft. Deshalb lautet die Devise für die Amerikaner zunächst noch: An Vertrautem festhalten, gleichzeitig aber behutsam nach neuen Wegen suchen.
Dies gilt auch für die Sicherheitspolitik. In den, USA sieht man keine Veranlassung, voreilig einseitige Abrüstungsschritte einzuleiten und von den derzeit noch gültigen Prinzipien des NATO-Verteidigungskonzepts abzuweichen, wiewohl der Druck führender Kongreßabgeordneter, die Verteidigungsausgaben drastisch zu senken, groß ist und man auch erkannt hat, daß eine Neubeurteilung des Sinns und Zwecks der NATO über kurz oder lang unumgänglich ist
Deutlich wurde dies bei der Zusammenkunft der NATO-Verteidigungsminister im kanadischen Kananaskis im Mai. Nachdem sich dort Verteidigungsminister Stoltenberg zum Ziel einer dritten NullLösung bei den bodengestützten Atomwaffen kürzerer Reichweite in Ost und West bekannt hat und bei der Gelegenheit auch eine Veränderung der „flexible response“ -Strategie sowohl bei den nuklearen als auch bei den konventionellen Waffen forderte, erklärten die USA, daß ihr Verzichtsangebot auf die Modernisierung der Kurzstreckensysteme und der nuklearen Artillerie nur mit einer Verlagerung der nuklearen Fähigkeiten auf luftgestützte Systeme verbunden sei Gleichzeitig aber signalisierte Washington, daß konkrete Vereinbarungen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle noch in diesem Jahr den Übergang vom „Gleichgewicht des Schreckens zum Gleichgewicht der Interessen“ markieren könnten
Die Amerikaner wollen die den landgestützten Waffen zugeordneten Aufgaben taktischen Luft-Boden-Raketen (TASM) übertragen, die von der Bundesrepublik und in Großbritannien stationierten Flugzeugen mitgeführt werden. Für sie ist aber die Frage der „extended deterrence" mit dem Verzicht auf diese Systeme noch nicht beantwortet. Man räumt damit lediglich ein, daß solche Waffensysteme, die nur noch die eigene Bevölkerung oder aber Länder treffen können, von denen offensichtlich keine Bedrohung mehr ausgeht, keinen Sinn mehr machen. Insofern verlieren landgestützte Kurzstreckensysteme ihre Abschreckungswirkung, da eine Vorverlagerung an die künftige deutsche Ostgrenze für die Sowjetunion unzumutbar ist.
Nun besteht nach einem Abkommen über den Streitkräfteabbau in Europa die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion, die bisher als Rechtfertigung für die Bereitstellung atomarer Gefechtsfeldwaffen diente, nicht mehr in dieser massiven Form. Auch Sicherheitsexperten in Washington halten deswegen die ursprünglichen Zielsetzungen der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) durch die rasante Entwicklung in Osteuropa und Deutschland teilweise bereits jetzt schon für überholt — ohne dabei allerdings der offiziellen Position Washingtons zu entsprechen. Tatsächlich ist die strategische Bedeutung der Überlegenheit des Warschauer Pakts an Panzern, Schützenpanzern, Artillerie und Mannschaft gesunken, nachdem die Sowjetunion heute zwischen Bug und Elbe einen Bereich der politischen Unsicherheit vor sich sieht. Der Zerfall des Zwangsbündnisses macht einen Blitzangriff praktisch unmöglich der Westen wäre bereits Wochen zuvor über einen konventionell geplanten Vorstoß informiert. So gibt es Stimmen im amerikanischen Kongreß, die den Bush-Vorschlag nicht für das letzte Angebot halten Im Gespräch sind 150 000, sogar 75 000 amerikanische Soldaten zur Gewährleistung der europäischen Sicherheit.
Ungeachtet dessen aber, welche Obergrenzen die VKSE-Delegationen in Wien aushandeln, würde sich herausstellen, daß wegen der technischen Perfektion konventioneller Waffensysteme eine Aus-einandersetzung in Europa nach wie vor einer weitgehenden Selbstzerstörung gleichkäme. Es müßten also nach wie vor die der Sowjetunion verbleibenden konventionellen und nuklearen Optionen gegenüber Westeuropa durch eine bestimmte Zahl und Art amerikanischer Atomwaffen ausbalanciert werden
Darüber will Washington aber offiziell erst mit Moskau verhandeln, wenn das START-Abkommen über einen Abbau des strategischen Arsenals beider Seiten unterschrieben ist und brauchbare Ergebnisse in Wien erzielt wurden Bis dahin will man die Streitkräftestruktur der NATO überprüfen und über ihre künftige „politischere" Rolle nachdenken. Die Amerikaner halten durchaus Lösungen für eine beiderseitige Struktur der hinlänglichen Verteidigung parat, bei denen die Solidarität des Bündnisses nicht mehr ausschließlich in der gemeinsamen Vomeverteidigung aller nationalen Bündniskontingente demonstriert wird. Auf der Brüsseler Frühjahrstagung der NATO-Verteidigungsminister im Mai empfahl US-Verteidigungsminister Cheney die Organisation der NATO-Truppen in Form von multinationalen Einheiten Solche Verbände, wären sie als operative Gegenangriffsreserven in der Tiefe des Raums nicht nur auf deutschem Boden stationiert, könnten in der Tat geeignet sein, die politische Dimension der westlichen Verteidigung zu stärken. Sie würden nämlich auch eine grenznahe Verteidigung mit ausschließlich territorialen Streitkräften ermöglichen, die nicht der NATO unterstellt wären, und damit deren ausschließlich defensiven Charakter betonen.
Vorläufig aber bleibt die NATO für die Amerikaner aus zwei Gründen unverzichtbar: Erstens ist sie ein Instrument der Sicherheit gegen Rückschläge beim Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion und in Osteuropa. Und in dem Maße, wie die direkte Bedrohung aus dem Osten abnimmt, stellt sie den Ordnungsrahmen für den Abrüstungsprozeß in Europa zur Verfügung. Zweitens übt sie die entscheidende Klammerfunktion zwischen Europa und Amerika aus, solange es keinen institutioneilen Ersatz für sie gibt.
Beide Punkte hängen in starkem Maße von einer deutschen Mitgliedschaft in der NATO ab. Sie stellt zum einen, wie Henry Kissinger es unlängst ausdrückte, „den besten Mechanismus für die Überwachung vereinbarter Rüstungsbeschränkungen zur Verfügung, da die Verbündeten Deutschlands ein egoistisches Selbstinteresse daran hätten, daß diese Vereinbarungen auch eingehalten werden“ Zum anderen bildet sie den Nervus rerum eben dieser transatlantischen Verbindungen. 2. Die britische Position Anders als in den USA, scheint man sich in Großbritannien nur sehr zögerlich von der alten Ordnung trennen zu wollen. Innenpolitischen Schwierigkeiten versucht die konservative Regierung ungeachtet ihres reduzierten Einflusses nicht nur in Europa durch eine betont nationale, eher auf Konfrontation als auf Kooperation gerichtete Politik nach außen zu begegnen. Dabei steht London vor dem doppelten Dilemma, bei aller Zurückhaltung gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland einerseits die deutsche Frage mitunterstützen zu „müssen“ — will man sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man habe den Sinn für die natürliche Ordnung einer Völkergemeinschaft verloren —, andererseits dadurch zwangsläufig den ungeliebten europäischen Einigungsprozeß voranzutreiben Immerhin hat auch die britische Regierung gefordert, die deutsche Vereinigung müsse mit der europäischen Einigung synchronisiert werden. Somit ist man auch in London den Beweis schuldig, inwieweit man sich nicht lediglich hinter der Festung Europa aus Angst vor „Deutschland“ verschanzt hat.
Diesen Beweis zu führen, fällt London schwer. Die massiven Widerstände der Premierministerin Thatcher gegen die jüngsten deutsch-französischen Vorschläge für eine beschleunigte politische Union der Europäischen Gemeinschaft bis 1993 haben das bereits gezeigt. Der britischen Regierungschefin geht der Europa-Enthusiasmus der europäischen Verbündeten einen Schritt zu weit. Sie betrachtet ihn bisweilen als Ersatz für das mangelnde Nationalgefühl vor allem der Deutschen Im Gegensatz zu Bundeskanzler Kohl und dem französischen Staats-präsidenten Mitterrand baut sie „auf ein Europa stolzer souveräner Staaten“
London fürchtet, daß die von der deutschen Einheit ausgehenden Impulse für Europa allzu schnell zu einer Aushöhlung der nationalen Souveränität führen könnten. Deshalb will man sich zunächst einmal der deutschen Frage widmen und erst in einem zweiten Schritt eigene Europapläne vorlegen, die den Vorwurf entschärfen sollen, London denke antieuropäisch. Um Zeit zu gewinnen, ergreift die Premierministerin die Flucht nach vom und wirft Bonn und Paris vor, durch ihr Projekt der „Vereinigten zwölf Staaten von Europa“ die Chancen für eine Erweiterung der Gemeinschaft außer acht zu lassen und den Osten zu isolieren. Damit macht sie sich zum Anwalt der osteuropäischen Interessen und benutzt diese als politisches Druckmittel, den europäischen Einigungsprozeß insgesamt zu erschweren und zu verzögern.
Indes hindert der Widerstand gegen ein schärferes Tempo der politischen Integration Europas London nicht daran, bei den Bündnispartnern im Interesse der europäischen Sicherheit und Stabilität für eine kontrollierte Einbindung Gesamtdeutschlands sowohl in die europäischen Institutionen wie in die NATO einzutreten
Das britische Mißtrauen gegenüber einem vereinigten Deutschland erklärt sich vor allem aus der Sorge, Deutschland werde damit endgültig die beherrschende wirtschaftliche und politische Kraft in Europa sein. Natürlich räumt man ein, daß sich die Bundesrepublik nach mehr als vierzig Jahren gewandelt habe. Man ist auch davon überzeugt, daß Deutschland keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellt. Andererseits müsse man damit rechnen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland wiederum Wandlungen durchmachen werde. Deshalb hat London wiederholt bekräftigt, daß es weder einer Neutralisierung noch einer Demilitarisierung eines künftigen Gesamtdeutschlands zustimmen werde — ungeachtet dessen, was aus dem Warschauer Pakt werde.
Die Bedingungen für ein geeintes Deutschland hat die britische Regierung in drei Punkten zusammengefaßt Erstens, Deutschland bleibt Mitglied der NATO, wobei Großbritannien Moskau zwar einräumt. sowjetische Truppen auf deutschem Boden für eine Übergangszeit zu unterhalten, grundsätzlich aber die gleichzeitige Anwesenheit sowjetischer und amerikanischer Einheiten in Deutschland ablehnt Zweitens, auf deutschem Boden bleiben auch künftig NATO-Kernwaffen stationiert. Drittens schließlich: Verbleib der amerikanischen und britischen Truppen.
Auch London wünscht also zunächst die institutionalisierte Kontrolle eines wiedervereinten Deutschlands. Dabei setzt man konsequenterweise auf das NATO-Bündnis, sprich auf die transatlantische Komponente. Ihr traut man eher zu, einen stabilen Rahmen für den deutschen Zusammenschluß und das durch die Erosion im Osten entstandene Macht-vakuum in Europa zu schaffen. Sie ist für London nach wie vor der beste Garant für die europäische Sicherheitsordnung — einen angemessenen Schutz zum Osten hin und die uneingeschränkte Westbindung Deutschlands. Für den Fall einer Aufkündigung der Sicherheitspartnerschaft mit den USA befürchtet man, daß diese Bindung irgendwann mangels Substanz an Bedeutung verlieren könnte. Deutschland würde zum bestimmenden Machtfaktor in einem Europa, dem ohne die amerikanische (Nuklear-) Präsenz der notwendige Sicherheitsrahmen fehlt
Die Europäische Gemeinschaft kann diesen Sicherheitsrahmen vorerst selbst nicht schaffen. Der KSZE fehlt dazu nach Ansicht der Briten der westliche Anker. Ganz abgesehen davon setzt London natürlich auch deshalb auf die nordatlantische Allianz, weil diese am ehesten garantiert, daß der eigene Einfluß auf das sicherheits-und abrüstungspolitische Geschehen in Europa gewahrt bleibt. London weiß um sein Image als Bremser in Europa und fürchtet für den Fall eines Abbruchs der transatlantischen Bindungen eine weitere Isolierung vom europäischen Einigungsprozeß. Schon jetzt mißfällt der Premierministerin die enge deutsch-französische Kooperation besonders auf dem Gebiet der Verteidigung Beinahe mit Genugtuung konstatierte man in London die vorübergehenden Unstimmigkeiten zwischen Bonn und Paris in der Frage des deutschen Einigungsprozesses.
Die „special relationship“ mit den USA macht daher das besondere britische Gewicht in Europa aus. Darum will man die Amerikaner in Europa halten und plädiert uneingeschränkt für den Erhalt der NATO und in dem Maße, wie dies die Amerikaner tun, vorläufig auch noch für deren Strategiekonzept der Abschreckung London betrachtet sich unverändert als wichtigen Teil dieser transatlantischen Komponente. Dies dokumentiert es mit der Forderung nach dem gemeinsamen Verbleib britischer und amerikanischer Truppen sowie von Kernwaffen auf dem Kontinent
Daß London die atomare Präsenz in Deutschland aufrechterhalten will, ist dabei nicht nur eine Frage der kontrollierten Einbindung der Deutschen in die Allianz — Deutschland soll weiterhin mitentscheidend Verantwortung tragen und in die Pflicht ge-nommen werden Es ist auch eine Frage der Möglichkeit, sich auf diese Weise eigener Verantwortung für Europa gewissermaßen zu entlasten.
Großbritannien ist neben den USA die einzige Nuklearmacht in Europa, die im Rahmen der NATO militärische Verantwortung trägt. Zögen die Amerikaner ihre Nuklearwaffen aus Deutschland ab, so spielte auch eine andere Frage wieder eine größere Rolle, die ansonsten bisher in der britischen Öffentlichkeit nicht diskutiert wurde: Unter welchen Umständen würde die britische Führung ihre Atomwaffen in Deutschland zum Einsatz bringen Diese heikle Frage stellt sich für Großbritannien in dem Moment, wo das amerikanische commitment gegenüber Europa nachläßt. Bisher war es nicht mehr als eine akademische Frage, da die USA praktisch über das gesamte Nuklearpotential in Europa verfügen und es kontrollieren. Sollte es aber tatsächlich je zu einem Rückzug der Amerikaner kommen, so würde dies die britische Regierung vermutlich in große Verlegenheit bringen. London wäre einfach überfordert, selbst im Verbund mit Frankreich für einen stabilen Ausgleich in Europa zu sorgen. Als Washington sich beim anglo-amerikanischen Gipfel in Bermuda am 13. April erstmals zum Modemisierungsverzicht bereiterklärte, bestand London deshalb, noch bevor die Amerikaner ihrerseits auf die Möglichkeit einer Verlagerung von landgestützten auf luftgestützte Atomwaffen hingewiesen hatten, unverzüglich auf einen Ausbau der amerikanischen atomaren luftgestützten Verteidigung in Europa 3. Die französische Position Auch in Paris überwog anfangs die Unsicherheit angesichts der deutschen Entwicklung. Lange sah es so aus, als bliebe es bei dem geringen Zuspruch Frankreichs zur deutschen Wiedervereinigung. Schlimme historische Erinnerungen, die von vielen Franzosen zunächst als Befürchtungen in die Zukunft projiziert wurden und die Grundlagen französischer Politik zu verändern drohten, ließen Frankreich seine Sicherheit weiterhin am besten in einem getrennten Deutschland aufgehoben erscheinen. Fast entstand der Eindruck, als trauere man in Paris dem bisherigen Status quo, den man wohl als den passendsten Rahmen für eine stabile Ordnung in Europa betrachtete, ein wenig nach. Nur allmählich hat man sich auch im französischen Außenministerium an den Gedanken gewöhnt, daß es das natürliche Recht der Deutschen sei, sich in einem Staat zusammenzufinden
Natürlich hielt man hierzulande französische Sorgen eines Pangermanismus oder die Ängste vor einem neuen Rapallo für überzogen und abwegig. Man konnte sie jedoch nicht als fixe Ideen oder historisch-politische Komplexe abtun, sondern mußte sie ernst nehmen. Frankreich fühlte sich durch die Vorkommnisse der letzten Monate zunächst über Nacht aus dem Zentrum an den Rand des alten Kontinents gedrängt. Man fürchtete, den Partner in Bonn an den Osten zu verlieren und sah ihn am Ende gemeinsam mit der Sowjetunion Tempo und Rhythmus eines künftigen gesamteuropäischen Einigungsprozesses bestimmen. Frankreich selbst sah sich mittelfristig zurückgestuft auf das Niveau eines besseren europäischen Sachwalters, der sich anpaßt an die großen, von Bonn vorgegebenen Linien der Politik.
Nachdem der Kanzler seinen Zehn-Punkte-Plan im Bundestag vorgetragen hatte, ohne den privilegierten Partner in Paris zuvor davon zu unterrichten, schienen die deutsch-französischen Beziehungen ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht zu haben. Hinzu kam für Paris die wochenlange Diskussion in Sachen Anerkennung der polnischen Westgrenze, die ja zu bestätigen schien, Grundfragen europäischer Politik würden nunmehr im deutschen Alleingang erledigt. Frühzeitig signalisierte die französische Führung, daß sie nicht bereit war, die europäischen Interessen irgendwelchen deutschen Sonderwünschen zu opfern Die Reise Mitterands in die DDR und das Treffen mit Gorbatschow in Kiew, das Bonn an die lange Tradition französisch-russischer Diplomatie erinnern sollte, verstärkte diesen Eindruck Beiden Seiten wurde plötzlich klar, daß das deutsch-französische Verhältnis empfindlichen Schaden nehmen konnte. Ihnen war aber auch bewußt, daß man nach fast drei Jahrzehnten enger politischer und menschlicher Bindungen schicksalhaft aufeinander angewiesen war.
Auf anfänglich „unterschiedliche Meinungen“ in einigen Fragen folgte schließlich europapolitische Vernunft Geschickt hat sich der französische Präsident die deutschen Interessen an einer Integration Gesamtdeutschlands in das westliche Wirtschaftssystem zu eigen gemacht, indem er sogleich die übrigen Staaten Osteuropas aufrief, sich an einem konföderalen Gebilde zu beteiligen, in dem sich die Staaten Europas zusammenschließen und repräsentative Institutionen geben werden Um dem erwarteten Widerspruch sowohl aus Bonn wie aus London im Hinblick auf eine mögliche Brüskierung der Amerikaner zu er begegnen, ließ außerdem verlauten, daß seines Erachtens nichts dagegen spräche, Vereinbarungen zwischen dieser Konföderation und den Vereinigten Staaten von Amerika zu schließen. So konnte sich Bonn, ob es wollte oder nicht, der französischen Initiative auf keinen Fall verschließen.
Während London auf die transatlantische Komponente setzt, favorisiert Paris also die Stärkung des europäischen Pfeilers. Bei der Verwirklichung der Politischen Union will man neben einer Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion vor allem eine zweite Gemeinschaft in der Außen-und Sicherheitspolitik bilden Bonn hat den Plänen Mitterrands konsequenterweise zügestimmt, dabei allerdings zu verstehen gegeben, daß die europäische Sicherheit an die amerikanische Präsenz gekoppelt bleiben muß. Hier wünscht Frankreich, das sich bisher jeder Aufforderung in die integrierte Verteidigung der NATO zurückzukehren, unter Hinweis auf seine nationale Unabhängigkeit verschlossen hat. eine größere Rolle Westeuropas in der Allianz
Paris lehnt es weiterhin ab, daß die NATO ein Organ zur engen Abstimmung aller internationaler Themen wird. Das heißt nicht, daß man der Auffassung ist, ein kollektives Sicherheitssystem könne die Allianz ersetzen Im Gegenteil hält man eine echte Verteidigung als Gegengewicht zur sowjetisehen Militärmacht in Europa nur in der Allianz mit den USA für möglich Man tut dies aus gutem Grund, ist doch bisher ein Ersatz taktischer boden-gestützter amerikanischer Waffen durch französische Systeme ebensowenig absehbar wie durch britische. So hat man auch nichts dagegen einzuwenden, daß zur künftigen politischen Rolle der NATO deren Verwendung als „Manager des Rüstungsabbaus“ gehören soll
Andererseits ist man aber in nicht gewillt, die Paris zukünftige Gestaltung der sicherheitspolitischen Landschaft Europas vollkommen von den Vorstellungen der Amerikaner abhängig zu machen. Deutlich wurde dies, als US-Präsident Bush mit seinem Vorschlag, taktische Luftstreitkräfte der Amerikaner von deutschem Boden nach Frankreich zu verlagern. in der französischen Hauptstadt eher auf Zurückhaltung stieß Frankreich befürchtet, daß Washington sich auch in dieser Stunde zum Haupt-anwalt europäischer (Sicherheits-) Interessen machen. das eigene Gewicht aber erneut zu kurz kommen könnte. Deshalb ruft man die NATO zu engerer Abstimmung mit der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE-Konferenz auf Sie bilden für Frankreich den geeigneten institutionellen Rahmen für die Herausbildung einer spezifisch „europäischen Verteidigungsachse“. Auf dem von den 35 KSZE-Staaten Ende des Jahres geplanten Gipfeltreffen will man insbesondere Vorschläge in diese Richtung gründlich prüfen.
Bei allen Vorbehalten gegenüber einer zu starken Position der NATO in Europa, ist für Frankreich der Einschluß eines vereinigten Deutschland in deren politische und militärische Organisation unumstritten. Er bildet sozusagen eine zusätzliche Rückversicherung, bleibt der deutsche Einigungsprozeß doch damit nicht nur europäisch, sondern auch durch die Amerikaner kontrolliert Ganz abgesehen davon sieht man in Paris auch die Schwierig-keit, daß die KSZE vorläufig die NATO noch nicht ersetzen kann und daß nur die Anwesenheit amerikanischer Streitkräfte in Europa die Stabilität und Sicherheit in Zeiten hoher Ungewißheit und großer Veränderungen gewährleistet. Man denkt eher in Prozeßkategorien und hält die Umwandlung oder gar Ablösung der Allianz durch ein kooperatives gesamteuropäisches Sicherheitssystem erst dann für möglich, wenn ein solches in Form von neuen (KSZE-) Institutionen geschaffen wurde, in denen auch die Amerikaner ihren Platz finden. Schon jetzt aber will man über die europäischen Institutionen aktiver als bisher am europäischen Rüstungskontrollprozeß mitwirken.
II. Die Haltung der Sowjetunion
Der Wandel des sowjetischen Standpunktes in der Wiedervereinigungs-und Bündnisfrage seit den Novemberereignissen in der DDR ist Ausdruck der vor dem Hintergrund des Nationalitätenkonflikts I und der prekären wirtschaftlichen Lage einerseits I und den Erosionserscheinungen im Warschauer Pakt andererseits aufgetretenen großen innen-wie außenpolitischen Schwierigkeiten, mit denen sich Gorbatschow auseinanderzusetzen hat Der Kremlchef ist längst durch die Entwicklungen, die er selbst entscheidend ausgelöst hat, überholt worden. Eine klare Konzeption, auch in der Deutschlandpolitik, ist nicht zu erkennen. Die Initiativen, die Moskau ergreift, entspringen eher der Verlegenheit, Zeit zu gewinnen, um sich allmählich auf die veränderte Lage halbwegs einzustellen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sich in der Außenpolitik durchaus wesentliche Charakteristika des Neuen Denkens in der Sowjetunion bereits abzeichnen Die politische Führung erkennt hier inzwischen das Prinzip der Freiheit der Wahl uneingeschränkt an. Die Regierungsbildung in Polen, die Ausrufung der Republik in Ungarn und in der Tschechoslowakei, ihre Distanzierung gegenüber dem Warschauer Pakt sowie die Ereignisse in der DDR werden von Moskau als Ausdruck des Rechts jedes Staates und jedes Volkes akzeptiert, über sein politisches Schicksal selbst zu bestimmen Das neue Modell der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten beruht nicht mehr „auf dem Schema . stark — schwach 4 mit Elementen der Vassallen-Abhängigkeit, sondern auf der Gleichberechtigung und der Anerkennung der Souveränität“
Andererseits ist mit dem Zerfallsprozeß des War-schauer Pakts das für Moskau als lebenswichtig erachtete westliche Sicherheitsglacis zerschmolzen. Moskau fürchtet ganz offensichtlich, daß der politischen Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zur NATO mit der Zeit die militärische folgen könnte und damit der ehemals wichtigste sowjetische Vorposten am Ende doch noch im westlichen Bündnis auftaucht.
Deswegen war die sowjetische Führung auch lange Zeit bestrebt, den Status quo in Deutschland möglichst unangetastet zu lassen. Erst nach der friedlichen Revolution in der DDR begann sich auch im Kreml allmählich die Einsicht durchzusetzen, daß der sich anbahnende Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten nicht mehr aufzuhalten war. Diese Erkenntnis führte zu einer Reihe von vagen deutschlandpolitischen Modellen, die Gorbatschow in der Folgezeit dem Westen anbot, die aber alle bisher darauf hinausliefen, die gesamtdeutsche NATO-Mitgliedschaft zu verhindern.
N Ausgehend von der Prämisse, daß die deutsche Frage nur im Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Entwicklung und unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der europäischen Nachbarn und der übrigen Staaten Osteuropas gelöst werden könne, schlug man in Moskau als sicherste Lösung zunächst einen neutralen Status des künftigen Deutschlands vor Damit sollte einer zu radikalen Verschiebung des Kräftegleichgewichts in Europa durch die Einbindung Deutschlands in das westliche Bündnis vorgebeugt werden. Verbunden war die Forderung nach einer militärisch-politischen Neutralität zeitweise sogar mit dem Verlangen nach einer Entmilitarisierung Deutschlands, wobei man darunter in Moskau allerdings nicht die völlige Abrüstung verstand, sondern die Schaffung solcher Bedingungen, die ausschließlich einen defensiven Charakter der deutschen Streitkräfte zuließen
Nachdem man erkannt hatte, daß dies sogar in der östlichen Hälfte Europas auf Ablehnung stieß, kam der Vorschlag aus Moskau, Deutschland solle beiden Bündnissen angehören, der westliche Teil der NATO, der östliche dem Warschauer Pakt, bis nach ein paar Jahren beide Bündnisse in einem europäischen Sicherheitssystem aufgehen würden Aber eine solche Doppelmitgliedschaft liefe letzten Endes erneut auf eine Neutralität hinaus. Sie könnte zudem bedeuten, daß sich für den Fall der Verlängerung dieser Übergangszeit — und dies liegt angesichts der unklaren Vorstellungen über die vorzunehmende Integration auf Seiten der Sowjetunion nahe — die Fremdbestimmung auch nach der politischen Vereinigung fortsetzte.
Bei einem Besuch Ministerpräsident Modrows in Moskau am 6. März 1990 leitete Moskau dann erstmals aus der deutschen Einigung auch die Chance ab. die Sicherheitsstrukturen in Europa neu zu formieren. Sollten sich NATO und Warschauer Pakt erst einmal in ihren Strukturen grundlegend geändert haben und in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem aufgegangen sein, stünde die Bündnisfrage ohnehin nicht mehr zur Diskussion. Moskau wünschte daher in erster Linie eine Synchronisation der deutschen Einigung mit dem KSZE-Prozeß; dieser sei Motor für den institutionalisierten Ausbau in Richtung auf bündnisübergreifende gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen.
Die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses kann aber Jahre in Anspruch nehmen, da wahrscheinlich jede der 35 teilnehmenden Nationen ihre eigenen Vorstellungen und ihre eigene Kosten-Nutzen-Kalkulation anstellen wird. Die KSZE ist ein großer Korb, der Verschiedenes, auch Gegensätzliches aufnimmt. Die Tolerierung solcher Gegensätze bringt es mit sich, daß man in vielen Bereichen über das Stadium relativ unverbindlicher Erklärungen nicht hinauskommt. Damit ist die KSZE zwar ein nützliches Gesprächsforum, vom Status einer supranationalen Ordnung aber noch weit entfernt. Wie soll es also zu glaubwürdigen Beistandsverpflichtungen in der Sicherheitspolitik kommen, wenn unterschiedliche Interessenlagen und Mentalitäten keine Übereinstimmung erzielen? Hier stößt die Idee einer europäischen Friedensordnung, in der jeder seinen Platz findet, vorläufig zumindest noch an ihre Grenzen. Und genau an diesem Punkt wiederum entpuppt sich die NATO als ideale Übergangsregelung mit ihrer auf der Freiwilligkeit und der demokratischen Verfassung der Mitglieder beruhenden Flexibilität im Hinblick auf die Veränderungen in Europa.
Moskau ließ als nächstes verlauten, daß es mit einem raschen Vollzug der Einigung nun doch einverstanden sei, dafür aber eine Übergangszeit zur Klärung der äußeren Gesichtspunkte, d. h. insbesondere der Frage der Bündniszugehörigkeit beanspruche — Entkoppelung also der inneren und äußeren Aspekte der Einheit Bis dahin sollten die Rechte der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes fortbestehen. Auf diese Weise wollte man im Kreml Zeit gewinnen, bis sich die Bündnisfrage im Verlauf der Wiener Abrüstungsverhandlungen und der Bildung neuer KSZE-Einrichtungen von selbst entschärft hätte.
Da die von Moskau geforderte Festlegung der deutschen Truppenstärke aber im Prinzip einer diskriminierenden Sonderbehandlung Deutschlands gleichkäme — eine solche Obergrenze kann nur zusammen mit dem Umfang der Streitkräfte anderer Staaten in Wien vereinbart werden —, stieß auch dieser Vorschlag auf den Widerspruch der Allianz. Gorbatschow rückte denn auch ebenso schnell wieder von ihm ab und versuchte, seinen Widerstand gegen eine Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO im Westen dadurch abzumildern, daß er anregte, „schon bei den gegenwärtigen VKSE-Verhandlungen eine . allgemeine Erklärung 1 des Inhalts zu beschließen, im Rahmen von . Wien IT Obergrenzen für die deutschen und die Streitkräfte anderer europäischer Staaten festzusetzen“ -Je mehr man also in Moskau spürte, daß sich der Westen in der Bündnisfrage keinesfalls erweichen lassen würde, desto stärker setzte man die Akzente auf eben die Gründung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems als Alternative zu den herkömmlichen Bündnissen. An der Ablehnung der NATO-Zugehörigkeit Deutschlands bis zur Vollendung eines solchen Systems änderte dies freilich weiterhin nichts. Auch beim Washingtoner Gipfel Anfang Juni konnten die tiefgreifenden Dif-ferenzen über diese Frage nicht überwunden werden. Die deutsche Frage dürfte also in den kommenden Monaten ihre hypnotische Wirkung auf Moskau behalten. So ohne weiteres wird man im Kreml den Status der Siegermacht als letzten Trumpf nach der Auflösung des „cordon sanitaire“ nicht aus der Hand geben wollen. Dies entspricht sowohl einem auf subjektiven Erfahrungen gegründeten Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion als auch der Sorge, in Europa an den Rand gedrängt zu werden. Der Westen kann es sich leisten, darauf Rücksicht zu nehmen, wenngleich die Mittel des Kremls, seine Ansprüche durchzusetzen, gering sind. Auf die Dauer nämlich wären sowjetische Behinderungen der Wiener Konferenz und damit auch des KSZE-Prozesses sowie der Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einigung doch lästig und könnten für Unruhe in Europa sorgen.