I Die Fragestellung im historischen Kontext
Die Stellungnahme der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft, in der sie in Brüssel auf einem Höhepunkt der Rushdie-Affäre im Februar 1989 ihre ablehnende Haltung gegenüber dem von Khomeini erlassenen Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) deutlich bekundeten, provozierte heftige islamisch-fundamentalistische Reaktionen gegen den Westen. Die sunnitische Bewegung der Muslimbruderschaft in Ägypten nahm den persischschiitischen Führer gegen den Westen in Schutz und verkündete: „Die Position der westlichen Länder stellt erneut einen Angriff der Kreuzzügler gegen den Islam dar.“
Khomeinis Fetwa verstößt gegen zwei im Ursprung westliche, aber universell gewordene Prinzipien: zum einen gegen die Menschenrechte, zu denen u. a. auch das Recht des Individuums auf freie Meinungsäußerung gehört, und zum anderen verstößt es gegen das Prinzip der Souveränität von Staaten. Rushdie ist ein britischer Staatsbürger, der nie im Iran war und somit nie eine Rechtsverletzung auf iranischem Territorium begangen hat. Seine Verfolgung durch den iranischen Staat unter Aussetzung eines Kopfgeldes und seine Freigabe zur Ermordung mittels „Rechtsgutachten“ ist ein Eingriff in die Souveränität des britischen Staates. Nun sind Menschenrechte als Abwehrrechte, d. h. als unveräußerliche Rechte des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft ebenso wie das Souveränitätsprinzip dem Islam fremd. Die Rushdie-Affäre verdeutlicht die Auswirkungen bestehender normativ-kultureller Positionsdifferenzen auf die internationale Politik. Selbst der als liberal geltende, in Paris lehrende Muslim Muhammed Arkoun hat in „Le Monde“ unverblümt die Meinung geäußert, daß „die einseitige Aufnahme der Frage der Menschenrechte aus einer okzidentalen Perspektive . . . einen Konflikt mit dem Islam hervorruft, der die Menschenrechte im Rahmen der Rechte Gottes definiert“ Islamische Autoren haben geltend gemacht, daß sie europäische Normen nicht anerkennen. Nach ihrer Ansicht gehe es bei der Rushdie-Afföre weniger um die Person Rushdies als um „den historischen Kampfzwischen Islam und dem Westen“.
In diesem Zusammenhang sei auf die normativen Positionsdifferenzen zwischen Islam und westlicher Zivilisation hingewiesen. Denn die Politisierung dieser Gegensätze gibt Anlaß zu großer Sorge um die Existenz des minimal vorhandenen weltgesellschaftlichen Konsens. Das gilt um so mehr angesichts der Tatsache, daß die Aufkündigung des bestehenden Konsens nicht ausschließlich von dem islamischen Fundamentalismus unternommen wird. Der Islam der Gegenwart bietet unter fundamentalistischem Gewand nur eine der vielen Varianten antiwestlicher Ideologien. Der französische Schriftsteller Alain Finkielkraut hat in einer inzwischen auch in deutscher Sprache zugänglichen Schrift vor einer „Niederlage des Denkens“ gewarnt. Seine Sorge gilt dem Prinzip der subjektiven Freiheit (die Idee vom Individuum als einem autonomen vernunftbegabten Wesen), welches in der europäischen Geschichte zum materialisierten Konzept der europäischen Aufklärung wurde. Habermas hat dieses Konzept als einen philosophischen Diskurs der Moderne rekonstruiert und gegen den Anspruch einer Postmoderne verteidigt
Außereuropäische — einschließlich muslimische -Antikolonialisten griffen während des Prozesses der Dekolonisation auf europäische Werte zurück, zu denen auch die Menschenrechte zählen. Nach der Gründung der Vereinten Nationen und der Verkündung der Universellen Deklaration der Menschenrechte schien die Welt für einen globalen normativen Konsens reif zu sein, so sehr Dritte-Welt-Staaten einen Völkerrechts-Konsens auch be-anstandeten Der große Gelehrte Hedley Bull hat auf den Unterschied zwischen „internationalem System“ und „internationaler Gesellschaft“ hingewiesen Der erste Begriff bezeichnet eine durch Interaktion miteinander verbundene Staatenwelt, wohingegen der zweite das Bestehen eines Norm-konsens als Voraussetzung für eine geregelte, internationale gesellschaftliche Interaktion umschreibt. Bull argumentiert, daß beide Begriffe einst identisch waren, ehe der „Europäismus die Welt erobert“ hat. Mit der Globalisierung des europäischen Staatensystems (das internationale System von Nationalstaaten) ist dieser normative Konsens durch die eingetretene Vielfalt nicht mehr in vollem Umfang vorhanden. Und doch hebt Bull hervor, daß unsere heutige Welt eine Mischung von beiden. d. h. von System und Gesellschaft, ist, insofern als außerwestliche Staaten das ursprünglich europäische Völkerrecht und seine Normen formell akzeptieren Generell wird in der Lehre der „Internationalen Beziehungen“, insbesondere in der gegenwärtigen Diskussion über „Internationale Regimes“ als Rahmen globaler Kooperation, Übereinstimmung in Norm und Regel als Ausgangsbasis vorausgesetzt. Durch den Aufstieg des religiösen Fundamentalismus, von dem der gegenwärtige politische Islam nur eine Variante darstellt, scheint dieser zwar fragile, aber immer noch bestehende Konsens gefährdet zu sein. Aus diesem Grunde ist es kein bloß akademisches Unterfangen, sich mit dem religiösen Fundamentalismus als einer Quelle antiwestlicher Ideologien näher zu befassen
II. Das Fremdbild islamischer Fundamentalisten vom Westen
Der gegenwärtige islamische Fundamentalismus ist ein Zeitphänomen, das seit den siebziger Jahren andauert. Auf die arabo-islamischen Länder bezogen, hängt es sehr eng mit der umfassenden arabischen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel zusammen Unmittelbar nach dieser Niederlage traten Vertreter des politischen Islams mit ihrer Formel der „al-hall al-Islami“ (Die islamische Lösung) als einer Alternative zu der „taghrib“ (Verwestlichung) hervor. Unter „taghrib“ subsumierten islamische Fundamentalisten alle säkularen Ideologien, einschließlich jener, die, wie etwa der Nasserismus, eine islamisch gefärbte Legitimation hatten. Doch die Formel von der „al-hall al-Islami“ ist nicht neu, sie wurde bereits in den zwanziger Jahren von dem Begründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Banna, geprägt Als die wichtigsten Ideologen des zeitgenössischen politischen Islams gelten der verstorbene Pakistani Abul A’la alMawdudi und der von Präsident Nasser 1966 zum Tode verurteilte Sayid Qutb.
Durch Feldforschungen im Nahen Osten ist mir bekannt, daß die Schriften beider Ideologen als Pamphlete unter zeitgenössischen islamischen Fundamentalisten zirkulieren; ihr Einfluß ist sehr groß. Vier Gedankenkomplexe sind von zentraler Bedeutung, die sich gleichermaßen bei Mawdudi und Qutb als zentrale Topoi finden
An erster Stelle steht die durchaus berechtigte Kritik am westlichen Kolonialismus. Diese Kritik geht allerdings zu weit, wenn Qutb und Mawdudi den Kolonialismus nicht als ein sozialökonomisch bedingtes Phänomen verstehen, sondern als speziell gegen den Islam gerichtetes Projekt, welches in unmittelbarer Kontinuität zu den christlichen Kreuzzügen gegen den Islam steht. Zeitgenössische Fundamentalisten sprechen von der „al-salibiyya aldadida“ (Das neue Kreuzzüglertum) und ver-wenden diesen Begriff synonym zu „Kolonialismus“ und „Neo-Kolonialismus“.
Der zweite Komplex bezieht sich auf die theozentrische islamische Weitsicht und deren Gefährdung durch die moderne westliche Wissenschaft, die von der Idee des vernunftbegabten Menschen ausgeht. Mawdudi und Qutb unterstreichen die Bestimmung des Menschen im Islam als ein makhluq (Geschöpf), das dem Willen Gottes als einzigem Souverän untergeordnet ist. Islamische Fundamentalisten verkünden die Befreiung vom Cartesianismus als dem westlichen „epistemologischen Imperialismus“ sie streben in diesem Sinne nach einer „Entwestlichung des Wissens“ durch Neubelebung eines auf islamischer Weitsicht basierenden Konzepts von Wissen. Nach diesem Konzept gebe es „kein anderes Wissen außer jenem, das auf dem Koran aufbaut“, welcher „die vollständige und letztendliche Offenbarung darstellt“
Einen weiteren Problembereich, der zeitgenössischen islamischen Fundamentalisten viele ihrer Argumente liefert, bildet die Krise der europäischen Moderne. Diese Krise resultiert vor allem, wie Horkheimer anmerkte, aus der Reduzierung ihrer Rationalität auf bloß technische Rationalität und ihrer Vernunft auf instrumentelle Vernunft. Alexis Carrel zeigt in seinem Werk „L’homme cet inconnu“ die Krise der Moderne als eine Sinnkrise auf und sucht sie durch eine ganzheitliche Anthropologie zu überwinden. Qutb verfaßte über dieses Buch einen Essay, den heute nahezu jeder islamische Fundamentalist kennt. Es sei daran erinnert, daß die Mehrheit der heutigen Muslime Analphabeten sind; islamische Fundamentalisten hingegen sind in der Regel Hochschulabsolventen, denen die Lektüre von Qutb und Mawdudi keine Probleme bereitet.
Der vierte Ideenkomplex hängt ebenfalls mit der Krise der Moderne im Westen zusammen. In seinem heute nicht geringer als der Koran verbreiteten Pamphlet „Ma’alim fi al-Tariq“ (Wegzeichen) prophezeit Sayid Qutb: „Das Ende der Weltherrschaft des westlichen Mannes steht bevor.“ Er fügt hinzu, daß „nur der Islam“ diese Weltführung übernehmen könne, wenn der Westen, „zersetzt durch seine Krisen“, abdankt. Denselben Gedanken finden wir bei Mawdudi, der der Formel „Die Fähigkeit des Islam für die Führung des modernen Zeitalters“ sogar ein Buchkapitel widmet.
Auch bei einigen europäischen Vertretern der Postmoderne wird nun der Anspruch des kulturellen Projekts der Moderne auf Universität beanstandet. Als eine Alternative wird der kulturelle Relativismus angeboten. Auch zu diesem Konzept der Postmoderne finden islamische Fundamentalisten wenig Anknüpfungspunkte. Postmodernisten deuten das „Religiöse Erwachen“ als eine Hoffnung auf einen Ausweg aus der „sinnentleerten säkularen Welt“. Richard Falk schreibt in diesem Zusammenhang: „Der Säkularismus der modernistischen Zivilisation ruft kein Vertrauen mehr in die Kapazität dieser Zivilisation bei der Suche nach einer Antwort auf die fundamentalen Herausforderungen der gegenwärtigen Welt hervor.“
Nach Falk bietet das „Religiöse Erwachen“ eine Alternative zu diesem Säkularismus. Auch der islamische Fundamentalismus ist ein Zeichen dieses religiösen Erwachens, auch er will den Säkularismus überwinden; Falk aber schließt den „religiösen Fundamentalismus“ explizit aus seinen Überlegungen aus. Dennoch: Im Kulturbereich des zeitgenössischen Islams hat das „religiöse Erwachen“ keine andere Form angenommen als die des religiösen Fundamentalismus, dessen Zeitgenossen wir sind. Diese antiwestliche Ideologie bietet eine Alternative zu der „westlich-beherrschten Welt“, eine Alternative, in der der Islam die Führung innehat. Westliche Universalität, auch die der Menschenrechte. soll durch die islamische Universalität, in deren Doktrin es ein Konzept individueller Menschenrechte gar nicht gibt ausgetauscht werden.
III. Der Fall Salman Rushdie und die Frage der Grundrechte im Islam
In der gegenwärtigen islamischen Debatte über die Menschenrechte findet man zwei konträre Positionen. Die einen lehnen alles aus dem Westen Kommende ab; sie machen keinen Hehl daraus, daß die Menschenrechte hierbei keine Ausnahme bilden. Im Islam ist der Mensch ein Geschöpf Gottes (makhluq), das eine Obligation (farida) gegenüber der umma (Gemeinschaft der Gläubigen) hat, aber kein Träger individueller Rechte ist. Es gibt keinen islamischen Begriff vom Individuum. Diese Auffassung findet man vorwiegend bei den militanten, im Untergrund tätigen Fundamentalisten, die selbst ein Opfer der Menschenrechtsverleugnung in islamischen Ländern sind Die zweite Position findet man bei Fundamentalisten, die zwar eine positive Haltung zu den Menschenrechten haben, jedoch bestreiten, daß diese Rechte in der europäischen Moderne ihren Ursprung haben. Diese zweite Gruppe kann mit der Kategorie der Apologetik erfaßt werden. Indem diese Apologeten, auf die ich noch näher eingehen werde, den Ursprung der Menschenrechte in den Islam zurückverlegen, versuchen sie „die im westlichen politischen Denken verwurzelte Konzeption . . . von ihrem eigentlichen Begriff und Inhalt zu lösen“
Die Begegnung des Islams mit dem Westen hat nicht immer einen Fundamentalismus hervorgerufen. So haben Muslime des liberalen Zeitalters Europa bewundert. Der erste Muslim, der in Paris (1826— 1831) studiert hat, Rifa’a Rafi’ al-Tahtawi, wurde Zeuge der Juli-Revolution 1830 in Frankreich. In seinem Pariser Tagebuch bewundert er die Einhaltung der Menschenrechte in Frankreich während dieser Revolution: „Die drei anderen Minister (wurden) gefaßt und zusammen eingesperrt, ohne daß auch nur einem von ihnen während seiner Haftzeit irgendwelche Mißhandlung widerfuhr ... Ihr Prozeß gehört zum Eindrucksvollsten, das man je zu hören bekommen wird und stellt einen der großartigsten Beweise für die Zivilisiertheit der Franzosen und die Gerechtigkeit ihres Staates dar.“
Diese Bewunderung darf über die vorhandenen tieferliegenden kulturellen Unterschiede zwischen Muslimen und Europäern nicht hinwegtäuschen. Es sind Differenzen zwischen Menschen, die in der europäischen kulturellen Moderne sozialisiert worden sind und solchen, die in einem Kulturbereich aufgewachsen sind, der völlig andere Werte hat. Erich Gysling hat in seiner Interpretation der „Satanischen Verse“ einige dieser Unterschiede hervorgehoben: „Im westlichen Denken hat die Freiheit Vorrang vor der mit ihr verbundenen Unsicherheit. Im islamischen Denken ist die Sicherheit das oberste Prinzip, Freiheit besitzt dagegen einen nur geringen Stellenwert . . . Salman Rushdie hat mit seinen Trauminterpretationen in den Satanischen Versen gegen das innere Sicherheitsbedürfnis der islamischen Welt verstoßen.“
Es scheint also kein Zufall zu sein, daß Menschenrechte als verbriefte Rechte des Individuums nur als kultureller Anspruch der Moderne zu finden sind. Denn die Voraussetzungen hierfür haben sich nur im Westen materialisiert. So ist subjektive Freiheit ein Begriff, der im Islam nicht existiert. Der marokkanische Philosoph al-abiri hat anläßlich der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution mit Recht hervorgehoben, daß muslimische Araber mehr für den Archaismus des millenarischen Wahhabismus als für die Ideen der französischen Revolution empfänglich sind Der oben zitierte muslimische Student Tahtawi bringt in seiner Beobachtung der Juli-Revolutions-Ereignisse 1830 in Paris seine Bewunderung für die „zivilisierten“ Franzosen zum Ausdruck, die sogar ihren Gegnern Grundrechte durch einen fairen Prozeß gewähren und sie auch nicht mißhandeln. Dagegen hat der Landesherr Tahtawis, der ihn nach Paris zur Aneignung moderner Wissenschaft geschickt hat, Muhammad Ali, seine Gegner, die Mamluken, zwischen 1811 und 1814liquidiert Eine Einstellung, die Tahtawis Bewunderung für europäische Menschenrechte ähnelt, findet man bei den Muslimen heute nicht mehr. Unter den Ländern, die heute international wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt werden, stehen „gewisse islamische Staaten“ an vorderster Stelle. Nach Montgomery Watt hat dieser Sachverhalt dazu beigetragen, „daß Muslime sensitiv in bezug auf die Frage der Menschenrechte geworden sind und Übertreibungen vornehmen, ja sogar unhistorische Ansprüche erheben“ Analog zum islamischen Anspruch, daß man im islamischen Schrifttum den ähnlich lautenden Anspruch, daß die Geburt der Menschenrechte auf den Islam zurückgehe Der als „großer Denker“ geachtete Muhammad al-Ghazali widmet der Frage der Menschenrechte ein Buch, in dem er einleitend schreibt: „Die Franzosen behaupten, daß die Menschenrechte eine Errungenschaft ihrer Revolution seien . . . In Wirklichkeit war es der Islam, der als erster die Menschenrechte in ihrer umfassendsten und weitesten Form verkündet hat. Die Muslime waren bereits zur Zeit des Propheten und seiner rechtgeleiteten Kalifen (i. e. im 7. Jh..der Verf.) die Pioniere der Menschenrechte.“ Später fügt er hinzu: „Mein Leser wird anhand der angeführten Textbeweise sehen . . ., daß die Universelle Deklaration der UNO über Menschenrechte nichts anderes als eine Wiederholung der Empfehlungen ist, die die Muslime von jenem großen Mann, von dem alle Propheten besiegelnden Gesandten Gottes . Muhammad', erhalten haben.“
Wenn dem so ist, warum stehen muslimische Staaten dann an der Spitze der Liste jener, die die Menschenrechte regelmäßig verletzen? Ist das so, weil sie vom Islam abweichen? Es sind nicht nur die „Gegner des Islam“, die die islamischen Länder wegen solcher Verletzungen anklagen. Es sind auch Muslime selbst, die das tun. Die Jahresberichte der „Arabischen Organisation für Menschenrechte“ sind in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich Bei der Lektüre der apologetischen islamischen Texte findet man keine Antwort auf diese Fragen. Zudem fragt man sich, ob es sich bei den gepriesenen Rechten um die Rechte der Muslime oder um die der Menschheit im Allgemeinen handelt. Darüber hinaus stellt sich die aktuelle Frage: Wenn diese Rechte eine Geltung hätten, warum wird dann der unglückselige Schriftsteller Salman Rushdie mit einem islamischen Fetwa zur Ermordnung freigegeben? Der Autor des arabischen, weit verbreiteten Buches über die Rushdie-Affäre, Rifat Sayid Ahmad, gibt uns hierüber Auskunft: Es gehe nicht so sehr um die Person Rushdies als vielmehr um eine „westliche Verschwörung gegen den Islam“. Er führt aus: „Ein adäquates Verständnis der Affäre der . Satanischen Verse'erfordert, daß sie . . . in den Kontext des historischen Kampfes zwischen dem Islam und dem Westen eingeordnet wird. Dadurch können wir besser verstehen, daß Salman Rushdie nur ein Glied in der Kette der westlichen Versuche zur Fälschung des Islams bildet. . . Diesen Kampf, der bis zum heutigen Tag anhält, müssen die Muslime zur Abwehr der Kampagnen der kulturellen Missionierung und der Verwestlichungseinflüsse schon seit den Kreuzzügen gegen den Westen führen.'“ Mit anderen Worten: Die Muslime leisten — nach Ahmad — Widerstand gegen den Westen, indem sie Rushdie ächten. Dieser habe sich vom Westen als Werkzeug zur Beschmutzung des Islams benutzen lassen. Der Autor zitiert Ayatollah Khomeini zustimmend, wenn er — gegen alle historischen Tatsachen — auch dem Westen die mit dem islamischen Schisma zusammenhängende intra-islamische Spannung zuschiebt und darüber hinaus dessen „Rechtsgutachten“ bejaht. Der Autor stimmt gleichermaßen der Auffassung der Muslim-Bruderschaft zu. daß die „Rechtsbasis“ für diesen befürworteten Mord darin bestehe, daß Rushdie durch die von ihm begangene Blasphemie praktisch aus dem Islam ausgetreten sei Ein Muslim, der den Islam verläßt, gilt nach islamischem Recht als Murtadd (Apostat). Hierfür sieht das islamische Recht die Todesstrafe vor Dieser Sachverhalt zeigt die einleitend angesprochenen normativen Positionsdifferenzen an, die so nicht überbrückbar sind und die eine internationale Zusammenarbeit immer mehr erschweren werden.
Der Tatbestand, daß Rushdie vom Islam verstoßen wurde, basiert rechtlich auf dem Verbot der Apostasie im Islam, das nicht als eine Verletzung der Menschenrechte empfunden wird. Hier gibt es einen Unterschied zwischen dem verstorbenen Khomeini bzw.seinen Nachfolgern, die das Todesurteil ungebrochen bis heute aufrechterhalten und den gemäßigten sunnitischen Gelehrten der al-Azhar. Khomeini autorisierte jeden Muslim. Rushdie zu ermorden. Derjenige Muslim, der bei einem solchen Mordversuch umkommt, gilt nach Khomeini als ein Shahid (Märtyrer) und hat somit einen freien Eintritt zum Paradies. Dagegen besteht al-Azhar auf einen Prozeß, in dessen Verlauf Rushdie die Möglichkeit zur Tauba (Reue) und zur Rücknahme seiner Apostasie eingeräumt werden kann
Nach westlichen Maßstäben ist die islamische Auffassung eine eklatante Verletzung der Menschenrechte. Wir werden hier mit der Tatsache konfrontiert, daß es „in dieser Welt andere politische und kulturelle Glauben als jene des demokratischen Westens gibt, die ebenfalls Grundlagen für eine wirkliche und friedliche Weltdemokratie bieten können. Buddhismus, Hinduismus, Taoismus, Konfuzianismus, und vor allem der Islam, bieten einige dieser Sichtweisen.“ Mit dieser Feststellung spricht der RechtswissenschaftlerNorthrop die normativen Positionsdifferenzen in der heutigen Welt an. Wir können diese Differenzen in diesem Essay als eine zentrale Quelle der parallel zur strukturellen Vereinheitlichung stattfindenden Prozesse kultureller Fragmentation im internationalen System konzeptualisieren. Die FeststellungNorthrops spricht den Bereich an, der von Christian Tomuschat als „Utopie einer Universalität der Menschenrechte“ problematisiert wurde und unter dem Gesichtspunkt der Zweiteilung in Universalität und Kulturrelativismus zu fassen ist. Die zentrale Frage lautet: Bildet die islamische Verfolgung von Apostaten wie Rushdie unter dem Gesichtspunkt der Universalität eine Verletzung von Menschenrechten, oder ist sie unter dem Gesichtspunkt der Relativierung der kulturellen Werte als Auffassung einer anderen Kultur zu tolerieren oder gar zu respektieren? Es ist wichtig festzuhalten, daß der Kulturrelativismus eine europäische Idee der Postmoderne ist. Islamische Fundamentalisten kritisieren nicht das Prinzip der Universalität als solches, sondern nur, daß diese Universalität europäisch geprägt ist. Der Islam bietet als Alternative seine eigene Universalität.
IV. Kulturrelativismus gegen die Universalität der Menschenrechte: Rechte der Menschheit oder Rechte der Muslime?
Ein Orientalist, der als Kenner des Islams argumentiert, bedient sich kulturrelativistischer Argumente, indem er hervorhebt: „Im Islam besitzt der Mensch per se keine Rechte . . . Eine Einschränkung der Staatsgewalt durch die Grundrechte wie bei uns ist im Islam nicht möglich . . . Ich bin dagegen, daß unsere Rechtsvorstellungen aus unserem Bereich herausgenommen und uminterpretiert werden.“ Wenn sich jemand dafür „einsetzt, daß das Recht säkularisiert werden soll . . ., um die Etablierung der Menschenrechte im islamischen Orient zu erreichen, dann bin ich dagegen . . . Um es ganz drastisch zu sagen: Wenn es den Muslimen gefällt, den Dieben die Hand abzuschneiden, sollen sie es tun.“
Oft werden Kulturrelativisten vom Respekt vor anderen Kulturen geleitet; dabei unterliegen sie häufig der schon potentiell bei Herder als autoritativer Quelle des Kulturrelativismus vorhandenen Verwechslung von Kulturpluralismus mit Kulturrelativismus. Diese Tatsache gilt zwar nicht für die zynisehe, zitierte Aussage, doch bringt der deutsch-ungarische Orientalist Murany in dieser Textstelle die logische Konsequenz des Kulturrelativismus zum Ausdruck. Das Zitat zeigt zwar mehr Orientalismus als eine systematische Sichtweise des Kultur-relativismus, kann aber dennoch helfen, die Folgen des Kulturrelativismus zu demonstrieren. Meine Intention ist. hervorzuheben, daß ein Plädoyer für Kulturpluralismus bei gleichzeitiger kompromißloser kritischer Abweisung jedes Kulturrelativismus möglich ist
Die Rushdie-Affäre ist nicht nur die Angelegenheit eines gleichermaßen ethisch anstößigen und unglückseligen Autors, dem man trotz alledem im Namen der Grundrechtsverteidigung beistehen muß. Diese Affäre aktualisiert die grundsätzliche Frage der Menschenrechte, und zwar sowohl im Islam als auch global. Angesichts der islamischen Emigranten betrifft diese Problematik auch Westeuropa. In Großbritannien fand ein islamisch-fundamentalistischer „Sturm auf die englischen Bürgerrechte“ statt. In Frankreich dienten verschleierte muslimische Schülerinnen als Symbol im Rahmen eines als „Tschador-Krieg“ geführten islamischen Angriffs auf die in der Französischen Revolution errungene Säkularität. Die Bundesrepublik Deutschland steht mit der fast zwei Millionen umfassenden islamischen Minderheit nicht außerhalb dieses Prozesses
Bei der Beschäftigung mit den in Westeuropa lebenden islamischen Minoritäten wird, wie Fred Halliday hervorhebt, eine Unterscheidung immer wichtiger, „nämlich zwischen einer Religion, die bestimmte allgemeine Prinzipien des gegenwärtigen demokratischen Lebens einschließlich einer öffentlichen Säkularität der hierzu gehörigen Auffassung von Toleranz respektiert, und einer, die das nicht tut“ Wenn man diese Beobachtung mit der Erkenntnis, daß Religionen kulturelle Systeme darstellen, verbindet und in den Zusammenhang des kulturellen Relativismus stellt, geraten einige Kulturrelativisten in Verlegenheit. Können diese mit ihrem Hinweis auf die Relativierung des Kulturbegriffes einer Urteilsbildung mit entsprechender Verantwortung ausweichen und wie der zitierte Murany den Muslimen absolute Handlungsfreiheit zugestehen?
Der dem Kulturrelativismus nahestehende Anthropologe und Philosoph I. C. Jarvie gesteht ein: „Der erste Fehler des Relativismus besteht in dem Argument, daß wir glauben, der uns mit dem Urteilen und dem Einschätzen verbundenen Verantwortung entziehen zu können, indem wir Gegenstände auf eine Kultur beziehen. Dieser Verantwortung können wir uns aber überhaupt nicht entziehen . . . Denn für den muslimischen Gläubigen, genau wie für den Katholiken, ist die eigene Sittlichkeit nicht kulturell relativ. Für ihn hat sie einen universellen Anspruch und ist auch absolut... So prallt der Kulturrelativismus, der sich als kulturell neutraler Schiedsrichter wähnt, mit denjenigen zusammen, die keine neutralen Schiedsrichter zulassen.“
Im vorliegenden Beitrag geht es um eine Diskussion darüber, ob es universelle Werte (z. B. Menschenrechte) geben kann oder ob sämtliche Werte, einschließlich die der Menschenrechte, einem wie immer gearteten Kulturrelativismus geopfert werden müssen Die Rushdie-Affäre diente hier lediglich als ein Beispiel. Festzuhalten bleibt, daß es dem islamischen Fundamentalismus weniger um die Relativierung kultureller Werte als vielmehr um den Austausch der westlichen Hegemonie durch eine islamische geht. Wenn man in diesem Kontext die wissensanthropologische Position, derzufolge jedes Wissen Ausdruck eines „Glaubenssystems“ ist, einnimmt, dann verbleibt nur, daß eine normative Position gegen eine andere steht. Die Folge ist eine unüberwindbare normative Positionsdifferenz. Bei einem Fehlen eines gemeinsam geteilten rationalen Diskurs — und dies ist bei den Fundamentalisten der Fall — ist ein Konsens nicht möglich und somit eine Konfrontation unvermeidbar. Soweit es die Menschenrechte angeht, kann ich mit Kühnhardt konstatieren, daß es weder im klassischen noch im zeitgenössischen Islam gelungen ist, „zur Idee unveräußerlicher Menschenrechte aufgrund immanenter Prämissen und Prädispositionen vorzudringen“ Die Analyse der Gleichzeitigkeit vom universellen Anspruch der Menschenrechte einerseits und deren fehlender Verankerung in außereuropäischen Kulturen andererseits zeigt, daß die hier am Beispiel des Islams illustrierten Positionsdifferenzen die internationale Kooperation nachhaltig erschweren. Positionsdifferenzen dieser Art warfen einen Schatten auf die Arbeit der UNO-Kommission für Menschenrechte während ihrer jüngsten 46. Sitzung in Genf Dort hat die Dritte Welt, also auch die Welt des Islams, ihre Solidarität gegen die Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen durch westliche Länder verkündet. Islamische Länder standen dabei an vorderster Front. Ein Dialog zwischen dem Islam und dem Westen findet also nicht statt.