Welche Konsequenzen für die politische Kultur in Deutschland hat die staatliche Einheit der Deutschen? Auf welche politisch-kulturellen Grunddispositionen treffen wir dabei bei den Bürgern der DDR? Was charakterisiert die politisch-kulturelle neue Lage der Nation wenige Monate nach dem Mauerdurchbruch? Solche perspektivisch ausgerichteten Fragen können auf dem bestehenden Werte-Fundament nur weitgehend spekulativ beantwortet werden. Zuverlässiges Datenmaterial speziell zu den Grunddispositionen der DDR-Bevölkerung liegt nur bruchstückhaft vor. Dennoch sind Antworten dringend notwendig — nicht nur aus der Forschungsperspektive. Denn die internationale Akzeptanz des Einheitsprozesses der Deutschen hängt entscheidend von der Beantwortung der Frage ab, wie zuverlässig und berechenbar der neue Nationalstaat in Zukunft sein wird. Welchen geistig-politischen Standort wird die neue Republik Deutschland einnehmen?
Fast hat man den Eindruck einer bereits gefestigten Normalität: Trabi-Staus auf Autobahnen. DDR-Besuche als spontane Stippvisiten — schnell haben wir uns daran gewöhnt. Auch die Argumentationsmuster haben eine neue Richtung bekommen: Zur neuen Normalität gehört, daß die Befürworter der Zweistaatlichkeit in Rechtfertigungsnot geraten sind. Die Begründungslast liegt seit Ende 1989 nicht mehr bei denen, die die staatliche Einheit Deutsch-’ lands fordern. Die Einheit ist selbstverständlich geworden. Dennoch fehlen dieser neuen Normalität die Begriffe.
Die Zeiteinheit dieser Entwicklung sind nicht mehr Jahre, sondern Tage und mitunter Stunden: „Die Veränderungen verändern sich bereits wieder, mit einem Teil der Veränderen Es gilt, auf den Boden der Tatsache zu kommen, nur daß es eben ein ganz anderer Boden ist.“ Es ist diese Geschwindigkeit des Wandels an sich, die Sprachlosigkeit verursacht. So macht jeder die Erfahrung der eigenen Zeitlichkeit, wenn das Rohmaterial der Geschichte vor unseren Augen entsteht. Wenn sich bisher politischer Wandel auch als sprachlicher Wandel artikulierte, dann stimmt das seit dem 9. November 1989 nicht mehr. Dieser neue „Tag der Deutschen“ mit seiner kollektiven Ekstase des Wiedersehens macht uns bis heute sprachlos. Es klingt paradox, in einer sprüchetönenden Zeit keine passenden Begriffe für die neue Weitsicht parat zu haben. Die Ereignisse sind offenbar schneller als die schnellsten Wörter. Was hat noch Bestand aus den herkömmlichen Begriffsmustern? Wenn jedoch offenbar nichts mehr so wird, wie es vorher war, was wird dann? Denn mit der Öffnung der Grenzen ist auch eine Öffnung gegenüber dem Unbewältigten, Verdrängten. Tabuisierten möglich. Die Öffnung und damit die intensivierte, schrankenlose Kommunikation führt unweigerlich zur Prüfung des Selbst-und Fremdbildes vom jeweils anderen Deutschland. Vieles deutet jedoch darauf hin, daß eine geistige Begegnung noch nicht wirklich stattgefunden hat. Die Fragen der nationalen Identität und der Europäisierung des Kontinents sind durch ökonomische Fragestellungen bisher weitgehend verdrängt.
I. Bundesrepublikanische Deutungsmuster
Eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik erfordert zunächst, die bisher geltenden Deutungsmuster unseres bundesrepublikanischen Selbstverständnisses Revue passieren zu lassen. Wohin gehören wir? Diese Standortfrage hat als Standardfrage der Deutschen Daueraktualität. Es hat viele Antwortversuche gegeben zwischen Westwendung und Ostorientierung, zwischen Neutralismus und Sonderweg, zwischen Reichsromantik und dem Traum vom anderen Deutschland Im Provisorium Bundesrepublik Deutschland wurde in den fünfziger Jahren schließlich die Westbindung auch zur Wert-bindung: Äußere Sicherheit, wirtschaftliches Wohlergehen, innere Stabilität und bedingt nationale Souveränität markieren seit dieser Zeit die Staatsräson der Bundesrepublik. Zu dieser neuen geistig-politischen Standortverankerung im freiheitlichen Westen gehört jedoch auch gleichzeitig in den fünfziger Jahren das Gefühl der Vorläufigkeit. Erst der Mauerbau am 13. August 1961 signalisierte den Einschnitt. Die Bundesrepublik Deutschland wurde im Bewußtsein ihrer Bürger zunehmend zu Deutschland. Das Provisorium wurde definitiv. Die DDR blieb Vergleichsgesellschaft, zu der die Bundesrepublik eine demokratische Gegenidentität entwickelte. Die DDR wurde seit dieser Zeit zu einem fernen Land. „Ende der Nachkriegszeit“, diese Überschrift zu Erhards Regierungserklärung von 1965 beschrieb das Selbstgefühl vieler Bundesbürger: die Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Staatsnation.
Die deutsche Frage hatte sich in der öffentlichen Debatte dieser Zeit von der Frage nach der Wiedervereinigung zunehmend auf neue statusrechtliche Annäherungsbemühungen verlagert. Der Grundlagenvertrag von 1972 vollzog dann eine tiefgreifende Zäsur: den Übergang vom Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zum Prinzip und Status der Gleichberechtigung zwischen beiden Staaten. Mit der Anerkennung der Vergleichbarkeit beider Staaten in Deutschland wandelte sich auch allmählich das DDR-Bild, das nun nicht mehr ausschließlich als legitimatorischer Kontrast bundesrepublikanischer Verhältnisse herangezogen wurde. Die Beschreibungen der DDR erfolgten aus eher neutraler Perspektive, unabhängig davon, wie man sie beurteilte, jenseits von Lobeshymnen und pauschalen Verdammungen. Dennoch änderte dies nichts daran, daß die Mehrheit der Bundesbürger in ihrer Vorstellung die Bundesrepublik zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer nationalen Identität gemacht hatte, obwohl die Verhältnisse in Deutschland aufgrund der Teilung nicht normal waren. Die Anerkennung der DDR hatte, so kann man diese Phase resümieren, ihr Gegengewicht in der Selbstanerkennung der Bundesrepublik
Die späten siebziger und beginnenden achtziger Jahre prägten das bundesrepublikanische Selbstverständnis in zwei ambivalenten Richtungen. Da wuchs auf der einen Seite die Identitätsnachfrage. So wurden in der Bundesrepublik Deutschland Fragen gestellt, von denen man im Zuge der Entwicklung der Bundesrepublik zu einer westlichen Industriemacht beinahe hätte glauben können, sie seien überholt. Es ging um die Frage, wer wir eigentlich sind. Was ist die Eigentümlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, die sie haben muß, um von ihren Bürgern als die ihre akzeptiert werden zu können?
Selbstdefinition und Selbstabgrenzung waren für die Bundesbürger nach dem Grundlagenvertrag offenbar noch vager geworden. Gesucht wurde somit eine tiefer fundierte Identität, ein neuer Standort. Es ging um das Verhältnis der Bundesrepublik zu sich selbst: Die Frage nach der deutschen Rolle in der internationalen Politik und die Frage nach den Ost-West-Koordinaten der Bundesrepublik zwischen Westbindung, Ostverbindung und Mittellage tauchten auf; Traditionslinien deutscher Standort-suche wie Heimatnostalgie und Geschichtsrenaissance wurden mit der Identitätssuche aktiviert. Die sich dabei mit vermischenden kultur-und zivilisationskritischen Strömungen waren jedoch weniger Ausdruck des Unbehagens an der Nation als an der Verfaßtheit unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft
Die Selbstzweifel bezogen sich nicht auf die staatlich-politische Existenz der Bundesrepublik, sondern auf das Innenleben der satten Republik. Als Suchbilder nach Deutschland und Sinnfragen an die moderne Industriegesellschaft waren die Nachfragen bestimmt durch zwei Grundgefühle: den Rückblick auf das, was wir waren, aber nicht sein wollten, und die Besinnung auf das, was wir sein könnten. aber nicht sind. Gerade in dieser Zeit wuchs das Gefühl, daß es für das historische, kulturelle und politische Selbstverständnis der Bundesrepublik nicht ausreicht, wenn sie sich nur als Bundesrepublik Deutschland begreift. Stärker als in früheren Jahren schienen beide Staaten in Deutschland bezogen aufjenes Deutschland, das sie nicht waren, aber ohne das beide auch nicht wären, was sie sind.
Daneben gibt es jedoch parallel das Selbstverständnis einer bundesrepublikanischen Normalität, in der dieser Staat unverrückbar in den politischen und kulturellen Werten der Zivilisation des Westens seinen Platz gefunden hat: ein neues Selbstbewußtsein und ein Stolz auf die politischen Werte des demokratischen Verfassungsstaates. Als „Partner in Leadership“ (Bush) artet zuweilen diese Selbstsicherheit in pure Unbefangenheit aus beim Versuch, die Lasten der Vergangenheit unbekümmert abzuwerfen. Dieses bundesrepublikanische Selbstbewußtsein firmiert in der wissenschaftlichen Lite-ratur unter unterschiedlichen Begriffsbezeichnungen. wie beispielsweise dem Verfassungspatriotismus oder dem postnationalen Demokratiebewußtsein -So läßt sich empirisch belegen, daß die Gemeinschaftsorientierung der Bundesbürger nicht mehr — wie noch in den fünfziger Jahren — vorrangig auf Volkseigenschaften und Leistungen des Wirtschaftssystems beruht
Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich der Stolz auf politische Systemmerkmale wie z. B.den Freiheitsrechten deutlich nach vorne geschoben. Wirtschaftspatriotismus und eine politische Identität staatsbürgerlicher Prinzipien kennzeichnen dieses neue Selbstverständnis. Jüngste Umfragen die vergleichend in der Bundesrepublik und in Großbritannien durchgeführt wurden, signalisieren ebenso die enormen Veränderungen: Von einer gefühlsmäßigen Distanz der Mehrheit der Bürger gegenüber ihrem politischen System kann nicht mehr gesprochen werden. Die Bundesbürger sind noch vor der Wirtschaft auf das Grundgesetz stolz. Die deutliche Annäherung der deutschen Antwortmuster an die britischen zeigt außerdem, wie die Bundesbürger sich dem westlichen Typus nationaler Identität angenähert haben. Eine spezifische Ausprägung dieses bundesrepublikanischen Selbstbewußtseins ist zu beobachten, wenn für die Mehrheit der Bundesbürger die Vereinigung beider Staaten in Deutschland nur als „Anschluß“ bzw. als Beitritt denkbar ist: die Bundesrepublik als Muster für das vereinigte Deutschland.
II. Staats-, National-und Geschichtsbewußtsein der Bundesbürger
Die Identitätsnachfragen und die bundesrepublikanische Selbstzufriedenheit spiegeln noch immer die Suche nach Normalität wider. „Wenn wir das sind, was wir geworden sind“ dann deutet alles darauf hin, daß wir in der Bundesrepublik zunehmend auch das sind, was die vier Jahrzehnte aus uns gemacht haben. Doch dieses bundesrepublikanische Normalitäts-Bewußtsein steht seit dem 9. November 1989 zur Disposition. Nach dem Fall der Mauer entstand eine neue Lage der Nation. Historische Zäsuren in der Bundesrepublik hingen im Selbstverständnis der Bürger schon immer mit Veränderungen im oder in den Beziehungen zum anderen Teil Deutschlands zusammen. Die Selbstbezogenheit der Bundesbürger und die innere Distanz, mit der wir den Reformbewegungen in Osteuropa teilweise gegenüberstanden, brach über Nacht zusammen
Erste Umfragen nach dem 9. November 1989 zeigen deutlich, daß der Wunsch nach Einheit gestiegen ist, allerdings nach Möglichkeit als Nullsummenspiel: „Ja für die Einheit, aber bitte billig.“ In den Feuilletons setzte erst Mitte Januar die Diskussion um die Identität der Deutschen wieder ein. Man brauchte zwei Monate, um zu erkennen. daß auch das bundesrepublikanische Selbstverständnis im Kern betroffen war und nicht nur politisch-administrative und ökonomische Fragestellungen den Einheitsprozeß bestimmen. Häufig war die Frage zu lesen, was sei die DDR eigentlich ohne Sozialismus? Aber was wäre die Bundesrepublik, wenn sie nicht zum Kern eines wiederherzustellenden Nationalstaates würde? Wie tief reichen unsere politisch-kulturellen Verankerungen, damit uns nicht wieder die Geschichte der traditionellen Standortsuche zwischen West und Ost einholt? Das Staatsbewußtsein der Bundesbürger ist zentral betroffen. Denn nun entsteht auch in der DDR eine demokratische Gesellschaft: „Wir sind das Volk.“ Die Bewunderung für die von den DDR-Bürgern erkämpfte Freiheit hat viele Bundesbürger nachdenklich gestimmt. Freiheitsideale haben in der Gefühlslage der Bundesbürger nun wieder einen neuen Stellenwert. Daneben gibt es jedoch Stimmen, die den Eindruck vermitteln, als habe der Zusammenbruch der DDR die Bundesrepublik geadelt und ihre Fehler gänzlich getilgt. Das Staatsbewußtsein muß sich auch ändern, weil die DDR in unserer Wahrnehmung zu einem Teil der Innenpo-litik geworden ist. Das zeigt nicht nur das deutsche Wahljahr 1990. Ein konsensfähiges Mindestmaß an Gemeinschaftsorientierung in bezug auf den gesellschaftlichen Ordnungsrahmen ist hierfürjedoch unabdingbar. Doch welche Maßstäbe gelten noch, wenn sich die politische Landschaft grundlegend wandelt? Demokratie ist als Wert in der Bundesrepublik mehrheitlich verankert. Die Forschungsergebnisse sind hierzu seit Jahren eindeutig Der Bezugspunkt des Grundkonsenses ist in erheblichem Maß die Verfassung. Das Legitimitätseinverständnis der Bundesbürger orientiert sich vielfach unbewußt am Verfassungspatriotismus. Aber was wird aus dem, wenn es nun doch zu einer verfassungsgebenden Versammlung kommt und monatelang Grundlagen der Verfassung zur Diskussion gestellt werden?
Das Nationalbewußtsein hat sich auch mit dem Wandel der Vorstellungswelten verändert. Unser Wahrnehmungshorizont hat sich verschoben. Wenn in Berlin die ehemaligen Mauerbezirke von der geographischen Randlage in die Mittellage rükken, wenn westdeutsche Tageszeitungen mit täglichen DDR-Rubriken erscheinen, dann dokumentieren diese Beispiele ganz handfest und alltags-praktisch einen Bewußtseinswandel. Die Deutschen in West und Ost fangen wieder an, in historischen und regionalen Lebenszusammenhängen zu denken, nicht bloß in Bündnissen. Aus künstlich gespaltenen Regionen werden wieder geschlossene Kultur-und Wirtschaftsräume. Die Teilung hört damit auf, die einzige Alternative einer europäischen Existenz zu sein. Dennoch bleibt offen, wie sich langfristig die unterschiedlichen Gesellschaften annähern. Denn beide haben sich vierzig Jahre lang aus dem Nebeneinander, aus einer Gegen-Identität heraus definiert. Wie stabil und berechenbar wird das Nationalbewußtsein der Deutschen in der Mitte Europas? Daß dieses veränderte Nationalbewußtsein vermutlich eher ein pragmatisches Gesell-
Schaftsbewußtsein als ein nationales Kollektivbewußtsein sein wird, darauf z. B.deuten die in der DDR erwachten Länderpatriotismen. Sie sind antizentralistisch ausgerichtet. Die Pluralität selbstbewußter, identitätsfähiger Bundesländer bleibt Lebensversicherung gegen nationalistische Anfälligkeiten
Auch das Geschichtsbewußtsein verändert sich, denn die Deutungsmuster der Geschichte haben mit dem 9. November einen neuen Referenzpunkt erhalten. Der 13. August 1961, der Tag des Mauer-baus, und der 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel, haben nicht nur die Geschichte verändert, sie haben auch das Selbstverständnis der Deutschen in Ost und West nachhaltig beeinflußt. Daß Geschichtsbewußtsein ein politischer Faktor ist, zeigten besonders die unmittelbaren Ereignisse im Kontext des 9. November 1989. Denn es waren in der Mehrzahl junge Menschen, die Nach-Mauerbau-Generation, die in ihrer Begeisterung die Mauer abtrugen. Die Mauer blieb im kollektiven Gedächtnis über die Generationen hinweg das Symbol der Unfreiheit. Statt konkreter Erfahrung wirkte hier die Kraft der Überlieferung. Neue qualitative Umfrageergebnisse deuten nach ersten Auswertungen auch darauf hin, daß mit der Einheit Deutschlands die Chancen zum Neuanfang generationsübergreifend gegeben erscheinen „Die nationale Schmach fällt endlich weg, wenn die Teilung aufgehoben ist.“ Dieser Sprung aus dem Trauma als Befreiung zur Normalität ist, wie die ersten Ergebnisse weiter andeuten, eher Artikulation einer neuen Unbefangenheit im Umgang mit der Vergangenheit als Ausdruck nationalistischer Gefühlsaufwallungen.
III. Standortbilder der DDR
Welche Selbst-und Fremdbilder als Summe der Vorstellungen über die DDR liegen zur Zeit vor Fünf Standortvarianten kristallisieren sich heraus: 1. Das offiziöse Bild: „So-soll-es-sein-DDR"
Dahinter verbirgt sich die ehemals verordnete Identität des sozialistischen SED-Staates Die Ritualisierung und Künstlichkeit dieses offiziösen Bildes fand seinen Höhepunkt in der Vierzigjahr-Feier der Staatsgründung der DDR am 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin. Die jahrzehntelangen sozialistischen Vorgaben haben jedoch nur partiell zur Identifizierung mit dieser „So-soll-es-sein-DDR“ geführt. Die Gegendemonstrationen im Umfeld der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag sind der letzte Beweis in einer langen Indizienkette gewesen. Das Selbstverständnis der Bürger der DDR hat sich nämlich in der Auseinandersetzung gerade mit diesem offiziellen Bild in Form von alltäglicher Selbstbehauptung stabilisiert. 2. Das leistungsorientierte Bild: Aufbaustolz Die ökonomischen Erfolge und die staatliche Konsolidierung haben bis in die siebziger Jahre hinein in weiten Bevölkerungsgruppen ein spezifisches Wir-Bewußtsein ausgeprägt. Einige Ergebnisse deuten sogar darauf hin, daß besonders in den Jahren der relativen ökonomischen und politischen Erfolge ein emotional verankertes DDR-Bewußtsein existierte Darin spiegelt sich der durch eigene Leistungen erreichte Aufbaustolz der DDR-Bevölkerung wider. Im Bewußtsein der Mehrheit war die DDR eine Aufsteigergesellschaft, Drastisch konnte sich jeder bei Reisen in die benachbarten Länder des Ostblocks, die einen deutlich niedrigeren Lebensstandard aufweisen, in diesem Grundgefühl des Aufbaustolzes bestätigt finden. Erst mit dem Mauerdurchbruch bekommt dieses leistungsorientierte Bild tiefe Risse: Die Modernitäts-und Wohlstandsdifferenz zur Bundesrepublik ist so groß, daß sich das Bewußtsein einer Aufsteigergesellschaft binnen Wochen in ein Bewußtsein einer proletarischen Absteigergesellschaft gewandelt hat. 3. Das intellektuell-elitäre Bild:
Sozialistisches DDR-Bewußtsein „Das hoffe ich allerdings, daß dies jetzt eine Niederlage des Stalinismus ist, und ich hoffe immer noch, daß in diese Niederlage nicht die — Sie sagen: Utopie — hineingezogen wird; ich sage versuchsweise: Die reale Möglichkeit, in der DDR Strukturen zu entwickeln, die sich produktiv auf eine sozialistische Gesellschaft hinbewegen könnten . . . und wir müssen, glaube ich, auch bedenken, daß die DDR — je mehr sie eine Alternative zur Bundesrepublik entwickelt — wieder Leute, ihre Bürger, an sich binden könnte, und daß sie in Europa ein produktiver Partner werden könnte — übrigens auch für die Bundesrepublik.“ Christa Wolf sagte dies noch am 8. Oktober 1989. Die Vision des demokratischen Sozialismus ist noch vier Wochen später, am 8. November 1989, eine der Zentralaussagen des Aufrufs der demokratischen Bürgerinitiativen und einiger Literaten der DDR Christoph Hein hatte bei der Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz noch gesagt: „Die Strukturen dieser Gesellschaft müssen verändert werden, wenn sie demokratisch und sozialistisch werden soll.“ Die dokumentarisch angelegten tagebuchartigen Aufzeichnungen einiger DDR-Schriftsteller zu den Er-eignissen im Oktober und November 1989 sind historische Quellen der Änderungsdynamik. Denn genau bis zum 20. November 1989 hielt sich die Vorstellung eines sozialistischen DDR-Bewußtseins. Seit dem Abend dieses Tages wurde „Deutschland — einig Vaterland“ von Leipzig ausgehend zum Gegenbild. Daß nach dem 9. November 1989 das Modell eines demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz eine Wunschvorstellung geblieben war, das zeigen die Wahlergebnisse zur Volkskammerwahl am 18. März 1990. 4. Das literarisch-feuilletonistische Bild: „Heimatmuseum DDR“
Jenseits der verordneten Staatskultur der DDR wird vor allem bei westdeutschen Intellektuellen ein anderes Extrem skizziert: die verklärte DDR-Idylle, das „Heimatmuseum DDR“. Meist sind es Reisen durch Thüringen oder Sachsen, die das neu erwachte Traditionsbewußtsein, die Geschichtspflege, das Geschichtsbewußtsein und so die DDR als Heimatmuseum beschreiben. Horst Krüger beispielsweise zielte mit seinen vielfältigen Reise-beschreibungen der DDR-Provinz und besonders mit seinem Buch „Tiefer deutscher Traum“ (1983) auf die nostalgisch-verträumten Landschaften der DDR mit bodenständigen Menschen, die ungeniert mit dem deutschen Volksgut umgehen. Romantische Sehnsüchte nach der verlorenen Vergangenheit dominierten. Erich Loest hob mit dem „Völkerschlachtdenkmal“ (1984) die Sachsen auf den Sockel der Geschichte und suchte ein kritisches Selbstbewußtsein der Sachsen wiederzubeleben. Der „malerische Teil des alten Deutschland mit seinen vielen unverdorbenen Landschaften“ wird neu entdeckt, „versunkene Zeiten stehen auf“. Die Westdeutschen hingegen: „ein Volk ohne Geschichte, ohne Wurzeln“
Aber es sind nicht nur die Reisebilder aus der DDR-Provinz und die Reisen in die deutsche Vergangenheit. die das DDR-Bild als Heimatmuseum hier ausmachen. Das Portrait muß noch ergänzt werden durch die Erinnerungsbilder an die — zur nostalgischen Idylle verklärten — fünfziger Jahre in der Bundesrepublik, die sich bei der Neuentdekkung der DDR zum Klischee verdichten und offenbar den Bewertungsmaßstab abgeben: Scheinidyllen mit Kopfsteinpflaster bei Horst Krüger, nostalgisch verträumte Landschaften bei Erich Loest, Gefühle verjährter Modernität bei Martin Walser, biedere Bürgerlichkeit abseits hektischer Verwestlichung bei Peter Schneider 5. Das erfahrungsgesättigte Bild: Doppelte Deutsche Die DDR als Heimatmuseum und konserviertes Modell der fünfziger Jahre — diese Facetten voller Erinnerungen an Gemeinsamkeiten müssen ergänzt werden durch ein Bild, das sich zeitlich parallel dazu herausgebildet hat. Es zeigt mittels subjektiver Dispositionen, wie die tausendfachen Begegnungen mit dem Alltag der DDR den Fortbestand offenbar typisch deutscher bürgerlicher Traditionen und Verhaltensweisen gewahr werden läßt. Die neuen Innenansichten der DDR-Bewohner gleichen danach denen der Bewohner der Bundesrepublik, es sind doppelte Deutschlandportraits. Die nun möglichen millionenfachen deutsch-deutschen Begegnungen tragen vielfach ein gemeinsames Kennzeichen: die Überraschung über das Wiedererkennen von altbekannt Vertrautem. Diese doppelten Deutschen begegnen einem auch in den literarischen Reportagen aus der DDR. Hier stehen die Begegnungen von Menschen aus Ost und West, die Alltagseindrücke und Klassenreisen-Erlebnisse im Mittelpunkt Die Entdeckung des Vertrauten liegt dabei dicht neben der Beobachtung von Exotischem. Doch der Gesamteindruck trägt das besondere Kennzeichen: deutsch.
IV. Wertekontinuität der politischen Kultur in der DDR
Die fünf Standortbilder zur DDR-Gesellschaft beinhalten jeweils unterschiedliche Vorstellungen über die Färbung, Dimension und Konturierung einer DDR-spezifischen Identität. Sie zeigen im zeitlichen Längsschnitt Veränderungen an, die mit den Phasen des Umbruchs in der DDR ursächlich Zusammenhängen Doch gab es tatsächlich eine DDR-eigene nationale Identität, wie sie gerade in den achtziger Jahren bevorzugt von DDR-Wissenschaftlern herausgestellt wurde Die Vermutung einer DDR-eigenen Identität beruhte auf dem sozialpsychologisch-kompensatorischen Charakter von Identitätsbildungsprozessen
Die eigene Identität mußte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung hinsichtlich einer bestimmten Vorstellung von dem, was die DDR leistete, stützen. Es war eine durch die Gemeinsamkeit der Entbehrungen geprägte Identität. Die Abkapselung gegenüber dem Staat, die Flucht in die Nischengesellschaft der DDR bot Geborgenheit und menschliche Wärme in einem staatsfernen Milieu. Es war eine Spielart kompensatorischer Identifikation, geboren aus der vielschichtigen ökonomischen und demokratischen Mangelsituation der DDR. Sicher existierten kontextspezifische Besonderheiten eines kulturellen Milieus im Sprachgestus, Debattenstil, Vokabular, in Sozialnormen, Erwartungshaltungen, Reaktionsweisen und Mentalitätsprägungen. Dies rückt erst jetzt in aller Schärfe ins Bewußtsein und markiert das vierzigjährige eigene Selbstverständnis, die erlebte und erlittene DDR-Identität. Daß daraus keineswegs ein DDR-Nationalbewußtsein oder eine sozialistische Identität entstanden ist, wurde nicht nur durch den dramatischen Wanderungsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik im Jahre 1989 und Anfang 1990 veranschaulicht. Die Sozialismus-Fassade brach durch das Einheitsverlangen zusammen. Die Einheit der Deutschen war für die Bürger der DDR schon immer ein Codewort für gesellschaftliche und politische Erwartungen, mit konkreten praktischen Alltagserfahrungen und Wünschen gekoppelt und nicht wie in der Bundesrepublik nur pflichtgemäße Sonntagsrhetorik. Umfrageergebnisse des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig deuten im Trend an, daß in dem Maße, in dem sich der Sozialismus in den achtziger Jahren selbst diskreditierte, parallel auch die emotional verankerte Identifikation mit dem DDR-Staat dramatisch nachließ
Vielleicht ist das Eigene der DDR auch erst in ihrem Untergang geboren worden: in der Erinnerung an die Revolution. „Wir sind das Volk“ — diese Losung während der ersten Revolutionsphase transportierte kurzzeitig diesen Stolz auf die eigenen Leistungen, in dem das Volk der DDR Souverän und Subjekt seiner eigenen Geschichte war. Die zahlreichen Ausstellungsdokumentationen in vielen Städten der DDR mit den Bilddokumenten der Oktoberrevolution 1989 unterstreichen nostalgisch dieses revolutionäre Wir-Bewußtsein.
Doch die neue Lage der Nation hat in einer schon kurz darauf folgenden Phase des Umbruchs — etwa ab Ende November 1989 — dieses „Wir sind das Volk“ -Bewußtsein durch eine andere Gemeinschaftsorientierung ersetzt: das Wir-Bewußtsein reichte für einen eigenen Staat nicht aus, die DDR ist nur noch als Einstellung, nicht jedoch als Staat in die neue Republik Deutschland miteinzubringen. Durch den Umsturz des SED-Regimes war ein Machtvakuum in der DDR entstanden, jedoch kein Werte-Vakuum. Die politische Kultur der DDR läßt sich vielmehr wenige Monate nach der Revolution mit Kategorien einer bürgerlich-westlichen Wertekontinuität beschreiben Doch alte, offenbar konservierte politisch-kulturelle Traditionsmuster, wie sie in der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre hinein dominierten, finden sich noch immer in der DDR. Diese Niemandszeit zwischen dem alten SED-Staat und dem demokratischen Zukunftsgemeinwesen kann verstehen, wer weiß, aus welcher Vergangenheit sie herkommt. Bei der folgenden Beschreibung aktueller politisch-kultureller Strömungen innerhalb der DDR-Bevölkerung wird jedoch nicht unterstellt, daß diese Strömungen keine Wirkungskraft mehr in der bundesrepublikanischen Bevölkerung hätten. Jedoch sind in der Bundesrepublik diese Werte-Kontinuitäten durch Internationalisierung, durch Pluralisierung der Lebensstile, durch Kommunikation und durch neue, ergänzende Wertorientierungen überlagert. Ihre jeweilige situationsspezifische Aktualisierung signalisiert einen anderen, eher gedämpften Umgang mit den Traditionsströmen als innerhalb der DDR-Bevölkerung. Konkret lassen sich sechs politisch-kulturelle Strömungen einer Wertekontinuität beobachten. die auch nach dem Ausnahmezustand im Oktober und November 1989 ihre dominierende Präge-kraft offenbar behalten hat: 1. Idealismus In der revolutionären Überwindung des administrativ-zentralistischen politischen Systems in der DDR steckte die Hoffnung auf eine neue politische Kultur. Doch die radikaldemokratisch-basisdemokratischen Züge, die in der Friedens-und grünalternativen Bewegung, bei den engagierten Christen sowie der Umwelt-und Menschenrechtsbewegung entstanden, transportieren ein Politikverständnis, das sich an einem idealen Maßstab der Verhältnisse orientiert. Ein Beleg für die Problematik der idealistischen Denkhaltung in Form moralisierender Vorbehalte gegenüber den konkreten Erscheinungsformen der Politik findet sich in der Auseinandersetzung der DDR-Bürgerkomitees mit der jetzt neuen, parlamentarisch gestützten Legitimität. Der revolutionär-idealistische Impetus reibt sich an den Spielregeln der repräsentativen Demokratie. 2. Etatismus Ein positives Staatsverständnis, in der Tradition des Protestantismus lutherischer Prägung führte zum „Modrow-Effekt“. Der DDR-Ministerpräsident Modrow wurde, obwohl er ein Vertreter des alten SED-Regimes war, für viele Bürger der DDR staatlicher Hoffnungsträger, eine Inkarnation des Gemeinwohls. Er stand über den Parteien zur Sicherung und Ordnung der staatlichen Verhältnisse Etatistische Grundströmungen in der Tra-dition des Protestantismus finden sich auch bei den Sprechern der neuen Bewegungen. Selten sprachen sie als Vertreter eines nationalen Konsenses, sondern sie handelten aus einer Grundeinstellung individueller Verantwortung heraus, die sie von der Masse abhob '3. Unpolitische Innerlichkeit Die DDR-Bürger haben keine Erfahrungen mit den erstrebten Prinzipien der freien Diskussion, der demokratischen Willensbildung und der staatsbürgerlichen Gleichheit. Viele neigen augenblicklich eher zur Sicherung der privaten Existenz als zur weiteren demokratischen Partizipation. Private Innerlichkeit bei garantierter Freiheit steht der neu akzeptierten politisch-staatlichen Obrigkeit gegenüber. Die Stimmung im Umfeld des Kommunalwahlkampfes in der DDR deutete bereits auf diesen Trend einer zwar immer noch hochpolitisierten Gesellschaft, in derjedoch mittlerweile mehrheitlich politisches Engagement zurückgeht. Das Politikverständnis der DDR-Bevölkerung schätzt hingegen das, was die Bundesbürger weithin konsumiert haben: Rechtsstaatlichkeit, Verwaltungseffizienz, öffentliche Ordnung Für ein eher obrigkeitsstaatlich gelagertes Verständnis ist vieles sogar abstoßend, was nach bundesrepublikanischen Maßstäben als Steigerung demokratischen Engagements gilt. 4. Konfliktscheu Es gibt keine Dialogkultur in der DDR. Der offene politische Diskurs in allen Regionen und Alltagssituationen ist eine ganz neue Erfahrung für DDR-Bürger. Geprägt hat sie dagegen eine Dauerschizophrenie zwischen der sorgfältig ausgewählten öffentlichen Meinungsäußerung, die von einem erwartet wurde, und der Meinung im vertrauten Kreis: eine Doppelgesichtigkeit von öffentlicher und privater Meinung. Öffentlich ausgetragene Konflikte als Mittel produktiver Gesellschaftsgestaltung müssen noch geübt werden. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Parteien der Bundesrepublik massiv in den Volkskammerwahlkampf eingriffen, dominierte noch der Wunsch nach Harmonisierung zwischen den DDR-Parteien. Trotz einzelner Über-griffe gab es eine unausgesprochene und aus westdeutscher Sicht oft unverständliche Fairneß gegenüber der SED-PDS. Die Häuser der Demokratie, die mittlerweile in vielen Städten der DDR existieren, symbolisieren ein Stück weit auch diese harmonisierende Konfliktscheu. Unter einem gemeinsa- bei wechselseitiger Abhängigkeit von gemeinsam benutzter Infrastruktur, alle politischen Parteien und Bewegungen wieder. Leserbriefe in den DDR-Zeitungen belegen zudem hinreichend eine Stimmung, in der Oppositionelle als permanente Nörgler verschrien sind. So wird Pluralismus oft nur als Chaos aufgefaßt. 5. Formalismus Zahlreiche ParteiVersammlungen, politische Foren und Bürgertreffen wurden anfänglich durch ausgedehnte Geschäftsordnungsdebatten geprägt. Statt programmatischer Diskussionen stand die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte im Vordergrund. In dieser Art des Formalismus spiegelte sich auch ein Stolz auf Disziplin wider. Keine Demonstration in der Umbruchphase der DDR fand während der Arbeitszeit statt. Selbst die Rechnung der Berliner Stadtreinigung für die Säuberung des Alexander-platzes nach der Großkundgebung am 4. November 1989 für Pressefreiheit und freie Wahlen bezahlten die Veranstalter fristgerecht. Auch die Diskussion über die Geltungskraft der bisherigen DDR-Verfassung gehört in diesen Traditionsstrom des Formalismus. Vermutlich hat es in der Geschichte noch keine Revolution gegeben, die das Unrechts-regime verjagte, aber der Unrechtsordnung verfassungsrechtlich verpflichtet blieb — bis das Parlament die alte Ordnung mit verfassungsändernder Mehrheit in bürgerlicher Verfassungstradition änderte. 6. Sicherheitsbedürfnis Der neue Orientierungsbedarf der DDR-Bevölkerung erhält seine ganze Schubkraft auch aus dem Zerfall der Kommandowirtschaft. Die Entmündigung durch den Plan war für manche zugleich eine Art Geborgenheit im Kollektiv. Die Entscheidungsfreiheit produziert nun Ängste in einem Staat, in dem ebenso wie in der Bundesrepublik eine tiefe Sehnsucht nach Sicherheit die politische Kultur prägt Sicherheit ist hierbei nicht nur als DM-Sicherheit zu verstehen, sondern als Lebensweise; eine Zielsicherheit mit der Gewißheit der Geborgenheit eines von alleine verlaufenden vorgegebenen Entwicklungsweges. Die Suche nach Sicherheit war auch ein wichtiger Auslöser der Revolution. Lange Zeit — bis zu Beginn der achtziger Jahre — existierte noch ein stabiles Sicherheits-und Zukunftsbewußtsein mit sozial abgesichertem Status, beruflicher Ausbildung und Arbeitsplatzgarantie
Im Kontext der ökonomischen und politischen Krise der achtziger Jahre zeichnete sich jedoch eine zunehmende Deformation und Zerstörung der sozialen Strukturen, der Netze und Beziehungen des Alltags ab. Dies verursachte nicht nur Bindungsverluste, sondern auch einen Verlust an Identifikation mit den Idealen des Sozialismus bezüglich sozialer Gerechtigkeit. „Wir sind ja gewohnt, daß andere für uns denken und tun“, dieser vielgehörte Satz bezieht sich auf diese Mischung aus unpolitischer Innerlichkeit und dem Sicherheitsbedürfnis in einem zugleich bevormundenden und betreuenden System. Diese Angst vor der Freiheit hat aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus bei vielen Bürgern der DDR mit vorauseilendem Gehorsam die Suche nach der Obhut des Stärkeren — in diesem Fall der Bundesrepublik — auch sozialpsychologisch motiviert.
V. Ausblick: Deutsche in Europa
Was charakterisiert die neue politisch-kulturelle Lage der Nation? Nach vierzig Jahren gehört es zum Konsens, daß man gerade der Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft Sicherheit und Wohlstand verdankt. Bisher driftet eher der Osten nach Westen als umgekehrt. Der einstige sozialistische Ostblock folgt dem Modernisierungssog des Westens. Doch die Zeit ist ungünstig für Prognosen. Die progressiven Ideologien von einst haben ihren Glanz verloren und die kämpferischen Konzepte ihre Kraft. Auch Neutralitätskonzepte, Brükken-und Mittlerfunktionen oder Sonderwege finden nur noch geringe Beachtung. Die Euphorie des Wiedersehens und das Denken in Lebenszusammenhängen haben nicht zu nationalistischen Bewegungen der Deutschen geführt. Eine für unsere politische Kultur ungewohnte neue Gelassenheit kennzeichnet vielleicht am besten die augenblickliche neue Stimmungslage der Nation.
Dies hat ein bundesrepublikanisches Staatsbewußtsein ermöglicht, das schwerpunktmäßig an den konkreten Lebensverhältnissen orientiert ist. Die Werte des neuen Individualismus lassen eine eher pragmatisch als idealistisch begründete Zustim-mung zur Demokratie wachsen. Der Konsens im Staatsbewußtsein und der Gemeinschaftsorientierung der Bundesbürger richtet sich eher auf private Lebensentwürfe, auf gleichartige individuelle Zielsetzungen und weniger auf übergreifende Ideen. Erst allmählich setzt sich auch deshalb im Bewußtsein durch, daß ein vereinigtes Deutschland nicht bloß eine vergrößerte Bundesrepublik darstellt. Mit dem Ende der Geschichte des Teilstaates Bundesrepublik Deutschland müssen sich die Bundesbürger auch als Deutsche in Europa neu definieren.
Bei den Bürgern der DDR verbirgt sich ebensowenig hinter dem Einheitsverlangen großdeutscher Nationalismus, vielmehr das Streben nach individuellem Glück. Daher rührt es auch, daß man nun immer mehr den Vergleich mit dem Westen sucht, als dem einzigen Orientierungsmaßstab, der offenbar noch gilt. Nicht nur die Westmark — die westlichen Verhältnisse an sich dominieren den gesellschaftlichen Wechselkurs.
Die Nationalstaaten haben durch den Umbruch in Osteuropa ein neues Gewicht erhalten. Globale Interdependenz ist zu abstrakt, um sozialpsychologisch motivierte Identitätsbedürfnisse zu befriedigen. Als Identifikationsrahmen bleibt der Nationalstaat erhalten. Die europäische Integration reduziert jedoch insgesamt die Rolle jedes einzelnen Nationalstaates. Der Bedarf an nationaler Identifikation und Souveränität wächst in dem Maße, in dem politische und ökonomische Nivellierungsprozesse in Europa zunehmen. Die Nationalstaaten bleiben auch ein Schutz gegen Hegemonie.
Für die Bürger der DDR hat sich der bisherige institutioneile Lebensrahmen aufgelöst. Zum Vorschein kommt eine politisch-kulturelle Wertekontinuität bürgerlicher Traditionen in Deutschland. So gewinnt man in der Bundesrepublik den paradoxen Eindruck, daß das „Ende der Nachkriegszeit“ mit der Wiederentdeckung der Nachkriegszeit einhergeht, die offenbar im östlichen Deutschland noch nicht vergangen ist. Auf Jahre werden wir so im vereinigten Deutschland deutlich markierte Regionen unterschiedlicher Wertstrukturen haben. Die Reduktion auf kleinräumliche Beziehungen, der Wille zum Ausbau der privaten Existenz, das Auswandern aus der Geschichte durch Kompensationsangebote — wie zum Beispiel die Westwendung — werden die Wertehierarchie der DDR-Bürger weiterhin bestimmen.
Doch der schonungslose Druck der Modernisierung führt schneller und abrupter, als es in der formativen Phase der Bundesrepublik möglich war, zur Abfederung und Überlagerung dieser kollektiven Prägemuster. Die Westwendung mit weltoffener Kommunikation eröffnet Spielräume der individuellen Differenzierung und ermöglicht die pragmatische Gleichzeitigkeit unterschiedlicher politisch-kultureller Lebensstile. Erst wenn sich auch die DDR-Bürger den ehemaligen bundesrepublikanisehen Slogan „wir sind wieder wer“ zu eigen machen, kann es zu einer Synchronisation der Lebens-gefühle West und Ost kommen.
Vermutlich bleibt uns jedoch bis dahin noch immer ein deutscher Kleinmut erhalten, der sich in beiden Gesellschaften — ausjeweils unterschiedlichen Motiven — in der Angst vor den Kosten der Einheit seinen Weg bahnt.