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Religion und Politik im Islam | APuZ 22/1990 | bpb.de

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APuZ 22/1990 Religion und Politik im Islam Der Islam im „Thermidor“. Zur Lage des Islams im Nahen Osten Islam und Modernität im politischen Leben Ägyptens und der Länder des Maghreb Der Islam im europäischen Umfeld Islamischer Fundamentalismus gegen den Westen

Religion und Politik im Islam

Adel Theodor Khoury

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

„Der Islam ist Religion und Staat.“ Dieser klassische Ausdruck besagt, daß der Islam über seine Rolle als Religion hinaus auch eine Lebensordnung und ein religiös sanktioniertes Gesetz errichtet, um das Leben der einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft sowie die verschiedenen Bereiche des politischen Lebens und der internationalen Beziehungen zu regeln. Das Gesetz des Islams beruht auf dem Koran, der heiligen Schrift des Islams, und den verbindlichen Überlieferungen über die Entscheidungen des Propheten Muhammad. Hinzu kommen die Berücksichtigung der Übereinstimmung der Gelehrten, die Anwendung der Analogie und der angemessenen Urteilsbildung. Der Staat im Islam steht unter diesem Gesetz, das auf der Autorität Gottes und seines Gesandten gründet und daher die theokratische Ordnung im Staat untermauert. Organe des Staateszur Erfüllung des Gesetzes sind die Regierung und die Richter. Ihnen stehen die Rechtsgelehrten zur Seite, denen die Rolle der Berater und in gewisser Hinsicht auch die der Kontrollinstanz zukommt. Was die Beziehungen zu den Nicht-Muslimen betrifft, so unterscheidet die klassische Theorie des islamischen Rechts zwischen dem „Haus des Islams“ und dem Gebiet der Nicht-Muslime, dem „Haus des Krieges“. Nicht-Muslime müssen zur Annahme des Islams aufgefordert, ansonsten müssen sie bekämpft werden. bis sie sich, wenn sie Juden oder Christen sind, der Herrschaft des Islams unterwerfen und die Rechtsstellung von Schutzbürgern einnehmen. Da die traditionelle islamische Theorie kein Modell für das Leben der Muslime als Minderheit entworfen hat, ringen die Muslime in Deutschland mit dem Problem ihrer Integration in Gesellschaft und Staat. Außerdem macht sich der Einfluß von Traditionalisten und „Fundamentalisten“ bemerkbar, die eine Anpassungsfähigkeit an die neuen Lebensumstände durch Absolutheitsansprüche vermissen lassen und damit die Chancen des Islams im Endeffekt mindern.

„Der Islam ist Religion und Staat“, so drückt die klassische Tradition das Anliegen des Islams aus, der sich als Träger und Erfüllet einer göttlichen Offenbarung versteht, die in ihrem Totalitätsanspruch alle Lebensbereiche des Menschen erfaßt. Die islamische Lebensordnung enthält somit nicht nur Lehrsätze als Fundament des Glaubens und Gebote und Verbote als Norm des sittlichen Handelns, sie erläßt auch gesetzliche Bestimmungen, die das Leben der einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft sowie die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der internationalen Beziehungen regeln.

Der gläubige Muslim wird aufgefordert, sich in einem unbedingten Gehorsam dem souveränen Willen Gottes zu unterwerfen, um sein Heil zu finden. Denn, so lautet die religiöse Begründung dieser Forderung, die Menschen sind von sich aus unfähig, den rechten Weg zu finden. Die Bewohner des Paradieses bezeugen im Koran: „Wir hätten unmöglich die Rechtleitung gefunden, hätte uns Gott nicht rechtgeleitet.“ (7. 43) Die Menschen sind also auf Gott, seine Offenbarung und die praktischen Verordnungen, die die Propheten festlegen, angewiesen, um recht leben zu können. „Wem Gott kein Licht verschafft, für den gibt es kein Licht“, betont der Koran (24, 40), und: „Gott sagt die Wahrheit, und Er führt den (rechten) Weg.“ (33, 4)

Die Weisungen Gottes, welche Ausdruck seines souveränen Willens, aber auch seiner umfassenden Weisheit und seiner gnädigen Barmherzigkeit sind, bringen den Menschen das Heil: „Dieser Koran leitet zu dem, was richtiger ist, und verkündet den Gläubigen, die die guten Werke tun, daß für sie ein großer Lohn bestimmt ist.“ (17, 9) Die Bestimmungen des göttlichen Gesetzes lehren die Menschen die Gerechtigkeit (7, 29; 282; 57, 25 usw.), garantieren eine sichere Entscheidung (5, 50: „Wer hat eine bessere Urteilsnorm als Gott. . .?“) und verheißen ein erfülltes Leben: „. . . dann wird der, der meiner Rechtleitung folgt, nicht irregehen und nicht unglücklich sein“ (20, 123).

Da das positive religiöse Gesetz die Norm des praktischen Handelns und der Garant des Heiles ist, bemüht es, detaillierte Anweisungen zu erlassen (7, 32. 52; 6, 126; 9, 11), „um alles deutlich zu machen“ (16, 89). Diese Tendenz, ins einzelne zu gehen und den Raum der menschlichen Initiative einzuengen, kann es der Gemeinschaft erleichtern, ihre Einheit zu wahren, wie sie der Koran fordert (3, 103; 3, 105).

I. Schan‘a: das religiöse Gesetz

Das religiöse Gesetz 2), durch dessen Bestimmungen Gott den ganzen Menschen beansprucht: seinen Verstand und seinen Willen, seine Urteils-, Entscheidungs-und Tatkraft, ist die Grundlage der politischen Ordnung in der islamischen Gesellschaft. Die koranischen Grundbestimmungen und die verbindlichen Anweisungen des Verkünders des Islams, Muhammad, sind die Richtschnur der Tä-tigkeit der Regierung in einem islamischen Staat; sie dienen auch als Maßstab zur Bekräftigung ihrer Autorität oder zur Verurteilung ihrer Willkür. Das religiöse Gesetz bildet auch die Grundlage der Rechtsprechung und der Ausübung der öffentlichen Ämter. Aufgrund dieser Bindung des politischen Lebens in der islamischen Gesellschaft an das von Gott in seiner Offenbarung erlassene Gesetz und an die von Gott autorisierten Anordnung seines Propheten wird die islamische Staatsordnung als Theokratie bezeichnet.

Ziel der politischen Struktur des islamischen Staates ist, die Rechte Gottes zur Geltung zu bringen und die Rechte und Interessen der Muslime zu sichern, aber auch von den Untertanen Gehorsam gegen das Gesetz Gottes zu fordern, und dies auch im praktischen Leben durchzusetzen. Endlich, so der Universalanspruch des Islams, ist den Regierenden Autorität und Vollmacht gegeben, damit sie sich dafür einsetzen, die Herrschaft Gottes zu festigen und den Herrschaftsbereich des Islams auszudehnen. 1. Grundlagen und Mechanismen der Scharfa

Das religiöse Gesetz im Islam bezieht seine Verbindlichkeit daraus, daß es auf dem Koran und der verbindlichen Überlieferung über die Entscheidungen Muhammads beruht. Die Autorität des Korans und die absolut gültige Beweiskraft seiner Verse beziehen sich auf den genauen Wortlaut des arabischen Originaltextes. Zum richtigen Verständnis der gesetzlichen Vorschriften dient die Auslegung, zumal der Koran selbst feststellt, daß von seinen Versen einige eindeutig und andere mehrdeutig sind (3, 7). Die Auslegung der Korantexte muß auf die Tradition der früheren Kommentatoren achten und vor allem die Meinung derjenigen berücksichtigen, die mit Muhammad lebten. Bei der Interpretation der mehrdeutigen Stellen muß man die eindeutigen Koranstellen und die Anweisungen und Handlungsweisen Muhammads heranziehen. Hilfreich bei alledem ist die Berücksichtigung der Lebensumstände zur Zeit der Offenbarung und der Gründe, die die Verkündigung dieser Stellen veranlaßt haben. Das kann in manchen Fällen dazu führen, daß man die betreffenden Vorschriften für so zeitbedingt hält, daß man sie stark relativiert und somit den Weg frei macht für Anpassungen und Ergänzungen der gesetzlichen Bestimmungen.

Die zweite Hauptquell des religiösen Gesetzes ist die Sunna, der vorbildliche und verbindliche Weg des Propheten Muhammad. Der Koran bezeichnet ihn als Vorbild und Beispiel für die Gläubigen (33, 21), denn „er befiehlt ihnen das Rechte und verbietet ihnen das Verwerfliche, er erlaubt ihnen die köstlichen Dinge und verbietet ihnen die schlechten, und er nimmt ihnen die Last und die Fesseln, die auf ihnen lagen, ab.“ (7, 157) Die Art und Weise, wie Muhammad inmitten seiner Gemeinschaft lebte und wie er sie führte und dafür die erforderlichen Vorschriften festlegte — all das verdeutlicht seinen Weg und findet sich in den Berichten (Hadith) verschiedener Gewährsleute.

Die als echt anerkannten Überlieferungen werden in drei Kategorien eingeteilt. Zur ersten Gruppe gehören die ursprünglichen, in ununterbrochener Tradition überlieferten Berichte: Sie begründen verbindliche Rechtsnormen. Die zweite Gruppe ist die der allgemein bekannten Überlieferungen, die erst später in ununterbrochener Tradition weitergegeben wurden: Sie begründen keine absolute Rechtssicherheit und keine feste Gewißheit; sie verleihen jedoch eine gewisse Sicherheit bzw. begründen eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit und können somit in Rechtsfragen eine zuverlässige Quelle für Entscheidungen und gesetzliche Maßnahmen abgeben. Die dritte Gruppe bilden die Überlieferungen, die von einzelnen Gewährsmännern tradiert wurden: Diese Einzelüberlieferungen begründen eine Wahrscheinlichkeit in Rechtsfragen, aber nicht eine feste Gewißheit und eine unangefochtene Rechtssicherheit.

Als dritte Quelle des religiösen Rechts im Islam gilt die Übereinstimmung aller Rechtsgelehrten einer Zeit nach dem Tod Muhammads in der Feststellung einer bestimmten praktischen Rechtsvorschrift. Die Mehrheit der Gelehrten schreibt der Überein-stimmung einen bindenden Charakter zu, wenn die vielfältigen Bedingungen erfüllt sind, die zu ihrem Zustandekommen notwendig sind. Da aber gerade diese Bedingungen nur äußerst schwer herbeizuführen sind, wird in der Praxis der Akzent auf Konsultationen zwischen den Rechtsgelehrten gesetzt.

Sekundäre Quellen des Rechts und Grundsätze zur Feststellung der Rechtsnormen sind der Analogieschluß, der Brauch und das Gewohnheitsrecht, auch das eigene Urteil der Rechtsgelehrten. Zur Bildung des eigenen Urteils dienen folgende Grundsätze: Berücksichtigung der Interessen der Gemeinschaft, das Für-gut-Halten einer konkreten Lösung, die Billigkeit und die Vermeidung von Überforderung, die Anerkennung des bestehenden Rechtsstatus bzw. die Bestätigung der bestehenden Rechtslage, solange nicht das Gegenteil bewiesen oder festgestellt wird, endlich die Bemühung, das Gesetz zugunsten der Menschen zu handhaben und den Menschen Erleichterung zu verschaffen.

Die Heranziehung der Quellen und die Anwendung der Grundsätze zur Rechtsfindung haben dazu beigetragen, daß sich im Laufe der Zeit eine Rechtstradition im Islam bildete. Aber erst unter den ‘Abbäsiden (ab 750), als das islamische Reich, ausgehend von der Hauptstadt Bagdad und vom Irak, eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit erlebte, kam es zur Bildung bzw. zum Ausbau verschiedener Rechtsschulen. In den Werken dieser Schulen werden die rechtlichen Bestimmungen erfaßt, die sich auf die religiösen Pflichten, das Familienrecht, das Erb-, Eigentums-und Vertragsrecht, das Straf-und Prozeßrecht, das Verwaltungsrecht und endlich die Führung des Krieges beziehen. Die wichtigsten Rechtsschulen der Sunniten sind die der Hannafiten (liberal), der Mälikiten (konservativ), der Shfiiten (um Systematisierung bemüht) und der Hanbaliten (streng konservativ). Die wichtigste Rechtsschule der Schiiten ist die der Dja’fariten.

2. Klassifizierung der menschlichen Handlungen

In dem von den Schulen ausgearbeiteten Rechtssystem werden die menschlichen Handlungen in folgende Kategorien eingeteilt, welche eine entsprechende moralische Beurteilung bedeuten bzw. entsprechende rechtliche Konsequenzen begründen: — Eine Handlung ist geboten, wenn sie als Pflicht gilt. Wer diese Pflicht erfüllt, verdient Lob und wird belohnt. Wer das Gebot verletzt oder nicht erfüllt, verdient Strafe.

— Eine Handlung ist empfohlen bzw. wünschenswert, wenn sie das Leben der einzelnen Gläubigen oder der Gemeinschaft fördert. Wer sich danach richtet, wird gelobt bzw. belohnt. Wer sich darüber hinwegsetzt, wird jedoch nicht getadelt oder gar bestraft.

— Erlaubt ist eine Handlung, wenn sie sittlich bzw. rechtlich einen neutralen Wert hat. So ist ihre Verrichtung oder Unterlassung kein Gegenstand von Belohnung oder Bestrafung.

— Verpönt bzw. mißbilligt ist eine Handlung, wenn deren Unterlassung belohnt, deren Verrichtung jedoch nicht bestraft wird.

— Eine Handlung ist verboten, wenn es Pflicht des Gläubigen ist, sie zu meiden. Wer sie dennoch verrichtet, setzt sich der Strafe aus; wer sie meidet, verdient Lob.

Organe des Staates zur Erfüllung des Gesetzes

Die islamische Gemeinschaft als politisches Gebilde steht unter dem religiösen Gesetz 3). An der Spitze des islamischen Staates steht der Khalif, der Imam oder der Sultan, je nach dem jeweiligen Sprachgebrauch und je nach der geschichtlichen Epoche und Situation. Grundsätzlich darf der Regierungschef des Staates Gehorsam und Loyalität fordern. Er muß aber selbst Bedingungen erfüllen, um dem Staat vorstehen und die Gläubigen führen zu können. Er muß vor allem die Vorschriften des Korans und die gesetzlichen Verordnungen kennen oder sich dieses Wissen bei fachkundigen Rechtsgelehrten holen. Auch ist er verpflichtet, bei den verschiedenen Entscheidungen, die das Leben und die Interessen der Gemeinschaft betreffen, andere Mitglieder der Gemeinschaft zu Rate zu ziehen (3, 159; 42, 38). Der Koran präzisiert nicht, wie er sich diese Beratung (Schürä) vorstellt. Ursprünglich hatte diese Beratung nicht die Funktion einer Kontrollinstanz gegenüber der Staatsführung. Eine solche Kontrolle ist eher in der allgemein anerkannten Pflicht aller Mitglieder des Staates, sich dem Gesetz Gottes zu unterwerfen, zu suchen. Damit ist gesagt, daß eine Kontrollfunktion eher den Rechtsgelehrten zukommt.

Die Rechtsgelehrten beraten die Regierung in Fragen, die mit der legislativen Funktion des Staates Zusammenhängen. Da das Grundgesetz des islamisehen Staates vorgegeben ist (durch den Koran und die Sunna), haben die Rechtsgelehrten die Aufgabe, die Inhalte dieses Grundgesetzes und die daraus resultierenden Rechtsbestimmungen auszuarbeiten. Darüber hinaus besteht ihr Beitrag darin, Möglichkeiten und Modalitäten der Anwendung der Gesetzesbestimmungen auf die konkreten Fälle zu erkennen und mitzuteilen. Neben der Regierung beraten die Rechtsgelehrten auch die Richter und die einzelnen Gläubigen.

Die Rechtsprechung liegt in der Zuständigkeit entweder des Machthabers oder der von ihm ernannten Richter. Er bleibt jedoch die höchste Instanz bei Streitfällen, bei denen eine Berufung angestrengt wird. Wenn der muslimische Richter von Nicht-Muslimen angerufen wird, dann muß er nach den Bestimmungen des islamischen Gesetzes rechtsprechen.

Ein Beispiel: das Strafgesetz

In Strafsachen orientiert sich der Richter an den Angaben des Korans und an den Entscheidungen und Vorschriften, die in der Tradition festgelegt wurden. Einige Straftaten sind besonders schwer und werden im Koran als Verbrechen bezeichnet. Für diese Verbrechen sind besonders harte Strafen vorgesehen. Wenn das koranische Gesetz eine bestimmte Strafe für ein Verbrechen festlegt, dann, so die gängige Auffassung, muß diese Strafe verhängt und vollstreckt werden, und es steht dem Richter nicht zu, sie dem Schuldigen zu erlassen. Manchmal sieht der Koran vor, daß eine verhängte Strafe auf Wunsch der Person, die ihr Recht sucht, umgewandelt, vermindert oder gar erlassen wird. Manchmal gibt es Strafen, die im Ermessen des Richters selbst liegen. Es gilt grundsätzlich, daß alle vor dem Gesetz gleichgestellt sind und daß das Maß der Strafe nicht nach der gesellschaftlichen Situation festgesetzt wird. Außerdem gilt der Schuldige nach Verbüßung der Strafe als unbelastet, seine nun gesühnte Tat darf ihm nicht mehr zur Last gelegt werden. Im folgenden sollen einige schwerwiegende Verbrechen und deren entsprechende Strafen aufgeführt werden 4). 1. Der Abfall vom Glauben kann im Islam nicht durch Berufung auf die Religionsfreiheit geduldet werden. Wer einmal Muslim geworden ist, hat kein Recht mehr darauf, seinen Glauben wieder abzulegen, denn er würde sich damit aus dem Bereich der Barmherzigkeit Gottes ausschließen, seine Werke würden wertlos werden wie die der Ungläubigen, und er hätte im Jenseits die Höllenstrafe zu erwarten. Der Koran sieht im Falle der Heuchler, die als Gefahr für die Gemeinschaft gelten, die Regelung vor, daß die Muslime sie, wenn sie sich abwenden, ergreifen und töten sollen (4. 88— 89). Die Rechtsgelehrten wenden diese Regelung auf den Abfall vom Glauben allgemein an und setzen dafür die Todesstrafe fest. Muhammad habe im übrigen selbst gesagt: „Wer seine Religion ändert, den tötet!“

2. Der Koran hält das Leben des Menschen für unantastbar und verbietet das unberechtigte Töten und den Mord. Der Mörder wird der Vergeltung durch die Verwandten des Ermordeten freigegeben, jedoch erst nach der Feststellung des Tatbestandes durch den Richter oder seinen Stellvertreter. Das Strafmaß entspricht der Straftat selbst: Der Mörder wird zum Tode verurteilt, und zwar nur er selbst, nicht aber seine Familie oder seine Sippe. Die Angehörigen des Ermordeten dürfen von ihrem strikten Recht ablassen (dies gilt als Abmilderung des strengen jus talionis) und Blutgeld verlangen (2, 178). Im Fall des Verzichtes auf die Hinrichtung des Mörders von Seiten der Angehörigen darf die Regierung gefährliche Mörder dennoch festhalten und unter Arrest stellen.

Im Falle eines aus Versehen verübten Totschlags darf der Täter nicht mit dem Tod bestraft werden. Er muß für seine Tat Sühne leisten: Blutgeld, Befreiung eines Sklaven oder Fasten während zwei aufeinanderfolgender Monate (4, 92). Bei Verletzungen und ähnlichen Vergehen kommt wiederum das jus talionis zur Anwendung: Auge um Auge usw. Der Verletzte darf jedoch auf die Bestrafung des Täters verzichten und dafür eine Entschädigung verlangen, deren Höhe in den Rechtsbüchern festgesetzt wird. Was die Abtreibung betrifft, so wird heute die Notwendigkeit, das Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis zu schützen, betont, denn es ist von Anfang an Schöpfung Gottes (23, 12— 14; 56, 57— 59). Und jeder Mensch, auch in diesem Stadium des Wachsens, ist nicht der Verfügungsgewalt der Menschen, nicht einmal der Eltern, unterworfen. Er ist Diener Gottes (19, 93) und Eigentum seines Schöpfers (10, 68). Daher besitzt niemand das Recht, ihn unberechtigterweise zu töten (17, 33). Eine Schwangerschaftsunterbrechung ist also nur dann zulässig, wenn es mit Sicherheit feststeht, daß das Leben der Mutter in Gefahr ist, daß keine andere Möglichkeit besteht, das Leben der Mutter zu retten als die Abtreibung, und endlich, daß der Eingriff nach ärztlicher Erfahrung auch den gewünschten Erfolg bringt. Der Grund für diese Ausnahme ist, daß man von zwei Übeln das geringere zu wählen hat.

3. Der Koran verurteilt die Unzucht, den Ehebruch, die Homosexualität und die Prostitution. Sexuelle Verbrechen werden hart bestraft. Die Strafe der Unzucht für Unverheiratete, ob Männer oder Frauen, wird im Koran auf hundert Peitschen-hiebe festgesetzt; außerdem darf die schuldige Person keinen guten und gläubigen Partner mehr heiraten (24, 2— 3). Auf einwandfrei festgestellten Ehebruch steht die Todesstrafe. Wird aber eine Frau, die nicht geständig ist, von vier Zeugen belastet, so bestimmt der Koran, diese im Haus festzuhalten, „bis der Tod sie abberuft oder Gott ihr einen Ausweg verschafft“ (4, 15), z. B. dadurch, daß sich das Zeugnis als falsch erweist. Diese letzte Strafe trifft auch die unverheiratete Frau, die mit einem verheirateten Mann Unzucht treibt; der unverheiratete Mann, der mit einer verheirateten Frau Unzucht treibt, wird für die Dauer eines Jahres verbannt. Darüber hinaus trifft die unverheirateten Schuldigen die Strafe für Unzucht, d. h. hundert Peitschenhiebe. Die Homosexualität wird nach einigen Rechtsgelehrten wie die Unzucht bzw.der Ehebruch bestraft. Andere Rechtsgelehrte meinen, der jeweilige Richter dürfe die Strafe verhängen, die er für angebracht hält. Andere sprechen sich für die Hinrichtung der beiden Schuldigen aus.

4. Der Diebstahl wird durch Abhacken der Hand bestraft (5, 38). wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: daß der Dieb erwachsen und seiner Sinne mächtig ist. daß der Dieb das nimmt, woran er keinen Anteil bzw. worauf er kein Teilrecht hat (Veruntreuung gemeinsamer Güter wird durch andere Strafen geahndet), daß der Dieb gut erkennbares und behütetes Gut stiehlt, daß die gestohlene Menge erheblich ist und tatsächlich weggenommen wurde, endlich daß der Diebstahl nicht aus Not. wie z. B. aus Hunger, begangen wurde.

5. Für die Übertretung des Weinverbots sind vierzig Peitschenhiebe vorgesehen. Die Strafe kann auch auf achtzig Hiebe erhöht werden.

Wenn im Koran und in der Sunna Muhammads sowie in der Tradition seiner ersten Nachfolger nichts bestimmt wurde, so ist es dem Richter überlassen, in seinem freien Ermessen das angebrachte Strafmaß festzulegen. Er muß dabei die Natur des Vergehens und den Zweck der Bestrafung (Besserung des Schuldigen und Abschreckung anderer Täter) berücksichtigen.

Manche Bestimmungen des islamischen Strafgesetzes mögen hart und nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Für den gläubigen Muslimsind sie oft Bestandteil seiner Religion, und er weiß nichts Besseres, als den Verordnungen dieses Gesetzes zu folgen und an die Ermahnung des Korans zu denken: „Vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist. Und vielleicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch ist.“ (2, 216)

II. Der islamische Staat und die Nicht-Muslime

Wenn der islamische Staat im innenpolitischen Bereich das Instrument des Totalitätsanspmchs des Islams ist, so ist er nach außen Träger seines Universalanspruchs. Kraft dieses Anspruchs proklamiert der Islam seine Lebensordnung als universal gültig und als im Grundsatz verbindlich für alle Gemeinschaften und Staaten. So fühlt sich der Islam dazu aufgerufen, den Herrschaftsbereich des islamischen Gesetzes und Staates auszudehnen, die Normen der islamischen Gesellschaftsordnung zur universalen Geltung zu bringen, die Institutionen der politischen Struktur des Islams überall in der Welt zu errichten und somit eine einheitliche Gesellschaft unter islamischem Gottesrecht zu bilden, die möglichst alle Menschen umgreift. Die traditionelle Maxime lautet ja: „Der Islam herrscht, er wird nicht beherrscht.“ Was diese Haltung für Folgen hat in bezug auf Frieden und Toleranz, soll im folgenden kurz ausgeführt werden.

1. Frieden oder kriegerischer Einsatz?

Das islamische Rechtssystem, wie es im Mittelalter ausgearbeitet wurde, kennt eine Aufteilung der Welt in zwei Gebiete: das Gebiet des Islams und das Gebiet des Krieges. Das Gebiet des Islams ist Gottes Staat, das Reich des Friedens, in dem das islamische Gesetz herrscht. Im Gebiet der Nicht-Muslime herrscht das Gesetz der Ungläubigen bzw.der Nicht-Muslime vor. das mehr oder weniger den Bestimmungen des Islams widerspricht. Die islamische Gemeinschaft bzw.der islamische Staat hat die Pflicht, das Gebiet des Islams gegen die Angriffe der Feinde zu verteidigen und sich darüber hinaus aktiv einzusetzen, um auch im Gebiet der Nicht-Muslime dem Gesetz des Islams zum Sieg zu verhelfen und die Rechte Gottes zur Geltung zu bringen. Dieser Pflicht, die der Gemeinschaft als solcher obliegt, wird Genüge getan, wenn an einem Ort. irgendwo in der Welt. Bemühungen um die Ausbreitung des Herrschaftsbereichs des Islams unternommen werden. Das Endziel des Kampfes „auf dem Weg Gottes“, wie sich der Koran ausdrückt (2, 190 u. a.), wird erst erreicht, wenn auch das Gebiet der Feinde dem Gebiet des Islams angegliedert sein wird, wenn der Unglaube endgültig ausgerottet sein wird, wenn die Nicht-Muslime sich der Staatsgewalt des Islams unterworfen haben werden. Solange die alleinige Herrschaft des Islams nicht die ganze Welt umfaßt hat. bleibt der Einsatz für die Sache des Islams — auch mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes — ein Dauerzustand.

Der Friede ist der zu erreichende Endzustand der Auseinandersetzung zwischen .dem islamischen Staat und den nicht-muslimischen Gemeinschaften. Der Friede wird erst erreicht sein und gilt erst als endgültig, wenn die Grenzen des islamischen Staates an die Grenzen der Erde gelangen, wenn also nur ein Staat bestehen bleibt: der islamische Staat.

Dies bedeutet aber nicht, daß der Islam sich in ständigem aktivem Kampf gegen die Nicht-Muslime befindet oder einen heiligen Dauerkrieg gegen die fremden Völker führen muß. Dies bedeutet auch nicht, daß der islamische Staat keine Beziehungen zu den Nicht-Muslimen unterhalten darf. Verträge und Abkommen dürfen geschlossen, Vereinbarungen getroffen und kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen aufgenommen und gepflegt werden. Aber all das beinhaltet keineswegs die Anerkennung der Legitimität der fremden Staaten. Mit der Aufnahme solcher Beziehungen wird lediglich die Tatsache anerkannt, daß auch in den fremden Staaten, solange sie bestehen, eine gewisse soziale und politische Ordnung notwendig ist. So ist man bereit, die bestehende Obrigkeit und die herrschende Gesellschaftsordnung zur Kenntnis zu nehmen und mit der jeweiligen Regierung im Interesse der Muslime in Kontakt zu treten und vorübergehend friedliche Beziehungen zu vereinbaren. Für die Dauer dieser Friedenszeit bezeichnen Rechtsgelehrte das Gebiet des Krieges als „Gebiet des Friedens“ oder „Gebiet des Vertrags“. Betont wird jedoch, daß die Zulässigkeit ausgehandelter Verträge und vereinbarter Friedenszeiten nicht die Gleichstellung nicht-islamischer Länder mit dem islamischen Staat bedeutet. Vorübergehende und befristete Friedenszeiten sind theoretisch nur eine Pause auf dem Weg zur Islamisierung der ganzen Welt.

Die Vorstellungen des klassischen Rechtssystems in bezug auf den Einsatz für die Sache des Islams sowie die heute noch bzw. wieder von militanten Gruppen vertretene Lehre können wie folgt zusammengefaßt werden: Friede ist der Zustand innerer Ordnung im Staat, wenn dieser nach den Gesetzen des Islams regiert wird und wenn er Ungläubigen. Abtrünnigen, Aufständischen und ähnlichen existenzgefährdenden Gruppen keinen Raum gibt, sondern sie ausrottet oder bekehrt. Nach außen hin bedeutet Frieden den Endzustand, der nach der siegreichen Bekämpfung und Niederwerfung der nicht-muslimischen Gemeinschaften erreicht wird, so daß nur noch der islamische Staat bestehen bleibt, in dem Nicht-Muslime, insofern sie nur Anhänger einer vom Islam anerkannten Offenbarungsreligion und Besitzer heiliger Schriften sind, die Rechtsstellung von Schutzbürgern haben. Damit erfüllt die politische Gemeinschaft der Muslime (Umma) ihre Aufgabe, Trägerin und Wahrerin der Rechte Gottes und Hüterin der nach Maßgabe der Rechte Gottes festgesetzten Rechte der Menschen zu sein. Gegenüber dieser klassischen Position betonen einige Denker in der islamischen Welt heute die Priorität des Friedens, nicht nur als Endzustand, sondern als normaler Zustand der Beziehungen der Menschen und der Gemeinschaften zueinander. Sie berufen sich auf die Zeitbedingtheit der koranischen Aussagen, die der Theorie des „heiligen Krieges“ zugrundeliegen, und betonen zu Recht, daß der Koran vielfältige Hinweise enthält, die eine Theorie des Friedens begründen können

2. Toleranz und Rechtsstellung der Schutzbürger

Das klassische Rechtssystem des Islams geht in seiner theoretischen Konzeption von einer einheitlichen Gesellschaft aus, der Gesellschaft der Muslime. welche ihre Beziehungen zu den Minderheiten aufgrund geschlossener Verträge regelt. Der Rechtsstatus der Minderheiten beruht auf einem Schutzabkommen zwischen Eroberern und Unterworfenen, einem Vertrag, der aus den Muslimen die eigentlichen Vollbürger des Staates und aus den anderen nur Schutzbürger macht

Das Schutzabkommen stellt die Anhänger einer vom Islam anerkannten Offenbarungsreligion (das ist der Fall bei Juden und Christen) unter den Schutz des islamischen Staates, der damit die Verpflichtung übernimmt, diese Gruppe von Untertanen zu schützen, Schaden von ihnen fernzuhalten, ihnen gesetzwidrig zugefügten Schaden wiedergutzumachen. Dieser Schutz beinhaltet im einzelnen die Sicherheit des Lebens und des Eigentums, das Recht, im Gebiet des Islams unbefristet zu leben, die Garantie der privaten und öffentlichen Rechte sowie den Respekt der Religions-und Kultfreiheit, endlich die religiöse Autonomie und Selbstverwaltung in Fragen des Personenstands-, Familien-und Erbrechtes.

Die wichtigsten Pflichten der Schutzbürger gegenüber dem islamischen Staat sind folgende: Loyalität. Unterwerfung unter die allgemeinen Gesetze und die Gerichtsurteile, Entrichtung der vereinbarten Tribute und Abgaben (Eigentums-und Kopf-steuern), Abstehen von Gotteslästerung, Beleidigung des Propheten Muhammad und Verunglimpfung der islamischen Religion (Verbot von Bekehrungen). Diese Bestimmungen bedeuten nicht, daß das Zusammenleben von Muslimen und Schutzbürgern immer ein gespanntes Verhältnis war; allerdings war es auch nicht ein überaus freundliches. Die geschäftlichen Beziehungen zwischen Muslimen und Schutzbürgern waren durch eine weitgehende Gleichheit der Partner gekennzeichnet. Aber daraus sollte nicht eine Beziehung vorbehaltlosen Respekts und entgegenkommender Freundschaft erwachsen. Der Koran erlaubt jedoch eine Teilgemeinschaft mit Juden und Christen. Die Muslime dürfen von dem essen, was Juden und Christen selbst essen, und umgekehrt; auch dürfen muslimische Männer jüdische bzw. christliche Frauen heiraten (5, 5). Das islamische Gesetz verbietet jedoch, daß ein Jude oder ein Christ eine muslimische Frau heiratet, und dies aus Sorge um den Glauben und das religiöse Verhalten der Frau, die durch eine solche Heirat großer Gefährdung ausgesetzt würde. Bei der Schließung einer Mischehe mit einer jüdischen oder einer christlichen Frau fordert das islamische Recht nicht, daß diese zum Islam übertritt, sie darf die ihr zugestandene Religions-und Kult-freiheit ausüben.

Nicht nur in der Mischehe gibt es eine Rechtsungleichheit zwischen Muslimen und Schutzbürgem. Auch das Strafgesetz geht oft von einer Ungleich-wertigkeit von Muslimen und Nicht-Muslimen aus. Die Ungleichheit der Bewohner des Landes aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit tritt aber am deutlichsten im politischen Bereich zutage. Denn es geht da um die Ausübung der Macht im Staat, und diese ist nach islamischem Recht den Muslimen Vorbehalten. So wird der Zugang zu Ämtern im Staat, die dem Amtsinhaber Gewalt über die Bürger verleiht, den Nicht-Muslimen verwehrt.

Zusammenfassend kann man feststellen, daß das klassische Rechtssystem des Islams die Bildung einer Gesellschaft mit zwei Klassen von Bürgern vorsieht. Die einen, die Muslime, sind die eigentlichen Bürger; die anderen werden toleriert, ihnen wird ein Lebensraum geschaffen, aber ihre Rechte sind nur die, die ihnen der islamische Staat gewährt. Und diese gewährten Rechte gehen von einer grundsätzlichen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Muslimen und Schutzbürgern aus. Muslime und Nicht-Muslime sind ja nicht gleichberechtigt im Staat, sie sind nicht alle Träger der gleichen Grundrechte und der gleichen Grundpflichten. Die Nicht-Muslime sind zwar nicht recht-und schutzlos, sie werden dennoch als Bürger zweiter Klasse im eigenen Land behandelt. Diese Mischung von Toleranz und Intoleranz, diese relative Integration der Nicht-Muslime im Staat machte die Lebensgeschichte der Juden und der Christen im islamischen Staat — unter dem Druck der islamischen Mehr-B heit — oft und immer wieder zu einer Leidensgeschichte. Es stellt sich also die Frage, ob es heute tragbar ist, einen Staat nach diesem Modell wieder zu errich-ten, einen Staat, in dem die Muslime alle Gewalt für sich vereinnahmen und die anderen Mitbürger zu Schutzbürgern deklassieren, welche dem Willen und Entgegenkommen wie auch der Willkür und dem Gutdünken der Mehrheit ausgeliefert sind.

III. Muslime in Deutschland: fähig zur Integration?

Wie die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, hat die islamische Rechtstradition hauptsächlich nur ein Modell des Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen ausgearbeitet. Nach diesem Modell bilden die Muslime die Mehrheit. sie üben die Herrschaft im Staat aus, gestalten die Gesetze und besorgen die Rechtsprechung nach islamischem Recht und Gesetz.

In Deutschland wie auch in den anderen europäischen Staaten erleben die Muslime dagegen eine andere, bislang ungewohnte Gesellschaft. Hier bilden sie nur eine Minderheit, deren Einfluß verschwindend gering ist, die sogar von den mächtigeren Gruppen argwöhnisch beobachtet wird und die alle Mühe hat, sich zu behaupten und ihre eigene Identität zu wahren. Aus dieser Situation erwächst den Muslimen eine Unsicherheit in der Einschätzung ihres Rechtsstatus aus islamischer Sicht. Sie fühlen sich ratlos vor der Notwendigkeit, umfassende Normen für ihr Zusammenleben mit Nicht-Muslimen zu entwickeln.

So ist es nicht verwunderlich, daß die Muslime in Deutschland sich an Richtungen, Bewegungen, Gruppierungen, Vorstellungen und Verhaltensmustem orientieren, die sie von ihren Heimatländern her kennen. Die Gruppen und Bewegungen, die sich auch hier bilden, liegen im Streit miteinander und suchen aus eigener Sicht zu bestimmen, was islamischer Glaube sei und wie islamisches Leben in der Fremde auszusehen habe.

Eine dieser Richtungen setzt auf die vollständige . Islamisierung der Gesellschaft und des Staatswesens und lehnt jede Gesellschaftsordnung, die nicht islamisch ist, ab. Sie lehnt folgerichtig auch jede Art von Integration in einer nicht-islamisch gestalteten Gesellschaft ab. Diese Haltung verstärkt sich bei den Gruppen, die ihre Hoffnung auf die Renaissance des Islams setzen und deren Hauptziele vorbehaltlos bejahen. Eines dieser Hauptziele ist die Islamisierung bzw. Re-Islamisierung von Gesellschaft und Staat. Das bedeutet die Rücknahme der Gesetzgebung und der Lebensformen, die in manchen Ländern der islamischen Welt den Beginn einer Anpassung an die Erfordernisse der modernen Welt signalisieren. Gerade diese Anpassung an die moderne Welt wird von den Vertretern des soge-nannten Islamismus (oder auch, weniger glücklich:

Fundamentalismus) als Verlust der islamischen Identität und unbillige Bevorzugung von Normen und Vorstellungen, die sich seit der Aufklärung im Westen durchgesetzt haben, beklagt. Die Reislamisierung bedeutet auch die Rückkehr zu den politischen und wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die im islamischen Reich im Mittelalter ausgearbeitet worden sind, oder — noch radikaler — die Rückkehr zu den gesellschaftlichen Strukturen und den politischen Institutionen der frühislamischen Gemeinde zu Medina. Nur so — das betonen die Islamisten — kann der reine Islam wieder eine alles bestimmende Rolle in Gesellschaft und Staat spielen.

Aus diesem Verständnis heraus weisen die Islamisten und Traditionalisten unter den Muslimen jeden laizistischen Versuch zurück, den Islam aus der Gesellschaft und dem Staat zu verdrängen. Sie tun sich auch schwer mit den demokratischen Vorstellungen der pluralistischen Gesellschaft des Westens

Gegenüber solchen Gruppen und Richtungen, die sich heute in der islamischen Welt im Aufwind befinden, gibt es eine andere Richtung, die hoffnungslos in der Minderheit steht unter denen, die ihre Gedanken und Ziele artikulieren. Diese Richtung will dem Islam im Kontext der Verhältnisse in der Weltgemeinschaft einen Weg eröffnen, der sich mit einer teilweisen Säkularisierung des Gemeinwesens verträgt.

Zwischen den Verfechtern einer militanten Islamisierung oder eines restaurativen Traditionalismus und den Befürwortern einer säkularen Gesellschaftsordnung gibt es gemäßigte Richtungen. die zwar eine islamische Gestaltung des Lebens in der Gemeinschaft wünschen, jedoch offen sind für Kompromisse, die ihr Leben in der Fremde nötig macht und die für ein gedeihliches Zusammenleben mit Nicht-Muslimen unumgänglich erscheinen. Die überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland schwankt zwischen den verschiedenen Richtungen und sucht oft in ratloser Unsicherheit ihren Weg in eine ungewisse Zukunft.

IV. Kritische Würdigung

Islamisten und Traditionalisten sind bestrebt, den Staat und seine Institutionen auf bestimmte konkrete Strukturen und Verhaltensregeln der Vergangenheit festzulegen. Dies wirkt heute noch repressiv für die menschliche Freiheit, für eine Freiheit, die sich ihrer Verantwortung für die Bewältigung der Gegenwart und die Planung der Zukunft bewußt ist. Das liegt daran, daß hier zwischen konkreten Inhalten des ursprünglichen bzw. traditionellen Modells und seiner tiefen Intention nicht unterschieden wird. Die konkreten Lösungen der Vergangenheit beziehen ihre legitime Bedeutung von ihrer Fähigkeit, in der damaligen konkreten Situation den idealen Werten und den Normen zu entsprechen und sich an ihnen immer wieder zu messen, um die Verwirklichung besserer konkreter Formen und passenderer Institutionen zu fördern.

Wer diese konkreten Formen und Inhalte der Tradition, wäre sie auch die allererste, für das Ganze der Tradition nimmt und auf Gott zurückführt, um ihnen damit ewige Gültigkeit zuzusprechen.der übersieht, daß diese konkreten Formen und Inhalte ihre Bedeutung von der hinter bzw. über ihnen stehenden und sie inspirierenden Intention und Richtung erhalten. Nur diese Intention, nur die Werte und Normen, die sie in die geschichtliche Realität der Menschen bringen wollen, haben eine immer noch gültige Bedeutung. Die konkreten Strukturen und Regeln sollen jedoch immer wieder neu überprüft, korrigiert und entfaltet werden.

Es ist aber nicht nur die Geschichtsvergessenheit, die man diesen Gruppen vorwerfen kann. Einige von ihnen weigern sich, die Gegenwart der Gesellschaft und die Errungenschaften der modernen Zeit angemessen zu würdigen. Um die idealisierten Vorzüge des islamischen Modells annehmbarer zu machen. neigen sie dazu, im westlichen Denken nur Verirrungen und in der modernen Gesellschaft nur Verfallserscheinungen zu sehen. Undifferenziert betrachten sie das, was nach der Aufklärung als Freiheitsgeschichte gilt, nur als Abweichung vom rechten Pfad. Nur selten zeigen sie die Bereitschaft, sich ernsthaft darüber zu informieren und damit auseinanderzusetzen. Sie setzen das, was sie als islamisches Modell betrachten, absolut und rechtfertigen dies damit, daß der Koran und die Sunna des Propheten Muhammad dem Muslim alles bieten, was er braucht, um den wahren Glauben und den rechten Weg zu finden.

Es bleibt zu hoffen, daß der zeitgenössische Islam, bei allen legitimen Bestrebungen, seine Identität zu wahren, eine Gesellschaftsordnung und eine Staats-struktur findet, durch die er seine wahre Rolle in der Welt erfüllen kann als „Zeuge für die Gerechtigkeit“ (5, 8) und als mitwirkender Faktor beim Aufbau einer Gesellschaft, in der alle Bürger vor dem Gesetz grundsätzlich gleichgestellt und im praktischen Leben gleichberechtigt sind — eine Gesellschaftsordnung. in der über eine gewährte Toleranz hinaus die unverzichtbaren Menschenrechte für alle und die universale Solidarität aller Menschen miteinander anerkannt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Koranstellen werden nach der Übersetzung von A. Th. Khoury, Der Koran, Gütersloh 1987, zitiert.

  2. Zum gesamten Komplex der Theologie des Gesetzes im Koran siehe A. Th. Khoury, Einführung in die Grundlagen des Islams, Graz-Wien-Köln 19812, S. 200-206, vor allem aber ders., Zur Theologie des Gesetzes im Koran, in: M. Fitzgerald /A. Th. Khoury /W. Wanzura (Hrsg.), Mensch. Welt. Staat im Islam. Graz-Wien-Köln 1977, S. 73— 101. Zum Recht und Gesetz im Islam vgl. J. Schacht, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964; E. Pritsch /0-Spies, Klassisches islamisches Recht, in: Handbuch der Orientalistik I, Abt. 3, Leiden 1964, S. 220-243; S. Ramadan, Das islamische Recht, Theorie und Praxis, Wiesbaden 1980; A. Th. Khoury, Islamische Minderheiten in der Diaspora, München-Mainz 1985, S. 13-35.

  3. Zum politischen Denken im Islam vgl. L. Gardet, La cit musulmane, vie sociale et politique. Paris 19764; W. M. Watt. Islamic political thought. the basic concepts. Edinburgh 1968; H. Reiners, Die klassische islamische Staatsidee. Münster 1968; E. I. J. Rosenthal. Politisches Denken im Islam, in: Saeculum. 23 (1972). S. 148— 171, 295— 318; T. Nagel, Staat und Glaubensvorstellungen im Islam. 2 Bde.. Zürich-München 1981; P. Antes, Ethik und Politik im Islam, Stuttgart 1982.

  4. Ich folge hier den Ausführungen in: A. Th. Khoury. Der Islam: sein Glaube — seine Lebensordnung — sein Anspruch, Freiburg 1988, S. 177-182.

  5. Zum Thema und zu den näheren Argumenten für den Frieden im Islam siehe A. Th. Khoury. Islam: Frieden oder „heiliger Krieg“?, in: A. Th. Khoury /P. Hünermann (Hrsg.). Friede? — was ist das?, Freiburg 1984, S. 51— 75; M. Khadduri. War and pcace in the law of Islam. Baltimore 19792; A. Noth. Heiliger Krieg und heiliger Kampf in Islam und Christentum. Bonn 1966; R. Steinweg (Hrsg.). Der gerechte Krieg: Christentum. Islam. Marxismus. Frankfurt 1980.

  6. Zur Toleranz im Islam vgl. R. Paret. Toleranz und Intoleranz im Islam, in: Saeculum. 21 (1970). S. 344— 365; A. Noth. Möglichkeiten und Grenzen islamischer Toleranz, in: Saeculum. 29(1978). S. 190— 204; vor allem A. Fattal, Le Statut lgal des non-musulmans en pays d’Islam. Beirut 1958; A. Th. Khoury. Toleranz im Islam. München-Mainz 1980, Altenberge 19862.

  7. Vgl. A. Th. Khoury. Islamische Minderheiten in der Diaspora. München-Mainz 1985. S. 99— 108.

Weitere Inhalte

Adel Theodor Khoury. Dr. phil., geb. 1930 im Libanon; Lizenziat der Philosophie (1959), der Orientalistik (1960), Habilitation in Lyon/Frankreich (1966); Professor für Religionswissenschaft und Leiter des Seminars für Allgemeine Religionswissenschaften der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Zahlreiche Veröffentlichungen über den Islam und die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen.