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Der Islam im „Thermidor“. Zur Lage des Islams im Nahen Osten | APuZ 22/1990 | bpb.de

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APuZ 22/1990 Religion und Politik im Islam Der Islam im „Thermidor“. Zur Lage des Islams im Nahen Osten Islam und Modernität im politischen Leben Ägyptens und der Länder des Maghreb Der Islam im europäischen Umfeld Islamischer Fundamentalismus gegen den Westen

Der Islam im „Thermidor“. Zur Lage des Islams im Nahen Osten

Udo Steinbach

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Ableben von Ayatollah Khomeini am 3. Juni 1989 bedeutet fürden Raum zwischen dem Maghreb und Pakistan einen deutlichen Einschnitt. Mit der Errichtung der Islamischen Republik zehn Jahre zuvor war auf dem Wege einer revolutionären Volkserhebung in einem scheinbar so gefestigten und dem Westen verbundenen Land wie dem Iran jener militante Islam an die Macht gekommen, der den Anspruch auf weitreichende Umgestaltung der islamischen Welt im Zeichen einer islamischen Ideologie erhebt. Mit dem Ende des Golfkriegs Mitte 1988.der nicht zuletzt auf die Verwirklichung dieses Ziels gerichtet war. sowie dem Tode Khomeinis sind die an der Macht befindlichen regionalen Regime spürbar entlastet. Militärisch nicht erfolgreich, wirtschaftlich nahezu ruiniert und ohne ein klares Entwicklungskonzept für die Zukunft müssen die Nachfolger Ayatollah Khomeinis vom Konzept des „Exports“ ihrer Revolution Abstand nehmen. Gleichwohl bleibt der Islam überall im Nahen Osten angesichts einer anhaltenden politischen und gesellschaftlichen Krise eine politische Kraft. Aufgrund des Beharrungsvermögens der bestehenden Regime sind die islamischen Kräfte aber gezwungen, gleichsam „durch die Instanzen“ zu gehen. Nachdem sich die Regime selbst veranlaßt sehen, aufgrund eines Drucks von unten sowie knapper werdender wirtschaftlicher Ressourcen die rigiden Systeme zu öffnen und mehr Partizipation zuzulasscn. finden die islamischen Kräfte größere Freiräume, sich politisch zu organisieren, um an Wahlen teilzunehmen und so möglicherweise die Systeme von innen zu verändern. Der Säkularismus — bis in die siebziger Jahre noch von jenen Eliten gefordert, die Modernisierung in der Nachahmung des Westens verstanden — gerät dabei weiter unter Druck. Die Entwicklung in der Türkei wird erweisen, ob sich jener als Grundlage der Erneuerung der islamischen Welt gänzlich überleben wird oder nicht doch weiterhin die unerläßliche Voraussetzung für das Nebeneinander politischer, gesellschaft•licher und religiöser Kräfte sein wird, die sich nicht mehr einfach ausschalten lassen. Gerade die Türkei — andere Länder aber ließen sich auch nennen — läßt erkennen, daß sich auch die säkularistischen Kräfte zu organisieren beginnen, um besser vorbereitet zu sein, sich gegen einen von unten kommenden islamischen Druck zu behaupten. In partizipatorischen Ordnungen, denen ein pragmatischer Säkularismus zugrunde läge, könnten sich neue Chancen ergeben, nach Kompromissen und Verbindungen zwischen den Anforderungen an den modernen Staat und die moderne Gesellschaft mit islamischen Prinzipien und Wertvorstellungen zu suchen.

Der Blick fällt zuerst auf den Nahen Osten, wenn vom Islam als einer politischen und gesellschaftlichen Bewegung die Rede ist. Tatsächlich ist mit der islamischen Revolution im Iran die jüngere islamische Geschichte in ein neues Stadium eingetreten; denn damit ist der Islam in stärkerem Maße eine politische Kraft geworden, als dies seit dem Ende des Osmanischen Reiches (1918), dessen Führungselite es als ein islamisches Imperium verstand, der Fall gewesen ist. Hatten seither diejenigen Kräfte die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Nahen Osten im besondern und in der islamischen Welt im allgemeinen bestimmt, die „Modernisierung“ und „Fortschritt“ in Nachahmung des Westens und in der Übernahme von Entwicklungskonzepten und Ideologien suchten, auf denen die Stärke des Westens und seine Überlegenheit über die islamische Welt zu beruhen schienen, so errangen mit der islamischen Revolution und der Gründung der Islamischen Republik diejenigen einen nachhaltigen Erfolg, die im Rückgriff auf die authentischen Werte und Normen der islamischen Religion selbst die richtungsweisenden Zeichen für den Weg aus der Krise der islamischen Welt erkennen -Die Literatur über die „Re-Islamisierung“ seit den siebziger Jahren ist nahezu unüberschaubar Dabei geht es um die Hintergründe, die religiös-ideologischen und politischen Erscheinungsformen sowie die konkreten politischen Auswirkungen in Staaten und Gesellschaften der Region und im internationalen Rahmen. Dies soll an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden. Vielmehr wird sich die Darstellung darauf beschränken, eine knappe Bewertung islamisch geprägter Entwicklungen seit der Gründung der Islamischen Republik im Nahen Osten vorzunehmen. Das Ende des Krieges am Golf. Mitte 1988, der mit der Revolution im Iran ähnlich eng verbunden war, wie die europäischen Kriege im Kontext der französischen Revolution, und das Ableben Ayatollah Khomeinis im Juni 1989, des bislang erfolgreichsten Vorkämpfers einer Rückkehr zu islamischer Authentizität, lassen eine solche Begrenzung gerechtfertigt erscheinen.

I. Der Weg nach Kerbela

Als Ayatollah Khomeini am 7. Februar 1979 mit einer Maschine der Air France aus Paris kommend in Teheran eintraf, war entschieden, daß das Ende der Pahlawi-Monarchie gekommen war. Damit war in kurzer Zeit ein Regime gestürzt, das im Innern als eines der stabilsten in der Nah-und Mittelost-Region erschien und wie kein anderes (außer der Türkei) vom Westen unterstützt und in westliche sicherheitspolitische Interessen eingebunden war

Int Unterschied zu den früheren Revolutionen im Nahen Osten, die Marksteine seiner politischen Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren, welche durchweg vom Militär bzw. von militärischen Cliquen durchgeführt wurden, handelt es sich bei dem Umsturz im Iran um eine Revolution von unten. Eine weitere Besonderheit liegt in ihrem religiösen Charakter: Ausgelöst zwar vom durchweg säkularistischen Mittelstand, wurde sie am Ende durch die alle anderen Persönlichkeiten überragende Führerschaft Ayatollah Khomeinis zu einer Bewegung, die im Zeichen des Islams ihre letzte entscheidende Durchschlagskraft erhielt. Die Durchsetzung des von Khomeini formulierten Konzepts der wilayat-efaqih (Herrschaft des anerkannten Gottesgelehrten) Ende 1979 machte die Islamische Republik zu einem religiös-politischen Gebilde, das als konsequente islamische Theokratie (wenn auch mit spezifisch schiitischer Färbung) verstanden werden kann Unter diesem Aspekt hat der Staat Khomeinis nicht nur in der islamischen Welt von heute nicht seinesgleichen; vielmehr war er auch im Kontext der ganzen islamischen Geschichte ein einzigartiges Phänomen.

Mit der Gründung der Islamischen Republik hat der Prozeß der „Re-Islamisierung“ seine insofern besondere Zuspitzung erfahren, als die militant-revolutionären Kräfte innerhalb dieser Bewegung in den Vordergrund traten. Die siegreiche islamische Revolution gegen ein scheinbar so gefestigtes und dem Westen ergebenes Regime sowie die Gründung der Islamischen Republik auf seinen Ruinen erweckten weithin die Hoffnung, als sei damit ein Weg abgesteckt, den die Muslime zu gehen hätten, um die tiefe Krise zu überwinden, die zu lösen sich frühere Versuche im Zeichen von Ideologien westlicher Provenienz als unfähig erwiesen hatten. Muslimische Aktivisten in nahezu allen Regimen der islamischen Welt und außerhalb derselben, namentlich in Europa, richteten ihren Blick auf den Iran und bezogen ihre Inspiration, ihren Aktivismus und ihren Optimismus im Hinblick auf baldigen Umbruch von dort.

Bei Beobachtern wie Betroffenen wurden die Erwartung wie die Befürchtung wach, bei den islamischen Nachbarn Irans handle es sich um ein Domino, das rasch zusammenbrechen werde. Die Besetzung der großen Moschee von Mekka (im November 1979) schien dies ebenso zu bestätigen wie der wachsende Druck auf das irakische Regime (für dieses schließlich ein Grund — unter anderen —, im September 1980 einen offenen Krieg gegen die Islamische Republik vom Zaun zu brechen) und die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat durch die extremistische fundamentalistische Organisation Islamischer Heiliger Krieg (jihad islami), die sich in schweren Unruhen gegen die ägyptische Regierung (vornehmlich in Assyut, einem Zentrum des militanten ägyptischen Fundamentalismus) fortsetzten.

Tatsächlich reflektierte der irakisch-iranische Krieg die drei zentralen politischen Stoßrichtungen der fundamentalistischen Bewegung. Dies gilt namentlich für die Phase nach Mitte 1982; damals stand die iranische Führung vor der Frage, ob sie nicht — nach der Vertreibung der irakischen Truppen von iranischem Boden — den Kampf einstellen und Reparationen annehmen oder den Krieg fortsetzen solle. Ayatollah Khomeini setzte damals sein ganzes Gewicht für die Fortsetzung ein. Für ihn ging es nun darum (vereinfacht gesprochen), das islamische System zu „exportieren“, um ein für allemal den satanischen Kräften, die er im Angriff Saddam Husains und in der Unterstützung durch das arabisch-islamische Umfeld (im Bunde mit dem „Großen Satan Amerika“) sah, den Boden zu entziehen, weiterhin gegen „den Islam“ — in seiner Reinform politisch verwirklicht in der Islamischen Republik — zu konspirieren.

Neben den „Export“ des islamischen Systems ä la Iran trat der Kampf gegen „den Westen“ als zweite Stoßrichtung. Darin tut sich mehr eine kulturpolitische Dimension auf, wird doch in der aufgezwungenen Verwestlichung die Ursache von Identitätsverlust der Muslime einerseits und des allgemeinen Niedergangs andererseits empfunden Als Protagonist dieser „Vergewaltigung“ der islamischen Welt wurden die USA gesehen; sie hatte man bereits am 4. November 1979 herausgefordert, als radikale Anhänger Khomeinis die amerikanische Botschaft in Teheran besetzten und über 444 Tage amerikanische Diplomaten als Geiseln festhielten. Die dritte Stoßrichtung schließlich war die Kampfansage an Israel als die Manifestation schlechthin westlicher Dominanz und Einflußnahme auf die islamische Welt, das Instrument des Westens zur Unterminierung der Stärke des Islams.

Der in Teheran immer wieder verbreitete Slogan: „Der Weg nach Jerusalem geht über Kerbela" (rah-e Quds az Kerbela miguzarad), reflektiert in einer knappen Formel diese Dimension des Krieges: Steht die Befreiung Kerbelas für die Befreiung der Muslime von ihren inneren Feinden, den Abtrünnigen wie Saddam Husain (und allen, die ihn in seinem Kampf gegen den wahren Islam unterstützen). steht der „Weg nach Jerusalem“ für die Befreiung der islamischen Welt von ihren äußeren Feinden. Wenn erst wahrhaft islamische Ordnungen hergestellt wären, dann würden die muslimischen Massen wieder den unverstellten Ruf des Islams hören; dann würden sie mobilisiert zum Kampf gegen „den Westen“ und seine „Lakaien“ im Herzen der islamischen Welt, namentlich Israel. In diesem Sinne ist die von der iranischen Führung im Krieg gebrauchte Rhetorik enthüllend: Der Krieg wird zum Heiligen Krieg (jihad), das Heer zum Heer des Mahdi (sepah-e mahdi) und das Sterben im Kampf zum Martyrium (shehada)

II. Der Kampf um die islamische Ordnung

Der Krieg am Golf war nur die radikalste Manifestation äußerer und innerer Konfliktkonstellationen im Zeichen jenes militanten Islams, der im Iran an die Macht gekommen war und, von dort ausgehend, in weiten Teilen der islamischen Welt (und darüber hinaus) propagiert und politisch aktiviert wurde. Für den Rest der Lebenszeit Ayatollah Khomeinis als des Führers der Islamischen Republik war die Front am Golf freilich nur eine Front in dem letztlich weltweiten Ringen um die Herstellung der „richtigen“ islamischen Ordnung. So ist der „Frontverlauf“ diffus; im letzten geht die Auseinandersetzung zwischen den wahren Muslimen auf der einen und „allen anderen“ auf der anderen Seite; eine Auseinandersetzung, die — wie schon angedeutet — politische, religiöse und religionspolitische, kulturelle und kulturpolitische sowie gesellschaftspolitische Dimensionen hat.

Tatsächlich ist der von militanten islamischen Kreisen ausgehende Druck weithin spürbar gewesen — international gesehen am nachdrücklichsten wohl in Form der Operationen der Partei Gottes (hizballah) im Libanon Diese Gruppierung ging Anfang der achtziger Jahre aus der schiitischen Amal-Miliz hervor. Von Teheran unterstützt, verfolgte sie nicht nur das Ziel, den Libanon in eine Islamische Republik nach iranischem Vorbild umzuwandeln. Vielmehr übernahm sie auch die regionalen und weltpolitischen Inspirationen und Aspirationen des iranischen Regimes im Sinne des Kampfes gegen die inneren und äußeren Feinde des Islams, namentlich auch gegen „den Westen“. Zahlreiche Terrorakte im Libanon — gegen Libanesen selbst wie vor allem gegen die israelische Besatzungsmacht seit 1982 — und außerhalb desselben — gegen die arabischen Kriegs-gegner Irans — gehen auf ihr Konto. Berüchtigt aber wurde die Hizballah im Westen vor allem durch die Geiselnahme westlicher Bürger, gerichtet auf so unterschiedliche Ziele wie die Unterstützung Irans, die Erpressung von Lösegeld und die Einschüchterung des Westens. Kriminalität und religiöser Fanatismus sind in den Aktionen der Hizballah unauflöslich verschmolzen.

Diese war freilich keine einheitliche Gruppierung, sondern bestand aus einer Reihe von Gruppen, die sich um einzelne geistliche und nichtgeistliche Führer scharten. Auch ideologisch bzw. religionspolitisch hat die Hizballah keine einheitliche und geschlossene Linie verfolgt. Dies geht u. a. daraus hervor, daß Scheich Muhammad Husain Fadlal-Iah der als der geistliche Führer der Hizballah angesehen wird, sich wiederholt kritisch zur Geiselnahme geäußert, damit aber keine Wirkung erzielt hat. Ausschlaggebend für die anhaltende Geiselnahme durch Hizballahis dürfte gewesen sein, daß sich Khomeini selbst nie gegen diese als Mittel der Kampfführung ausgesprochen hat. Die Erfolge der Hizballah sind freilich auch zehn Jahre nach der islamischen Revolution bescheiden. Zwar hat sie wesentlich dazu beigetragen, den Rückzug Israels aus dem Libanon zu beschleunigen; aber seit 1985 ist sie vor allem in militärische Unternehmungen gegen die schiitische Schwester-Miliz, Amal, verwickelt, die für einen säkularen libanesischen Staat eintritt, der eine besondere Beziehung zu Syrien unterhält Ihre Unterstützung der PLO hat ihr wiederholt die offene Gegnerschaft Syriens eingetragen; damit wiederum stellte sie gelegentlich eine Belastung der syrisch-iranischen Beziehungen dar.

Auch außerhalb Irans und des Libanon war der Islam in den zehn Jahren nach der islamischen Revolution eine spürbare politische Kraft. Hinsichtlich seiner Programme, internationalen Affiliationen (auf Iran, Saudi-Arabien etc. ausgerichtet), des modus operandi, der politischen Ausgangslage und des politischen Erfolges ist er von Land zu Land differenziert zu sehen. Gegenüber den meisten an der Macht befindlichen Regimen der Region befanden sich islamische Kräfte in mehr oder minder militanter Opposition. In Ägypten gelang es der Gruppe Jihad Islami (Islamischer Heiliger Krieg) am 6. Oktober 1981, Präsident Anwar al-Sadat zu ermorden. Doch war dies für die innere Stabilität und die auswärtige Politik des Landes weitgehend folgenlos.

In Syrien kam es zu einer militanten Konfrontation in Hama zwischen dem baathistischen Regime und starken, von der syrischen Muslimbruderschaft geführten religiösen Kräften. Darin hatten sich Kreise gesammelt, die aus unterschiedlichen Gründen über die Jahre in wachsendem Maße mit der Politik Hafiz al-Asads unzufrieden geworden waren. Die in der Korrekturbewegung Asads gemachten Ansätze einer politischen Liberalisierung und wirtschaftlichen Öffnung waren mit der immer tieferen Verwicklung Syriens im Libanon und der Übernahme wachsender militärischer Lasten in der Aus-einandersetzung mit Israel in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verspielt worden. Korruption, wirtschaftliche Stagnation und die immer sichtbarer werdende Dominanz der kleinen alawitischen Minderheit in Politik, Gesellschaft und Armee sowie das Fehlen politischer Alternativen verliehen den islamischen Kräften als einer entschlossenen Opposition wachsenden Zulauf. Nach einer Serie von Attentaten vor allem gegen die Armee (so z. B.der Überfall auf die Kadettenakademie in Aleppo im Januar 1979) kam es im Februar 1982 in Hama, seit jeher einer Hochburg der Muslimbrüder in Syrien, zur Revolte. Verbände der syrischen Armee wurden nach Hama verlegt und schlugen den Aufstand brutal nieder

Wirksamer war der islamische Widerstand gegen das kommunistische Regime in Afghanistan und die sowjetischen Invasionstruppen. Die radikalen Reformmaßnahmen des im April 1978 an die Macht gekommenen Regimes der Demokratischen Volkspartei (insbesondere die weitreichende Landreform) führten bald zu einem breit gefächerten Widerstand Bereits wenige Monate nach dem Putsch machten eine Reihe von islamistischen Gruppen von sich reden, die sich nach der sowjetischen Invasion Anfang 1980 zur Islamischen Allianz für die Befreiung Afghanistans mit Hauptquartier im pakistanischen Peshawar zusammenschlossen.

Dem afghanischen Widerstand (der sich freilich durchaus nicht auf die Mitglieder der Islamischen Allianz beschränkt) gelang es mit massiver ausländischer Unterstützung, den Druck auf die sowjetischen Invasionstruppen in einem Ausmaß zu verstärken, der die Sowjetunion dazu brachte, ihre Truppen 1988/89 aus Afghanistan zurückzuziehen. Nicht gelungen ist es freilich bis heute (März 1990), das kommunistische Regime unter Präsident Najibullah zu Fall zu bringen. Nachdem die Islamische Allianz über zehn Jahre lang den afghanischen Widerstand nach außen repräsentierte, erscheint es angesichts der neuen Lage kaum mehr wahrscheinlich. daß er zur allein bestimmenden Kraft in Kabul werden könnte: Bei der überwiegenden Mehrzahl der an der Afghanistankrise beteiligten Mächte besteht die Tendenz, eine politische Lösung auf einer Grundlage aufzubauen, die aus Komponenten der wichtigsten politischen und weltanschaulichen Kräfte Afghanistans besteht

Abgesehen von Saudi-Arabien, wo eine radikale Variante des sunnitischen Islams seit der Gründung des ersten saudischen Staates Mitte des 18. Jahrhunderts ein wesentlicher Faktor der Legitimation des Hauses Saud ist, und der Islamischen Republik Iran, wo mit der islamischen Revolution eine radikale Auslegung des schiitischen Islams an die Macht kam, hat der Islam im zurückliegenden Jahrzehnt an zwei anderen Punkten im Berichtsraum die Ausübung der politischen Macht selbst bestimmt: in Pakistan und im Sudan Die Machtübernahme durch Muhammad Zia ul-Haq im Juli 1977 als Chief Martial Law Administrator bedeutete nicht nur eine neuerliche Phase der Militärherrschaft, sondern war der Beginn einer systematischen Re-Islamisierung von Politik. Gesellschaft und Wirtschaft Pakistans. Zia verfolgte von Anfang an einen betont „islamischen“ Kurs, führte die islamischen Steuern zakat (auf das Vermögen) und ushr (auf die landwirtschaftliche Produktion) ein und war um die Abschaffung der riba, d. h.des (Wucher-) Zinses bemüht. Die bereits unter Ministerpräsident Zulfiqar Ali Bhutto begonnene Wiedereinführung der Scharia wurde von Zia fortgesetzt, wobei namentlich die drakonische Anwendung islamischer Strafen besonders bemerkenswert ist. Der Tod Zias im August 1988 hat rasch deutlich werden lassen, daß die von ihm eingeführten Maßnahmen Teil einer Strategie waren, ein Militärregime zu legitimieren. Der Gewinn der Wahlen durch Benazir Bhutto, die zur ersten Regierungschefin eines islamischen Landes seit der Entstehung der nahöstlichen Staatenwelt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde, war ein Symptom dafür, daß die betriebene Islamisierung eher nur eine Fassade des Regimes als eine tiefgreifende Umgestaltung war (ist diese doch überall mit dem Versuch der Rückdrängung der Frau in den häuslichen Bereich verbunden). In diesem Sinne versuchen die fundamentalistischen Kreise in Pakistan alles, um die Ablösung Benazir Bhuttos von der Macht zu erreichen.

Im Sudan errangen die islamischen Kräfte einen Pyrrhussieg. Im September 1983 dekretierte Ja afar al-Numairi die Einführung der Scharia. Hintergrund der Maßnahmen war auch in diesem Falle der Versuch, dadurch eine tiefgreifende Legitimation für eine zunehmend unter Druck geratende autokratische Herrschaft zu erlangen. Islamisierungskomitees für die Umgestaltung der Verfassung, des Erziehungssystems, der Banken und der Wirtschaft wurden eingesetzt; der Genuß von Alkohol wurde verboten; für Diebstahl wurde das Abhacken der rechten Hand verhängt und praktiziert. Im August 1984 — zum Beginn des neuen islamischen Jahres 1405 h. — wurde das erste „islamische“ Budget verkündet, das die Einführung derzakat-Steuerund die Abschaffung der bisherigen Einkommenssteuer sowie der indirekten Steuern vorsah.

Die Ausdehnung der Maßnahmen auf den Süden des Landes sowie der erneute Versuch des Nordens. die nichtmuslimische Mehrheit des Südens zu „arabisieren", führten zum Wiederausbruch des 1972 durch das Abkommen von Addis Abeba beigelegten Bürgerkrieges. Wenn auch nach dem Sturz Numairis (6. 4. 1985) unter den nachfolgenden Regimen (militärisches Übergangsregime, ziviles Regime unter Sadiq al-Mahdi und wiederum Militärregime seit 30. 6. 1989) die Islamisierung an Rigorosität verloren hat — bei allerdings sich wieder akzentuierender Tendenz unter Junta-Chef Hasan Umar al-Bashir —, so wurde doch prinzipiell die Einführung der Scharia nicht rückgängig gemacht. Von den Aufständischen im Süden aber wird dies zur Vorbedingung für eine Einstellung der Kämpfe gemacht. Ende 1989 war kein Ende des Krieges in Sicht; vielmehr befand sich das Land am Rande des Auseinanderbrechens

III. Der Säkularismus unter Druck

Mit Blick auf die ganze islamische Welt scheinen diejenigen Kräfte unter Druck geraten, die die Modernisierung ihrer Länder wesentlich im Zeichen der Nachahmung des Westens unternommen haben. Die islamischen Kräfte suchen nach Parametern der Entwicklung, die weitestgehend aus der eigenen Tradition, d. h. wesentlich der islamischen Religion, abgeleitet werden. Der Säkularismus, die Trennung des politischen vom religiösen Raum, als Grundlage von Modernisierung und Entwicklung nach europäischem Vorbild, wird dabei nachdrücklich in Frage gestellt.

Geradezu als politisches und gesellschaftliches Labor für die Zukunft des Säkularismus kann die Türkei angesehen werden. In keinem anderen islamischen Land des Nahen und Mittleren Ostens wurde dieser mit solcher Rigorosität verfolgt wie in der Türkei; und seit dem Übergang zum Mehrparteiensystem nach dem Zweiten Weltkrieg hat keine andere islamische Führung der Region so weitreichend mit der Demokratie westlichen Musters experimentiert wie eben die Führung dieses Landes. Die Re-Islamisierung im Sinne der Rückkehr traditionaler Elemente in Politik und Gesellschaft der Türkei ist ein Phänomen, das sich bis in den Beginn des Mehrparteiensystems zurückverfolgen läßt. Der Säkularismus aber blieb ein Dogma der kemalistischen politischen Elite, die auch darüber wachte, daß die Islamisierung allenfalls die Oberfläche der Gesellschaft, d. h. das Erscheinungsbild berührte, aber nicht die Grundlage von Staat und Gesellschaft unterminierte Kemalistische Staatselite und islamisierende (oder traditionalisierende) Kräfte standen sich mißtrauisch bis feindselig gegenüber. Fundamentalistische Kräfte, die sich in den sechziger Jahren zu artikulieren begannen — nach Verfassung und Strafgesetzbuch verboten, aber doch geduldet —, waren freilich zu schwach, um eine wirkliche Gefährdung darzustellen.

Ohne Zweifel hat sich das Tempo der Islamisierung der Türkei in den achtziger Jahren beschleunigt, und in der Tat bietet diese ein ambivalentes Bild Zwar wird der Säkularismus in der Verfassung von 1982 als Grundorientierung der türkischen Politik an mehreren Stellen genannt. Doch ist andererseits dem Islam als religiösem und gesellschaftlichem Phänomen seit 1980 (Ende der 2. Republik durch einen neuerlichen Militärcoup; seit 1983 Beginn der 3. Republik) in bisher nicht gekannter Weise Rechnung getragen worden. Zu den diesbezüglichen Maßnahmen zählen: die Wiedereinführung des obligatorischen Religionsunterrichts in Grund-und weiterführenden Schulen (Art. 24 der Verfassung); die öffentliche Rehabilitierung einer islamischen Moral; die Zulassung islamischer Finanzierungsinstitutionen; die Aufnahme eines Mitglieds der Direktion für religiöse Angelegenheiten in das für die Durchsicht von an die Jugend gerichteten Publikationen zuständige Komitee; der gesetzliche Schutz religiöser Praktiken etc.

Dies alles führt zu der zentralen Frage nach dem Stellenwert des Kemalismus. Es hat den Anschein, als sei die Interpretation solcher Begriffe und Programme wie Modernismus und Säkularismus durch die kemalistische Staats-und Gesellschaftsidee vertretende Elite versöhnlicher als in der Vergangenheit: Modernismus wird nicht mehr mit kultureller und politischer Nachahmung des Westens gleichgesetzt und Säkularismus nicht mehr in die Nähe von Atheismus gerückt. Vielmehr ist heute die Suche nach einer neuen, historisch verwurzelten soziokulturellen türkischen Identität gestattet. Im Hinblick auf die Festigung nationaler Einheit und ge-sellschaftlicher Solidarität scheint die Staatselite traditionellen Symbolen einen Nutzen zuzuerkennen

An dieser Stelle tritt der Islam in zweifacher Dimension ins Bild: In der einen — nationalen — erscheint er als eine Komponente auf dem Weg zur Wiederherstellung von Kohäsion und Konsens einer türkischen Gesellschaft, die mit den Konflikten der siebziger Jahre völlig aus den Fugen gegangen zu sein schien. In der anderen — pragmatischen — berührt er die mit dem Namen Tugut Özal verbundene wirtschaftspolitische Revolution. Angesichts der damit in breiten Kreisen der Bevölkerung hervorgerufenen sozialen Härten könnte der Rekurs auf den Islam einen Beitrag zur Mobilisierung eines breiten und wirksamen Netzes traditionaler gesellschaftlicher Solidarität darstellen. Gerade die Türkei aber bietet ein anschauliches und eindrucksvolles Beispiel für die vielfältigen Formen der Selbstbehauptung und des Widerstands säkularistischer Kräfte gegen eine Islamisierung, die bislang keine wirkungsvollen alternativen Entwicklungskonzepte anzubieten hat. Eine in diesem Punkt weitgehend unbehinderte Presse läßt sich die Aufdeckung von Vorgängen angelegen sein, in denen die „Islamisierung“ Erscheinungsformen des Obskurantismus anzunehmen scheint. Die Auseinandersetzung zwischen „Islam“ auf der einen und „irtica“ („Rückschrittlichkeit“ oder „Reaktion“) auf der anderen Seite hat an Schärfe zugenommen. Die Führer der „Sozialdemokratischen Populistischen Partei“, der bei den Wahlen von 1987 stärksten Oppositionspartei (knapp 25 Prozent) verurteilen öffentlich und nachdrücklich den Mißbrauch religiöser Praktiken als Instrument der Politik. Und die Frauenbewegung — in der Türkei ohnehin stärker und selbstbewußter als in anderen islamischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens — macht sich deutlich vernehmlich, wo der Versuch gemacht wird, die Rolle der Frau in der Gesellschaft wieder in einen von einem traditionalistischen Islam abgesteckten Raum zurückzuführen.

Von den arabischen Ländern kommen Ägypten. Algerien und Tunesien der Türkei in diesem Punkt am nächsten. Andere arabische Regime sind entweder noch immer zu verkrustet traditionalistisch oder zu totalitär, um Diskussionen Raum zu geben. die für die künftige politische, gesellschaftliche und geistige Orientierung der islamischen Welt essentiell sind. Darauf, daß auch in Pakistan die „Islamisierung“ unter Zia ul-Haq nur ein oberflächlicher Firnis war, der die Gesellschaft nicht tief durchdrungen hat, ist oben bereits hingewiesen worden.

Über das türkische Labor hinaus ist die Frage, inwieweit die islamische Religion Politik und Gesellschaft islamischer Staaten prägen und bestimmen wird, keineswegs entschieden. Weder diejenigen, die Entwicklung in der Nachahmung des Westens erstrebten, noch diejenigen, die das Heil in der Religion suchten, haben allgemein verbreitete grundsätzliche Annahme gefunden. Auch das nächste Jahrzehnt wird von dieser Suche wesentlich geprägt sein. Diejenigen freilich, die erst eine Reformation der islamischen Religion fordern, bevor an ihre politische und gesellschaftliche Umsetzung gegangen wird, sind eine Minderheit. Nicht zufällig leben und lehren ihre Vertreter außerhalb der islamischen Welt.

Welches Resultat das Experiment im „türkischen Labor“ schließlich haben wird, ist Ende der achtziger Jahre nicht deutlich. Einerseits besteht in dem weitgehend offenen politischen System die Möglichkeit der Partizipation nahezu aller politischen und weltanschaulichen Kräfte — auch der religiösen. So hat sich der ideologische Säkularismus, ein wesentlicher Bestandteil der geistigen Grundlage der Türkischen Republik, in einen pragmatischen Säkularismus gewandelt. Nichtreligiöse und religiöse Kräfte können darin um die Lösung konkreter tagespolitischer und prinzipieller Probleme rivalisieren. Auf der anderen Seite ist ein Klima geschaffen, innerhalb dessen religiöse Extremisten versucht sein könnten, daranzugehen, die politische Islamisierung von Staat und Gesellschaft außerhalb der vorgegebenen demokratischen Strukturen und Prozeduren zu betreiben. Anzeichen dafür sind sichtbar: in der islamisch motivierten Militanz radikaler Gruppen ebenso wie in dubiosen Allianzen von Angehörigen des politischen Establishments mit Kräften, die eine säkulare Türkei für einen Irrweg halten

IV. Der Islam und der Westen

Der islamische Aufbruch hat Europa nicht unberührt gelassen und unübersehbar Animositäten gegenüber „dem Islam“ entstehen oder alte Animositäten wieder aufbrechen lassen. Tatsächlich ist der militante Islam, der in Teheran mit Ayatollah Khomeini an die Macht gekommen ist, unverhüllt antiwestlich. Die antiwestliche Propaganda, die Geiselnahme an der amerikanischen Botschaft, die Exzesse des Golfkrieges, die Selbstmordattentate gegen die amerikanisch-europäische Friedenstruppe in Beirut 1983, das Kidnapping von Europäern und Amerikanern im Libanon und schließlich die Affäre Rushdie sind nur einige der Ereignisse, die zu einer antiislamischen Sensibilisierung im Westen beigetragen haben. So mehren sich die Äußerungen von Kirchenführern, die im Islam eine potentielle „Gefahr“ sehen und deshalb zu einer Verstärkung des interreligiösen Dialogs aufrufen

Animositäten brechen insbesondere dort auf, wo die Einwanderung in den vergangenen Jahren zu einem spürbaren Anwachsen des islamischen Bevölkerungsanteils geführt hat. Zu nennen sind hier insbesondere Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien. Nicht nur ist vielfach das Verhältnis der in der europäischen Diaspora in nicht selten unterdurchschnittlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen lebenden Muslime zum Islam ein intensiveres als in der Heimat; auch sind sie in vielen Fällen in religiöse Vereine eingebunden, von denen einige die radikalen und militanten Positionen vertreten, zu denen die Massen in der Heimat selbst mobilisiert werden sollen

Kennzeichnend für Art und Ausmaß der Sensibilisierung war eine Kontroverse in Frankreich im Herbst 1989, die über die Frage ausbrach, ob es muslimischen Schülerinnen erlaubt werden kann, in den Klassenräumen Kopftücher zu tragen. Von einem großen Teil der französischen Öffentlichkeit, der „classe politique" und der Medien wurde dies als eine unzulässige Herausforderung an die „laci-te“. d. h. an eines der Grundprinzipien der Französischen Republik aufgefaßt. Gegenüber der entschiedenen Reaktion zahlreicher Franzosen suchten radikale muslimische Organisationen ihrerseits ihre Maximalforderungen im Sinne einer „islamischen Moral“ durchzusetzen

Der Tiefpunkt der Beziehungen zwischen „dem Islam“ und „dem Westen“ war die Affäre Rushdie. Rushdies Buch The Satanic Verses erschien 1988 in England und begann bald — durch zwei Kapitel, die die Glaubwürdigkeit des Propheten Muhammad und des Korans in Frage stellen —, unter Muslimen in England Anstoß zu erregen. Die Proteste eskalierten zu Bücherverbrennungen in Bradford. Aufständen in Indien und Pakistan, bei denen Menschen zu Tode kamen. Am 14. Februar 1989 rief Ayatollah Khomeini die Muslime über Radio Teheran zur Ermordung des Autors und des Verlegers auf

Damit war eine tiefe Kluft zwischen Iran (sowie der islamischen Welt, in deren Namen Khomeini zu sprechen vorgab) und dem Westen — Rushdie ist britischer Staatsbürger und hatte sein Buch wie auch frühere Bücher in Englisch verfaßt — aufgerissen. Während Khomeini — ohne freilich Argumente im einzelnen zu liefern — den gegen den Islam gerichteten blasphemischen Charakter des Werkes in den Vordergrund stellte, betonten die westlichen Verteidiger des Autors in erster Linie den künstlerischen Charakter. In Khomeinis Verdikt schien eine der wesentlichen Errungenschaften Europas — die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, das Menschenrecht der freien Meinungsäußerung und letztlich wiederum der mühsam er-erkämpfte Säkularismus — herausgefordert Zugleich hatte Khomeini sich über die bestehende internationale Ordnung hinweggesetzt, indem er — ausgehend von einem Konzept der islamischen Gemeinde, in dem die Mitgliedschaft zum Islam, nicht aber zu einem konkreten Nationalstaat die Zugehörigkeit des Menschen bestimmt — die Souveränität eines anderen Staates, nämlich Großbritanniens, mißachtete. Die Konfrontation hat die Natur der Krise erkennen lassen, die in den Beziehungen ansteht, wenn ein Islam an Boden gewinnt, der seine politischen Aspirationen an den Lehren und dem Handeln Ayatollah Khomeinis orientiert.

V. Welche Zukunft hat der Islam?

Gerade die Resonanz der Affäre Rushdie zeigt, daß es sich bei dem islamischen Aufbruch im Nahen Osten keineswegs um eine einheitliche Bewegung handelt. Wenn auch die Betroffenheit über die Satanischen Verse unter den Muslimen weitverbreitet ist, so wurde der Iran durch Khomeinis Reaktion eher weiter isoliert. Für einen Augenblick hatte der Ayatollah wohl geglaubt, die Angelegenheit biete eine Gelegenheit, sich an die Spitze einer islamischen Massenbewegung gegen den Westen zu setzen.dem er unterstellte, mit Rushdies Buch eine weitere subtile Diffamierungskampagne gegen den Islam unternommen zu haben. Er wollte gleichsam das Schwert wieder aufnehmen, welches ihm mit dem Waffenstillstand am Golf im Juli 1988 aus der Hand geschlagen worden war, den anzunehmen ihm — nach seiner Rede vom 20. Juli 1988 — schwerer angekommen ist als den Giftbecher zu trinken. Die Stellungnahmen zahlreicher Theologen (vornehmlich im sunnitischen Bereich) reichten von der Forderung nach einem ordentlichen Prozeß gegen Rushdie (was seine Anwesenheit erforderlich machte) bis zur Anregung, eine Erwiderung oder Widerlegung des Buches zu verfassen.

Der islamische Aufbruch war eine unübersehbare Tatsache des zurückliegenden Jahrzehnts. Er war aber eine diffuse Bewegung. Zwar ist es möglich, die krisenhafte Ausgangslage zu bestimmen, aus der heraus er erwuchs und erwächst. Schwerer ist es schon, eindeutig festzustellen, gegen wen er sich eigentlich richtet. Noch schwerer ist es, konkrete Konzepte zu erkennen, auf denen die neue — islamische — Ordnung denn beruhen soll. „Der Islam“ ist eben als solcher noch kein Konzept einer alternativen politischen oder gesellschaftlichen Ordnung.

Islamische Regime — dort, wo sie sich ausdrücklich als solche verstehen — stellen sich auch zehn Jahre nach der islamischen Revolution politisch sehr unterschiedlich dar. Ihre Gesellschaftsordnungen sind zum Teil einander diametral entgegengesetzt. Namentlich die Islamische Republik hat ihren Anspruch nicht einzulösen vermocht, eine stabile und prosperierende neue Ordnung zu errichten Innenpolitisch mit dem Ableben Ayatollah Khomeinis instabil, sind die Vertreter einer islamisch-traditionalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung durch Radikale blockiert, die ihr Vokabular und ihre Ordnungsvorstellungen teils aus dem Koran, teils aus den Lehrbüchern eines abgewirtschafteten Sozialismus entnehmen. Solange diesbezüglich keine Entscheidung fällt, wird es nicht möglich werden, die Wirtschaft des Iran aus dem Ruin zu führen; dies aber wäre die Voraussetzung, das Land zu jener islamischen Modellgesellschaft zu machen, als die es viele Protagonisten der Islamischen Republik entworfen haben.

Der Domino-Effekt unter den Regimen des Nahen und Mittleren Ostens, den viele Beobachter zu Beginn der achtziger Jahre befürchtet hatten, ist völlig ausgeblieben. Sieht man einmal vom besonderen Fall des Sudan ab, so ist kein einziges Regime dem Druck eines revolutionären Islam erlegen. Die an der Macht befindlichen Regime haben sich gegen ihn als resistenter erwiesen als die diversen anciens regimes gegen den Druck von Nationalismus und Sozialismus in den fünfziger und sechziger Jahren Ihre Reaktion war abgestuft: Sie reichte von vorsichtigen Zugeständnissen (und sei es nur der Gebrauch der Basmaliah bei öffentlichen Auftritten) bis zur Anwendung von Gewalt. Hier reicht eine lange Kette von der Eliminierung der schiitischen Führung im Irak Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre über das Massaker von Hama bis zum Massaker von Mekka im Juli 1987 an vornehmlich iranischen Pilgern, deren Demonstrationen der saudischen Führung gefährlich zu werden drohten. Ein anderer Grund mag in der Tatsache zu suchen sein, daß das Charisma Khomeinis als des siegreichen Revolutionärs gegen ungeliebte Ordnungen außerhalb Irans bald verblaßte. Die Gewaltanwendung im Inneren und der Pragmatismus in einer Außenpolitik, die — der islamischen Rhetorik zum Trotz — Verbindungen mit Israel, der säkularistisehen Türkei und einem Regime in Syrien unterhielt, das in Hama blutig gegen die Gesinnungsgenossen der iranischen Revolutionäre vorging, riefen Irritationen hervor, die der Durchschlagskraft eines von Iran ausgehenden revolutionären Islam abträglich waren Der Krieg am Golf, seit Mitte 1982 als Angriffskrieg Irans geführt mit dem Ziel, die iranische Revolution zu „exportieren“ (in Verbindung mit der Rolle der Schiiten im libanesischen Bürgerkrieg), hat schließlich die alte Spaltung zwischen Sunna und Schia neu akzentuiert und so den ohnehin zahlreichen Spannungen und Spaltungen innerhalb des Islams eine weitere hinzugefügt Der Widerspruch von Vision und realer Geschichte, die Grundspannung im Herzen und im Geist zahlreicher Muslime, bleibt auch nach zehn Jahren einer religiös motivierten Unruhe unaufgehoben. Auch im kommenden Jahrzehnt wird der Islam eine bestimmende Kraft bei der politischen Gestaltung des islamischen Nahen und Mittleren Ostens sein. Alle Probleme, aus denen heraus die islamische Bewegung in den siebziger Jahren entstand und für deren Bewältigung islamische Kräfte im vergangenen Jahrzehnt agitierten, bleiben ungelöst: Das gilt für die sozialen Spannungen, politischen Krisen und kulturellen Desorientierungen und Deformationen. Mit der Entkolonisierung der südlichen Sowjetunion und dem anhaltenden Palästinaproblem zeichnen sich Konfliktdimensionen ab, in denen der Islam eine Stoßkraft weitreichender politischer Veränderungen werden könnte

Andererseits könnten nach dem Ende des Krieges am Golf islamische Kräfte aus dem Scheitern militanter Strategien der Systemveränderung in den vergangenen Jahren politische Folgerungen ziehen. Nachdem der große Durchmarsch ausgeblieben ist, könnten sie nach Möglichkeiten suchen, durch Partizipation im Rahmen gegebener Strukturen jene Veränderungen in Richtung auf die Islamisierung nahöstlicher Gesellschaften durchzusetzen, die durch militanten Druck nicht zu erreichen waren. Tatsächlich gibt es dafür Anhaltspunkte. In Ägypten sind die Muslimbrüder schon im Mai 1984 über Wahlen ins Parlament eingezogen In Jordanien sieht sich König Husain nach den Parlamentswahlen vom November 1989 einer starken islamischen Gruppierung gegenüber (34 von 80 Abgeordneten). In Algerien fordert der „Front Islamique" nach seiner Zulassung als Partei die Auflösung des Parlaments und vorzeitige Neuwahlen, und in Tunesien sucht der „Mouvement de la Tendance Islamiste“ die Zulassung als Partei. In der Türkei, in der islamische Parteien — mit Unterbrechungen — de facto seit Ende der sechziger Jahre tätig sind, streben diese danach, durch eine Änderung der Verfassung und des Strafgesetzbuches auch de jure legitimiert zu werden.

Es wird auf lange Sicht wohl von der Kompromißfähigkeit beider Seiten abhängen, ob dieser Weg gangbar ist und wie weit er führt. In jedem Fall würde er Chancen eröffnen, die Spannungen zwischen dem Staat und den Staatseliten sowie andererseits Teilen der Gesellschaft, die sich in breiten Schichten islamischen Ordnungsvorstellungen verbunden fühlen, abzubauen bzw. die Austragung dieser Spannung zu regeln. In solch partizipatorischen Ordnungen, denen ein pragmatischer Säkularismus zugrunde läge, könnten sich auch neue Chancen und Freiräume eröffnen, um nach Kompromissen und Verbindungen zwischen den Anforderungen an den modernen Staat und die moderne Gesellschaft mit islamischen Prinzipien und Wertvorstellungen zu suchen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bassam Tibi. Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter. München 1981; Gilles Kepel. Le Prophte et Pharon. Les mouvements islamistes dans l’Egypte contemporaine. Paris 1984.

  2. Eine systematische Aufarbeitung wurde vorgenommen in Werner Ende/Udo Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart. Entwicklung und Ausbreitung; Staat. Politik und Recht; Kultur und Religion. München 1989.

  3. Vgl. Hans-Gcorg Ebcrt/Henner Fürtig/Hans-Gcorg Müller. Die Islamische Republik Iran. Historische Herkunft — Ökonomische Grundlagen — Staatsrechtliche Struktur. Berlin 1987.

  4. Vgl. Silvia Tellenbach. Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran. Berlin 1985.

  5. Vgl. Johannes Reissner. Iran-Irak: Kriegsziele und Kriegsideologien. Zum Problem der Vermittlung. Ebenhausen: Stiftung Wissenschaft und Politik. SWP-S 342; Udo Steinbach (Hrsg.). Der Golfkrieg. Ursachen. Verlauf. Auswirkungen. Hamburg 1988.

  6. Zum Stellenwert des Martyriums in sozialpsychologischer Dimension s. h. Dawud Gholamasad. Weltanschauliche und sozialpsychologische Aspekte der iranischen Kriegsführung. Einige sozialpsychologische Aspekte des Martyriums der iranischen Kriegsfreiwilligen, in: Orient. 30 (1989) 4. S. 567— 579; Werner Schmucker, Iranische Märtyrertestamente. in: Die Welt des Islams. 27 (1987) 4. S. 185— 250.

  7. Vgl. Shimon Shapira. The Origins of the Hizballah. in: Jerusalem Quarterly, 46 (1988), S. 115-130.

  8. Vgl. Martin Kramer. Muhammad Husayn Fadlallah, in: Orient. 26 (1985) 2. S. 147— 149; Olivier Carre. La „Evolution islamique" sclon Muhammad Husayn Fadlallah. in: Orient. 29 (1988) 1, S. 68-84.

  9. Vgl. Andreas Rieck. Die Schiiten und der Kampf um den Libanon. Politische Chronik 1958— 1988. Hamburg 1989.

  10. Zu Asad vgl. Patrick Seale. Asad of Syria. A political biography. London 1988.

  11. Zum islamischen Hintergrund des Aufstands vgl. Thomas Meyer, The Islamic Opposition in Syria, 19611982, in: Orient, 24 (1983) 4. S. 589-609.

  12. Vgl. Michael Pohly, Afghanistan-Konflikt, in: Udo Steinbach/R. Robert (Hrsg.), Der Nahe und Mittlere Osten, Bd. 1, Opladen 1988, S. 695-706.

  13. Vgl. Dieter Braun/Karlernst Ziem. Afghanistan im 7. Jahr sowjetischer Besetzung. Militärische Eskalation und politische Lösungsversuche. Ebenhausen 1986.

  14. Vgl. Wolfgang-Peter Zingel, Pakistan, in: Udo Stein-bach/R. Robert (Hrsg.), Der Nahe und Mittlere Osten, Bd. 2, Opladen 1988. S. 305-328.

  15. Vgl. Rainer Tetzlaff, Sudan, in: ebd., S. 371— 384.

  16. Zu aktuellen Entwicklungen s. h. Deutsches Orient-Institut, Nahost Jahrbuch. Politik. Wirtschaft. Opladen 1989, S. 45-51.

  17. Vgl. Binnaz Toprak, Islam and political development in Turkey, Leiden 1981.

  18. Vgl. Udo Steinbach. The Impact of Atatürk on Turkey’s Political Culture since World War II. in: Jacob M. Landau (ed.), Atatürk and the Modernization of Turkey. Boulder 1974. S. 77— 88; Feroz Ahmed, The Islamic Assertion in Turkey, in: Arab Studies Ouarterly, (1982) 1/2. S. 94— 103.

  19. Vgl. Christian Rumpf. Laizismus und Religionsfreiheit in der Türkei. Ebenhausen 1987.

  20. Vgl. Udo Steinbach, Die Türkei steht in der Dritten Republik, in: Außenpolitik. 39 (1988) 3, S. 237-255.

  21. Das wöchentlich in Ankara erscheinende Magazin Brie-fing berichtet intensiv über die „Islamisierung“; zu hier angedeuteten Fällen vgl. Briefing. 779 (19 March. 1990). S. 12— 15: Increased concern at creeping Islamicisation of the state.

  22. Vgl. dazu u. a. folgende Presse-Artikel: Der Streit um die „Satanischen Verse“ zeigt die tiefe Kluft zwischen Islam und Christentum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 22. Februar 1989; Grundverschieden in der Denkweise. Die Kluft zwischen Islam und Christentum, in: FAZ vom 17. März 1989; Kardinal Franz König — Im Namen des einen Gottes. Ein Plädoyer für den Dialog zwischen Christen und Moslems, in: Die Zeit vom 20. Oktober 1989; Vatikanische Verurteilung der „Satanischen Verse“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 7. März 1989.

  23. Vgl. Hanns Thomae-Venske, Die Bedeutung des Islams im Prozeß der Integration türkischer Arbeiterfamilien in die Gesellschaft der Bundesrepublik. Dipl. -Arbeit Universität Hamburg, Fachbereich Sozialwissenschaften. 17. April 1980; regelmäßig berichtet darüber der von Karl Binswanger. München, herausgegebene „Türkische Pressespiegel. Deutsches aus türkischer Sicht“.

  24. Siehe u. a. L’islam sous Fourviere. in: Le Monde vom 26. September 1989; Contre les bätisseurs de mosquees, in: cbd. vom 5. Oktober 1989; L’islam dans l’ecole de la Rpublique, in: ebd. vom 7. Oktober 1989; Islam et laicite. Le port du foulard ä l’ecole pose le problöme de l’integration. in: ebd. vom 21. Oktober 1989; Une interview avec Cheikh Tedjini Haddam. recteur de la Mosque de Paris, in: ebd. vom 24. Oktober 1989; Plusieurs militantes des droits de la femme d^couvrent „un signe de discrimination sexiste“, in: ebd. vom 25. Oktober 1989; Das Zusammenleben von Franzosen und muslimischer Minderheit wird schwieriger, in: FAZ vom 30. Oktober 1989; L’affaire des „foulards" islamiques, in: Le Monde vom 1. November 1989; Le boutefeu de l’islam, in; ebd. vom 8. November 1989; Ce morceau de tnbres, in: ebd. vom 10. November 1989; L’intügration contre l’integrisme, in: ebd. vom 29. November 1989.

  25. Zum Wortlaut des Aufrufs über Radio Teheran vgl. Summary of World Broadcast (BBC), SWB/ME/0385/A/2, 15. Februar 1989; zum islamwissenschaftlichen Hintergrund der „Satanischen Verse“ vgl. Heribert Busse. Salman Rushdie und der Islam, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 41 (1990) 4; S. 193— 215; inhaltsreiche Besprechungen in: Süddeutsche Zeitung vom 11. /12. November 1989. S. XII; Die Zeit vom 17. November 1989. S. 78/9; Tages-spiegel vom 26. November 1989. S. L 1; FAZ vom 24. Februar 1990.

  26. Vgl. Udo Steinbach. Die islamische Welt — Bewußtseinswandel zwischen Vision und Wirklichkeit, in: Rolf Italiaander (Hrsg.). Bewußtseinsnotstand — ein optimistisches Lesebuch. Düsseldorf 1990; S. 106-117.

  27. Vgl. Javad Kooroshy, Wirtschaftsordnung der Islamischen Republik Iran. Eine kritische Gegenüberstellung der idealtypischen und realexistierenden Islamischen Wirtschaftsordnung, Hamburg 1990.

  28. Vgl. Gabriel Ben-Dor. State and Conflict in the Middle East. Emergence of the postcolonial state. New York 1983 (hier besonders das Kapitel: Stateness and the retum of Islam).

  29. Vgl. Thomas Koszinowski. Die iranisch-saudische Kontroverse. in: Deutsches Orient-Institut: Nahost Jahrbuch 1987, S. 193-199.

  30. Vgl. Udo Steinbach. Die „Zweite Islamische Republik“. Der Gottesstaat auf dem Weg in die Normalität, in: Außenpolitik, 41 (1990) 1. S. 73-90.

  31. Vgl. Fouad Ajami. Iran — the impossible Revolution, in: Foreign Affairs, 67 (1988/9) 2, S. 135-155.

  32. Vgl. Hans Bräker. Sowjetunion und Volksrepublik China, in: W. Ende/U. Steinbach (Hrsg.) (Anm. 2). S. 249-273.

  33. Vgl. Gudrun Krämer. Die Wahl zum ägyptischen Abgeordnetenhaus vom Mai 1984. Parteien. Wahlprogramme und Ergebnisse, in: Orient. 25 (1984) 3. S. 361— 375.

Weitere Inhalte

Udo Steinbach, Dr. phil., geb. 1943; 1971 bis 1975 Leiter der Mittelost-Abteilung in der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ebenhausen; 1975 Leiter der Abteilung Türkei bei der Deutschen Welle, Köln; seit 1976 Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Kranker Wächter am Bosporus, Freiburg 1979; (Hrsg. zus. mit R. Hofmeier und M. Schönborn) Politisches Lexikon Nahost, München 19812; (Hrsg. zus. mit W. Ende) Der Islam in der Gegenwart, München 1989 2; (Hrsg. zus. mit Rüdiger Robert) Der Nahe und Mittlere Osten. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, Kultur, Leverkusen 1988; Türkei, Informationen zur politischen Bildung. Nr. 223, Bonn 1989.