I. Historische Belastungen und strukturelle Probleme westdeutscher Ostpolitik
In der begründeten Hochstimmung über die Revolution in Ost-und Mitteleuropa von 1989 und über die bevorstehende Einigung von Bundesrepublik Deutschland und DDR scheinen die historischen Belastungen und strukturellen Probleme westdeutscher Ostpolitik in der Zeit des Kalten Krieges und der alten Entspannung schon fast vergessen. Die Vergegenwärtigung der Dilemmata, der Optionen und der Entwicklung dieser Politik kann jedoch Kriterien für die Beurteilung der außenpolitischen Chancen und Risiken der Neuvereinigung der beiden deutschen Staaten liefern, die sich unter Umständen vollzieht, die von keiner politisch relevanten Gruppierung vorausgesehen oder auch nur vorausgedacht wurden.
Für die Deutschland-und Ostpolitik der Bundesrepublik bildeten drei übergeordnete Problemstellungen den Rahmen, in dem sich alle Varianten bewegen mußten: erstens das historische Erbe, insbesondere die Last der nationalsozialistischen Verbrechen und des Zweiten Weltkrieges; zweitens die Realität des Macht-und Systemkonflikts zwischen Ost und West; drittens die moralischen Probleme des Status quo. Aus diesen drei Problemstellungen ergaben sich eine Reihe widersprüchlicher Anforderungen. 1. Revisionismus oder Versöhnung Die Westdeutschen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit guten Gründen und aus freien Stükken für eine westliche Orientierung und gegen den Kommunismus ausgesprochen. Aber der Antikommunismus war auch eine Brücke zur Vergangen-heit, nicht nur für die alten Nazis. Die Animositäten zwischen Deutschen und Polen reichen zurück bis ins Mittelalter, und die machtpolitischen Rivalitäten zwischen Deutschen und Russen waren eine wichtige Voraussetzung für den Ersten Weltkrieg. Nach 1945 waren fast alle Westdeutschen Revisionisten in dem Sinne, daß sie die territoriale Aufteilung Deutschlands nicht akzeptierten, und ihr Revisionismus richtete sich wieder in erster Linie gegen den Osten Aber sie mußten sich doch auch fragen, ob nicht die Zeit gekommen war. ein für alle Mal den Kreislauf des Unrechts zu beenden, der einen großen Teil ihrer Beziehungen zum Osten geprägt hatte Polen und Rußland waren wiederholt Gegenstand deutscher Aggression gewesen. Preußen hatte sich aktiv an den historischen Teilungen Polens beteiligt. Hitler-Deutschland inszenierte eine weitere, diesmal mit dem Ziel der Zerstörung nicht nur der politischen, sondern auch der kulturellen, ja der physischen Substanz dieser Nation. Rußland, obwohl der Komplizenschaft gegenüber Polen schuldig, hatte zweimal die Brutalität des deutschen Imperialismus erfahren. Die Verträge von Brest-Litowsk im Jahre 1918 waren ein primitives militärisches Diktat, weit härter als der Vertrag von Versailles, und die Pläne der deutschen militärischen Elite waren Vorläufer noch weit schlimmerer Unterdrückung und Zerstörung im Zweiten Weltkrieg Mit der Totalitarismustheorie versuchten die Westdeutschen ihre Verantwortung für die Vergangenheit mit ihren revisionistischen Forderungen der Gegenwart zu versöhnen. Die moralischen Probleme des Revisionismus, insbesondere gegenüber Polen, wogen ironischerweise jedoch umso schwerer. je länger der zu revidierende Zustand anhielt. Im Jahre 1965 stellte ein Memorandum der protestantischen Kirche die Frage, ob sich aus dem Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht ein politischer oder sogar rechtlicher Widerspruch zu den Forderungen nach einer vollen Wiederherstellung des Gebietszustands von 1937 ergebe Und was Rußland betraf, so mußten die Deutschen doch anerkennen, daß Formen der Politik, die sie und die Russen zweimal in eine Art Ausrottungskrieg gegeneinander gestellt hatten, nicht richtig gewesen sein konnten. Daraus resultierte eine grundlegende und spezifische Voraussetzung westdeutscher Ost-politik: Der Zwang zur Kriegsverhütung, der sich aus der nuklearen Revolution und der Verwundbarkeit der Bundesrepublik ergab, wurde gestützt und ergänzt durch den politischen und moralischen Zwang zur Versöhnung. Die Frage war jedoch, wie dies mit den revisionistischen Forderungen in Einklang gebracht werden konnte, und zwar ohne das Hilfsmittel der Totalitarismustheorie, die pauschal Täter und Opfer gleichsetzte. 2. Revisionismus und Kalter Krieg Der Platz und die Rolle Deutschlands in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wurden von drei wesentlichen Faktoren bestimmt. Der erste Faktor war die territoriale Neuordnung in Osteuropa. Es war historisch nahezu unvermeidlich — nach allem, was in der Region vor und nach der Nazizeit geschehen war —. daß die Sowjetunion, Verein mit die im den Westmächten einen unprovozierten Krieg gegen Deutschland gewonnen und den Status der zweiten Supermacht erreicht hatte, territoriale Veränderungen fordern und auch erreichen würde. Der zweite Faktor ergab sich aus dem Problem, wie sich die Welt dauerhaft vor Deutschland schützen konnte. Die Institutionalisierung dieses Sicherheitsbedürfnisses lief keineswegs notwendigerweise auf die Teilung hinaus, obwohl die Teilung, auch die Teilung auf Dauer, zusätzlich zur Annexion der Ostgebiete, von Anfang an eine Möglichkeit bildete. Es war der dritte Faktor, der dieser Variante historisch zunächst zum Durchbruch verhalf: der Kalte Krieg. Die beiden verbleibenden Teile Deutsch-lands westlich der Oder-Neiße bekamen zentrale Bedeutung für die Sicherheit der neuen Bündnissysteme. umgekehrt waren die Allianzen wichtig für die Sicherheit der beiden deutschen Staaten. Die deutsche Frage wurde auf diese Weise zum integralen Bestandteil des Kalten Krieges, und die führenden Konfliktparteien begriffen in einem Prozeß des Tastens, der Herausforderung und des Widerstands, daß die Anerkennung des Status quo eine Voraussetzung dafür war. daß der Kalte Krieg tatsächlich ein kalter Krieg blieb.
Die deutsche Frage war ein ernsthaftes Problem im Verlauf des Kalten Krieges; aber so wie der Kalte Krieg eine ihrer Voraussetzungen war. so wurde er auch zur Lösung. Teilung und Integration der beiden Teile in die beiden Lager auf der Grundlage des Status quo bot Sicherheit vor Deutschland und vor der deutschen Frage. Natürlich hatten die Deutschen Probleme damit. Sicherheit so zu definieren, obwohl die führenden Eliten in beiden Teilen sich bewußt jeweils für ihre Seite im Ost-West-Konflikt und der Systemauseinandersetzung entschieden hatten -Der Kalte Krieg, und das ist die Ironie des deutschen Revisionismus, gab den Deutschen, insbesondere den Westdeutschen, soviel neues Gewicht. daß sie für eine Weile glauben konnten, sie würden darum herumkommen, die Rechnung für den verlorenen Krieg und die deutschen Verbrechen zu bezahlen, und das alte Reichsgebiet von 1937 wieder herstellen können. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Ohne den Kalten Krieg wäre es den Deutschen möglicherweise nicht einmal gelungen, ihr west-deutsches Territorium zu sichern.
Der Kalte Krieg war einer der entscheidenden Revisionis Gründe dafür, daß der westdeutsche -mus. ein Revisionismus mit dem Unterton der nationalen Befreiung, noch einmal politisches Gewicht erlangen konnte er war zugleich der Grund dafür, daß die Wiedervereinigung eine Illusion bleiben mußte, solange der Systemkonflikt die Ost-West-Beziehungen bestimmte. Die Teilung Deutschlands war damit determiniert. Um erfolgreich zu sein, hätte der westdeutsche Revisionismus Garantien dafür bieten müssen, daß er nicht wieder zu einer Gefahr für die europäische Ordnung wird. Das hätte eine gemeinsame Ost-West-Lösung für das Problem vorausgesetzt, wie Deutschland zu kontrollieren sei, und zwar eine andere Lösung, als sie der Kalte Krieg offerierte; unter den Bedingungen des Kalten Krieges jedoch war eine solche Lösung extrem schwierig. Die andere Option für den westdeutschen Revisionismus war, den Kalten Krieg selbst in seinem Sinne zu nutzen. Das setzte freilich voraus, daß die Sowjetunion bereit war.freiwillig eine fundamentale Niederlage und Schwächung ihrer Position im Ost-West-Konflikt zu akzeptieren. Das war jedoch ohne einen grundlegenden — und nicht voraussehbaren — Systemwandel ganz unwahrscheinlich. 3. Die moralischen Probleme des Status quo Aber selbst wenn Westdeutschland seinen Sonder-konflikt mit dem Osten beendete oder zumindest stillegte, waren damit nicht alle Probleme der Ost-politik bereinigt. Übrig blieb in jedem Fall der „normale“ Gegensatz unterschiedlicher Ideologien, sozialer Systeme und Sicherheitsinteressen. In den fünfziger Jahren war dieses Problem untrennbar mit dem Revisionismus verknüpft; in dem Maße, in dem der Revisionismus sich zurückbildete, mußten andere Probleme zutage treten. Wie sollte das Problem der Kriegsverhütung langfristig gelöst werden in einem Europa mit strukturellen Asymmetrien, und zwar sowohl militärischen wie politischen? Wie sollte dauerhaft Versöhnung mit einem Regime möglich sein, das keine wirkliche Legitimation besaß; wie hätte dies geschehen können mit einer Supermacht, die eine Form von Kolonialismus benötigte, um ihre Sicherheitsinteressen zu wahren?
Nazideutschland hatte der Sowjetunion größte Opfer auferlegt, das Recht auf Kompensation war der UdSSR nicht zuletzt aus moralischen Gründen nicht zu verwehren. Die machtpolitischen Bedingungen hatten dafür gesorgt, daß sie solche Kompensationen ohnedies erhielt. Das Problem war. daß diese Kompensationen auch russisch-sowjetische imperialistische Interessen befriedigten, die zum Teil älter waren als der Angriff Nazideutschlands und die zum Teil sogar in direkter Zusammenarbeit mit den Nazis verfolgt wurden. Der Hitler-Stalin-Pakt führte zu verschiedenen sowjetischen Annexionen, die nur zum Teil ethnisch gerechtfertigt werden konnten. Die annektierten Gebiete wurden sowjetisiert, mit Deportationen und der physischen Liquidation sogenannter Klassenfeinde bzw. Feinde Rußlands.
Auf die Probleme des Status quo in diesem Sinne aufmerksam zu machen, war jedoch für die Deutschen weitaus schwieriger als für jede andere westliche Partei im Ost-West-Konflikt. Die Deutschen waren weder politisch noch moralisch in einer günstigen Position, sich über sowjetische Verbrechen und Imperialismus zu beklagen. Jede deutsche Argumentation gegen den territorialen Status quo würde unausweichlich die Frage nach dem deutschen Revisionismus aufwerfen. Was würde das für Polen bedeuten, das Opfer des Imperialismus beider Nachbarn — sowohl der Deutschen wie der Russen — geworden war und nach all den vielen Opfern seinen neu gewonnenen territorialen Status unter keinen Umständen aufs Spiel setzen wollte?
Es blieben immer noch, auch für die Deutschen, die politisch-ideologischen und die militärischen Asymmetrien. Ein Arrangement mit dem Status quo in Europa war nicht nur ein Arrangement mit den Zugewinnen des sowjetischen Imperialismus, sondern auch mit der Realität kommunistischer Herrschaft in Ost-und Mitteleuropa, die nicht nur mit vielen westlichen Grundauffassungen und Wertvorstellungen unvereinbar war. sondern sich nachweisbar auch gegen die Hoffnungen und Bestrebungen der meisten Ostdeutschen und Osteuropäer richtete. Der entscheidende soziale Antagonismus im Ost-West-Konflikt war ja nicht die permanente Revolution von unten im industrialisierten Westen, sondern die permanente Konterrevolution von oben im Osten. Und es war ein Arrangement mit überlegenen militärischen Streitkräften und einem offensiven Verteidigungskonzept, das nicht nur destabilisierend war, sondern der anderen Seite auch sicherheitspolitische Vorteile eröffnete, jedenfalls den Westen mit den militärischen und politischen Problemen der erweiterten Abschreckung und der Option des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen belastete. Sollte sich jedoch herausstellen, daß ein offensives Vorgehen gegen den Status quo nicht nur das Risiko eines Krieges erhöhen, sondern sogar die längerfristigen Chancen für Veränderungen verringern würde; sollte sich herausstellen, daß die genannten Asymmetrien Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke auf Seiten der Sowjetunion waren; und sollte sich herausstellen, daß aus historischen und geostrategischen Gründen die Sowjetunion nicht ohne wesentliche Veränderungen ihres politischen Systems in der Lage sein würde, ihre Beziehungen zu ihren osteuropäischen Nachbarn zu normalisieren, dann konnte eine Politik der Versöhnung auf der Grundlage des Status quo auch eine moralische Politik sein — unter der Voraussetzung, daß sie an der Legitimität der demokratischen Hoffnungen festhielt und auf den Erfordernissen militärischer Stabilität insistierte. Daß auch eine solche Politik die östliche Seite noch in Verlegenheit bringen konnte oder jedenfalls Veränderungen nicht zu verhindern in der Lage war, war dann nicht mehr legitimerweise als Friedensstörung zu denunzieren.
II. Politische Optionen und Entwicklungen
1. Militärischer Revisionismus Der militärische Revisionismus und Imperialismus des Nationalsozialismus kam nicht von ungefähr und verschwand auch nach Hitlers Tod und der Niederlage der deutschen Wehrmacht nicht völlig Die ostpolitische Ideologie der letzten gesamtdeutschen Regierung unter Dönitz war. daß Deutschland versucht hatte, sich den bolschewistischen Fluten. die Richtung Westen strömten, entgegenzustemmen. Der Kampf gegen Ost und West gleichzeitig war von Deutschland nicht zu bewältigen gewesen, aber gab es vielleicht eine Option, gemeinsam mit dem Westen unter dem Banner der Demokratie gegen den Kommunismus zu kämpfen? Diese Option war mit dem Selbstverständnis der antifaschistischen Koalition nicht vereinbar und konnte es auch nicht sein. Sie entsprach auch nicht dem Geist, in dem die Deutschen selbst einen neuen Anfang setzten. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet die Deutschen. für Einheit und Freiheit zu wirken, aber auch für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Artikel 26 verbietet ausdrücklich die militärische Aggression. Die meisten Deutschen haben diese historische Lektion von Anfang an begriffen: Wenn es überhaupt eine Chance für eine Revision der Teilung gab, dann schied die Option eines neuen Aggressionskrieges ein für allemal aus. Auch in diesem Sinne ist Bonn nicht Weimar. Gewiß haben die Umstände diesen Lernprozeß nachdrücklich unterstützt. Der Verzicht auf militärische Revision war die Grundlage für die Integration Westdeutschlands in die westliche Allianz und seine neue Souveränität. In den entsprechenden Verträgen haben sich die Westdeutschen verpflichtet, unter keinen Umständen Gewalt anzuwenden, um Deutschland wiederzuvereinigen oder die Grenzen der Bundesrepublik zu verändern. Alle Streitigkeiten mit anderen Ländern müssen mit friedlichen Mitteln gelöst werden. Im Gegenzug haben die ehemaligen Besatzungsmächte ihre Unterstützung für Westdeutschlands revisionistische Ziele insoweit zugesagt, als sie sich auf den Alleinvertretungsanspruch beziehen
Damit blieb aber immer noch die Möglichkeit eines Befreiungskrieges als Antwort auf einen Angriff übrig, eine Art deutsche MacArthur-Option sozusagen. Das erste ausführliche westdeutsche Memorandum zur Militärstrategie, entworfen von früheren Wehrmachtsgenerälen im Jahr 1950 (die Himmeroder Denkschrift), und die frühen Überlegungen zur Verteidigung von Seiten Kurt Schumachers, eines Verfolgten des Nazi-Regimes, gingen tatsächlich beide in diese Richtung Die NATO hat jedoch zu keiner Zeit die militärischen Fähigkeiten für eine umfassende Gegenoffensive erworben, und Überlegungen in diese Richtung blieben in Deutschland heikel. Ein Beleg dafür ist die Sprache. Während im Englischen der zweideutige Begriff „Forward Defense“ zur Charakterisierung der NATO-Strategie verwendet wird, findet sich in deutschen Dokumenten und in der deutschen Diskussion eher der eingeschränkte Begriff der „Vorneverteidigung“ im Unterschied zur „Vorwärtsverteidigung“. In der Tat ist die Vorstellung, daß die defensive Orientierung der NATO und der Bundesrepublik Deutschland in der Organisation. Struktur und Ausrüstung der Bundeswehr zum Ausdruck kommen müsse, zu einer grundlegenden Maxime der westdeutschen Verteidigungsplanung geworden, ganz unabhängig von der Kritik der Defensiv-Verteidiger. Auch die offizielle westdeutsche Verteidigungspolitik nahm für sich immer in Anspruch, daß die Bundeswehr den Warschauer Vertrag nicht bedrohe, nicht bedrohen könne und die sowjetische Führung keine Veranlassung für eine andere Interpretation habe. Die kritischen Reaktionen auf AirLand Battle und auf die Diskussionen über konventionelle Vergeltung in den USA stehen in dieser Tradition 2. Westintegration und Ostpolitik aus einer Position der Stärke Adenauers historische Erfahrungen, seine regionale Herkunft und sein politischer Instinkt wiesen alle in Richtung Westen. Die Wiedervereinigung konnte für ihn die Westintegration nicht ersetzen, nur diese versprach die Wiederherstellung der Souveränität. Sicherheit und den Schutz der Freiheit Gleichwohl versuchte auch Adenauer, die Westintegration mit dem Ziel der Einheit zu versöhnen; er hielt daran fest, daß die Option für eine Seite im Kalten Krieg keineswegs die Teilung besiegeln werde. Rechtlich gesehen, das war jedenfalls die Fiktion, hatte sich ja bereits das ganze Deutschland dem Westen angeschlossen. Die Bundesrepublik galt als vollständiger Staat, als Rechtsnachfolger des alten Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937, der lediglich einiger Provinzen oder Länder beraubt worden war. Für die Regierungen unter Adenauer und diejenigen politischen Kräfte, die sie unterstützten, war Wiedervereinigung identisch mit einem Anschluß der „Sowjetzone“ und der Wiedereingliederung großer Teile der Provinzen östlich der Oder-Neiße.
Diese Wiedervereinigung war weniger in Zusammenarbeit mit den Russen zu verwirklichen, sondern eher gegen sie durchzusetzen. Die Bundesrepublik werde dann in der Lage sein, erfolgreich über die Wiedervereinigung zu verhandeln, wenn sie sich dem Westen anschließe, der Westen Deutschlands Ziele unterstütze und wenn der Westen stärker als die Sowjetunion sei. Beeindruckt von der Einigkeit des Westens, seiner politischen und militärischen Stärke (sprich Überlegenheit) sowie unter der Last des Rüstungswettlaufs und der Kosten für die Kontrolle und Unterdrückung unwilliger Verbündeter, würden die Sowjets sich auf die westlichen Argumente einlassen und nachgeben.
Die Strategie der Politik der Stärke — von Adenauer selbst nicht konsequent verfolgt — ging jedoch von drei fragwürdigen Annahmen aus. Die eine war. daß der Westen tatsächlich mit vollem Engagement die Wiedervereinigungswünsche der Westdeutschen gegen die Sowjetunion unterstützen werde. Die zweite war. daß der Westen tatsächlich stärker sei als die Sowjetunion und daß er von dieser Stärke auch Gebrauch machen könne. Die dritte und wichtigste Bedingung war. daß die Sowjets sich tatsächlich diesen Spielregeln unterwerfen würden. Wie ließ sich diese Politik mit dem Friedensanspruch und dem Zwang zur Stabilität vereinbaren? Argumentiert wurde, daß nicht der deutsche Revisionismus die Spannungen verursache, sondern daß die Teilung Deutschlands der entscheidende Grund für die Spannungen in Europa sei. Wenn die Welt an ernsthafter Entspannung interessiert war, dann mußte die Spaltung Deutschlands beendet werden. Alle anderen politischen Wege der Spannungsminderung, insbesondere Rüstungskontrolle, wurden dieser Argumentation untergeordnet. Bis weit in die sechziger Jahre machten westdeutsche Regierungen ihre Unterstützung für Rüstungskontrolle von Fortschritten in der deutschen Frage abhängig.
Es wurde jedoch bald deutlich, daß keine der drei grundlegenden Annahmen zu halten war. Zwar verfolgten die Vereinigten Staaten eine Zeitlang selbst eine Politik oder zumindest Rhetorik des „Revisionismus durch Stärke“, aber für den Westen insgesamt war die Teilung Deutschlands keineswegs eine ebenso offensichtliche Ursache für die Spannungen in Europa; die Unterstützung der westdeutschen Ansprüche war mehr ein Instrument der Westintegration als Ausdruck tatsächlicher revisionistischer Tendenzen. Der Zwang zur Kriegsverhütung, insbesondere seit sich das nukleare Patt abzeichnete, unterminierte die zweite Grundannahme der Politik der Stärke. Und was die sowjetischen Reaktionen betraf, so war es für viele zeitgenössische Beobachter schon damals offenkundig, daß die Politik der Stärke nicht glaubwürdig war, ja sogar das Gegenteil dessen bewirken würde, was sie zu erreichen vorgab
Die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland und die Versöhnung mit Frankreich waren Ergebnisse politischer Klugheit, aber der Preis für Adenauers Außenpolitik war hoch: das Unterlaufen früher westlicher Entspannungs-und Rüstungskontrollbemühungen, Unterstützung für eine neue Tradition eines unrealistischen Revisionismus und die Fortsetzung einer alten Tradition der Gegnerschaft zwischen Deutschland und Osteuropa. Adenauer traute der politischen und historischen Urteilsfähigkeit seiner Landsleute nicht, die Ideologie der „Politik der Stärke“ — Grundlage der Ostpolitik seiner konservativen Regierungen — trug jedoch gewiß nicht zu deren Verbesserung bei. Die Erblast der Hitlerzeit wurde ebenso verleugnet wie die Tatsache, daß sich eine deutliche Mehrheit der Westdeutschen für Sicherheit und Freiheit und damit erst einmal gegen die Wiedervereinigung entschieden hatte, wenn es überhaupt eine Entscheidung war. Der Hauptfehler der Politik der Stärke schließlich war. daß sie eine Tendenz der Fehleinschätzung sowjetisch-russischer Macht und der Überschätzung von Deutschlands Möglichkeiten fortsetzte — eine Tendenz, die bis ins 19. Jahrhun-dert zurückreicht: Deutschland würde politisch-militärischen Druck auf die Sowjetunion ausüben; die Russen würden somit aus Zentraleuropa herausgedrängt, und Deutschland würde wieder zu einer großen und respektablen Macht — diesmal unter dem Schutzschirm amerikanischer Überlegenheit und als Mitglied eines liberal-demokratischen Bündnisses 3. Revisionismus durch Verhandlungen und kalkulierte Schwäche Das Hauptargument der Gegner Adenauers war, daß die Wiedervereinigung in der einen oder anderen Form die Zustimmung der Sowjetunion voraussetzte. Unter Druck würden die Sowjets nicht nachgeben, und schon gar nicht, wenn das Ergebnis ein wiedervereinigtes und militärisch starkes Deutschland im Bündnis mit dem Westen sein sollte. Es gab zwei Alternativen zur Politik der Stärke, die beide auf eine Verhandlungslösung setzten: Die eine kam von der SPD-Opposition und die andere von der Gruppe derer, die sich für einen „dritten Weg“ Deutschlands bzw. Europas einsetzten.
Nach einem kurzen Flirt mit der Vorstellung von Deutschland oder Europa als „dritter Kraft“ orientierte sich die SPD-Führung ebenso eindeutig wie die anderen großen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland nach Westen; und sie war oder wurde ebenso eindeutig antikommunistisch. Aber die SPD wollte nun wirklich die Wiedervereinigung, durch die sie im übrigen zur stärksten politischen Gruppierung in Deutschland geworden wäre. Sie stand freilich vor demselben grundsätzlichen Problem, Sicherheit — sogar die Mehrheit der SPD-Anhänger fühlte sich von der Sowjetunion bedroht — mit Einheit zu verbinden, also für den Westen zu optieren, ohne die Russen zu verprellen. Außerdem mußte die SPD-Führung noch auf andere Traditionen in ihrer Klientel, nämlich Antimilitarismus und Neutralismus, Rücksicht nehmen
Auch die frühe Ostpolitik der SPD war widersprüchlich. In mancher Hinsicht war sie sogar nationalistischer als die des Kanzlers, und sie negierte die Realitäten des Kalten Krieges auf ihre eigene Art und Weise, indem sie diffuse kollektive Sicherheitsarrangements in Europa als Alternative präsentierte. Die SPD bewegte sich jedoch schon früh auf die NATO zu. Die Führung akzeptierte im wesentlichen die Notwendigkeit eines militärischen Beitrags zur westlichen Allianz — vorausgesetzt, alle noch verbleibenden Chancen einer Wiedervereinigung würden sorgfältig geprüft. Während Adenauers Strategie die Westintegration voraussetzte und auf einen Anschluß der Sowjetzone durch Verhandlungen aus einer Position der Stärke heraus baute, wollte die SPD zuerst verhandeln. Es war eine Art Doppelbeschluß-Politik. Die Bundesrepublik würde die Aussicht der militärischen Integration als Verhandlungsmasse einsetzen, aber außerhalb der europäischen Verteidigungsgemeinschaft oder der NATO bleiben, wenn die Sowjets bereit waren, auf die DDR zu verzichten.
Für kurze Zeit sah es so aus, als sollte die Politik der kalkulierten Schwäche von Erfolg gekrönt sein. Die Stalin-Noten von 1952 schienen sich auf den vorgeschlagenen Handel einzulassen: Wiedervereinigung versus Verzicht auf die militärische Westintegration. Aber selbst wenn die sowjetischen Angebote von 1952/53 substantiell und nicht nur taktisch gemeint waren, so muß die Aussicht auf eine annehmbare Lösung damals doch als gering eingeschätzt werden. Eine Wiedervereinigung nach diesen Vorschlägen war unter den gegebenen Umständen eine riskante Option — für die Sowjets, für den Westen, ja sogar für die Deutschen selbst, und viele Diplomaten auf der Seite der ehemaligen Alliierten und auch viele Deutsche waren sich dieser Risiken sehr wohl bewußt und gaben ihnen Ausdruck. Stalins Angebote an nationalistische Gruppen in Deutschland sind ein Hinweis auf diese Risiken, mit denen sich die Kritiker Adenauers nur selten ernsthaft auseinandersetzen Wie dem auch sei. am Ende rettete der Aufstand in der DDR Adenauers Westpolitik. er signalisierte aber zugleich das Scheitern seiner Ostpolitik.
Nach 1955 wurde der SPD allmählich klar, daß Verhandlungen nicht zu einer alsbaldigen Lösung des Problems der Wiedervereinigung führen würden. Daraufhin lockerte die Parteiführung die enge Verbindung zwischen Sicherheit und Einheit und begann sich beim Aufbau der neuen Bundeswehr zu engagieren. Sie akzeptierte allmählich die vollständige Westintegration, einschließlich der militärischen Dimension, sie hielt jedoch an der Idee der Wiedervereinigung fest. Aber ihre Strategie unterschied sich von der Adenauers, und sie ließ sich leichter an den allgemeinen Ost-West-Trend der Annäherung anpassen. Auch für die SPD hingen Frieden und Abrüstung eng mit der deutschen Frage zusammen. Aber während Adenauer fürchtete, Entspannung und Rüstungskontrolle würden seine Politik der Stärke unterlaufen, sah die SPD Spannungsminderung und Rüstungskontrolle oder Abrüstung in Europa als vorteilhaft für das Ziel der Einheit an. Bis spät in die fünfziger Jahre entwikkelte die Partei verschiedene Pläne, von denen der letzte noch einmal Entspannung, Abrüstung. Wiedervereinigung und kollektive Sicherheitsarrangements für die Länder in Mitteleuropa, die dann ihre Militärbündnisse verlassen würden, miteinander verband
Das Hauptproblem des Revisionismus auf der Grundlage kalkulierter Schwäche war, daß ein wiedervereinigtes Deutschland aller Voraussicht nach nicht schwach sein oder jedenfalls nicht bleiben würde, und wenn es schwach blieb, dann wäre es instabil gewesen und damit bei anhaltendem Ost-West-Gegensatz auch Objekt für Destabilisierungsversuche. War dieses Deutschland aber innenpolitisch stabil, dann würde es wieder versuchen. Ost und West gegeneinander auszuspielen. Denn es wäre weiterhin revisionistisch gewesen, einmal angenommen. daß Wiedervereinigung nicht den territorialen Status von 1937 wiederhergestellt, sondern nur die vier ehemaligen Besatzungszonen zusammengeführt hätte. Diese Überlegungen allein mußten erhebliche Zweifel bei Deutschlands ehemaligen Gegnern hervorrufen. Beide. Westen wie Osten, wollten ein Deutschland, das kalkulierbar war und nicht wieder außer Kontrolle geriet. Und je mehr sie sich uneins waren über die Form und den Inhalt eines wiedervereinigten Deutschland, desto mehr konzentrierten sie sich darauf, ihre jeweiligen Einflußzonen zu stabilisieren und mögliche Über-griffe der anderen Seite zu verhindern. 4. Die Neudefinition der nationalen Frage Schon im Jahre 1955 wurde deutlich, daß das ostpolitische Konzept der Regierung Adenauer nicht zu verwirklichen war. Aber die Konservativen verdrängten die Realität, obwohl sich die äußeren Voraussetzungen für einen Erfolg ihrer Strategie immer weiter verschlechterten. Um den Revisionismus in den sechziger Jahren besser mit internationalen Entwicklungen in Einklang zu bringen, entwickelte ein Teil der Christdemokraten im Verein mit den Freien Demokraten Ansätze einer neuen Politik: Westintegration und Revisionismus plus Entspannung. Die Grundannahme hinter der Doppelstrategie von Entspannung plus Revisionismus war die folgende: Durch eine Verbesserung der Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern sollten diese schließlich — in einer allgemeinen Atmosphäre der Spannungsminderung — davon überzeugt werden, daß ein wiedervereinigtes Deutschland eher mit ihren eigenen Interessen in Übereinstimmung zu bringen war als ein geteiltes Deutschland, ständige Quelle der Instabilität im Herzen Europas. Was also das Verhältnis zwischen Ostpolitik und Sicherheit betrifft. so hielt auch das neue Konzept an der alten Grundauffassung fest: Frieden und echte Entspannung setzten die Wiedervereinigung Deutschlands voraus.
Die Politik von Entspannung plus Revisionismus war der Versuch, die DDR nicht nur — wie bisher — im Westen und in der Dritten Welt zu isolieren. sondern auch im Osten. Das war auch der entscheidende Grund, warum diese Politik scheiterte. Aber damit war grundsätzlich die deutsche Ostpolitik in Bewegung geraten, eine Bewegung, die von der Großen Koalition fortgesetzt wurde. Die enge Kopplung von Rüstungskontrolle und Abrüstung an Fortschritte in der deutschen Frage wurde gelokkert. ebenso die Hallstein-Doktrin mit dem Alleinvertretungsanspruch Deutschlands durch die Bundesrepublik, die anstatt die DDR zu isolieren in zunehmendem Maße zur Isolation der westdeutschen Außenpolitik geführt hatte. Die Grundlagen für Wandel wurden gelegt. Gleichwohl hielt auch die Große Koalition an den Kernpunkten des Revisionismus fest, insbesondere der Nicht-Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze, und gegen Ende der sechziger Jahre geriet die Ostpolitik sowohl im Innern wie nach außen ins Stocken.
Die neue SPD-FDP-Koalition, die sich 1969 formierte. und mit ihr die Mehrheit der Westdeutschen akzeptierten dann endlich das. was Gerhard Schröder einmal die „sogenannten Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges“ genannt hatte. Das war der Kern der Verträge mit der Sowjetunion. Polen und der DDR, in denen alle Vertragsparteien auf Gebietsansprüche gegeneinander und überhaupt verzichteten. Der Gewaltverzicht war nicht neu. Dazu hatte sich Deutschland schon wiederholt bei verschiedenen Gelegenheiten verpflichtet. Neu war die Kombination dieses Gewaltverzichts gegenüber dem Osten mit einer Anerkennung der politischen und territorialen Gegebenheiten. Auch damit war — schon aus verfassungsmäßigen Gründen — weder politisch noch juristisch die Option der Wiedervereinigung ein für allemal ausgeschlossen. Aber dieses Prinzip wurde nun der tatsächlichen Anerkennung des Status quo untergeordnet, eines Status quo, der „in einer für uns günstigen Form ... als Modus vivendi um der Sicherheit willen“ zu stabilisieren war
Es ist durchaus nicht untypisch für die westdeutsche Ostpolitik, daß jemand, der emigriert war und gegen das Nazi-Regime gekämpft hatte, schließlich die Rechnung für den Krieg beglich und am Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto niederkniete Diesmal entstand daraus kein neuer Mythos vom Dolchstoß in den Rücken, jedenfalls keiner von Bedeutung. Die Realität der Niederlage und der Teilung der Welt sowie der Zwang zur Kriegsverhütung ließen sich nicht verleugnen. Aber auch die Notwendigkeit der Versöhnung mit dem Osten setzte sich endlich durch. Wenn die Bundesrepublik eine aktive Außenpolitik beibehalten und in konstruktiver Form zur Entwicklung der Ost-West-Beziehungen beitragen wollte, dann mußte sie ihren Sonderkonflikt mit dem Osten beenden. Mit den Verträgen formalisierten die Deutschen eine politische Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, die sich schon im Umfeld der Berlin-Krise in den frühen sechziger Jahren abgezeichnet hatte.
Die Bundesrepublik definierte den Zusammenhang zwischen Sicherheit und der deutschen Frage um. Der Osten hatte schon lange darauf bestanden, daß die Nicht-Anerkennung der deutschen Teilung den Frieden und die Stabilität bedrohe. Der Westen hatte sich dieser Interpretation eine Zeitlang widersetzt, aber es war bald deutlich geworden, daß seine Interessen und seine tatsächliche Politik dieser Interpretation sehr viel näher standen, als der verbale Tribut an den Revisionismus glauben machen konnte. Das neue Paradoxon der westdeutschen Ostpolitik war, daß der einzige Weg, die Realitäten der Teilung zu überwinden, darin bestand, sie zunächst einmal zu akzeptieren. Die Anerkennung der Grenzen war eine notwendige Voraussetzung für ihre Überwindung, und die — wie immer vorläufige — Anerkennung der Teilung in zwei unterschiedliche Staaten war der einzige verbleibende Weg, nationale Gemeinsamkeiten zu bewahren. Einheit bedeutete jetzt den Versuch, die Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten zu verbessern und gemeinsame Verantwortung wahrzunehmen. Aktive Koexistenz war eine neue und aussichtsreichere Möglichkeit, Frieden und Sicherheit mit der nationalen Frage zu versöhnen.
Die SPD hatte etwa zehn Jahre gebraucht, um die Westintegration zu akzeptieren, nach ca. 15 Jahren stellte sie sich auf die Realität der Teilung ein. Die CDU, die schließlich die Westintegration zur raison d’etre der neuen Republik gemacht hatte, brauchte mehr als 25 Jahre, um die unvermeidlichen Konsequenzen ihrer eigenen Politik zu begreifen. In den Diskussionen über die Verträge mit Moskau, Warschau und der DDR hielt sie noch an den alten Dogmen fest, obwohl sie sich an der Ratifizierung der Verträge beteiligte. Es waren Rückzugsgefechte, und das letzte größere dieser Art war die Gegnerschaft zum KSZE-Prozeß. Auch hier hat die CDU ihre Position verändert. Verteidigung plus Entspannung auf der Grundlage der Vertragspolitik der frühen siebziger Jahre wurde zum Eckpfeiler westdeutscher Sicherheitspolitik. Natürlich hat es Akzentverschiebungen gegeben, aber diese Politik hat das Ende der sozial-liberalen Koalition überdauert. Der berühmte Harmel-Bericht hatte für die atlantische Allianz die Grundlagen des Doppelkonzepts gelegt, die Verträge ermöglichten es der Bundesrepublik. diese Politik nicht nur zu unterstützen, sondern einer der aktivsten Befürworter der Entspannung zu werden.
Das Zwei-Pfeiler-Konzept fand bald breite Unterstützung in der politischen Führung und in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Entspannung galt als notwendige Ergänzung zur Verteidigung bzw. zunehmend sogar als ein möglicher Ersatz dafür. Verteidigung plus Entspannung bildet das Grund-verständnis sowohl der sozial-liberalen wie der liberal-konservativen Weißbücher. Oder um es in den Worten von Außenminister Genscher auszudrükken.der in seiner Person zum politischen Symbol der Kontinuität geworden ist: „Die Ambivalenz der Harmel-Strategie, die die Sowjetunion als Gegner und Verhandlungspartner gleichzeitig betrachtet, beruht auf der Ambivalenz des Lebens selbst. Die Entspannung richtet sich auf das überragende Interesse des Ostens und des Westens: den Nuklearkrieg zu verhindern.“
Neben der Kriegsverhütung lag der zweite Hauptgrund des Konzepts in der Abmilderung der Tei-lung Europas, zum Beispiel in den greifbaren Vorteilen für die Deutschen beiderseits der Demarkationslinie und darüber hinaus für die Stabilität und Lebensfähigkeit Berlins. Das dritte Motiv war die Hoffnung, daß Entspannung und Zusammenarbeit günstige Voraussetzungen schaffen könnten für einen „evolutionären Wandel“ im Osten, insoweit Entwicklungen in der Sowjetunion und in Osteuropa bzw.der DDR überhaupt von außen zu beeinflussen waren.
Der Grad an Übereinstimmung in diesen Fragen, der sich in den achtziger Jahren herausbildete, ist gewichtig, wenn man sich die harten Auseinandersetzungen, ja die politischen Krisen vergegenwärtigt, die die Bundesrepublik in den frühen Jahren der Ostpolitik Brandts und Scheels erlebte. Auch die liberal-konservative Regierung sprach bald von einer besonderen Verantwortung beider deutscher Staaten für Frieden und Stabilität in der Mitte Europas, die aus der deutschen Geschichte und der gegebenen politischen und geographischen Konstellation erwachse. Die Politik des Dialogs mit der DDR wurde als Beitrag der Bundesrepublik zu einer aktiven europäischen Friedenspolitik präsentiert, und Honeckers Besuch — mit vollem Protokoll — im September 1987 war das deutlichste Beispiel für die Veränderungen im konservativen Lager und gleichzeitig für die Kontinuität derjüngeren westdeutschen Ostpolitik, Gewiß gab es noch Positionsdifferenzen etwa über die Grenzen von 1937 und bei der Frage, ob am Ziel der Einheit prinzipiell festzuhalten oder ob es definitiv aufzugeben sei. Hier hat die jüngste Entwicklung zu einem überraschenden Klärungsprozeß geführt, in dem Entwicklungslinien (west) deutscher Ostpolitik zusammenlaufen.
III. Die deutsche Frage und die gegenwärtige Transformation des Ost-West-Konflikts
Die Ost-West-Beziehungen auf der Grundlage der geographischen, politischen, militärischen und systemischen Teilung der Welt hatten den Vorteil, daß sie die Einfluß-und Machtverteilung der Supermächte in Europa regulierten und die deutsche Frage kontrollierten. Die Problematik dieser Teilung bestand darin, daß sie auch in ihrer Entspannungsvariante nur eine begrenzte und politisch brüchige Stabilität bot. Begrenzt, weil sie den Freiheitswünschen der im realen Sozialismus lebenden Völker nur bedingt Rechnung tragen konnte; politisch brüchig, weil es eine Entspannung auf der Grundlage fortdauernden Antagonismus blieb und die Bündnisstruktur auf der östlichen Seite mit Gewalt aufrechterhalten wurde.
Die beginnende Auflösung dieser Struktur ist vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts geradezu revolutionär. Der Reformprozeß in der Sowjetunion und die Revolution in Ost-und Mitteleuropa bieten Chancen für grundlegende Veränderungen nicht nur in den Ost-West-Beziehungen, sondern in der Weltpolitik insgesamt. Die Risiken dieses Prozesses sind gleichwohl unübersehbar. Die zentrale Herausforderung für die Politik in Ost und West besteht darin, den Systemwandel im doppelten Sinne — also den dramatischen Auflösungsprozeß des Sozialismus und die Transformation des Ost-West-Konflikts in Europa und zwischen den Supermächten — ohne gewaltsame Eruptionen und Rückschläge zu organisieren. Die für Europa alles überragende Frage ist, wie stabil Politik sein kann, die einerseits die problematische, jedoch vertraute und einfache, vor allem aber dominierende Superstruktur des Ost-West-Konflikts verläßt, andererseits damit die komplizierte (und blutige) Vergangenheit europäischer Nationalgeschichte wieder heraufbeschwört. Bleibt diese Vergangenheit kritischer Bezugspunkt für eine aktive gesamteuropäische Politik oder entlarvt sie diese gesamteuropäische Politik als Illusion?
Zu den potentiellen Risikofaktoren der doppelten. Systemtransformation zählt nach wie vor die Problematik des Gewichts der Deutschen in der Mitte Europas. Die deutsche Frage hat zwar aufgrund der veränderten weltpolitischen Konstellation bei weitem nicht mehr die Bedeutung wie im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik, und sie stellt sich heute auch anders als 1945, zur Zeit des Kalten Krieges oder noch in den siebziger Jahren. Aber sie stellt sich, und zwar nach wie vor in dem Sinne: Was trauen die anderen und wir Deutsche uns selbst zu, positiv wie negativ? Daß die deutsche Frage immer noch so diskutiert wird, ist der beste Beweis dafür, daß sie auch unter veränderten Bedingungen weiter besteht.
Daß der einheitliche deutsche Nationalstaat ein Problem für Stabilität und Frieden sein könnte, ist keine Erfindung realsozialistischer Propaganda. Das Problem ist ein Ergebnis deutscher Geschichte oder genauer deutschen Unvermögens, mit deutscher Lage und mit deutschem Vermögen sorgsam umzugehen. Die leidvollen Erfahrungen mit deutschem Imperialismus und Rassismus bleiben den Völkern Europas in verständlicher Erinnerung. Es ist eine Forderung der Moral wie des aufgeklärten Eigeninteresses, daß sich die Deutschen hüben wie drüben mit diesem Problem auseinandersetzen. Unabhängig von der sicherheitspolitischen Problematik des deutschen Einheitsstaates im engeren Sinne stellt sich die Frage nach dem machtpolitischen Gewicht der vereinigten Potentiale von Bundesrepublik und DDR. Sind nicht auch andere Formen der Friedensstörung — wenn Frieden weiter verstanden wird als die Abwesenheit von Krieg — denkbar? Könnte ein vereinigtes, macht-und nationalbewußtes Deutschland nicht mit anderen Instrumenten Druck auf seine Nachbarn ausüben? Wenn von polnischen Gesprächspartnern z. B. Bedenken geäußert werden, dann haben sie heute vor allem das Problem der wirtschaftlichen Asymmetrie im Verhältnis Deutschlands zu Osteuropa und damit das Risiko der Abhängigkeit im Auge, die gerade im Falle Polens politisch sensibel werden könnte. Eine Reihe von Faktoren sprechen jedoch dafür, daß auch ein vereinigtes Deutschland ein loyales und friedfertiges Mitglied der sich entwickelnden gesamteuropäischen Völkergemeinschaft sein wird. Als erster Punkt ist der diskutierte neue Grundkonsens westdeutscher Ostpolitik zu nennen. Am Beginn dieses Konsenses stand der Gewaltverzicht: äußere Konsequenz aus der totalen Niederlage, der neuen Mächtekonstellation mit der nuklearen Revolution und innere Konsequenz aus der blutigen Vergangenheit deutscher Außenpolitik. Schon dem frühen Wiedervereinigungs-Revisionismus war klar, daß die militärische Option definitiv ausschied. Diese Einsicht markiert einen wichtigen Bruch mit deutschen Traditionen. So hatte die Weimarer Republik auch in den gemäßigteren Varianten ihrer Ostpolitik den Einsatz von Gewalt — insbesondere gegenüber Polen — nie völlig ausgeschlossen; für einen großen Teil der konservativen Führungsschichten war damals ein solcher „Waffengang“ nur eine Frage der Zeit.
Der zweite wichtige Entwicklungsschritt war die Differenzierung der revisionistischen Hoffnungen und Forderungen, d. h.der in Etappen vollzogene „Verzicht“ auf die ehemals deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße. Der Weg führte von „Dreigeteilt — niemals“ über die EKD-Denkschrift von 1965 und die Kontroversen um die Ostverträge Anfang der siebziger Jahre bis zur selbstverständlichen Anerkennung der Grenzen zwischen deutschem und polnischem Territorium durch nahezu alle Deutschen, insbesondere die gesamte politische Elite. Die Einsicht, daß hier angesichts eines von den Deutschen selbst brutal vorangetriebenen Geschichtsverlaufs nichts mehr zu holen war. vielmehr aus moralischen wie realpolitischen Gründen ein Neuanfang auf dem Ergebnis der alten Ge33 schichte gesucht werden mußte, findet sich ansatzweise schon bei Adenauer. Es bedurfte eines langwierigen und schwierigen Prozesses der Auseinandersetzung und Aussöhnung im Inneren wie nach außen, um diese Einsicht konsensfähig werden zu lassen. Die reale Aussicht auf Neuvereinigung der beiden deutschen Teilstaaten hat schließlich die letzten, ohnehin mehr taktischen als prinzipiellen Vorbehalte beiseite geräumt.
Der dritte Schritt schließlich war der Übergang von der Macht zum Kompromiß in der deutschen Ostpohtik Am Anfang stand die Vorstellung, die Sowjetunion könne durch politischen Druck zur Korrektur der Ergebnisse des von Deutschland selbst gerade im Osten als Aggressions-und Vernichtungskrieg geführten und schließlich verlorenen Zweiten Weltkrieges veranlaßt werden. Es folgte eine Wiederannäherung an die Sowjetunion und an Osteuropa, aber die DDR blieb bis zur neuen Ostpolitik aus der Entspannung ausgeklammert. Am Ende hatte sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, daß sich deutsche Interessen am besten mit einer Politik der Verständigung verwirklichen lassen. Das Engagement beider deutscher Staaten für die Rüstungsbegrenzung im Rahmen kooperativer Strukturen — nicht wie in der Weimarer Republik als Deckmantel für revisionistische Ansprüche — markiert am deutlichsten die neue Orientierung.
Es kommt hinzu, daß die Bundesrepublik Deutschland inzwischen fest in den Westen integriert ist. Selbst wenn die Klammer des Militärbündnisses, dessen ursprüngliche Funktion auch die Kontrolle Deutschlands war, eines Tages entfallen sollte, so bliebe ein deutscher Sonderweg zwischen West und Ost doch äußerst unwahrscheinlich. Die Integration umfaßt weit mehr als die militärische Dimension, sie gilt insbesondere für den ökonomischen und den kulturellen, zunehmend aber auch für den politischen Bereich. Bei global wachsender Interdependenz zählen Westeuropa und die gesamte nordatlantische Region zu den am dichtesten integrierten Gebieten. Die transnationalen Verflechtungen und die supranationalen Kompetenzen in Europa werden noch weiter zunehmen, und ein völliger politischer und militärischer Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa steht auch längerfristig nicht zur Diskussion.
Die Einbettung deutscher Außenpolitik gilt nicht nur für Westeuropa und den Nordatlantik, sie gilt --wenn auch noch in abgeschwächter Form — inzwischen bereits für ganz Europa. Der KSZE-Prozeß bewirkt genau jene Stabilisierung, die Europa in der Zwischenkriegszeit nicht gelungen ist. Dieser Prozeß hat nach fünfzehn Jahren die Leistungen des Völkerbundes im Bereich der Vertrauensbildung, der Spannungsminderung und der Kooperation, und zwar über die Systemgrenzen hinweg, schon bei weitem übertroffen. Die Deutschen profitieren von diesem Prozeß, und er findet — die anfänglichen Vorbehalte der Konservativen waren bald ausgeräumt — fast einmütige Unterstützung. Mit der Zurückbildung des Systemgegensatzes wird die KSZE noch an Bedeutung gewinnen.
Die genannten Integrationseffekte werden auch für ein vereinigtes Deutschland gelten. Die Bundesrepublik Deutschland ist heute eine funktionierende Demokratie westlichen Typs, und es bestehen gute Aussichten, daß ein vereinigtes Deutschland ebenfalls eine stabile Demokratie hervorbringt, auch wenn man die noch zu verarbeitende Erblast des Stalinismus in Rechnung stellt. Dabei ist vor dem Hintergrund der deutschen Einigungsgeschichte des 19. Jahrhunderts — Scheitern der demokratischen Nationalbewegung, Einigung „von oben“ mit Hilfe von Kriegen gegen Dänemark, ÖsterreichUngarn und Frankreich — der demokratische und friedliche Charakter dieses Zusammenschlusses von besonderer Bedeutung.
Was das Gewicht eines neuvereinigten Deutschland angeht, so läßt sich nicht bestreiten, daß es geographisch wieder die Mitte Europas bildet, wenn auch nicht mehr in so dominierender Weise wie vor und noch nach dem Ersten Weltkrieg. Das wirtschaftliche Potential der Deutschen wird mit der Vereinigung weiter wachsen. Doch auch hier muß die Perspektive gewahrt bleiben: Alle Daten zeigen, daß das Gewicht der Deutschen in Europa erheblich, aber von Dominanz weit entfernt ist; vor allem, wenn man in Rechnung stellt, daß auch die Potentiale der Supermächte außerhalb der Zentralregion — im Verhältnis zur Zwischenkriegszeit in qualitativ veränderter Form — mit Europa verbunden sind bzw. auf Europa einwirken. Außerdem wird der wirtschaftliche Wiederaufbau der DDR auf Jahre hinaus Energien binden und zusätzliche Anforderungen an den ökologischen Umbau stellen.
So bleibt die begründete Hoffnung, daß die neue Vernunft und moralische Qualität deutscher Außenpolitik auch in schwierigeren Zeiten Bestand haben wird. Das Gewicht der deutschen Mitte in Europa ist nicht zwangsläufig fatal. Die Verwundbarkeit Deutschlands war genausowenig zwingend wie die Gefährdung seiner Nachbarn; beides war das Ergebnis schlechter Politik, nicht das Produkt der geographischen Lage und Größe. Warum sollten die beiden deutschen Staaten mit ihrer Neuvereinigung nicht sowohl nach Ost wie West für Europa wie für sich selbst jene produktive und konstruktive Rolle spielen, zu der es in der jüngeren deutschen Geschichte ja auch Ansätze gab? Die inneren wie äußeren Voraussetzungen dafür waren jedenfalls noch nie so günstig. Deutschland hat die historische Chance, ein Experimentierfeld für das Zusammenwachsen des politisch, wirtschaftlich und psychologisch immer noch geteilten Europa zu werden. Die erste große Prüfung findet in diesen Wochen und Monaten statt. Wird es der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gelingen, der Sowjetunion die Annahme der Vereinigung und damit einer einschneidenden politisch-strategischen Veränderung in Europa durch substantielle Abrüstungsangebote zu erleichtern? Der Friede in Europa hängt im übrigen heute weniger an der deutschen Frage als an der Zukunft der Perestroika in der Sowjetunion.