Ein neues Zeitalter wird zweckmäßigerweise am Neujahrsmorgen eingeläutet. So war es auch mit dem neuen Medienzeitalter in der Bundesrepublik Deutschland. Es begann — von Klängen des Münchner Bach-Orchesters festlich umrahmt — am Januar 1984 um 10. 30 Uhr, als in Ludwigshafen das erste Kabel-Pilotprojekt gestartet wurde. Genau ein Jahr später begleiteten die Böllerschüsse dann den Auftakt zum ersten richtigen privaten Fernsehprogramm: Am 1. Januar 1985 konnte „SAT 1“ zum ersten Mal zeigen, was wir bei den Öffentlich-rechtlichen bisher so alles vermißt hatten. Ein halbes Jahrzehnt später ist es Zeit für eine Zwischenbilanz: Was hat das neu gestaltete Mediensystem gebracht — ökonomisch, vor allem aber auch: publizistisch? Und: Was kann der — auch: medienstrukturelle — Umbruch in der DDR für dieses Mediensystem, das bald ein gesamtdeutsches werden wird, bedeuten?
I. „Vier für ein Ave Maria“
An jenem Neujahrstag des Jahres 1985 begann SAT 1 sein Programm mit den beiden Spielfilmen „Der Unverbesserliche“ und „Vier für ein Ave Maria“. Die Titel haben inzwischen einen gewissen Symbolwert erhalten. Denn seit dem Sommer 1989 tobt in dem Privatsender ein mehr oder weniger privater Krieg zwischen einerseits dem Filmhändler Leo Kirch und seinem Anhang und andererseits dem Springer-Verlag nebst Gefolge. Die Rollen der vier Protagonisten, die nach Western-Manier miteinander umgehen, sind mit Leo Kirch persönlich, seinem Anwalt und Partner Joachim Theye, Springer-Vorstandschef Peter Tamm und SAT 1-Geschäftsführer Werner E. Klatten leidlich besetzt. Da die Fraktionen einander für unverbesserlich halten, sorgt der Sender inzwischen mehr durch Gerichtsverfahren für Aufsehen als durch seine Programme 1).
Bisheriger Höhepunkt der Auseinandersetzung war im Frühjahr 1990 die Entscheidung der SAT 1-Geschäftsführung, gegen den Willen der Springer-Fraktion im Ausichtsrat ein Paket mit 1 300 Spielfilmen, das 756 Millionen DM kostet, zu erwerben. An diesem Deal, so behauptet der Verlag, hat Film-händler Kirch, der die Filme zuvor an eine Schweizer Firma verkauft hatte, kräftig mitverdient. Über den Stand der Auseinandersetzung erhält die Öffentlichkeit seit Monaten — selten genug im Wirt-schaftsleben — genaueste Informationen, und zwar durch die „Bild“ -Zeitung, die freilich ziemlich eindeutig die Position des Springer-Verlag vertritt, dem sie bekanntlich gehört. Am Samstag, dem 28. April 1990, meldete „Bild“ auf Seite 1 freudig erregt „Schwarzer Freitag für Kirch“, als Gerichte zugunsten von Springer entschieden hatten. Daneben mußte das Blatt freilich eine lange Gegendarstellung der SAT 1-Geschäftsführung abdrukken
Bei dieser Kabale geht es auch um den Kampf zwischen Medien-Spekulanten und traditionellen Unternehmen der Publizistik. Eigentümer von SAT 1 sind, neben Springer, u. a. 138 westdeutsche Zeitungsverlage, die in den Aufbau von SAT 1 bisher 400 Millionen DM investiert haben und ihr Geld nicht durch undurchsichtige Geschäfte mit Filmpaketen verlieren wollen. Zu den Verlierern bei diesem Geschäft mit den sogenannten Neuen Medien gehört bisher auf jeden Fall der Springer-Konzern, den sein Engagement beim Privatsender " SAT 1“ schon 150 Millionen DM gekostet haben soll. Doch nicht nur für den Medienmulti ist das Privatfernsehen alles andere als eine Goldgrube geworden. Etliche Goldgräber sind inzwischen im El Dorado der sogenannten Neuen Medien auf die Nase gefallen.
Zu den Verlierern gehört auch die Bundespost. Schon früh erwiesen sich die Pläne der Post, den Bildschirmtext als Medium für den privaten Markt durchzusetzen, als Fehlschlag. Verleger, die Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre um die von ihnen „Bildschirmzeitung“ genannten Text-dienste kämpften, sind längst in andere Marktsegmente emigriert. Im Herbst 1989 stellte die FAZ ihre „Btx-Nachrichten" ein
Getäuscht hat sich aber auch, wer glaubte, im Mediensystem werde mit der Privatisierung des Rundfunks eine neue Vielfalt entstehen — mit ganz neuen Anbietern und ökonomischen Chancen für solche Veranstalter, die in dem seit Jahren festgefügten Pressesektor keine Marktzutrittschancen hatten —, mußte sich inzwischen eines Besseren belehren lassen. „Neue Medien“ bedeutet: mehr von denselben.
Und die Programme selbst? Gab es nach dem viel-versprechenden, feierlichen Auftakt weiterhin zumindest genug Bach, so daß sich mit dem „Vier für ein Ave Maria“ leben ließ? Gab es innovative Angebote — oder mehr von demselben'! Überlassen wir die Bewertung an dieser Stelle einem Journalisten, der dabei war, als das neue Medienzeitalter eingeläutet wurde. Zum Beispiel am 1. April 1984, als in Bayern das Privatfernsehen auf die Test-strecke geschickt wurde. Herbert Riehl-Heyse erinnert sich noch gut an die euphorischen Erwartungen, die es damals gab: „Es war ein ergreifendes Erlebnis — und man konnte richtig sehen, was da alles Liebliches und Frommes auf uns zukommen würde: War es nicht erfrischend mitzuerleben, wie da auf 21 Kanälen Peter Alexander sein wienerisch Sümmchen und Lennie Bernstein den Stab erhob? Konnte man sich überhapt sattsehen an all den Schweizer Barockkirchen, die über die Bildschirme flimmerten? So also sah das neue Zeitalter aus.“
Riehl-Heyse erinnert sich auch noch gut an die nicht ganz uneigenützigen Hoffnungen von Kirchen-und Landesfürsten, daß „diese Technik zum Besten des Menschen gesteuert“ werden könne. Und er gibt nicht ohne Häme seine aktuellen Eindrücke von diesen Programmen wieder. Wie müssen, fragt er sich, die neuen Programme nun auf die Politiker wirken — und wie müssen sich die „Millionen ganz normaler Menschen“ verhalten, deren Interessen diese Politiker doch vertreten wollten: „Ob sie vielleicht der Sexberaterin Erika Berger lauschen, wie sie live die Frage erörtert, wie lange die Anruferin den Penis ihres Freundes im Mund behalten soll, auch wenn sie es im Grunde nicht so gerne möchte? Und was sich Alfons Goppel wohl denken würde angesichts dessen, was fast täglich so an Soft-Pomo-Programmen in den privaten Ferrnsehanstalten geboten wird, für die er so mächtig gekämpft hat? Und vor allem die Gewalt: An einem ganz normalen Montag — hat der Stern gezählt — bringt es SAT 1 allein auf 42 Gewaltszenen, wird dort 42mal erschossen, über den Haufen geschlagen, niedergeknüppelt, vorzugsweise im Nachmittagsprogramm, wenn die lieben Kleinen vor den Schirmen sitzen und bei den Öffentlich-Rechtlichen die Sendung mit der Maus ihren immer schwieriger werdenden Konkurrenzkampf ausficht. Vielleicht sollten uns auch einige Bischöfe und Politiker nicht einzureden versuchen, sie hätten das alles nicht gewußt, sonst müssen wir sie auf ein paar Aussagen von Experten verweisen, in denen das alles seit Jahren vorhergesagt ist. Vielleicht hätten sie schon mal früher mit dem Pressesprecher von SAT 1 ein Wort wechseln sollen, der jetzt so freimütig sagt, sein Sender verstehe sich nicht ‘als Ersatz der Volkshochschule’, man beanspruche auch ‘keinen Erziehungsauftrag’, und im übrigen liege die Verantwortung dafür, was gesehen werde, ‘beim Empfänger, nicht beim Sender’. Mit diesem Argument wird man demnächst vermutlich auch den Absender eines kleinen Sprengstoffpaketes freisprechen.“
Kritische Medienbeobachter wie z. B. Kommunikationswissenschaftler registrieren solche Programmbewertungen mit einer gewissen Genugtuung. Denn niemals wohl sind ihre Prognosen so treffsicher gewesen wie im Fall der „Neuen Medien“. Hatten sie nicht gewarnt vor den Gefahren der Kommerzialisierung? Hatten sie nicht in düsteren Farben gemalt, wie sich die sauberen Leinwände in einer dualen Rundfunkordnung verfinstern würden? Hatten sie nicht die angelsächsische Formel „more of the same“ für die drohende Programmeinfalt hierzulande populär zu machen versucht? Hatten sie nicht immer wieder aufdie Gefahren intermediärer Konzentrationsprozesse hingewiesen? Doch, wie immer, wenn es um viel Geld geht: Niemand hatte auf die vielen Kassandras gehört. Mit einer gewissen Genugtuung können die mißachteten Propheten heute aber immerhin feststellen, daß es eigentlich niemandem so ganz recht gemacht worden ist. Die Kirchenmänner leiden un-ter Frau Berger; Politiker wie Stoiber und Stoltenberg bringt, zum Beispiel, „Spiegel-TV" und dessen Fernsehmagazin zur Weißglut. Der „Spiegel“ — und besser kann man die Widersprüche im neuen Mediensystem kaum illustrieren — ist heute der einzige TV-Produzent der Bundesrepublik, der in beiden großen privaten Kanälen präsent ist.
Merkwürdig nur, so denken die Medienexperten weiter, daß alle, die nun so überrascht tun, doch eigentlich gar nicht ernsthaft überrascht werden konnten. Hätte doch schon ein Hotelaufenthalt in den USA, ein wenig Beschäftigung mit dem britischen Kommerzsender ITV und seiner Programm-politik oder ein Urlaub in Italien genügt, um ein Experte der „Neuen Medien“ zu werden. Zwischen Po und Neto war schon vor Jahren zu bewundern, was jetzt, dank Berlusconi und RTL plus, als rationeller, grenzübergreifender Striptease nun auch hierzulande zu bewundern ist — tutti frutti. Dank solcher Highlights hat sich RTL plus — anders als SAT 1 mit seinen angestaubten Schnulzen — nach sechs langen Jahren und 420 Millionen Mark Einsatz — inzwischen in die schwarzen Zahlen geschoben
Vom alltäglichen Wahnsinn in diesem neuen Mediensystem sind nun die, die das unbedingt wollten — Politiker und, zum Beispiel, Kirchenmänner — ebenso betroffen wie die, die zumindest nicht gefragt worden sind: das Publikum. Ihm aber gibt die moderne Unterhaltungselektronik — und auch das ist ausgleichende Gerechtigkeit — ein ausgesprochenes Machtmittel direkt in die Hand: die Fernbedienung. Durch „Zapping“ (oder: „Channel Hopping“) können Programme gnadenlos und in Sekundenschnelle weggedrückt werden. „Fiebrig“, weiß Fernsehkritiker Peter Stolle, „sitzt das Volk am Drücker und fahndet nach neuen Knallfröschen.“ „Zapping“ ist auch zur Vermeidung von Werbebotschaften weit verbreitet — was natürlich nicht von allen Interessengruppen im Medienwunderland begrüßt wird. Noch schlimmer freilich ist „Grazing“. Das Grasen auf allen Weideflächen der 20 und mehr Fernsehprogramme — immer auf der Suche nach einem Toten oder einem Tor.
Im folgenden wollen wir — über solche Einzelbeobachtungen und Fälle von eher anekdotischem Wert hinaus — die ökonomischen und publizistischen Aspekte dieser aktuellen Medienentwicklung grundsätzlicher untersuchen. Dabei geht es nicht um eine kulturkritische oder gar kulturpessimistische Medienschau, die lineare Zusammenhänge zwischen Entwicklungen im Mediensystem und im Gesellschaftssystem unterstellt. Oder gar um di-rekte Schlüsse von den Wirklichkeitsentwürfen der Medien auf die Wirklichkeitskonstruktionen in den Köpfen der Menschen. Daß solche Kausalannahmen unzulässig sind, haben die emanzipatorischen Bewegungen in Osteuropa gerade, eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Das war auch ein Aufstand gegen eben die Wirklichkeitsentwürfe, die die Medien dort jahrzehntelang angeboten hatten.
Sechs Aspekte, die hier thesenartig an den Anfang gestellt seien, sollen im folgenden im Vordergrund stehen:
— Marktwirtschaftliche Mediensysteme sind durch eine „eingebaute Schizophrenie“ gekennzeichnet: gleichzeitig Industrie mit der Verpflichtung zur Profitmaximierung und Institution mit der Verpflichtung zur Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe sein zu sollen In unserem neuen Mediensystem schlägt das Pendel deutlich weiter zur Industrie hin aus. Insofern besteht Anlaß zu Befürchtungen.
— Die Alliierten haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg ein dualistisches institutionelles Arrangement für unser Mediensystem präsentiert, und das war gewiß nicht ihr schlechtestes Geschenk. Wer eine andere Ordnung vorgezogen oder zumindest zugelassen hat, sollte nun keine Krokodilstränen weinen: Die Tatsachen sind geschaffen und haben sogar verfassungsrechtlichen Segen.
— Die neue Medienwelt bricht nicht plötzlich über den Bürger herein, sondern entwickelt sich eher kontinuierlich. Dies bietet prinzipiell Chancen für eine gesellschaftliche Steuerung — zumal die Entwicklung in der DDR auch medienpolitisch neue Verhältnisse schafft. Auf der anderen Seite gibt es nur wenige Möglichkeiten, die ökonomische Logik westlicher Mediensysteme zu bändigen und damit auch Einfluß auf Vielfalt und Niveau der Programme zu nehmen. Das Kartellrecht gehört dazu, aber auch eine möglichst große Garantie und Förderung der Autonomie und Kompetenz von Journalisten. — Verantwortung für die Medien haben in einer Marktgesellschaft die Produzenten und die Kunden gleichermaßen. Die Kunden können über den Markt Einfluß nehmen. Die Mediennutzungsforschung zeigt, daß das geschieht: Mehr denn je gehen die Teile des Publikums aktiv mit den Medien-angeboten um — und sei es, daß sie sich ihnen nur schlicht und einfach verweigern. Gerade aktuelle Medien wie etwa Tageszeitungen müssen deshalb — aus purer Selbsterhaltung — aufpassen, daß sie sich unter zunehmendem Konkurrenzdruck rechtzeitig auf gewandelte Ansprüche einstellen. Und das bedeutet auch: nicht vorschnell die Qualität ihrer Produkte der Rentabilität zu opfern. — Das neue gesamtdeutsche Mediensystem wird in seiner Grundstruktur voraussichtlich dem neuen Mediensystem der Bundesrepublik entsprechen. Doch jenseits der bereits erfolgten Festlegung auf eine privatwirtschaftliche Presse und einen dualen Rundfunk sind in der DDR zahlreiche Probleme zu lösen, die sich je nach Medienbereich unterscheiden. Dazu gehören das Schicksal von Parteiblättern im Bereich der Tagespresse, das Überleben eines eigenständigen Zeitschriftenmarktes und die mögliche Einbindung des ehemaligen Staatsfemsehens in das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem der Bundesrepublik. Dazu gehören aber auch professionelle Aspekte: die Etablierung eines Journalismus, der effektiv, qualifiziert und für ein pluralistisches Mediensystem brauchbar ist.
II. Die „eingebaute Schizophrenie“ der Medien und ihre Tradition
Die Diskussion, die über die Entwicklung des Mediensystems der Bundesrepublik in diesem Jahrzehnt geführt wird, ist von bemerkenswerter Schlichtheit. Übersehen wird von ganz unterschiedlichen Kritikergruppen, daß diese Entwicklung in der Logik des Mediensystems selbst liegt; alle Probleme — auch die aktuellen Probleme mit den soge-nannten Neuen Medien — sind in diesem Medien-system grundsätzlich angelegt.
Doch nach wie vor bestimmen dichotome Positionen die Debatte: Die einen vertrauen blind dem Markt, die anderen beschwören das „tödliche Amüsement“ Dichotome Standpunkte bestimmen in der aktuellen Mediendiskussion insbesondere auch den Umgang mit dem Begriff „Kommerzialisierung“. Für die einen ist „kommerziell“ auch im Fall der Medien nichts anderes als ein Synonym für „ökonomisch“, für „marktwirtschaftlich“; aus solchem wenig problemorientierten Denken speist sich auch die „Theorie der freien Presse“ der die Verleger anhängen. Für die anderen ist „kommerziell“ identisch mit allem, was der Kapitalismus an Schlimmem hervorbringt: Monopolisierung der Medienproduktion, Gewissenlosigkeit der Medien-produzenten. Geschmacklosigkeit der Medienprokukte Wasser auf die Mühlen einer solchen Sichtweise sind publizistische Unfälle wie die Gladbecker Geiselaffäre im Sommer 1988 sind Gewalt und Pornographie, sind Western und Erika Berger im privaten Fernsehen. Durch die Entwick-lung in Osteuropa hat diese mediengespeiste Kapitalismuskritik freilich an Schwung eingebüßt.
Diese polaren Positionen kennzeichnen auch ziemlich genau den „Mainstream“ zum einen in der Wirtschafts-und zum anderen in der Kommunikationswissenschaft. Wird hier oft aus der Perspektive eines idealen Marktes argumentiert, so haben sich dort Maßstäbe idealer Kommunikation gehalten, ohne Rücksicht auf Strukturen. Diese Strukturen gibt es nicht erst seit dem Einzug der „Neuen Medien“ — wenn vermittelte Kommunikation überhaupt je keusch und rein war. Dies lehrt schon ein Blick in die Schriften der Klassiker. Karl Bücher zum Beispiel, Redakteur, Professor für Nationalökonomie und später, als Gründer des ersten Instituts für Zeitungskunde in Leipzig, Pionier der Kommunikationswissenschaft in Deutschland — also hier ein geradezu vollkommener Gewährsmann — formulierte vor fast einem Jahrhundert Erkenntnisse wie die folgenden über die Ökonomie der Presse: „Es kann nicht entschieden genug ausgesprochen werden. Die Redaktion ist für die . kapitalistische Erwerbsunternehmung’ nichts weiter als ein lästiger Kostenbestandteil, der gebraucht wird, um die Annoncen vor die Augen von Menschen zu bringen, auf die sie wirken können . . . Also ist die Zeitung ein Erwerbsunternehmen, das Annoncenraum als Ware erzeugt, die nur durch einen redaktionellen Teil verkäuflich wird ... Es gab eine Zeit, in der die Zeitung nur neue Nachrichten und Artikel zur Belehrung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung enthielt. Aber die liegt lange hinter uns.“
Diese Zeit lag schon damals, als Bücher dies im Jahre 1915 erstmals veröffentlichte, viele Jahre zurück. Und es ist für das Verständnis des heutigen Mediensystems der Bundesrepublik durchaus hilfreich, die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Faktoren in Erin-nerung zu rufen, die den Wandel der Medien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt haben -Industrialisierung der gesamten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse -Liberalisierung nicht nur des Kommunikationsrechts, sondern insbesondere auch der Chancen, Medien durch Werbung zu finanzieren — Technisierung und damit Bereitstellung der jeweils neuesten Produktions-und Übertragungstechnik für die Medien — Alphabetisierung und damit zwar Verbesserung des Bildungsstandes, aber eben auch die Einführung des Gesetzes der großen Zahl: Medienangebote für ein Massenpublikum produzieren zu müssen
Diesen Mechanismen haben sich sozialistische Mediensysteme wie das der DDR bewußt zu entziehen versucht. Das Ergebnis ist bekannt. In den pluralistischen Demokratien sind die Medien aber seit Ende des 19. Jahrhunderts stets mehr Industrie als Institution gewesen. Ökonomische und technologische Prozesse prägen bis heute ihre Erscheinungsformen.
Die Verschränkung von allgemeinen gesellschaftlichen und spezifisch kommunikationsbezogenen'Bedingungen weist auf den zuerst wohl so deutlich von Jürgen Habermas beschriebenen Mechanismus, der für die Massenkommunikation in den modernen Gesellschaften westlichen Typs im Prinzip bis heute kennzeichnend geblieben ist: Mit der Etablierung des bürgerlichen Rechtsstaates und der Legalisierung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, mit dem Entstehen von großen Anzeigen-märkten sowie der Serienreife hochentwickelter Nachrichten-und Pressetechnik können alle Erwerbschancen kommerzieller Betriebe auch bei der Herstellung und Verbreitung von Medienangeboten wahrgenommen werden. Und zweitens: Politische Freiheiten, technologische Entwicklungen und Absatzchancen sind nur von größeren Unternehmen zu nutzen. Und dies führt in einen typischen Kreislauf, der im 19. Jahrhundert erstmals beobachtet werden kann. Die aufwendige Medientechnik muß wirtschaftlich genutzt werden — und dazu sind, damals wie heute, nur wenige Konzerne in der Lage.
Analog zu den allgemeinen Tendenzen der Konzentration und Zentralisation im Kapitalismus kommt es also zwangsläufig Ende des 19. Jahrhunderts zum Entstehen der Massenpresse. Journalistische Arbeit spielt sich nun in größeren Organisationseinheiten ab, in Redaktionen, die sich zwischen Nachrichtensammlung und Nachrichtenpublikation schieben und für die Auswahl und Verarbeitung der Informationen zuständig sind. Zu dieser Zeit werden die ersten großen Zeitungskonzerne gegründet: in den USA Hearst, in England Northclyffe, in Deutschland Ullstein. Mosse und Scherl. Die gesellschaftliche Wirklichkeit prägt die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Kommunikation: Frühere Kampf-und Gesinnungsblätter, in denen politische Aussagen im Vordergrund stehen, werden immer mehr von Lokalzeitungen des Typs „Generalanzeiger“ verdrängt, die möglichst niemanden vor den Kopf stoßen wollen und sich primär für den Anzeigenumsatz interessieren. Und später von Straßenverkaufszeitungen, von denen die ersten — schon bebilderten — noch vor dem Ersten Weltkrieg herauskommen
Der Konflikt zwischen einer kommerziellen und einer institutioneilen Auffassung von Pressefreiheit ist mit dieser Entwicklung vorprogrammiert. Schon in der Weimarer Republik gab es deshalb erste Versuche, den Widerspruch zwischen der „öffentlichen Aufgabe“ der Presse und den damit verbundenen Privilegien einerseits und der privatwirtschafltichen Organisation andererseits aufzulösen — zumindest durch die Herstellung und Sicherung eines Binnenpluralismus in den Medien. Die Journalisten forderten deshalb damals, daß die Kompetenzen zwischen Verlag und Redaktion abgegrenzt würden. 1924 legte der Reichsverband der Deutschen Presse den Entwurf eines „Journalistengesetzes" vor. Darin sollte die „innere Pressefreiheit“ gegenüber den Verlegern gesichert werden Daraus wurde nichts, ebenso wie 50 Jahre später, als die sozial-liberale Koalition mit ihrem Presserechtsrahmengesetz scheiterte.
Die „eingebaute Schizophrenie“, der Doppelcharakter der Medien ist also kein Produkt der „Neuen Medien“, sondern grundlegendes Merkmal moderner Mediensysteme nach westlich-marktwirtschaftlichem Muster: Einerseits sind die Medien darin soziale Institutionen, sollen also der Allgemeinheit dienen; andererseits sind sie eine Industrie und dienen somit (wirtschaftlichen) Einzelinteressen. Einerseits sind sie — als Kinder der Aufklärung — philosophischen Werten verpflichtet (Vernunft, Freiheit, Wahrheit, Wissen, Mündigkeit); andererseits sind sie an praktisch-pragmatischen Vorgaben und Zielen orientiert (Reichweite, Konkurrenz, Redaktionsschluß, Professionalität, Karriere).
Dieser Doppelcharakter führt auch zwangsläufig zu den auffälligen Gegensätzen zwischen Anspruch und Realität im Mediensystem: Das, was viele von den Medien und dem Journalismus erwarten und was in Sonntagsreden zu hören ist. unterscheidet sich oft erheblich von dem, was die Medien und der Journalismus (sich) leisten. Wenn der Widerspruch zu arg wird, ist meist der Ruf nach dem Eingreifen des Staates zu hören. Der wiederum setzt dann eine Kommission ein, die die Verhältnisse studieren soll. So kam es in der Bundesrepublik zur Berufung der Michel-und der Günther-Kommission, als die Pressekonzentration bedrohlich wurde, oder zur Berufung der KtK als man noch glaubte, die neuen Medienlandschaft ordnungspolitisch gestalten zu können.
In den USA wurde schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kommission eingesetzt, die den Medien auf ihre kommerziellen Finger sehen sollte. Diese „Hutchins-Commission“ — benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem Kanzler der Universität von Chicago — hatte die Aufgabe, herauszufinden, wie die Medien trotz ihrer Geschäftsinteressen der Gesellschaft dienen können, ohne daß in den „Marktplatz der Wahrheit“ bürokratisch eingegriffen werden müßte. Nach dreijähriger Arbeit legte diese „Commission on Freedom of the Press“ 1947 eine Analyse der Nachrichtenmedien und ihrer Verpflichtungen gegenüber der amerikanischen Bevölkerung vor. Sie fand die Pressefreiheit akut gefährdet und erhob Vorwürfe, deren Aktualität nicht zu übersehen ist — nun, da in unserem Mediensystem amerikanische Verhältnisse herbeigeführt werden. Zum Katalog der Kritik gehörte, daß die wachsende Bedeutung der Medien von der Tatsache begleitet sei, daß immer weniger Leute die Möglichkeit hätten, ihre Ansichten über die Medien zu verbreiten. Weiter hieß es in dem Kommissionsbericht, daß die wenigen Personen, die über die Medien verfügen, offenbar nicht in der Lage seien, angemessene Kommunikationsleistungen zur Befriedigung demokratischer Bedürfnisse zu erbringen. Und schließlich wurde den Medien und ihren Journalisten vorgehalten, sie griffen teilweise zu Berichterstattungspraktiken, die eine Kontrolle von außen herausforderten.
Die Hutchins-Kommission stellte die Grundsatzfrage, ob die Medienwirklichkeit länger den unregulierten Aktivitäten einiger weniger Unternehmer und Manager überlassen werden dürfe und ob auf diese Weise tatsächlich „eine wahrheitsgemäße, vollständige und intelligente Darstellung der täglichen Ereignisse in einem Zusammenhang, der ihnen Sinn gibt“, hergestellt werden könne. Ob eine Chance bestehe, daß hinter den Fakten die Wahrheit („the truth behind the facts") sichtbar werde
Durchaus geleitet von Sorgen über die schwindende Glaubwürdigkeit der Medien setzte die Kommission dann aber doch auf die Selbstregulierungskräfte des Mediensystems — die bis heute dominierende Auffassung in den westlich-pluralistischen Gesellschaften. Die Kommission formulierte Postulate einer Medienethik und setzte dabei insbesondere auch auf eine institutionalisierte Medien-kritik. Und damit sind bereits fast alle Instrumente benannt, die in einer Marktwirtschaft zur Verfügung stehen, um die Medien zur Räson zu bringen. Doch auch wenn nur die systemimmanenten Werkzeuge gezeigt werden, geht dies den Medieneigentümern schon viel zu weit. Auch dafür bieten die Verhandlungen der Hutchins Commission ein frühes Beispiel. „Sozialverantwortung der Medien“ solle doch gefälligst da bleiben, wo sie hingehöre: im Festzelt der Sonntagsrede. Die Kommission mußte sich vorhalten lassen, jede Form von Regulierung sei unvereinbar mit der Verfassung, die in den USA den Medien als einzigen Privatunternehmen ihr Existenzrecht garantiert. Dies meinten natürlich insbesondere die Verleger.
Als neue Theorie der Massenmedien in der Marktwirtschaft schien das Konzept der Sozialverantwortung auf der anderen Seite aber dann doch gerne aufgegriffen zu werden nicht zuletzt auch zur Begründung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk westeuropäischen Typs. Dieser Sorge um die Wahrnehmung von Sozialverantwortung durch die Medien liegt eine Widerspiegelungs-Hypothese zugrunde, wonach jedes Mediensystem in gewissem Ausmaß von den Strukturen „seiner“ Gesellschaft geprägt ist. Die Kommunikationsforscher Siebert, Peterson und Schramm haben auf der Grundlage dieses Zusammenhangs in den fünfziger Jahren ihre „Four Theories of the Press“, ein normatives Modell für Formen der Massenkommunikation in aller Welt, entworfen. Sein Kernsatz lautete: „The thesis . . . is that the press always takes on the form and coloration of the social and political structures within which it operates. Especially, it reflects the System of social control.
Ein Mediensystem, in dem ungehemmtes Erwerbs-streben herrscht, würde demnach ein schlechtes Licht auf die sozialstaatlichen Verhältnisse werfen. Das kann eine Gesellschaft nicht tolerieren. Und deshalb müßte sie erst zufrieden sein, wenn es gelingt, ein Mindestmaß von Sozialbindung im Mediensystem sicherzustellen. Daran mag es liegen, daß es immer noch eine Menge Engländer und Deutsche gibt, die das dualistische Medien-Modell mit einem starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk für so übel nicht halten.
III. Monopoly selbstreferentieller Systeme?
Die Gegenthese zu dieser idealistischen Auffassung von der Sozialverantwortung der Medien lautet, daß die modernen Medien selbstreferentielle Systeme sind: Systeme, die sich nach ihren eigenen Gesetzen und allein auf sich bezogen selbst organisieren und entwickeln Da dies im Fall der Medien vor allem ökonomische Gesetze sind. wären demnach alle von der sozialen Umwelt an das Mediensystem herangetragenen kommunikativen Postulate von vornherein ohne allzu große Chance. Ein Blick auf das aktuelle Mediensystem der Bundesrepublik zeigt, daß eine solche Hypothese nicht nur eine gewisse Plausibilität, sondern auch empirische Validität besitzt -
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es heute rund 300 Zeitungsverlage, die rund 25 Millionen Zeitungsexemplare verkaufen und knapp zwölf Milliarden DM umsetzen. Fast genau zwei Drittel dieses Umsatzes resultieren aus dem Verkauf von Anzeigen und ein Drittel aus dem Vertrieb. Es gibt knapp 1 500 Zeitschriftenverlage, die unter anderem rund 450 Publikumszeitschriften mit einer Auf-läge von rund 105 Millionen Exemplaren herausgeben. Jahresumsatz der Publikumszeitschriften: mehr als sechs Milliarden DM. Und es gibt außerdem knapp 600 Unternehmen, die mehr als 1 000 Anzeigenblätter mit einer Auflage von fast 56 Millionen Exemplaren herausbringen. Die Zeitungsund Zeitschriftenverlage beschäftigen heute rund 200 000 Menschen. Die meisten von ihnen arbeiten inzwischen in größeren Betriebseinheiten: Mehr als 90 Prozent der Zeitungsuntemehmen und immerhin noch weit mehr als 50 Prozent der Zeitschriften-unternehmen haben mehr als 200 Mitarbeiter.
Beim Tageszeitungsgeschäft kann von einem funktionierenden Markt schon lange kaum noch die Rede sein; ein Marktzutritt hat seit 20 Jahren eigentlich gar nicht mehr stattgefunden. Die Konzentration ist auf hohem Niveau — es gibt noch 119 selbständige Tageszeitungen, fast halb soviele wie 1954 — eingefroren. In rund der Hälfte aller Kreise und kreisfreien Städte bedeutet Pressefreiheit, daß dort nur noch eine Tageszeitung mit lokalem Bezug erscheint Die Presseuntemehmen, die auf dem Markt blieben, sind mit der Zeit immer näher zusammengerückt. Zehn Verlagsgruppen haben heute einen Anteil von 53 Prozent am Tageszeitungsmarkt; der Springer-Verlag ist mit allein knapp 27 Prozent der deutliche Marktführer. Bei den Publikumszeitschriften haben die vier größten (Bauer, Burda, Springer, Gruner + Jahr) — je nachdem, wie man gewichtet — einen Marktanteil von knapp 50 Prozent oder sogar von fast zwei Drittel
Auf diesem Pressemarkt gibt es deshalb nur noch wenig Bewegung. Die Auflage der Tageszeitungen stagniert zwar, aber das liegt vor allem daran, daß „Bild“ in der Krise steckt — wobei sich erst zeigen muß, welcher kommerzielle Erfolg auf Dauer den schwarz-rot-goldenen Ausgaben seit November 1989 beschieden ist. Auf dem Markt der Publikumszeitschriften sorgen neue Special-Interest-Titel, die den alten Illustrierten die Leser wegnehmen, für Leben. Hier gibt es seit Jahren immer wieder neue Trends. Auf „Sports“ von Gruner + Jahr (Bertelsmann) folgte Springers „Sportbild“. Zur Zeit blühen die Frauentitel auf, während bei den Auto-Titeln der Motor stottert. Diese Zielgruppen-Strategie liegt seit Jahren den Aktivitäten insbesondere der großen Zeitschriftenverlage zugrunde. Der Anzeigenleiter von Gruner + Jahr: „Ich verkaufe auf der einen Seite die ‘Ware’ Mensch, d. h. die Menschen, die ich mit meinem Werbeträger einsammle. Und je besser ich sie etikettieren kann, je besser ich sie über Demographie, Psychographie, über die Biologie, über Einstellungen, über Verhalten und anderes beschreiben kann, um so gezielter kann von den Agenturen geplant werden. Und ich verkaufe -und nur diese beiden Dinge verkaufe ich — sogenannte Wirkungs-Voraussetzungen.“
Jedes neues Produkt beruht hier auf genauen Marktbeobachtungen. Es geht dabei aber erst in zweiter Linie um den Lesermarkt. Entscheidend ist, ob auf dem Anzeigenmarkt eine Nische ausgemacht wird, die mit Lesern einer neuen Publikation besetzt werden kann. So jedenfalls sah jahrelang das Kalkül aus — bis auch hier das Medien-Entwicklungsland DDR, in dem mehr als nur Nischen zu besetzen sind, eine neue Situation schuf.
Wenn innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik die Auflagen — und damit auch die Werbeumsätze heute überhaupt noch in Bewegung geraten, so sind das bei den Publikumszeitschriften meistens sozusagen familieninterne Angelegenheiten. Die Familie Bauer freut sich zum Beispiel darüber, daß der größte Auflagengewinner des letzten Jahres aus dem eigenen Hause kommt: die Zeitschrift „BussiBär“
Vor den Perspektiven des neuen DDR-Geschäfts verlief die Medienfront längst nicht mehr innerhalb der Presselandschaft. Die Verlage waren, wie nicht anders zu erwarten, auf Wanderschaft ins Land der sogenannten Neuen Medien gegangen: der privaten Fernsehprogramme, vor allem aber der neuen Hörfunkprogramme. Rund 80 Prozent (der rund 300) Tageszeitungs-Verlage der Bundesrepublik sind inzwischen zu Multi-Media-Unternehmen geworden, weil sie sich auch im Rundfunkgeschäft engagieren Diese Diversifikation liegt auf der Hand, denn nur hier kann die Ökonomie noch recht ungestört schalten und walten. Das geschieht sogar mit Duldung des Kartellamtes, das offenbar Doppelmonopole von Verlegern auf Zeitungs-und Rundfunkmärkten weniger bedenklich findet als das alte öffentlich-rechtliche Monopol im Rundfunkbereich Strittig ist dabei, ob das Argument, durch den privaten Rundfunk entstünden Substitutionseffekte für die lokale Zeitungswerbung, überhaupt stichhaltig ist. Ökonomische Konzentration im Pressebereich hat inzwischen meist einen Rund- funk-Hintergrund. So kaufte der Verlag Gruner + Jahr (Bertelsmann) die marode Boulevardzeitung „Hamburger Morgenpost“ vor allem deshalb, weil damit gleichzeitig ein bedeutender Anteil an „Radio Hamburg“ erworben werden konnte.
Doch selbst die größten Verlage müssen sich beim Konkurrenzkampf mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gut vorbereiten. Denn hier handelt es sich ja nicht um Tante-Emma-Läden unter gesellschaftlicher Kontrolle, sondern gleichfalls um Konzerne — mit allem, was dazugehört. Das gilt für alle 13 Anstalten in der Bundesrepublik. Der Westdeutsche Rundfunk z. B., Europas größter Sender, arbeitet mit einem 1, 4 Milliarden-DM-Etat und beschäftigt mehr als 4 000 Mitarbeiter; die ARD mit ihren neun Sendern setzt 5, 5 Milliarden DM im Jahr um, beschäftigt knapp 20 000 Mitarbeiter und ist neuntgrößter Medienkonzem der Welt. Da wirken die beiden privaten Fernsehsender SAT 1 und RTL plus, Kinder von Medienriesen, vorerst immer noch wie Zwerge.
Alle diese Konzerne — ob privat oder öffentlich-rechtlich organisiert — machen gewaltige Werbeumsätze. Führend ist hier das ZDF mit 780 Millionen DM vor dem „Stern“ (rund 380 Mio. DM), WDR (370 Mio. DM), „Spiegel“ (330 Mio. DM) und „Hörzu“ (250 Mio. DM). Erst auf Platz 18 kommt mit der „Süddeutschen“ (120 Mio. DM) eine überregionale Tageszeitung. Diese Umsätze sind natürlich — so rechnet sich das auf dem Medienmarkt — direkt an Auflagen und Reichweiten gebunden. Und wenn man das weiß, versteht man schon ein bißchen besser, warum RTL plus soviel an Frau Berger und SAT 1 soviel an den Heimatfilmen aus dem Keller des Herm Kirch liegt. Und wer die Anzeigen-Auflagen-Spirale auf dem Pressesektor verstanden hat, weiß, daß dieser „MatthäusEffekt“ natürlich nun auch für den Rundfunksektor gilt: Wer hat, dem wird gegeben.
IV. Das „Problem Bertelsmann“ und die „endlose Kette“
Wenn wir von „den“ Medien in der Bundesrepublik sprechen, meinen wir also heute eine riesige Industrie. Sie arbeitet gewinnorientiert — wie die anderen Industriezweige auch. Diese Industrie ist nur vordergründig direkt publikumsorientiert; der zweite Markt, auf dem sie ihre Produkte verkauft, besitzt größere Bedeutung: Die Medien befinden sich an der Leine der Werbung. Ökonomische Logik wird damit zur zentralen — wenn nicht oft sogar einzigen — Bezugsgröße des Handelns der Medienkonzeme. Doch Medienbetriebe als selbstreferentielle Systeme laufen Gefahr, daß sie ihr Publikum aus den Augen verlieren und ähnlich überrascht werden können wie im Herbst 1989 die Banker. Nach dem Börsen-Crash mußte damals sogar der Vollmond bemüht werden, um die plötzliche Abwendung der Menschen von den Aktien erklären zu können Auch ein „Medien-Crash“ erscheint möglich, wenn die Medienanbieter zu sehr auf sich bezogen sind und die Unberechenbarkeit des Publikums unterschätzen; wenn sie nur noch in Reichweiten, Werbeumsätzen und in Kategorien des kleinsten gemeinsamen Programmnenners denken.
Für eine solche Unberechenbarkeit des Publikums gibt es in den Langzeit-Studien zur Mediennutzung und Medienbewertung bereits einige Anhaltspunkte Die Befunde zeigen, daß sich Teile des Publikums von den Medien abwenden, weil sie sich von ihnen nicht mehr angesprochen fühlen und ihnen nicht mehr vertrauen. Dies wird zwar auch auf die Vertrauenskrise zurückgeführt, in denen größere Institutionen generell stecken. Doch der Prestigeverlust der Medien und der Journalisten — nicht nur in der Bundesrepublik — zeigt, daß die Abwendung des Publikums auch medienspezifische Ursachen hat. Der wohl problematischste Befund dabei: Vor allem jüngere Kunden laufen den Medien — dem Fernsehen wie der Tageszeitung — weg; sie sind vor allem nicht für politische Angebote zu begeistern. Ob sie durch Videoclips auf Dauer zu binden sind, muß man bezweifeln. Dabei mag es auch einen direkten Zusammenhang zwischen Mediengröße und Medienverdruß geben. Denn das Wachsen der Medieninstitutionen ist nicht nur ein marktwirtschaftliches, sondern auch ein inhaltlich-publizistisches Problem. Publizistisch Tätige wie der Verleger Emst Reinhard Piper bezweifeln grundsätzlich, daß in den Medienkonzemen so etwas wie „Kreativität“, intellektuelle Originalität, Querdenken und Durchdenken überhaupt gefördert werden kann. Alexander Kluge nennt den Glauben an die Käuflichkeit der Kreativität das „Problem Bertelsmann“
Die Firma Bertelsmann — bis zur Elefantenhochzeit der amerikanischen Riesen Time und Warner sogar weltweit führend — ist der mit Abstand größte Medienkonzem in der Bundesrepublik. Das Unternehmen, das in mehr als 30 Ländern 44 000 Menschen beschäftigt, kann allein auf Grund seiner vielfältigen Produktpalette geradezu als Symbol für das Medien-Monopoly unserer Tage bezeichnet werden. Dem Gütersloher Multi gehört — neben vielem anderen — nicht nur „Stern“ und „Hamburger Morgenpost“, sondern auch eine Beteiligung am „Spiegel“. Bertelsmann alleine setzte im Jahre 1989 rund 12, 5 Milliarden DM um (Ziel 1990: 13, 1 Milliarden DM) — mehr als alle Zeitungsverlage in der Bundesrepublik zusammen. Dieser Konzern bemüht sich um Offenheit und Pluralismus. Er initiiert über seine Stiftung Forschung und Fortbildung, veranstaltet Symposien, fördert Kreativität und tut viel für einen guten Ruf Doch ein gravierendes „Problem Bertelsmann“ hat gerade dieser Konzern selbst definiert: das Problem der Verantwortung in der „Mediengesellschaft“.
In großen Medienorganisationen findet heute eine Anonymisierung von Verantwortung für publizistisches Handeln statt. Selbst höchste Entscheidungsträger fühlen sich in quasi kybernetisch ablaufende Prozesse eingebunden, die ihren individuellen Spielraum, und damit auch ihr Verantwortungsgefühl einschränken. „Ethisches Handeln“ wird zunehmend durch institutionelles Handeln konditioniert. Dafür hat der BerteIsmann-Konzem bei der Affäre um die Hitler-Tagebücher einen deutlichen Beleg geliefert Die persönliche Verantwortung für dieses Desaster, von dem sich das Zeitschriften-Flaggschiff „Stern“ nicht mehr erholt hat, blieb bis heute im dunkeln.
Welch bedrohliche Spirale durch Kommerzialisierung und Deregulation in Gang gesetzt werden kann, läßt sich in den USA seit Jahren studieren — einschließlich der sozialen Kosten, die diese Entwicklung verursacht. „The Media Monopoly“ nennt der Medienkritiker Ben Bagdikian sein Buch über „die 50 Unternehmen, die kontrollieren, was Amerika sieht, hört und liest“ (Untertitel). Er konfrontiert darin den Verfassungsanspruch der Meinungsund Pressefreiheit mit der Realität der Informationsmonopole: „Das Zeitalter der Aufklärung schuf eine neue Art von Gesellschaft. Diktatoren und Könige wurden abgelehnt . . . Die USA sind die fundamentale Demokratie für die Aufklärung gewesen. In ihrem heiligsten Dokument wird die Meinungsfreiheit ausdrücklich garantiert. Meinungsvielfalt sollte der natürliche Dauerzustand dieser Freiheit sein. Die moderne Technologie und die amerikanische Ökonomie haben leise eine neue Art von zentraler Obrigkeit über die Informationen geschaffen — die nationalen und multinationalen Unternehmen. Die Mehrheit aller bedeutenden amerikanischen Medien — Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Bücher und Filme — wird in diesem Jahrzehnt von 50 gigantischen Unternehmen kontrolliert. Diese Unternehmen sind durch gemeinsame finanzielle Interessen verkettet mit anderen riesigen Industrien und mit ein paar dominierenden internationalen Banken.“ Bagdikian spricht im Zusammenhang mit der Verflechtung von Medien-und Nichtmedienuntemehmen von der „endlosen Kette“ Weit davon entfernt ist auch die Bundesrepublik nicht mehr. Beim privaten Rundfunk sind inzwischen auch Banken und Warenhauskonzerne beteiligt.
Dies ist aber erst der Anfang eines tiefgreifenden Strukturwandels der Kommunikationsverhältnisse. Zweifellos wird dabei die Kommerzialisierung der Mediensysteme im internationalen Maßstab neue Bedingungen schaffen, die zu verstärktem Konkurrenzdruck in bestimmten Segmenten des Medien-marktes führen kann. Als Gefahr wird insbesondere die Beteiligung von ausländischen Konzernen beschworen. Doch außer dem Medienmulti Berlusconi, der 21 Prozent am Privatsender Tele 5 hält sowie Radio Luxemburg ist in der Bundesrepublik (bisher) noch niemand zu sehen.
Eine besondere Herausforderung für die Medien bedeutet ihr Monopolverlust im Zuge der Informatisierungsprozesse in der Gesellschaft Auf den Straßen der Informationsgesellschaft gibt es schon heute Überholspuren für alle Arten von Informationsdiensten. Die Journalisten verlieren dadurch ihre Bedeutung als „Schleusenwärter“; ihre Pro- dukte werden Teil einer undurchschaubaren Gemengelage von Daten, Informationen und Kommunikation. Umso wichtiger wird deshalb, daß der Journalismus sinnvoll ausgewählte, aufbereitete, eingeordnete Aussagen anbieten kann, die sich qualitativ von den immer mehr und leichter verfügbaren „Rohinformationen“ unterscheiden. Die Bevölkerung, die für die „freien Kanäle“ mit Unsicherheit über Relevanz und Glaubwürdigkeit von Informationen bezahlt, ist auf diesen Journalismus angewiesen. Damit aber stellen sich immer höhere Anforderungen an die journalistische Kompetenz — im weitesten Sinne.
Zu den besonderen Herausforderungen des Journalismus gehört heute schon der Druck, der von Interessenvertretern als „Public Relations" ausgeübt wird, sowie der Druck, der von den Werbemärkten direkt ausgeht. Wenn Zeitschriften nur deshalb kreiert werden, weil auf dem Anzeigenmarkt eine Lücke ausgemacht worden ist, fällt Journalisten die Rolle der nützlichen Idioten zu; ist das Segment gesättigt, wird — im Jargon der Branche ausgedrückt — eine andere Sau durch ein anderes Dorf gejagt. Es gibt deshalb immer mehr Medien, in denen der Journalismus erfolgreich versteckt wird. Neue Frauenzeitschriften wie „Viva“ (Gruner + Jahr) und „Elle“ (Burda) sind perfekte Beispiele dafür.
Man kann nun in dieser Situation — ganz in der Logik ökonomischen Denkens — eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse der Kommerzialisierung des Mediensystems anstellen Ein Nutzen ist zum Beispiel im Zurückdrängen des parteipolitischen Einflusses in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in mehr Chancen für Pluralismus, in mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Medienschaffende, in mehr Leistungsdenken auf dem Kommunikationsmarkt, in besseren Marktzutrittschancen für neue Anbieter und in womöglich niedrigeren Preisen durch Konkurrenz zu sehen. Alle diese Möglichkeiten sind nicht grundsätzlich zu bestreiten. Nicht zu bestreiten ist auch, daß es immer wieder Marktsegmente gibt, in denen sich Qualität hält — und sei es nur, damit die Pressefreiheit sich selbst feiern kann. Es gibt Spielraum für „guten Journalismus“, für Medien, die z. B. Skandale aufdecken — wie auf der anderen Seite für spekulative Gewaltdarstellung und Pornographie. Hin und wieder gelingt es sogar Publikationen, aus einer Außenseiterrolle ein Geschäft zu machen. Die „Zeitgeist“ -Blätter, zum Teil in der Provinz geboren, sind ein Beispiel dafür. Kein Zweifel auch, daß sich kommerzielle Medieninstitutionen auf Veränderungen des Marktes schnell und bedingungslos einstellen können. Denn ein solches Handeln liegt innerhalb der Logik ökonomischer Systeme. Diesem Nutzen, der nicht zuletzt auf der Flexibilität marktwirtschaftlicher Systeme beruht, stehen freilich beträchtliche Kosten gegenüber, von denen schon die Rede war. Prinzipiell aber gibt es zu diesem Mediensystem mit seinen kommerziellen Grundlagen keine Alternative.
V. Wohin treibt das Mediensystem in Deutschland?
Bei der Parallelaktion von Konkurrenz und Monopolisierung im neuen Mediensystem der Bundesrepublik setzt mehr denn je der Werbesektor die Daten — nachdem die entscheidenden juristischen Schlachten schon geschlagen und der Verfassungskrieg um die Privatisierung grundsätzlich entschieden ist. Prognosen über künftige Entwicklungen in diesem Mediensystem hängen somit zunächst entscheidend von den Entwicklungen der Werbe-märkte ab Dabei ging es bis zum Herbst 1989 im einzelnen nur um die Größe des künftigen Werbe-kuchens, die Veränderung der Werbestrukturen, den Unsicherheitsfaktor Werbeeffizienz und „Europa“ als ziemlich unbekannte Bezugsgröße.
Prognosen zu den Veränderungen des Werbekuchens in der Bundesrepublik reichen von der Annahme eines Nullsummenspiels bis zur Verheißung gigantischer Wachstumsmargen. Wahrscheinlich ist ein eher langsames, kontinuierliches Wachstum, denn die Bundesrepublik gehört — gemessen am Bruttosozialprodukt — schon heute zu den führenden Werbenationen.
Das Marktforschungsuntemehmen Prognos, das hingegen bis zum Jahre 2000 eine Verdreifachung des Werbevolumens prophezeit, erwartet auch eine Verschiebung der Werbung vom Print-in den Rundfunk-Sektor Doch nach wie vor erwirtschaften die Printmedien drei Viertel der Bruttowerbeumsätze in den klassischen Medien. Zahlen für den Werbemarkt im Jahre 1988 stützen die Annahme, daß die Rahmenstruktur zugunsten der Printmedien-Werbung zunächst stabil bleibt. Auch die Verhältnisse in Frankreich und Italien mit ihren günstigen Bedingungen für private Sender sprechen gegen die prognostizierte Verschiebung.
Ganz ungewiß sind die künftigen Reichweitenpotentiale für private Veranstalter. Heute erreichen z. B. RTL plus und SAT 1 über Kabel oder Antenne ca. 11, 5 bis 13 Millionen der insgesamt 25, 7 Millionen Haushalte, also knapp die Hälfte. Erwartungen, daß im Jahr 2000 fast 90 Prozent aller Haushalte private Fernseh-Programme empfangen können, scheinen allzu optimistisch zu sein Doch selbst eine Vollverkabelung der Bundesrepublik (die nicht geplant ist) würde ja nur eine Fragmentierung des Publikums und somit Reichweiten-teilung bedeuten. Hinzu kommt, daß der Fernsehkonsum seit dem Urknall der Privatisierung nur geringfügig gestiegen ist. Geradezu ausgeschlossen wäre eine Zielgruppen-Präzisierung, an der der Werbewirtschaft stets am meisten gelegen ist; dazu ist das Massenmedium Fernsehen wohl prinzipiell ungeeignet. „Bunte“ -Verleger Hubert Burda z. B. entwirft deshalb für die Printmedien ein optimistisches Zukunftsbild: „Wir sehen, daß die Schlachtschiffe von . Bild'und . Hörzu'bis zur . Bunten'und . Freundin'der Werbewirtschaft Reichweiten bieten. wie sie kein anderes Medium zu diesen Preisen schafft. In diesem Wettbewerb sind wir durch niemanden zu schlagen.“
Schließlich der europäische Aspekt: Als bei den Plädoyers für den privaten Rundfunk die Argumente ausgingen, wurde der europäische Werbe-markt eingeführt, aufden Industrie und Werbewirtschäft nicht verzichten könnten. Doch dieser Werbemarkt ist ebenso wie der „europäische Programmarkt“ schon allein wegen der Sprachbarriere eine ungewisse Größe. Dies haben zuletzt der britische Super Channel und Rupert Murdochs Sky One mit ihren englischsprachigen Programmen zu spüren bekommen Der Londoner Mediendirektor der Agentur Saatchi and Saatchi kommentierte deren kommerzielle Flops mit den Worten: „The fact is. most people are not businessmen and they don’t speak English.“ Die Werbeagenturen stehen deshalb supranationaler Werbung bisher eher skeptisch gegenüber.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor für solche Prognosen waren die neuen Bedingungen, die das europäische Kartellrecht und die Entwicklung in Osteuropa für die nationalen Mediensysteme schaffen. Wenn die Angleichung des Kartellrechts am Ende doch auf eine Liberalisierung hinausläuft, könnten die Medienstrukturen in der Bundesrepublik wieder in Bewegung geraten, denn hier hat das Wettbewerbsrecht den Pressemarkt eingefroren. Die großen Verlage — Springer, Gruner + Jahr, Burda, Bauer und die WAZ-Gruppe — würden von einer solchen Liberalisierung am meisten profitieren. Alle diese Überlegungen drehen sich jedoch um „Peanuts“ — gemessen an den neuen Märkten, die seit dem Herbst 1989 offenstehen. In der DDR entscheidet sich seither das weitere wirtschaftliche Schicksal vieler Medienunternehmen aus der Bundesrepublik, denn auch im Bereich der Medien haben die politischen Entwicklungen eine völlig neue Situation geschaffen. Dies zu einer Zeit, da die Politiker der Bundesrepublik gerade ihre ziemlich unfertige und nur mühsam abgestimmte Medienpolitik ins Leben entließen — wobei sie mögliche Korrekturen durch das Bundesverfassungsgericht traditionsgemäß schon einkalkuliert hatten. Weitere Richtersprüche aus Karlsruhe zu den Landesmediengesetzen stehen noch aus.
Doch ohnehin ist nichts mehr so, wie es war; der Umsturz in der DDR hat auch alle ausgefeilten medienpolitischen Kalküle über den Haufen geworfen, alle Programme zu Makulatur gemacht. Plötzlich stehen — nicht nur in der DDR — Ländergrenzen und damit auch Sendergrenzen zur Disposition. Plötzlich ist absehbar, daß in langen Jahren erstrittene Rundfunk-Kompromisse womöglich durch die Wiedervereinigung absolet werden. Über die Grundzüge eines gesamtdeutschen Mediensystems gibt es spätestens seit den Wahlen in der DDR am 18. März 1990 Konsens. Übereinstimmend erklären Medienpolitiker hüben wie drüben, daß das gegenwärtige westdeutsche Modell Pate stehen soll: eine privatwirtschaftliche Organisation für die Presse, eine duale Ordnung — öffentlich-rechtlich und privat organisierte Sender — für den Rundfunk Wie dieses gesamtdeutsche Medien-system am Ende aussehen wird, hängt aber noch von einer Vielzahl von — politischen, ökonomischen, aber auch professionellen — Faktoren ab. Unklar ist somit bis heute, in welchem Ausmaß sich die Medien der DDR tatsächlich an westlichen Vor-bildern orientieren werden. Im folgenden sollen dazu einige Beobachtungen zusammengetragen werden. Sie können sich natürlich nicht auf systematische Forschung stützen, sondern nur auf vorläufiges Material einzelne Eindrücke und auf Gespräche mit Fachleuten
Aus der Sicht westdeutscher Medienverantwortlicher stellte sich die ökonomische, aber auch die politische Seite des Zusammenwachsens der Mediensysteme offenbar zunächst als recht unproblematisch dar. Verlagsmanager und Intendanten reisten seit dem Herbst 1989 mit ihren Rechtsberatern in die DDR, schlossen Vorverträge ab, versprachen technische Hilfe, vermittelten Know-how (insbesondere zum Thema Werbeeinnahmen) und suchten nach scheinbar unverfänglichen Kooperationsmodellen, die freilich nicht selten auf eine Übernahme von DDR-Betrieben hinauslaufen sollten. Bald wurde bekannt, mit welchem Eifer die ARD den Deutschen Fernseh-Funk der DDR (DFF) zu umgarnen versuchte und wie schnell die Großverlage, mit eigenen Worten, ihre „Claims abgesteckt“ hatten. Die entscheidenden Daten schienen schnell gesetzt: — Fortbestand der Tageszeitungen mit ihren imponierend hohen Auflagen, natürlich nicht mehr unter Kontrolle der Parteien, denn Parteizeitungen verkaufen sich nicht, wie wir hier gelernt haben; schnelle Lieferung von elektronischen Redaktionssystemen und modernen Rotationsmaschinen, die 24seitige oder sogar 36seitige Ausgaben drucken können; Durchforstung der betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung nach Rationalisierungsreserven. — Weitgehendes Verschwinden der durchweg qualitativ schlechten Zeitschriften in der DDR. Ersatz durch westdeutsche Hochglanz-Produkte, denen sich damit ungeahnte Auflagen-Steigerungen eröffnen; westdeutsche Großverlage zeigten sich deshalb besonders an schnellen Regelungen für den Zeitschriften-Vertrieb interessiert. Produktion der Blätter in der Bundesrepublik, wo es technische Überkapazitäten gibt. — Unbürokratisch geregelte Sendemöglichkeiten für private Sender; Integration der bestehenden DDR-Sender in das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem der Bundesrepublik unter Einschluß von Regelungen für die nicht-ländergebundenen bundesdeutschen Sender Deutschlandfunk, Deutsche Welle und RIAS sowie schnelle Kooperation im Bereich der Rundfunkwerbung.
Daß es dann nicht gleich so gekommen ist, lag vor allem an einer Reihe irritierender Aktionen in der DDR. Die erste war Anfang des Jahres die Einrichtung eines „Medienkontrollrates“, der die Umsetzung der Volkskammer-Beschlüsse zur Presse-und Meinungsfreiheit überwachen sollte. „Die Zeitung“, Organ des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, fand dafür die Überschriften: „Irrwege in Ost-Berlin“ und „Freie Presse nicht in Sicht“
An einer zweiten Aktion waren Verleger der Bundesrepublik direkt beteiligt. Sie diente der Verhinderung eines Vertriebs-und Werbe-Joint-Venture zwischen vier westdeutschen Großverlagen und der DDR-Post. Vor allem der Hamburger Jahreszeiten-Verlag, aber auch rund 20 andere Presseunternehmen sowie Politiker in der DDR liefen Sturm gegen den fast gelungenen Coup der Verlage Bauer, Burda, Gruner + Jahr und Springer, die Lieferung von Zeitungen und Zeitschriften an DDR-Kioske unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach diesem Fall von „Kolonialismus“ wurde dann ein provisorisches Vertriebsmodell geschaffen, an dem sich die Kontrahenten aus Ost und West zu gleichen Teilen beteiligen konnten.
Westdeutsche Verlage zeigten sich beim Umgang mit den Medienverantwortlichen in der DDR zwar bemerkenswert unideologisch. So fand etwa der Springer-Verlag nichts dabei, die zur PDS gewandelte SED als Zeitungspartner zu gewinnen Doch nach und nach zeigte sich, daß die DDR-Medien ihre Eigenständigkeit nicht ohne weiteres aufgeben wollen. Dies gilt nicht nur für eine Reihe von Parteizeitungen sondern z. B. auch für den DFF Bisher steht deshalb nur fest, daß auch in der DDR die Zuständigkeit für den Rundfunk bei den Ländern liegen wird und daß alle Verlage Millionenbeträge aus dem Westen brauchen, um wirtschaftlich überleben zu können.
Während die Formel „Westgeld gegen Autonomie-verzicht“ bisher nicht aufgeht, haben sich im Bereich der Medienfinanzierung beeindruckend schnelle Lernerfoge eingestellt. Hurtig schuf das Staatsfernsehen der DDR eine Hauptabteilung „Telekommerz“, um täglich in beiden Programmen jeweils 30 Minuten Werbezeit — auch nach 20 Uhr — an den Kunden zu bringen Und sogar schon kurz nach der Wende waren die Anzeigenseiten der Tageszeitungen kaum wiederzuerkennen. Werbung als Devisenbeschaffer für die überbesetzten Redaktionen entdeckten Provinzblätter wie auch das „Neue Deutschland“, das eine Woche lang eine halbseitige Eigenwerbung des amerikanischen Wanderpredigers Billy Graham druckte
Diesem Schnellkurs in Medienökonomie stehen jedoch widersprüchliche Eindrücke von der journalistischen Professionalität in den DDR-Medien gegenüber. Wurden Sendungen wie „Aktuelle Kamera“ und das Jugendmagazin „Elf 99“ in der Wendephase wegen intelligenter Beiträge mit Recht gelobt, so gibt es inzwischen doch Zweifel daran, ob die DDR-Medien und ihre Journalisten insbesondere für einen Nachrichtenjournalismus nach westlich-pluralistischem Vorbild ausreichend präpariert sind; seine Berichterstattungsmuster werden aber der Maßstab in einem gesamtdeutschen Mediensystem sein.
Die Voraussetzungen dafür sind schlecht: „Neben der Armee der Staatssicherheit“, schrieb Cordt Schnibben im „Spiegel“, „war die Armee der Journalisten für die SED-Führung das wichtigste Hilfscorps, um millionenfache Duldung zu erzwingen.“ Wurde daraus eine Armee von Wendehälsen? Nach wie vor jedenfalls sitzen in vielen Leitungspositionen einstmals treue Genossen. Nach wie vor auch leisten sich die — einst von der SED beschickten — Redaktionen Personalstärken, die in der Bundesrepublik unvorstellbar wären. Ein Beispiel: Beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN), der inzwischen mit der Deutschen Presseagentur kooperiert, arbeiten 1 400 Redakteure und Reporter — rund doppelt soviele wie bei dpa mit ihrem weltweiten Aktionsfeld und ihren vielfältigen Diensten. Und: Nahezu alle diese DDR-Journalisten sind einst durch Kaderschmieden gegangen, in denen vor allem Marxismus-Leninismus, aktuelle Parteitagsbeschlüsse der SED und Stilistik des sozialistischen Journalismus oben auf dem Lehrprogramm standen
Valide zu beurteilen, wie weit Ausbildung und Rekrutierung noch ihre Spuren in den DDR-Medien hinterlassen und in welchem Ausmaß westliche Berichterstattungsmuster bereits adaptiert wurden, wäre nur auf der Grundlage von systematischen Inhaltsanalysen möglich. Erste Eindrücke vom real existierenden Journalismus vermittelt jedoch — neben Beobachtungen der Rundfunk-Programme — ein kleiner Querschnitt von sieben lokalen Tageszeitungen der DDR den wir anhand der zentralen Kriterien für westlichen Nachrichtenjoumalismus im Frühjahr 1990 eine Zeitlang untersucht haben. Diese Kriterien, die westliche „objektive Berichterstattung“ vom östlich-sozialistischen Partei-journalismus unterscheiden, sind: Trennung von Nachricht und Kommentar, Nachrichtenaufbau nach der Bedeutung der Fakten, genaue Quellenzuordnungen sowie Publikums-statt Informanten-orientierung 72). Die Lektüre zeigte auf den ersten Blick formal kaum Unterschiede zum Nachrichtenjournalismus, wie wir ihn gewohnt sind. Da steht das Wichtigste meistens am Anfang und der Einstiegssatz, wie es sich gehört, im Perfekt; da werden Quellenbezüge mit „nach den Worten von“ oder „nach Ansicht des“ hergestellt und Meinungsbeiträge durchweg deutlich gekennzeichnet. Genaueres Studium der Beiträge deutet aber dann doch daraufhin, daß sich viele Redakteure schwer tun mit diesem unparteilichen Journalismus, der sich auf genau zu nennende Quellen stützt und für den der Leser — nicht die Partei — wichtigster Bezugspunkt sein soll. Immer wieder stößt man auf „Leadsätze" wie den folgenden, der einen unprofessionellen Einstieg mit altsozialistischer Hofberichterstattung verbindet: „Der ehemalige Ministerpräsident der DDR, Dr. Hans Modrow, war am gestrigen Donnerstag auf einer Wahlkampfreise seiner Partei, der PDS, im Bezirk Schwerin unterwegs.“ Oder diesen Nachrichten-Einstieg: „Zur letzten Beratung vor dem 6. Mai trafen sich gestern nachmittag die 21 Mitglieder der Bezirkswahlkommission.“ Oder die Verlautbarung als Nachricht im Amts-deutsch: „Zum Schutz des begonnenen Demokratisierungsprozesses in der DDR wird Innenminister Dr. Peter-Michael Diestel (DSU) geeignete Maßnahmen gegen jegliche bisher nicht gekannte Erscheinungen des Rechts-und Linksradikalismus im Lande einleiten.“
Meldungen, in denen die Formalien des Nachrichtenaufbaus besser beachtet worden sind, stammen meistens von der Agentur ADN — nach wie vor der einzigen überörtlichen Nachrichtenquelle für die Tageszeitungen. Dieser Journalismus in der DDR kommt, so merkt man schnell, (noch) nicht so schnell zur Sache, wie wir das aus den glatten, routiniert geschriebenen Meldungen und Berichten westlicher Medien gewohnt sind. Ungelenk, ja unprofessionell wirkt zudem so mancher Versuch mit Unterhaltungs-Darstellungsformen wie Feature oder Reportage; hausbacken — aber auch nicht so stromlinienförmig wie im Westen — wirken viele Kommentare. Argumentationslinien und gestanzte Vokabeln aus der Vor-Wendezeit sind jedoch kaum noch zu entdecken; brav und bieder die Typographie der dünnen Blätter, die mit veralteter Technik hergestellt werden.
Schnell begriffen hat man hingegen die kommerziellen Chancen, die sich etwa durch die Vermischung von Werbung und redaktionellem Teil eröffnen. Die Sächsische Zeitung in Dresden z. B., das ehemalige SED-Blatt, stellt eine Mietwagenfirma auf der Titelseite groß mit Foto vor und schreibt, damit nichts unklar bleibt, vom „AVIS-TraumAuto“. Die Schweriner Volkszeitung wiederum gibt mehrere redaktionelle Spalten direkt an Interessengruppen zur Selbstauskunft ab, ohne daß diese Verlagerung der redaktionellen Verantwortung gleich deutlich würde. Boulevardjournalismus probt bereits die „freie presse“ (Chemnitz) in ihrer Nachrichtenleiste auf der Titelseite, wo sie z. B. meldet, daß Lambada-Tänzer gefährlich lebten Ganz kühn die Magdeburger „Volksstimme“, die auf ihrer Humorseite ein Oben-ohne-Mädchen mit der doppeldeutigen Bildzeile präsentiert: „Ich möchte nur mal wissen, weshalb die andauernd hier rübergucken!“
In den Monaten nach der Wende hat es auch im Medienbereich der DDR immer neue Überraschungen gegeben. Und das wird sich vorläufig wohl nicht ändern. Dabei muß sich erst noch zei-• gen, ob es dort Medienbereiche gibt, die erhaltenswert sind. Oder ob unser Mediensystem genauso bedingungslos übernommen werden muß wie das System der sozialen Marktwirtschaft.
Geändert hat sich seit der Wende nicht nur das Mediensystem der DDR. Auch wir gehen anders mit unserem eigenen Mediensystem um, das gerade erst erneuert und dabei weiter kommerzialisiert worden ist. Können wir diese Entwicklung noch genauso kritisch sehen wie vorher — wenn es im direkten Vergleich mit dem, was in der DDR „sozialistisch“ genannt wurde, insgesamt so hervorragend abschneidet? Läßt sich glaubhaft gegen die Kommerzialisierung argumentieren, wenn nebenan ein nichtkommerzielles Mediensystem gerade Konkurs angemeldet hat? Vielleicht ist eine Auseinandersetzung mit dem neuen Mediensystem in der Bundesrepublik aber doch notwendiger den je — und sei es nur, damit sich die Probleme dieses Systems beim Zusammenschluß nicht verdoppeln.