Wohl selten in der Vergangenheit sind die berufenen Interpreten des Zeitgeistes so von der Geschichte widerlegt worden wie im Fall der deutschen Frage. Der Herbst 1989 mit seiner friedlichen Revolution in der DDR hat über Nacht das gesamte politische Koordinatensystem, wie es sich in den vergangenen vierzig Jahren europäischer Politik entwickelt hatte, in sich zusammenbrechen lassen. Das „Ende der Nachkriegszeit“ konnte nicht sinnfälliger vorgeführt werden als mit dem Fall der Berliner Mauer. Nachträglich muß es verwundern, mit welcher Selbstverständlichkeit man sich im Status quo eingerichtet hatte und bisweilen sogar die Teilung Deutschlands als Garanten des Weltfriedens für das letzte Wort der Geschichte hielt.
Hier interessieren weniger das Unvermögen, sich eine Wiedervereinigung vorstellen zu können als jene Tendenzen, die aus der Teilung den Schluß ableiteten, der einheitliche Nationalstaat sei an sich historisch überholt und für die Deutschen auch nicht erstrebenswert. Noch im Dezember 1989, nachdem in der DDR der Ruf der Demonstranten bereits lautete: „Wir sind ein Volk“ verkündete die SPD in ihrer „Berliner Erklärung“ -man wolle „nicht zurück in das Zeitalter der Nationalstaaten“. Vielmehr gelte es. „auf dem Wege zur europäischen und zur deutschen Einheit“ die Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten „immer enger und umfassender zu gestalten und ihr unverzüglich eine neue Qualität zu geben“. Deutlicher noch wurde bereits 1986 dem Ziel der staatlichen Einheit in einem Grundsatzpapier der Bundestagsfraktion der Grünen widersprochen, wobei sogar die kulturelle Zusammengehörigkeit der Nation in Frage gestellt wurde. Gefordert wurde eine „Selbstanerkennung“ der Bundesrepublik und vom „Selbstbetrug gesamtdeutscher Identität“ gesprochen, der zu beenden sei, um „eine selbstkritische Hinwendung der bundesdeutschen Gesellschaft zur eigenen demokratischen Verfassung und die Herausbildung einer eigenen, demokratischen Identität“ zu forcieren
Der Streit lebte in der Partei, vehement wie nie zuvor, nach den Umwälzungen in der DDR wieder auf, bis schließlich eine knappe Mehrheit erkannte, daß ein Festhalten an der Zweistaatlichkeit zu „politischer Handlungsunfähigkeit“ führe Die Vorbehalte gegenüber der Idee der Nation, die Ablehnung der Wiedervereinigung Deutschlands und die Forderung nach einer eigenen, bundesdeutschen „demokratischen Identität“ waren in den siebziger Jahren bis weit in die liberale Mitte nicht untypisch. Umso verwunderter, ja abschätziger, fiel auch die Reaktion auf das neue gesamtdeutsche Nationalbewußtsein in der DDR aus.
Diese Entwicklung stellt theoretisch weitreichende Fragen, die alle um den Begriff der Nation kreisen. So muß man sich heute fragen, ob die Idee der Nation angesichts globaler Probleme und notwendiger internationaler Zusammenarbeit selbst noch zeitgemäß ist, ob nach über vierzigjähriger staatlicher Teilung überhaupt noch von einer deutschen Nation gesprochen werden kann. Zu untersuchen wird auch die Frage sein, weshalb in der DDR ein nationales Eigenbewußtsein offensichtlich so gut wie nicht entstanden ist Weshalb sich auch in der Bundesrepublik die Verneinung des Nationalen selbst oder die Reduktion des nationalen Bewußtseins auf den westdeutschen Staat letztlich nicht hat durchsetzen können. Dazu wird man den Begriff der Nation mit seinen Implikationen näher untersuchen und nach der Selbstdefinition der Bevölkerung wie der Regierenden in beiden deutschen Staaten während der mehr als vierzigjährigen Teilung fragen müssen. Alle Fragen laufen schließlich darauf hinaus, ob und in welchem Maße die Substanz der Nation während der vierzigjährigen Teilung erhalten geblieben ist.
I. Der Begriff der Nation
Um Bedeutung und Stellenwert der Idee der Nation im Hinblick auf den deutschen Einigungsprozeß bewerten zu können, muß kurz auf den Stand der Diskussion um den Begriff selbst eingegangen werden. Ohne eine klärende Darlegung der verschiedenen Ansätze läßt sich die Bedeutung für die Deutschen in ihrer momentanen Situation nicht hinreichend verdeutlichen.
Auf Friedrich Meinecke geht die Unterscheidung von Kultur-und Staatsnation zurück. In seiner bekannten Schrift „Weltbürgertum und Nationalstaat“ hat Meinecke zwischen jenen Nationen unterschieden. die „vorzugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz“ und solchen, „die vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen“ Diese Unterscheidung war entwicklungsgeschichtlich gedacht, differenzierte also historisch zwischen jenen Nationen, die aus einem ethnischen Zusammengehörigkeitsgefühl heraus einen eigenen Staat erkämpft oder doch wenigstens angestrebt hatten, und jenen, bei denen zuerst ein wie auch immer zustandegekommener Staat existierte, der beispielsweise wie in Frankreich über die Jahrhunderte hinweg sich auch ethnisch und kulturell zu einer Einheit, eben einer Kulturnation, entwickelt hatte.
In den meisten Fällen läßt sich die Tendenz beobachten, daß Staatsnationen versuchen, den Charakter ihrer Künstlichkeit durch die nachträgliche Entwicklung einer eigenen Nationalkultur zu überwinden, es sei denn, sie beruhen gerade auf der ausdrücklichen Anerkennung und dem Zusammenschluß verschiedener ethnischer Gruppen. Die Erfahrung hat immer wieder gezeigt, daß Kulturnationen in jedem Fall die stabileren Gemeinwesen bilden. Nur zu oft ist in der Vergangenheit die Staats-nation dagegen das Produkt rein gouvernementaler Entscheidung gewesen, ohne daß die betroffenen Bevölkerungsteile dabei ein Mitspracherecht hatten. Als staatsnational müssen aber auch jene Versuche angesehen werden, die anstelle kulturnationaler Zusammengehörigkeit eine andere Idee zur Grundlage staatlicher Organisation machen.
Für die Situation der deutschen Frage hat diese Unterscheidung eine von Meinecke überhaupt nicht vorauszusehende Bedeutung erlangt, weil hier ein vorhandener Nationalstaat gespalten wurde, der die klassische Entwicklung von der reinen Kulturnation zum einenden Staat bereits hinter sich gebracht hatte und somit eine historische Rückentwicklung stattfand. Wie waren die beiden Teile Deutschlands unter dem Gesichtspunkt der Nationstypologie zu definieren? Konnte die Kulturnation unter der staatlichen Teilung wirklich auf Dauer überleben, oder mußten sich nicht die beiden Staaten im Laufe der Zeit zu Gemeinwesen mit eigener kultureller Identität entwickeln, also zu separaten Staatsnationen werden, die sich nur noch über die relative Beliebigkeit ihres staatlich verfaßten Territoriums definierten? Mit anderen Worten, wäre unter bestimmten Voraussetzungen das Aufgehen der Kultumation in zwei neue Staatsnationen grundsätzlich überhaupt denkbar gewesen, wie es kommunikations-oder besser partizipationstheoretische Ansätze nahelegen Es geht also letztlich um die Frage, inwieweit ethnisch-kulturelle und historisch-genetische Faktoren im Sinne eines aufklärerischen Politikbegriffs für die Selbstdefinition von politischen Großgemeinschaften obsolet geworden sind. Um dieses zu klären, müssen wir uns einige wichtige Definitionen des Wesens von Nationen näher anschauen.
Die objektiven Definitionen stellen auf bestimmte, für die Nation signifikante Merkmale ihrer Mitglieder ab, die unabhängig vom Willen der einzelnen die Nation konstituieren. Gemeinsame Herkunft, Geschichte, Sprache und Kultur sind die Merkmale , die in erster Linie immer wieder genannt werden. Die Erklärungsbedürftigkeit beginnt bereits mit dem Merkmal der gemeinsamen Sprache. Eine deutsche Sprache als gemeinsames Erkennungsmerkmal ist praktisch erst durch Luthers Bibelübersetzung geschaffen worden. Zwei voneinander durch die zweite germanische Lautverschiebung getrennte Sprachen, das Hoch-und das Niederdeutsche, wurden durch sie erst in einer gemeinsamen Hoch-und Literatursprache überwölbt Zudem hat sie die nationale und damit staatsrechtliche Separationen nicht verhindern können. Das Beispiel Österreichs mag für den deutschsprachigen Raum historisch nicht unproblematisch sein; die Schweiz jedoch kann durchaus als ein solches gewertet werden. Ebenso hat eine gemeinsame englische Sprache durchaus verschiedene Nationen entstehen lassen. Gleiches gilt für das Spanische und den südamerikanischen Raum. Die Formel der Frankfurter Nationalversammlung: „Soweit die deutsche Zunge klingt“ war bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie die gemeinsame Sprache überhaupt, kein hinreichendes Merkmal für die Bestimmung einer Nation. Die Sprache kann überdies nicht generell als objektives Merkmal angesehen werden, da ihre Veränderung und Differenzierung oft gerade das Produkt vorausgehenden nationalen Wollens ist
Andererseits ist die Nation ohne eine gewisse sprachliche Homogenität nicht denkbar. Schon wegen der schlechthin entscheidenden Bedeutung der Sprache für die Kultur im weitesten Sinne müssen mehrsprachige Gemeinwesen stets als Staatsnationen begriffen werden.
Die nationalstaatlich geprägte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat die Vorstellung abstammungsmäßiger Zusammengehörigkeit zum entscheidenden Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht, ohne sich allerdings allzusehr um genaue Abgrenzung der einzelnen ethnischen Gruppen zu kümmern. Weder realhistorisch noch sprachgeschichtlich läßt sich dieser Ansatz halten. Bis in unser Jahrhundert hinein ist die Mitte Europas in nicht unerheblichem Maße auch ein ethnischer Schmelztiegel gewesen. Herders idealistische Lehre von den „Volksgeistern“, die allein den einzelnen Völkern geschichtsbildende Kraft zuschreibt, ist heute genauso wie die Vorstellung von der Nation als konstitutiver Abstammungsgemeinschaft, die die frühe Nationslehre etwa bei Johann Gottlieb Fichte, Carl Salomon Zachariae, Wilhelm Maurenbrecher, Friedrich Julius Stahl, Constantin Frantz oder Robert von Mohl weithin bestimmt hat, nicht ohne deutliche Einschränkungen anwendbar. Selbst haben diese Vorstellungen jedoch ihrerseits viel zur Bildung eines mythischen Nationalbewußtseins beigetragen. Unstreitig dürfte sein, daß sich im Laufe der Geschichte, beeinflußt durch besondere kulturelle, soziologische und historische Gegebenheiten, spezifisch ethnische Einheiten herausgebildet haben, die ihrerseits die Form der jeweiligen nationalen Identifikation maßgeblich mitbestimmt haben.
Einerseits kann sich das nationale Selbstbewußtsein praktisch nur durch den Rückgriff auf die Tradition oder geschichtliche Mythen legitimieren, andererseits wirkt ein so begründetes nationales Identifikationsmuster seinerseits im Sinne einer inneren Homogenisierung von sich aus fort. Otto Bauers Begriff der „Schicksalsgemeinschaft“ dürfte wohl die am meisten realistische Erklärung des Entstehens von ethnischen Gemeinschaften sein, weil sie die „nationale Eigenart“ anerkennt, ihre Entstehung jedoch als Ergebnis historischer Entwicklung deutet, deren Fortgang nach vorne offen ist. Er beschreibt die Nation als eine aus gemeinsamem „Erleben und Erleiden des Schicksals“ entstandene Kultur-und „Charaktergemeinschaft“. Für Bauer bringt „nur das in durchgängiger Wechselwirkung untereinander und in steter Beziehung aufeinander erlebte Schicksal“ die Nation hervor In welchem Maße die Deutschen während der Teilung in diesem Sinne Schicksalsgemeinschaft und damit Charaktergemeinschaft geblieben sind, wird die Zukunft erweisen müssen.
Ein völlig entgegengesetzter Ansatz wird von den Vertretern der sogenannten subjektiven Nationstheorien verfochten. Hier konstituiert erst der Wille, eine Nation zu sein, die Nation selbst Das Grundprinzip dieser Auffassung kommt wohl am prägnantesten in der berühmten Formulierung Er-nest Renans zum Ausdruck, der die Nation als „plbiscite de tous le jours“ definiert. Dabei kann entweder der Akzent mehr auf der Gefühls-und Bewußtseinsgemeinschaft oder mehr auf der Willensgemeinschaft, dem Willen also zur politischen Gemeinschaft, dem Streben nach einem gemeinsamen Staat, liegen Die Problematik einer rein auf das voluntative Moment gegründeten Nationsdefmition und das entscheidende Gegenargument hat schon Bauer formuliert. Es könne, so entgegnet er. nicht das subjektive Bewußtsein der Zusammengehörigkeit sein, das eine Nation zusammenschließe, ohne daß zuvor ein objektives Merkmal der Zusammengehörigkeit existiere, dessen man sich bewußt werde Noch ein anderes Argument gegen die rein willensnationale Konzeption wird oft übersehen, nämlich die Fremd-oder Außendefinition, die Tatsache also, daß eine Nation von anderen als solche identifiziert wird, mit der Folge, daß sich das einzelne Mitglied dieser Nation gegen eine Zurechnung seiner Person zu ihr gar nicht wehren kann Es ist offenkundig, daß einerseits zwischen den objektiven Theorien und dem Begriff der Kul-turnation sowie andererseits zwischen den subjektiven Theorien und dem Begriff der Staatsnation eine gewisse Affinität besteht.
Seil langem hat sich immer stärker die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Nation einseitig nach der objektiven oder subjektiven Auffassung nicht angemessen beschrieben werden kann. Beide Typen von Theorien beschreiben nur die zwei Seiten ein-und desselben Phänomens. Realistischerweise wird man davon ausgehen müssen, daß der Konstituierung einer Nation ein Auswahlprozeß objektiv bedeutsamer Merkmale zugrunde liegt. Modernere Ansätze fragen daher nicht mehr primär nach dem Wesen, sondern in erster Linie nach der Funktion der Nationsidee im sozialen Geflecht politischer Groß-gruppen. Zu nennen sind hier in erster Linie die kommunikationstheoretischen Ansätze die jedoch so stark abstrahieren müssen, daß die eigentliche Spezifik der Nationsidee nur unzureichend erfaßt wird. Genauso unbefriedigend und unspezifisch bleibt die Bestimmung der Nationsidee als Ideologie
II. Nation, Staat und Demokratie
Für die deutsche Problematik und in Sonderheit für unsere Thematik ist naturgemäß die Bestimmung des Verhältnisses, in dem die Nation zum Staate steht, von besonderem Interesse. Während, bedingt durch die historische Entwicklung, in den angelsächsischen Ländern und auch in Frankreich Nation und Staat meist gleichgesetzt werden, haben in Deutschland die späte staatliche Einigung und nicht zuletzt auch die Teilung des Landes eine deutliche Unterscheidung der Begriffe bewirkt.
Nachvollziehbar ist auch, daß für die völkerrechtliche Definition „mindestens der Kern staatlich organisiert“ sein muß, um als Nation zu gelten Der Fall, daß Nation und Staat nicht identisch sind, kommt häufig genug vor. Würden beide zusammenfallen, so wäre der Begriff „Nationalstaat“ in der Tat ein Pleonasmus und der des „Nationalitätenstaates“ ein Widerspruch in sich Eine historisch einzigartige und völlig neue Entwicklung, die nur aus der Dominanz der Supermächte und ihres Kampfes um die Vorherrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg heraus verstehbar ist, stellt der Fall Deutschlands. Koreas, Vietnams und Chinas dar. Hier wurden existierende Staaten, die tatsächlich deckungsgleich mit geschlossenen Nationen waren, in zwei oder mehrere Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung geteilt. Das Unterscheidungskriterium war dabei ein transnationales. Im Anschluß an Max Weber hat eine ganze Schule der Soziologie die Nation in erster Linie als politischen Verband verstanden und damit auf den Nationalstaat, „die weltliche Machtorganisation der Nation“ reduziert. Damit zugleich lehnte Weber alle objektiven Merkmale ab und hielt auch den Begriff „Volk“ wissenschaftlich für unbrauchbar. In der Nachkriegsliteratur der Bundesrepublik findet sich aus ganz anderen Motiven eine ähnliche Tendenz, die Nation auf den Staat zu reduzieren. Man fürchtete in erster Linie die emotionalisierende Wirkung einer sich auf objektive Kriterien stützenden Definition
Das Verhältnis von Nation und Staat kommt definitorisch erst dann in ein plausibles Verhältnis, wenn man die ideengeschichtliche Entwicklung des Begriffs berücksichtigt. Die Idee der Nation ist nicht zufällig ein typisches Produkt der frühen Neuzeit, steht also an jener Schwelle, an der das universalistische Staatsverständnis des Mittelalters seine Integrationswirkung als Legitimationsidee bereits weitgehend verloren hatte. So verwendet etwa der Adel in Deutschland, unterstützt von den Humanisten, die Idee zunächst im Kampf gegen Kaiser und römische Kurie ohne daß sie sich jedoch als politische Leitidee der Zeit durchsetzen kann. Im Absolutismus wird, gestützt auf die naturrechtliche Vertragslehre Thomas Hobbes und die Souveränitätslehre Jean Bodins, der abstrakte Staat, nicht die Nation, zum Träger der Souveränität. Die Staatsraison vertreten durch die dynastische Herrschaft und ihre zentralistisch-rationalistische Verwaltung, wird zum letzten Zurechnungspunkt und zur Einheitsgebung für alles politische Geschehen. Erst in der Französischen Revolution wird das Primat des Staates für die politische Entscheidung abgelöst durch die sich zur alleinigen Trägerin der Souveränität erklärende Nation. Indem sich der Dritte Stand in der Formulierung des Abbe Emmanuel Joseph Sieyes zur „vollständigen Nation“ erklärt wird die eigenständige Souveränität des Staates aufgehoben und durch die Nation ersetzt. Sie wird dadurch zum obersten, nicht weiter ableitbaren politischen Gestaltungsprinzip Zugleich ist damit die Nation zum schlechthin entscheidenden Bezugspunkt und zur ausschließlichen Legitimationsgrundlage des Staates erhoben An dieser Stelle wird der rein instrumentelle Charakter der Demokratie im Dienste der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Nation besonders deutlich; ein anderes Substrat der Demokratie als die Nation ist ohnehin gar nicht vorstellbar
Jeder Versuch, unter Absehung von ethnischen Merkmalen die Nation begrifflich allein durch den Staat zu konstituieren (Staatsnation), trägt den Keim eines Rückfalls in die Verabsolutierung der Staatsraison in sich und begünstigt so die Usurpation der Souveränität durch die politische Klasse. Nicht zufällig hat die Idee der Nation vor allen anderen denkbaren Legitimationsideen in breiten Bevölkerungsschichten seit jeher den meisten Rückhalt gefunden, schon, weil sie inhaltlich am handgreiflichsten und real erlebbar ist. Sprach-und Kulturgemeinschaft sind — wie schon Max Weber richtig erkannte — bis in die untersten Schichten der Bevölkerung die entscheidende Dimension der Teilhabe am Gemeinwesen -Der emanzipatorische Charakter der Idee der Nation reicht jedoch viel weiter, er bindet die Regierenden an die Regierten viel enger als sonst eine Legitimationsidee im Stande wäre. Die Unterscheidung von Nation und Staat kann daher grundsätzlich nur eine temporäre Unterscheidung sein. Die Nation steht zum Staate, wie Bernhard Willms richtig bemerkt, in einem Verhältnis wie der Entwurf zur Realisierung
III. Das nationale Selbstverständnis in der Bundesrepublik
Durch die Teilung Deutschlands entstand schon frühzeitig die Notwendigkeit für beide deutsche Staaten, daß Verhältnis der eigenen Staatlichkeit zur Nation neu zu definieren. Die Selbstdefinition unterlag dabei auf beiden Seiten über die Jahrzehnte hinweg einem nicht zu übersehenden Wandel, der auch für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation nachhaltige Folgen hatte. Bedenkt man, daß sich die verwandtschaftlichen Bindungen ersten Grades im Zeitraum zwischen 1953 und 1982 mehr als halbiert haben so überrascht die Tatsache, daß über die Jahre hinweg bei der großen Mehrheit der Bevölkerung das Ziel der Wiedervereinigung, wenngleich mit sinkender Priorität, stets bejaht wurde Lediglich in den jüngeren Jahrgängen war lange Zeit der Trend zu beobachten, den Begriff Deutschland auf die Bundesrepublik zu reduzieren Demoskopische Befunde erhalten in diesem Zusammenhang jedoch erst eine gewisse Aussagekraft, wenn man sie mit dem Wandel der nationalen Selbstdefinition der Bundesrepublik in der veröffentlichten Meinung in Beziehung setzt. Schon am Beginn des westdeutschen Staates stand eine nicht weiter verwunderliche Unsicherheit der Selbstdefinition mit der Tendenz, die Konvergenz von Nation und Staatlichkeit durch verschiedene Surrogate zu ersetzen. Bezeichnend für die Tendenz, in der Teilung mehr als die ziemlich willkürliche Zerreißung gewachsener staatlicher Bande zu sehen, ist das bereits im Frühjahr 1945 veröffentlichte Buch Wilhelm Röpkes in dem er die noch bevorstehende staatsrechtliche Teilung ziemlich genau vorhersah, und die Grenze zwischen West-und Ostdeutschland, die „zwei Welten“ voneinander trenne, als einen „Limes des Abendlandes“ bezeichnet, der „die vollkommene Scheidung der moralischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundsätze“ bedeute Wenn diese Überhöhung der Teilung auch nicht Allgemeingut wurde, so hatte Röpke doch damit ein Gefühl angesprochen, das unter Politikern und in Teilen der Bevölkerung durchaus auch vorhanden war.
Die Brüche des nationalen Selbstverständnisses traten in der Bundesrepublik in vollem Umfang jedoch erst Jahre später zutage. Formal knüpfte man an das Nationalverständnis der Weimarer Republik an, wobei jedoch die Revolution von 1848 und die Frankfurter Nationalversammlung bewußt dem nationalsozialistischen Mißbrauch nationalen Selbstgefühls entgegengestellt wurde Alte Begrifflichkeiten und Denkmuster fanden sich bei nahezu allen Parteien. Aufgrund des Provisoriumscharakters unterließ man bewußt jeden Bezug zur staatsrechtUchen Realität Für die damahge Zeit, in der man noch von einem raschen Zusammenbruch des zweiten deutschen Staates hatte ausgehen können, mochte das für eine gewisse Zeit angehen.
Problematisch bUeb jedoch die Kombination von zwei Staatszielen in der Präambel des Grundgesetzes, die bis heute nicht restlos kompatibel sind, nämlich, wie es dort heißt: „die nationale und staatliche Einheit zu wahren und in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Während das erste Ziel äußerst konkret gefaßt wurde, blieb das zweite, trotz zeitweiliger Europabegeisterung, stets eine Formel, deren Ausfüllung je nach Belieben zwischen einem rein geistigen europäischen Zusammengehörigkeitsgefühl und den „Vereinigten Staaten von Europa“ in allen denkbaren Ausgestaltungen variieren konnte. Dennoch wurde bei allen demoskopischen Umfragen seit 1948 dem Ziel der europäischen Einigung nahezu im gleichen Maße zugestimmt wie dem der Wiedervereinigung Deutschlands
Die Zwiespältigkeit des Orientierungsangebotes wurde in den fünfziger Jahren noch durch den Deutschlandvertrag verstärkt, in dem es der Regierung Adenauer gelungen war, die westlichen Siegermächte auf das gemeinsame Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands festzulegen. Die Orientierungskrise wurde lange durch den wirtschaftlichen Aufschwung und den durch ihn hervorgebrachten Wohlstand überdeckt. Die Entwicklung eines bundesdeutschen Eigenbewußtseins ließ bis Anfang der sechziger Jahre schon die Auseinandersetzung zwischen Ost und West um die legitimierte Vertretung der gesamten Nation nicht zu. Besonders der Mauerbau machte deutlich, wie wenig die Deutschen Herr im eigenen Lande waren. Das bis dahin weit-verbreitete Vertrauen der Bevölkerung in die westlichen Verbündeten, insbesondere die USA, bekam hier erstmals einen deutlichen Rückschlag
Seit Beginn der sechziger Jahre, also nicht zufällig seit jenem Zeitpunkt, als das Scheitern der Politik des „Alleinvertretungsanspruchs“ und der Nichtanerkennung der DDR offenkundig wurde, kamen immer deutlicher Stimmen auf, die eine „Selbstanerkennung“ der Bundesrepublik als den entscheidenden nationalen Bezugspunkt verlangten. Das lief, wenn auch in völlig untypischem Sinne, darauf hinaus, den westdeutschen Staat als eine Art Staats-nation zu begreifen, eine Nation, die sich allein durch den Staat als tragendes Element des Zusammenlebens ihrer Angehörigen definierte und die DDR somit mehr oder weniger als Ausland begriff. Als erster artikulierte diese Forderung 1963 der Philosoph Karl Jaspers
Der Ausgangspunkt seiner seither vielfach übernommenen und variierten Argumentation, die Deutschen müßten als Kriegsschuldige die volle Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen und die Folgen des Krieges tragen und hätten daher den Anspruch auf Wiedervereinigung verloren, ist historisch wie moralisch äußerst fragwürdig. Jaspers setzte gegen das Einheitspostulat den Deutschen das Ziel, Freiheit und Demokratie zum entscheidenden Wert ihres Zusammenlebens zu machen.
Eine noch deutlicher staatsnationale Konstruktion findet sich bei Kurt Sontheimer, der Anfang der siebziger Jahre die Distanzierung der Demokratie in der Bundesrepublik von den „problematischen Werten der Ganzheit der Nation, der Gemeinschaft, des Volkes“ forderte. Für die Bundesrepublik komme es darauf an, „das Interesse an der freiheitlichen Verfassung und ihrer Lebensform zur Grundlage unserer nationalen Zusammengehörigkeit zu machen“ Das gilt neben vielen anderen ebenso für Waldemar Besson, der 1970 zu einem „westdeutschen Patriotismus“ aufrief, da kein Staat auf die Dauer „ohne die erzwungene oder freiwillige Loyalität seiner Bürger“ gedeihen könne. Ein international verflochtenes Gemeinwesen wie die Bundesrepublik brauche „die Identität von Staat und Staatsvolk“
In den siebziger Jahren verstärkte sich in der Publizistik noch die Auffassung, daß die Einheit der Nation obsolet, ja, die deutsche Nation selbst eine „Chimäre“ sei. Diese Konzeption einer auf die Bundesrepublik begrenzten staatsnationalen Schrumpfnation konnte jedoch nicht eigentlich plausibel machen, was denn über die bloße Staatsraison hinaus den Daseinsgrund für dieses Gemeinwesen, die Berechtigung, den einzelnen zu binden und zu verpflichten, ausmache. Mit anderen Worten, jede Legitimation, die nicht schon von vornherein die relativ willkürliche Form der vorfindbaren staatlichen Daseinsweise voraussetzte, mußte stets die Menschen im anderen Teil Deutschlands mit-umfassen. Sie ausgrenzen zu wollen, wie es die staatsnationale Konzeption anstrebte, mußte bedeuten, die innere Begründung des Staates Bundesrepublik in der Legitimation des Status quo zu sehen. Das Bestreben, die Nation auf die Bundesrepublik zu begrenzen, vermochte sich jedoch in der Innen-Politik letztlich nicht durchzusetzen. Ganz im Gegenteil, der Grundlagenvertrag mit der DDR mitsamt dem dazugehörenden „Brief zur deutschen Einheit“ legte die künftige Deutschlandpolitik auf die Kulturnation mit dem immanenten Anspruch auf die Wiederherstellung des gemeinsamen Nationalstaates fest. Die Formel von den zwei Staaten in einer Nation wie auch sämtliche „Erklärungen zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ sind dafür ein beredtes Zeugnis.
IV. Nationales Selbstverständnis der DDR
Erst verhältnismäßig spät nahm die SED Abschied von der Forderung nach der Einheit Deutschlands und damit von der Vorstellung einer einheitlichen deutschen Nation überhaupt. Von Anton Ackermanns Aufruf zu einem eigenen deutschen Weg zum Sozialismus über die „Volkskongreßbewegung“, die Parole „Deutsche an einen Tisch“ und Ulbrichts Konföderationspläne bis hin zur Politik der „Abgrenzung“ und der These von den zwei Nationen auf deutschem Boden war es ein weiter Weg. In der Rückschau betrachtet, wurde in der längeren Zeit der Existenz der DDR als selbständigem deutschen Staat zumindest verbal von einer deutschen Nation ausgegangen, die es, wenn auch unter sozialistischen Vorzeichen, wieder zu einem einheitlichen deutschen Nationalstaat zu formieren galt. Im Grunde war die nationale Attitüde der SED bis zuletzt immer ein Instrument im Kampf gegen die Bundesrepublik um die Legitimation der eigenen Diktatur und die Herrschaft über ganz Deutschland.
Karl Marx’ Position zu übernehmen, daß die Arbeiter kein Vaterland besäßen hätte für die SED in der Auseinandersetzung der Systeme von vornherein die Niederlage bedeutet. Da der Anspruch auf die Führung der Nation nur historisch begründbar war, trennte man sich schnell vom generellen Verdikt Alexander Abuschs über die deutsche Geschichte als einem „Irrweg einer Nation“ und differenzierte in der parteioffiziellen Geschichtsschreibung ab Anfang der fünfziger Jahre zwischen einem fortschrittlichen Traditionsstrang, der durch die DDR repräsentiert werde, und einem reaktionären, im Grunde antinationalen, als dessen Verkörperung die Bundesrepublik hingestellt wurde, wie es sinngemäß das „Nationale Dokument“ des Nationalrates der „Nationalen Front“ vom 25. März 1962 ausdrückte. Im Kampf um die deutsche Geschichte wurden von nun an sehr selektiv bestimmte Teile, wie etwa die Befreiungskriege oder der deutsche Bauernkrieg von 1525 herausgelöst und einseitig der eigenen Tradition zugewiesen. Daß dabei die Marx'sche Periodisierung der Geschichte als Folie unterlegt wurde, versteht sich von selbst. Wenn man schon dem „Geschichtsbewußtsein“ und „Geschichtsbild“ ausgeprägten „Klassencharakter“ zumaß und auf ihre „außerordentlich starke emotionale Wirksamkeit“ für die „ideologisch-politische Haltung“ der Menschen setzte mußte das in der Auseinandersetzung um die nationale Legitimation zu einer Eigendynamik führen, die die Einbeziehung immer weiterer Teile der deutschen Geschichte erzwang. Das verschärfte sich im Zuge der Abgrenzungspolitik nach dem Grundlagenvertrag sogar noch weiter. Einen Höhepunkt erreichte dieser Zwang während der soge-nannten Preußen-Renaissance in der DDR ab Ende der siebziger Jahre. Die SED erkannte die ideologische Notwendigkeit, sich auch dem zu stellen, was sie von nun an als „historisches Erbe“ bezeichnete. Wenn sich die DDR als „sozialistische deutsche Nation“ verstehe, so heiße dies, eine Nation, die ihrem Charakter nach sozialistisch, ihrer Herkunft nach deutsch sei, und das ergebe „die unabweisbare Konsequenz, daß sie in ihrem Bewußtsein die gesamte deutsche Geschichte von der Warte des Sozialismus verarbeiten“ müsse. Von daher lasse sich ihr Geschichtsbild „keineswegs . . . nur auf die Gebiete begrenzen, die heute zur DDR gehören“
Damit hatte die DDR-Historiographie vor dem Geschichts-und Traditionsverständnis breiter Kreise der Bevölkerung kapituliert, für die historisches Erinnern selbstverständlich gesamtdeutsch orientiert blieb. Der Unterschied zwischen Bundesrepublik und DDR verengte sich so auf die Systemfrage. Schließlich wurde sogar eingestanden, daß es ein für die Bundesrepublik und die DDR gleicherma-ßen verfügbares Erbe gebe Daß Sprache und Herkunft übereinstimmten, konnte ohnehin nicht bestritten werden. Seit dem IX. Parteitag der SED wurde die eigene sozialistische Nation in der DDR praktisch ausschließlich mit ihrer Staatlichkeit begründet. Im Programm von 1976 heißt es dementsprechend: „Die sozialistische Nation . . . umfaßt das Volk der Deutschen Demokratischen Republik und ist gekennzeichnet durch den souveränen sozialistischen deutschen Staat auf deren Territorium“ -Selbstverständlich war man bestrebt, die sozialistische Nation durch eine sich entwickelnde „sozialistische Nationalkultur“ zu untermauern Bei aller Rhetorik konnte nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß die DDR eben kein Nationalstaat war, sondern im klassischen Sinne der Versuch, eine Staatsnation aus einem Prinzip heraus zu bilden, daß von der Bevölkerung weithin abgelehnt wurde. Tilman Mayer spricht ihr mit Recht jede „nationsbildende Kraft“ ab, da ihre Identität nicht auf die DDR begrenzbar sei. In einem Raum, der eine nationalstaatliche Ordnung in Freiheit zulasse, sei eine „staatsnationale Separation“ ohnehin kaum erfolgreich
Mit diesem Nationsverständnis befand sich die SED in einem unüberbrückbaren Widerspruch zur offiziellen sowjetischen Nationsdefinition, die von Stalin entwickelt wurde und 1919 Aufnahme in das Parteiprogramm der KPdSU fand. Sie zählt das Element der Staatlichkeit bewußt nicht zu den Merkmalen einer Nation. Später hat Stalin zwar zwischen kapitalistischen und sozialistischen Nationen unterschieden, dieses jedoch nur auf den unterschiedlichen Entwicklungsgrad des Klassenkampfes bezogen Über die innere Einstellung der Menschen in der DDR zum SED-Staat und die Identifikation mit dem Konstrukt einer „sozialistischen Nation“ lassen sich heute zwar eher Aussagen treffen als vor der Öffnung der Mauer, doch ein objektives Bild läßt sich schon deshalb nur schwer zeichnen, weil die nachträgliche Bewertung durch die betroffene Bevölkerung bereits den Zusammenbruch des Versuchs einer eigenen Nationsbildung mit einbezieht. Generell haftet staatsnationalen Konstruktionen etwas Künstliches an. Im Falle der DDR wird das noch durch den Umstand verstärkt, daß die staats-nationale Separation grundsätzlich nicht auf der demokratischen Willensentscheidung der Bevölkerung basierte. Wieweit im Einzelfall die Identifikation einem durch die Verhältnisse erzwungenen Sich-arrangieren entstammten, also mehr oder weniger einem von außen bestimmten Identitätszwang entsprachen, läßt sich nachträglich nicht eindeutig bestimmen.
Die Hinweise jedenfalls, denenzufolge die Mehrheit der Menschen in der DDR sich über alle Altersgruppen hinweg, unter den Jugendlichen vielleicht noch mehr als unter den Älteren, mit einer transgouvemementalen gesamtdeutschen Kultumation mitsamt dem Willen zur staatlichen Wiedervereinigung identifiziert haben, sind so zahlreich, daß sie an dieser Stelle gar nicht alle aufgezählt werden können. Ob die vornehmlich seit den siebziger Jahren in der Bundesrepublik von Wissenschaftlern und Publizisten vorgetragene Behauptung, in der DDR habe sich ein Bewußtsein der Eigenstaatlichkeit und des Stolzes auf die eigene Leistung entwickelt, mehr oder weniger westdeutschem Wunschdenken entsprach, soll hier nicht untersucht werden.
V. Zusammenfassung
Faßt man den bisherigen Gang unserer Überlegungen zusammen, so muß man zu dem Schluß kommen, daß es ganz bestimmte Bedingungen und Konsequenzen des Bewußtseins von Nation waren, die ein Auseinanderleben der Deutschen trotz vereinzelter Hinweise darauf in nahezu vierzig Jahren verhindert haben. Zuerst muß hier festgehalten werden, daß der Kern der gemeinsamen deutschen Kulturnation im wesentlichen unbeschädigt blieb. Lange hat die SED selbst auf ihn gesetzt und erst seit Beginn der siebziger Jahre versucht, im Wege der Entwicklung einer eigenen Staatsnation eine spezifische DDR-Nationalkultur aufzubauen. Spätestens ab Ende der siebziger Jahre mußte dieser Versuch jedoch als gescheitert angesehen werden. Die Kommunikation zwischen den Menschen riß keineswegs ab. Auch blieb eine gemeinsame Nationalkultur erhalten, an der die Menschen in der DDR zumindest passiv über Fernsehen und Rundfunk teilnehmen konnten.
Ebenso war der Versuch der SED, die Begründung der eigenen Nation im Wege der Separierung der deutschen Geschichte zu untermauern, durch die damit einhergehende Verwicklung in Widersprüche von vomeherein zum Scheitern verurteilt. Die Zentralidee ihrer staatsnationalen Separation, die unterschiedlichen „Produktionsverhältnisse“ in beiden deutschen Staaten, konnte den Wesensgehalt des Nationalen nicht betreffen. Entscheidender aber noch war der Umstand, daß dieser „sozialistischen Nation“ jegliche Souveränität fehlte, das Konstrukt im Grunde ein Rückfall in eine vordemokratische Entwicklungsstufe des Staatsgedankens war, dem Absolutismus nicht unähnlich. So mußte die Idee der Nation mit dem Ziel der Wiederherstellung eines ungeteilten Nationalstaates, naheliegenderweise zum mentalen Reservat gegen den stets gängelnden totalitären Staat werden.
Auch im Westen hat sich — abgesehen von allen normativen Vorgaben in der Präambel des Grundgesetzes — die staatsnationale Separation, das Konzept einer auf die Bundesrepublik reduzierten deutschen Nation, als undurchführbar erwiesen. Dem Versuch, die Demokratie selbst zum konstituierenden Moment der Nation zu machen, unterlag die Verwechselung von politischem Subjekt und politischer Ausdrucksform. Im Grunde wurde damit die denknotwendige Voraussetzung der Demokratie, die Selbstdefinition des Trägers politischer Souveränität, übersehen: Volkssouveränität ohne Volk kann es nicht geben. Das kulturnationale Zusammengehörigkeitsbewußtsein war, wie sich jetzt erweist, stärker als jede rationalistische Gesellschaftskonstruktion. Die historische Entwicklung der Deutschen war sicherlich nicht frei von problematischen Phasen und Brüchen, aber gerade darin, der Eigenschaft Schicksal zu sein, liegt vielleicht ihre besondere Bindungswirkung.
Nicht zuletzt waren es auch die Siegermächte, die nicht wenig zum Erhalt des bewußtseinsmäßigen Zusammenhalts der Nation beigetragen haben. Die Teilung war in Ost und West so unübersehbar das Ergebnis des vorenthaltenen Selbstbestimmungsrechts der Nation, daß jede endgültige staatsnationale Separation den Stempel der Fremdbestimmung tragen mußte. Zudem haben die Siegermächte, über alle Grenzen hinweg, die Frage, was aus Deutschland als Nation werden sollte, selber offengehalten.