Der Marsch aus den Institutionen. Zur Organisationsschwäche politischer Parteien in den achtziger Jahren
Elmar Wiesendahl
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Zusammenfassung
Die Mitgliederorganisationen der Parteien bilden das Rückgrat parteiendemokratischer Willensbildung in der Bundesrepublik. Seit den siebziger Jahren erlebten die etablierten Parteien eine Eintrittswelle, die die gesellschaftliche Integration der Parteien verbesserte und deren Basis regenerierte. Für die Großparteien SPD und CDU läßt sich der Mitgliederzulauf aus dem Wechselspiel von Mobilisierung und Gegenmobilisierung während der sozialliberalen Aufbruchphase erklären. Im Wettbewerb um die Eintrittswelle sind die Unionsparteien am Ende erfolgreich und können an die Organisationspotenz der SPD aufschließen. Nach einer Sättigungsphase haben sich die Verhältnisse in den achtziger Jahren umgekehrt. Die Mitgliederzahlen sind rückläufig, so daß die Parteien unter wachsenden Mobilisierungs-und Rekrutierungsproblemen mit entsprechender Organisationsschwäche leiden. Der Mitgliederschwund kann nicht auf allgemeine Entpolitisierungstendenzen zurückgeführt werden. Vielmehr wirken andere gesellschaftliche Wandlungsfaktoren und organisationsspezifische Insuffizienzen zusammen. In den Parteienbereich fallen Entideologisicrungstendenzen, verspielter Vertrauenskredit und konservative innerparteiliche Organisationsstrukturen sowie Anreizdefizite für aktive und einflußbezogene Beteiligung. Gesellschaftlich schlägt vor allem die Organisationsdistanz und -Verweigerung unter Jugendlichen zu Buche. Zudem wirken sich der mit der partizipatorischen Revolution verbundene Wandel im Demokratie-und Politikverständnis sowie anspruchsvollere und direktdemokratische Beteiligungsvorlieben nachteilig für die Parteien aus. Während die von Bürgerinitiativen bzw. neuen sozialen Bewegungen angebotenen Aktionsformen sich mit der gewandelten Partizipationsnachfrage besser decken, zeigt das Formprinzip der Partei deutliche Schwierigkeiten, um mit der Gesellschaftsentwicklung mitzuhalten. Die Organisationsschwäche der Parteien lockert nicht nur die gesellschaftliche Anbindung der Parteien-demokratie. sondern muß in ihrer ganzen Tragweite auch als ein Indiz für den Integrations-und Legitiimationsverfall parteiendemokratischer Herrschaft in der Bundesrepublik angesehen werden.
I. Einleitung
Revolutionen haben ihre Tücken. Als im Gefolge der gesellschaftlichen Unrast der sechziger Jahre die partizipatorische Revolution die Bevölkerung der Bundesrepublik in politische Aufbruchstimmung versetzte, galt es als ausgemacht, daß sich die Bürger von den hergebrachten und orthodoxen Formen institutionell verfaßter Beteiligung abwenden und zu den neuen Formen aktions-und protest-bezogener Partizipation abwandern würden
Abbildung 5
Abbildung 3: Veränderungsraten des Mitgliederbestandes von CSU und FDP
Abbildung 3: Veränderungsraten des Mitgliederbestandes von CSU und FDP
Die siebziger und frühen achtziger Jahre gerieten denn auch in diesen Sog, doch die verschiedentlich schon totgesagten Parteien konnten wider Erwarten und überraschend erfolgreich auf der Woge allgemeiner gesellschaftlicher Mobilisierung mit-schwimmen. Nicht nur die nichtinstitutionelle Aktions-und Protestbereitschaft stieg an, sondern auch die Mitgliederzahl der Parteien, welche von diesem wahren Mitgliederboom überrascht wurden. In den achtziger Jahren ist die Eintrittsflut verebbt. Nach dem Überfluß und der Hochstimmung des letzten Jahrzehnts ist nun Mangel und Tristesse in den Mitgliederorganisationen des etablierten Parteiensystems eingekehrt. Die stolzen Mitglieds-bestände sind allerorts geschrumpft, und niemand aus den Parteistäben weiß so recht, wie die wachsende Organisationsschwäche bzw. Organisationsmüdigkeit trotz vorhandenen politischen Interesses zu erklären und wie damit umzugehen ist.
Abbildung 6
Abbildung 4: Mitgliederzu-und -abgänge von SPD und CDU 1970 bis 1986 (in Tausend)
Abbildung 4: Mitgliederzu-und -abgänge von SPD und CDU 1970 bis 1986 (in Tausend)
Nun mag es in einem Land, in dem Parteienkritik traditionell en vogue ist, niemanden weiter aufregen, wenn den vielen Defiziten und Schwächen, die den etablierten Parteien nachgesagt werden, auch noch eine weitere, nämlich die organisatorische Bindungsschwäche, hinzugefügt wird. Dieser Befund steht jedoch im Widerspruch zur gängigen, auch unter Parteienforschern verbreiteten Ansicht, zumindest in der Mitgliederentwicklung ließe sich den etablierten Größparteien und ihren kleineren Ablegern cum grano salis nichts Kritikwürdiges vor-werfen. So konstatiert z. B. Fritz Plasser, daß „aus der langfristigen Entwicklung der Mitgliederbestände keinerlei Indiz für einen Mitgliederschwund der traditionellen Parteien abzulesen“ wäre Und Heinrich Oberreuters Kritik am Krisengerede über die Parteien stützt sich ganz wesentlich auf den Befund, „aus dem Mitgliederzuwachs läßt sich schwerlich Vertrauensverlust herauslesen“ Mit Blick auf den Beitrittsboom der siebziger Jahre mochten solche Wertungen durchaus berechtigt sein, doch am Ende der achtziger Jahre muß die Erfolgsbilanz der Parteien in ganz anderer Richtung fortgeschrieben werden.
Abbildung 7
Tabelle 3: Organisationsgrad der etablierten Parteien 1970 bis 1987 17
Tabelle 3: Organisationsgrad der etablierten Parteien 1970 bis 1987 17
Im folgenden wird die Mitgliederentwicklung der etablierten Parteien in den letzten beiden Jahrzehnten dargestellt und deren wachsende organisatorische Bindungsschwäche untersucht, wobei die organisationsbezogenen und gesellschaftlichen Hintergründe der nachlassenden Mobilisierungs-und Integrationskraft des westdeutschen Parteiensystems diskutiert werden. Die Analyse mit dem Ausgangs-jahr 1968 zu beginnen, hat auf der einen Seite technische Gründe: Die zu diesem Zeitpunkt von den Großparteien CDU und SPD, aber auch von der CSU angelegten zentralen und elektronischen Mitgliederdateien erlauben erstmals eine statistische Analyse auf gesicherter Basis. Auf der anderen Seite bilden aber auch in politischer Hinsicht die Endsechziger eine Art Zäsur zur „behäbigen“ Nachkriegszeit, so daß die Parteien mit der um die damalige Zeit einsetzenden stürmischen Mitgliederexpansion aus ihrem langjährigen organisationspolitischen Dornröschenschlaf gerissen wurden
II. Die Mitgliederentwicklung der Parteien 1968— 1989
Abbildung 2
Tabelle 2: Jährliche Mitgliederentwicklung von CDU, CSU, SPD und FDP insgesamt (1968 bis 1989)
Tabelle 2: Jährliche Mitgliederentwicklung von CDU, CSU, SPD und FDP insgesamt (1968 bis 1989)
1. Die Gesamtentwicklung
Abbildung 8
Abbildung 5: Jungmitglieder in Parteien und Gewerkschaften 1974— 1989
Abbildung 5: Jungmitglieder in Parteien und Gewerkschaften 1974— 1989
Wie bereits angedeutet, beginnt die Geschichte der Mitgliederentwicklung der etablierten Parteien in den letzten zwanzig Jahren verheißungsvoll. Nach einer langen selbstgenügsamen Phase weitestgehend eingefrorener Mitgliederzahlen kommt ab Mitte der sechziger Jahre Bewegung in die Parteien, die zur überfälligen Regeneration und Vitalisierung der Fundamente parteienstaatlicher Demokratie in der Bundesrepublik führt.
Wie Tabelle 1 und 2 zur Mitgliederentwicklung aufzeigen, bilden die späten sechziger Jahre den Ausgangspunkt für eine durchgreifende politische Mobilisierungsphase, in der es zu einem sprunghaften Wachstum der Parteimitgliedschaft kommt. In einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne von acht Jahren zwischen 1968 und 1976 kommt es zu einem Bestandsplus von knapp 750 000 Mitgliedern. Das Organisationsfundament des etablierten Parteien-systems dehnt sich in dieser Zulaufphase um mehr als die Hälfte seines Ausgangsvolumens aus. Danach verliert die Mobilisierungswelle offenkundig an Dynamik und geht, nachdem der Gipfel 1978 erreicht ist, in eine flache Stagnations-und Abwärtskurve über, die temporal durch saisonale Mobilisierungsspitzen in den Wahljahren in ihrem stetigen Verlauf unterbrochen wird.
Am Ende der achtziger Jahre weist die Mitgliederentwicklung deutliche Verluste auf, die allerdings die Gewinne, die die Parteien in der ersten Hälfte des Mobilisierungszyklus gemacht haben, nicht übersteigen. Am Ende ist der Mitgliederberg wieder um 84 000 Abgänge abgetragen, auch wenn im Vergleich zu 1968 ein Plus von rund 686 000 Mitgliedern in der Gesamtbilanz gutgeschrieben werden kann. Den Verlusten im Abwärtstrend der etablierten Parteien ließen sich noch die Gewinne der GRÜNEN seit den achtziger Jahren gegenrechnen Doch als echter Auffang-und Kompensationsfaktor fallen die GRÜNEN nicht ins Gewicht. Zu wenig zählt bei ihnen das Kriterium formaler Zugehörigkeit, zumal sie einen wesentlichen Teil ihrer Identität aus der gewollten Grenzauflösung zu den neuen sozialen Bewegungen beziehen -Entsprechend unspektakulär verläuft auch deren Mitgliederentwicklung Von 1983 bis Ende 1985 steigt der Bestand von 25 222 auf 37 024 Mitglieder. Danach schrumpft die Zuwachsrate, ist 1988 sogar rückläufig, so daß die Mitgliedschaft für 1989 41 228 Personen umfaßt. Zwar ist diese Entwicklung antizyklisch im Vergleich zu den Altparteien, doch für die Interpretation der Organisationsprobleme des etablierten Parteiensystems nicht weiter ergiebig.
Wie man die Daten auch wendet, zunächst sticht im Vergleich der Gewinne und Verluste der etablierten Parteien ein Zugewinn von 60 Prozent Mitgliedern hervor, der das Parteiensystem in seiner gesellschaftlichen Verwurzelung deutlich besser dastehen läßt als noch vor zwei Jahrzehnten. Nur ist dies nicht die ganze Wahrheit in der zyklischen Mitgliederentwicklung, da Verlustrechnungen von heute sich schwerlich mit Erfolgsbilanzen von gestern aus der Welt schaffen lassen. Wohl spricht das heutige 1, 8 Millionen-Heer der Parteien durchaus für stattliche Organisationspotenz, doch kranken die Mitgliederorganisationen seit geraumer Zeit offenkundig in anderer Hinsicht, so daß eher auf schleichende Schwächung der Parteien zu schließen ist.
2. Die Mitgliederentwicklung von SPD, CDU, CSU und FDP im einzelnen
Wie auch immer das Parteiensystem sich in seiner Gesamtheit entwickelt hat, bringt die Gewinn-und Verlustrechnung der Parteien im einzelnen doch bemerkenswert unterschiedliche Ergebnisse.
Die SPD (Abb. 1) übernimmt im Mitgliederaufschwung zeitlich eine Vorreiterrolle. In der Zeit von 1968 bis 1972 erlebt sie Wonnejahre, von denen sie noch bis 1976 zehren kann. Dann beginnt eine langandauernde Talfahrt bis 1987, die nur für das Wahljahr 1980 mit einem kleinen Plus in der Bilanz aufgehalten wird. Ende der achtziger Jahre scheint die Talsohle nun endgültig erreicht. Für 1988 und 1989 gibt es wieder schwarze Zahlen mit einem kleinen hoffnungsvollen Sprung nach oben. In Zahlen gelingt es der SPD anfangs von einem relativ hohen Sockel von über 732 000 Mitgliedern ihren Bestand sprunghaft bis Ende 1972 auf über 950 000 zu erhöhen, was durch einen Rekordzugewinn im damaligen Wahljahr von über 100 000 Mitgliedern gekrönt wurde. Danach steigt das Aufkommen mühsam noch über die magische Millionengrenze hinaus, um dann den Abstieg mit Verlusten von über Hunderttausend bis 1987 anzutreten.
Die Verlaufstruktur des Mobilisierungszyklus der SPD wird deutlicher, wenn man sich die nach Mehrjahresperioden gemittelten Zuwachsraten des Mitgliederbestandes vor Augen führt (Abb. 2).
Ihnen zufolge verzeichnet die Partei nur in der Aufbruchsphase von 1968 bis 1972 einen Beitrittsboom. Danach schließt sich eine in den Zuwächsen nur bei durchschnittlich 1, 8 Prozent liegende auslaufende Wachstumsperiode bis 1976 an. Die Jahre 1977 bis 1982 bilden die eigentliche Schlechtwetterperiode, die deutlich an der Substanz der traditionellen Mitgliederpartei SPD zehrt. Erst die Oppositionsperiode 1983 bis 1989 stoppt die Beschleunigung des Abwärtstrends auf einem negativen Stagnationsniveau, ohne einen echten Trendwechsel in den Positivbereich heute schon anzeigen zu können. Insbesondere die dramatischen Mitgliederverluste in den Großstädten und urbanen Lebensräumen der neuen Mittelschichten halten eher noch an.
Die CDU trat ihren Mobilisierungszyklus numerisch von einer wesentlich schlechteren Ausgangsposition als die SPD an und endete in Höhen, die ihre Mitgliederentwicklung bis in die Achtziger hinein wie eine einzigartige Erfolgsgeschichte lesen lassen. In rund anderthalb Jahrzehnten gelingt es ihr, das Organisationspotential um 450 000 auf 735 000 Mitglieder zu steigern, d. h. 1983 ist ihre Basis zweieinhalbmal so groß wie 1968. Nach rückläufigen Wachstumsraten kommt es dann nach der Regierungsübernahme 1982/83 bald zur Umkehrung des Trends: Bis Ende 1989 müssen 72 000 Mitglieder wieder abgeschrieben werden.
Wie der Substanzgewinn insgesamt und die periodischen Zuwachsraten (Abb. 2) anzeigen, schneidet die CDU gleichwohl besser als die SPD ab. Selbst in der sozialdemokratischen Hochphase von 1968 bis 1972 liegt sie im durchschnittlichen Zuwachs deutlich höher und kann die über 10 Prozent liegenden Gewinne in der nachfolgenden Periode 1973 bis 1976 noch einmal auf 11, 5 Prozent steigern. Danach bricht die Aufwärtsdynamik plötzlich ab. Gleichwohl kann die CDU in der darauf folgenden Konsolidierungsphase bis zum Ende ihrer Oppositionszeit den Bestand immer noch leicht verbessern — ganz im Gegensatz zur SPD, die gleichzeitig ihre Tiefstphase durchschreitet. Mit zeitlicher Verzögerung gerät die CDU dann in die gleiche Situation mit durchschnittlichen jährlichen Verlusten von 1, 2 Prozent, ohne daß — wie bei der SPD — sich eine Verbesserung in der Entwicklung abzeichnen würde.
Dieser enorme Mitgliederzulauf in der Gesamtbilanz verwandelt die CDU von einem „Kanzlerwahlverein“ und einer Honoratiorenpartei in eine schlagkräftige Mitgliederpartei. Hierin kommt ein nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Modernisierungssprung zum Ausdruck, der im wesentlichen durch die Reform und Reorganisation der Partei und des Parteiapparats unter dem Vorsitzenden Kohl und insbesondere unter den Generalsekretären Biedenkopf und Geißler bedingt war.
Die in der Substanz nicht so gewichtige Mitgliederentwicklung bei CSU und FDP folgt augenscheinlich nicht dem von den Großparteien vorgezeichneten Muster, wenngleich einige Parallelen doch nennenswert sind. Was die Mitgliederentwicklung betrifft, kann sich die CSU in eine Reihe mit der Erfolgsbilanz der CDU stellen. Sie besaß in der Oppositionsphase der Unionsparteien anscheinend so viel Energie und Kraftreserven, daß der deutliche Einbruch und Trendwechsel, wie ihn die CDU mit der Regierungsübernahme erlebte, ausblieb
Die Sonderrolle, die die CSU als bayerische Staatspartei und in ihrem Verhältnis zur Schwesterpartei auszuspielen wußte, muß hier mit berücksichtigt werden. Die gezielt kultivierte Frontstellung mag auch erklären, warum die CSU trotz des stetigen periodischen Rückgangs der Zuwachsraten (Abb. 3) gegenüber der CDU hinreichend erfolgreich ist, um bis zum Ende der achtziger Jahre die Mitgliedschaft nicht in die roten Zahlen absacken zu lassen.
Last not least muß die FDP in ihrem Mitgliederaufund -abtrieb als Opfer und zugleich Nutznießer ihrer doppelten koalitionsstrategischen Wendepolitik begriffen werden. Anfang der siebziger Jahre verliert sie Teile ihrer alt-und nationalliberalen Klien-tel, die das Bündnis mit der SPD nicht akzeptieren. Dies wird aber deutlich wettgemacht durch eine Eintrittswelle zwischen 1973 und ; 976 (Abb. 3). die jedoch in der Dynamik bis zur Endzeit der sozialli-* beralen Koalition ausläuft. Unter dem Strich zahlen sich die Umwälzungen in der Mitgliedschaft mit einem Zugewinn von rund 30 000 Mitgliedern ganz passabel aus. Dagegen bringt die Wende von 1982 einen krassen Einbruch — einen Substanzverlust von einem Viertel ihrer Mitgliedschaft — von dem sich die FDP infolge ausbleibender Kompensationsgewinne bis heute nicht erholt hat.
3. Eintritts-und Austrittsbewegungen
Bislang wurde die Oberfläche des Mobilisierungszyklus sichtbar, wie er in den jeweils am Jahresende erfaßten Bestandszahlen der Mitgliederdateien der Bundesgeschäftsstellen der Parteien zum Ausdruck kommt. Diese Bestandszahlen stellen aber nur Bilanzgrößen dar, die keinen Aufschluß darüber geben, ob sich ganz normale und stetige oder aber auch turbulente Eintritts-und Austrittsbewegungen im Rechnungsjahr ergeben haben. Unbekannt bleibt, ob sich speziell die Verluste der Großparteien eher auf Eintritts-oder umgekehrt Austrittsbewegungen zurückführen lassen. Es ist aber wichtig zu erfahren, ob es innere oder äußere Einflußfaktoren waren, die die Expansion, die Stagnation und das Schrumpfen des gesellschaftlichen WurzelWerks der Parteien bewirkt haben.
Hierzu läßt sich Zahlenmaterial von SPD und CDU sichten, das für die Jahre 1970 bis 1987 vergleichend untersucht wird.
Die Verlaufskurven der Mitgliederzu-und -abgänge von SPD und CDU zeigen deutlich (Abb. 4), daß die kurz-und längerfristigen Schwankungen bei den Abgängen weitaus geringer als bei den Eintritten ausfallen. Gleichwohl sind die Abgangsschwankungen bei der SPD weitaus ausgeprägter als bei der CDU und nicht mehr allein mit relativ stetigen natürlichen Abgängen (Tod, Ausschluß, unbekannter Adressenwechsel, Karteibereinigung) zu erklären. Vor allem die in den Jahren 1974, 1976 und 1981/82 hervorstechenden Abgangs-zyklen lassen auf politisch bedingte Enttäuschungsmanifestationen schließen. Hinlänglich klären läßt sich dies nicht, weil die Masse der Austritte ohne politische Begründung erfolgt und auch nicht systematisch genug erfaßt wird, so daß hier die Dinge im Dunkeln bleiben. Leider werden die Abgangszahlen der CDU für die letzten Jahre der Öffentlichkeit vorenthalten, so daß der in den Medien aufgeworfenen Behauptung einer politisch bedingten Austrittswelle aus der CDU hier nicht nachgegangen werden kann. Sowohl der Geschwister-Streit zwischen CDU und CSU Ende der siebziger Jahre als auch der Barschel-oder Flugbenzinskandal in jüngerer Zeit könnten Ursachen für die Austritte sein, wie Presseberichte vermuten lassen. In der Rückschau sind es aber die enormen Varianten in den Mitgliederzugängen, die es rechtfertigen, von einem Zulaufzyklus der Parteien zu sprechen. Vor allem bei der SPD zeigt sich, daß der spektakuläre Mitgliederzulauf, der mit den „Willy" -Wahlen synchron geht, auf den Mobilisierungseinfluß, der auch im Nachhinein von den Wahlen auf Bundesebene ausgeht, zurückzuführen ist. Die postelektoralen Eintrittstäler und die gleichzeitigen Abgangsbewegungen belegen aber auch in der Feinanalyse, wie rasch der historische Moment verflog, in der sich die SPD an ihrer Basis im Einklang mit dem linken, reformbetonten Zeitgeist befand. Auch die CDU schwimmt, wie ihre Zugänge belegen, auf einer imposanten Eintrittswoge im Polarisierungssog der 72er Wahl und muß anschließend den Abgangsmalus des WahlVerlierers einstecken. Die Modernisierung der CDU und der nach wie vor hohe Politisierungsgrad des konservativen Lagers in der Bundesrepublik bescheren ihr bis 1976 jene Eintrittsflut, die sie, wie aufgezeigt, zur Mitglieder-partei werden läßt. Danach bricht die Eintrittswelle ab, und die Mitgliederzahl stagniert über viele Jahre hinweg. Nach der Regierungsübernahme ebbt die Eintrittswelle ab, wie es durch die SPD-Entwicklung bereits vorgezeichnet zu sein scheint. Gleichzeitig mehren sich die Abgänge gegenüber dem langjährigen Durchschnitt. Während im Vergleich zu vorher wenige Neumitglieder geworben werden, scheinen sich gleichzeitig über die natürlichen Abgänge hinaus auch die Austritte zu mehren. Für die SPD fließt der Eintrittsstrom im Vergleich zum langjährigen Mittel auch nur spärlich, aber gleichzeitig verlassen unterdurchschnittlich viel Mitglieder die Partei.
4. Verlierer und Gewinner
Wo es Verluste und Gewinne zu verteilen gibt, finden sich am Ende auch Gewinner und Verlierer, was sich an der Verteilung der Zuwächse des expandierenden Mitgliederaufkommens und an der Größe des Stücks bemißt, welches die Wettbewerber um die knappe Ressource Freiwilligenpersonal am Ende vom Kuchen abbekommen.
Der Wettbewerb hat sich alles in allem auf dem Rücken der SPD zugetragen. Während sie noch 1968 immerhin 64 Prozent des freiwilligen Mitgliederbestandes aller Parteien auf sich vereinen konnte und auch noch über zwei Drittel des Mitgliederzuwachses für sich vereinnahmte, verlor sie mit der Länge des Mobilisierungszyklus Schritt für Schritt ihre vorherrschende Position. Reichte hingegen Ende der Sechziger der Mitgliederstock der Unionsparteien nicht einmal zur Hälfte an den der Sozialdemokraten heran, so beträgt das Anteilsverhältnis Ende 1989 nur noch 52: 48 und das bei einem insgesamt weitaus größeren Kuchen. Wohl hat die SPD — in absoluten Zahlen gesehen — schon mal schlechtere Zeiten erlebt, doch zählt sie heute relativ betrachtet nur noch die Hälfte des Gesamtmitgliederaufkommens zu den ihren
In Abgängen und Zugängen der letzten 20 Jahre gerechnet, wird das verschobene Kräfteverhältnis noch deutlicher. In der Zeitspanne von 1970 bis 1986 verzeichnet die SPD insgesamt 881 450 Abgänge, denen 940 304 Zugänge gegenüberstehen. Die CDU kann in der gleichen Zeit 900 415 Zugänge verbuchen, hat mit 490 449 Abgängen allerdings bedeutend geringere Verluste. So kann es auch nicht überraschen, daß die SPD nur zu 25 Prozent vom Gesamtzuwachs des Mitgliederbestandes aller Parteien profitiert hat, während mit 58 Prozent der Löwenanteil auf die CDU entfiel. Die einst von ihrer Organisation her so beherrschende sozialdemokratische Massen-und Mitgliederpartei steht nach wie vor ganz respektabel da. Nur hat sie bürgerliche Konkurrenz bekommen, die ihr heute in der Organisationspotenz in nichts nachsteht.
5. Mobilisierung, Enttäuschung und Gegenmobilisierung
Nach den Gründen der unterschiedlichen Entwicklung von SPD und CDU (und CSU) zu fragen, führt zum dialektischen Zusammenhang von polarisierender Mobilisierung, Enttäuschung und Gegenmobilisierung. Die sozialdemokratische Reformpolitik Anfang der Siebziger findet unter der Bedingung scharfer innenpolitischer Polarisierung ihren Niederschlag in einem exorbitant hohen Abschöpfungsgewinn des Mitgliederzulaufs, der die Aufbruchstimmung und Reformeuphorie widerspiegelt. Die Öffnung der SPD gegenüber der außerparlamentarischen Opposition und dem linken system-kritischen Reformlager führt zur spannungsgeladenen Akademisierung und Intellektualisierung der SPD. Den innerparteilichen ideologischen und mentalen Grabenkämpfen begegnet die Parteiführung relativ schnell mit harten Disziplinierungs-und Ausgrenzungsmaßnahmen.
Die studentisch-akademische Linke, die aus der Studentenrevolte hervorgeht, bezahlt ihr strategisches Mißverständnis, über die SPD den „Marsch durch die Institutionen“ antreten zu können, mit innerparteilicher Entmachtung und Berufsverboten nach außen. Innenpolitisch stellt sich Ernüchterung ein. Gleichzeitig kommen krisenhafte Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, im Bereich der Energie-versorgung und der inneren Sicherheit auf. Diese ganze Konstellation, verbunden mit der ideologischen Demobilisierungs-und Entpolitisierungsstrategie der sozialliberalen Schmidt-Ära, entfremdet eine ganze Generation linker Jugend und Studentenschaft von der SPD wie auch von der FDP, die unter Genscher ihr linksliberales Profil der Freiburger Thesen wieder ablegt. Die pragmatisch-technokratische Krisenregulierungs-und Modernisierungspolitik der Regierung Schmidt führt nicht nur innerparteilich zum Identitäts-, Richtungs-und Visionsverlust der SPD, sondern leitet mit den Reizthemen Großtechnologie, Kernenergie und Raketennachrüstung eine weitere innenpolitische Entfremdungswelle ein, von der diesmal weite Teile der postmateriell gesonnenen neuen Mittelschichten erfaßt werden.
An der Erblast dieser Frontbildungen trägt die SPD selbst in der Opposition bis weit in die achtziger Jahre. So ist der Aufschwung der Ökologie-, Antikernkraft-und Friedensbewegung hiermit verbunden zu sehen, und auch die Gründung und Erfolge der GRÜNEN sind zu einem Gutteil hierdurch zu erklären. Nach der Mitgliederentwicklung beurteilt, ist das sozialdemokratische Zeitalter eigentlich schon nach dem Rausch der ersten drei Jahre verflogen und Katerstimmung eingekehrt. Um den Preis der Regierungsfähigkeit und des Regierungserhalts hat die SPD schon nach den Brandt-Wahlen von 1972 Hoffnungen enttäuscht und Vertrauen verspielt, was ihre Potenz zur Mitgliedermobilisierung für mehr als anderthalb Jahrzehnte lähmen sollte.
Im fundamentalistischen Schwung der konservativen Gegenmobilisierung zur sozialdemokratischen Ost-und Innenpolitik waren es dann die in die Opposition gedrängten Unionsparteien, die bis Mitte der Siebziger dieser Protestströmung ideologisch als Sprachrohr und organisatorisch als Auffangbecken dienten. Sie sind so lange die Polarisierungsgewinner, bis mit der Schmidt-Ära die innenpolitische Erhitzung zurückgeht. Opposition und Mobilisierungserfolg sind für CDU und CSU in einem Atemzug zu nennen. Innenpolitischer Pragmatismus und die Fortsetzung sozialliberaler Ostpolitik seit der christlich-liberalen Wenderegierung desillusionieren allerdings die auf eine ideologisch-moralische Wende hoffende Stammklientel, so daß sich der Oppositionsbonus der nunmehrigen Kanzlerpartei CDU in einen Regierungsmalus im Mitgliederzulauf umwandelt. So ist dann die CDU in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung nicht von ungefähr mehrheitlich eine Sammlungsbewegung oppositioneller Gegenmobilisierung der siebziger Jahre, während nur eine Minderheit von rund 20 Prozent nach der Regierungswende den Weg in die Partei gefunden hat.
6. Sättigung oder Schwund
Wenn man sich die Mitgliederentwicklung in den achtziger Jahren vor Augen führt, dann hat der Organisationsmantel, den die etablierten Parteien während der Siebziger flächendeckend über das Land gelegt haben, Löcher bekommen. Ob dieser Organisationsmantel gleichwohl noch wärmt oder schon verschlissen ist, darüber streiten sich die Gelehrten. Wie so häufig gerade im Umgang mit den Parteien führen unumstößliche Entwicklungen zu widersprüchlichen bis gegensätzlichen Beurteilungen. So weist für Oskar Niedermayer die „Mitgliederentwicklung der etablierten Parteien . . . zwar auf das Erreichen einer , Sättigungsgrenze'nach einer außergewöhnlichen Mobilisierungsphase Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre, jedoch nicht auf eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit bzw. eine breite Abkehr von den etablierten Parteien hin“
Vom Ende der achtziger Jahre aus betrachtet indizieren die statistischen Befunde einen Mitgliederschwund der Parteien, der auf eine wachsende organisatorische Mobilisierungs-und Rekrutierungsschwäche, wenn nicht sogar auf eine sozio-kulturelle Entwurzelung der etablierten Parteien hindeutet. Nach dem Form-Hoch der Siebziger leiden die Parteien nicht an „Sättigung“, sondern an einer handfesten Organisationsschwäche.
In nüchternen Zahlen hat die SPD seit ihrem Spitzenjahr 1976 einen Mitgliederverlust von 100 000 zu beklagen, und die CDU macht es ihr, wenn auch zeitverzögert, nach. Seit 1983 belaufen sich ihre Verluste auf 72 000. Auch in der Gesamtbetrachtung sind die Mitglieder aller etablierten Parteien von 1981 auf Ende 1989 um über 100 000 zurückgegangen. Dies ist umso bemerkenswerter, als im gleichen Zeitraum die Zahl der wahlberechtigten Bundesbürger sich von 44, 7 auf 46, 9 Millionen erhöht hat. In der Veränderung des Organisationsgrads der Parteien wird ersichtlich, wie sich das Größen-verhältnis zwischen Parteimitgliedern und Wählern auf der Zeitachse gewandelt hat.
So eindrucksvoll sich die Organisationsdichte der Parteien von 1970 bis 1976 entwickelt hat, so sehr hat sich die Organisations-und Mobilisierungspotenz der Parteien in den Achtzigern zurückgebildet. Tabelle 3
III. Hintergründe der Organisationsschäche der etablierten Parteien
Abbildung 3
Abbildung 1: Mitgliederentwicklung von SPD, CDU, CSU und FDP 1968 bis 1989
Abbildung 1: Mitgliederentwicklung von SPD, CDU, CSU und FDP 1968 bis 1989
Wo Mitglieder davonlaufen, ausbleiben und von den Parteien nicht mehr wie früher zum Beitritt bewegt werden können, muß das besondere Gründe haben, die sich freilich nicht auf eine einfache Formel bringen lassen. Dafür sind die Einflußfaktoren und Wirkungszusammenhänge viel zu komplex Veränderungen im Organisatorischen wie Gesellschaftlichen gibt es allerdings genug, die die Hintergründe des Mitgliederschwunds erhellen könnten. Fragen des Wahlkampfes, der Koalitionsstrategie, der Regierungs-oder Oppositionsrolle, des ideologischen „appeals“, der Führung, des Zusammenhalts bzw. inneren und zwischenparteilichen Streits sowie der innerparteilichen Anreiz-struktur zur Befriedigung von Eintritts-und Beteiligungsmotiven scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Auch fließen Parteiimage, -programmatik und Regierungshandeln zusammen, was die Entwirrung des Faktorenbündels erschwert. Auf der anderen Seite haben die allgemeine Gesellschaftsentwicklung, Veränderungen im Wohlstands-, Bildungs-und Freizeitniveau, in der Berufs-und Schichtungsstruktur und schließlich im Politik-und Demokratieverständnis Einfluß auf die Eintritts-und Bindungswilligkeit von Bürgern und auf die Fähigkeit der Parteien, potentielle Freiwillige anzusprechen und zu rekrutieren. Bei der Freiwilligkeit des Beitritts und der verbreiteten Selbstrekrutierungspraxis unter Parteimitgliedern stoßen Parteien jedoch organisatorisch an Zugriffsgrenzen, die sie mehr oder minder zu Gefangenen der Umweltverhältnisse machen, in denen sie operieren
1. Politikmüdigkeit und Mitgliederschwund
Wenn die Mitgliederorganisationen der Parteien nur die Verhältnisse widerspiegeln, von denen sie selbst umgeben und abhängig sind, müßte sich die Parteimüdigkeit mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Politikmüdigkeit erklären lassen. Damit trügen die Parteien mit ihrer wachsenden Organisations-und Mobilisierungsschwäche nur die Folgen einer allgemein um sich greifenden Entpolitisierungstendenz, der sie sich nicht entziehen können.
Vor dem Hintergrund der ideologischen Überhitzung und politischen Mobilmachung der siebziger Jahre spricht einiges hierfür, zumal sich auch theoretisch privatistische Rückzugstendenzen als Pendelbewegung und Enttäuschungsreaktion auf Jahre anstrengenden, aber auch ernüchternden öffentlichen Engagements interpretieren lassen Der charakteristische eingipflige Verlauf des Mobilisierungszyklus der Parteien läßt auch in empirischer Hinsicht einen allgemeinen Politisierungszyklus vermuten, der in den Achtzigern an Schwung verloren hat und schließlich in verbreiteter Politikmüdigkeit endet.
Wie eine Erhebung zur Entwicklung des politischen Interesses des Instituts für Demoskopie in Allensbach zeigt, gibt es in der Tat zwischen den demoskopischen Politisierungsdaten der Bürger und dem Mitglieder-Auf-und-Ab einige interessante Parallelen. Wenn man einmal von den wahljahrbedingten temporalen Schwankungen der Entwicklung des politischen Interesses absieht, zeigt sich bereits in den Sechzigern ein eklatanter Politisierungsschub, der sich nach der Hitze der ersten Reformjahre und des Wahljahres 1972 konsolidiert. Das 45-ProzentPolitisierungsniveau steigt dann in einer zweiten Auftriebswelle zwischen 1982 und 1985 auf annähernd 50 Prozent, um danach wieder auf ein stabiles 47-Prozentniveau zu fallen. Während sich die Auftriebsphase des Mitgliederzulaufs noch mit der Politisierungswelle der sechziger und siebziger Jahre erklären läßt, scheitert allerdings der Versuch, den Mitgliederschwund mit dem nochmals angestiegenen hohen Politisierungsniveau der achtziger Jahre in Einklang zu bringen. Die Entpolitisierungsthese kann also nicht die Organisationsschwäche der Parteien erklären. Auch für die unterschiedlichen Mobilisierungszyklen der einzelnen Parteien müssen wohl andere Gründe herangezogen werden.
2. Vertrauensentzug und Mitgliederschwund
Wenn sich die Politisierung der Bevölkerung hält und damit auch die grundsätzliche Ansprechbarkeit und Bereitschaft zur politischen Partizipation, müssen andere Widrigkeiten wie Parteienverdrossenheit im Spiel sein, die für den Mitgliedsschwund verantwortlich sind. Mit Vertrauensstörungen im Verhältnis von Bürgern und Parteien ist schon deshalb zu rechnen, weil die Skandalchronik der achtziger Jahre und der Integritätsverlust der politischen Klasse (Flick-und Barschel-Affäre) immens dazu beitrugen, den natürlichen Vertrauenskredit zu verspielen.
Neben dem seit längerem erkennbaren Konzentrations-und Integrationsverlust des etablierten Parteiensystems bei den Bundes-, Landes-und Kommunalwahlen zeigen sich auch auf der mentalen Beziehungsebene gravierende Entfremdungstendenzen und Vertrauenseinbrüche (s. Tab. 3, Beitrag Stöss, S. 22), die sich nicht mehr nur als traditionelle Anti-Parteieneffekte interpretieren lassen
Der Vertrauensverfall und die Beziehungsstörung, insbesondere zur Jugend erhöhen den moralisch und gesellschaftlich zu überwindenden Schwellen-wert des Beitritts in eine Partei.
3. Entideologisierung und Mitgliederschwund
Ansprechbar für einen Parteibeitritt zu sein, bedarf schon besonderer Eigenschaften, die nicht jeder besitzt. Dem potentiellen Parteimitglied eignet ein politischer und ideologischer Bewußtseins-und Ra-dikalitätsvorsprung gegenüber dem Durchschnitts-wähler, wofür er sich in der Partei seiner Wahl einen entsprechenden Resonanzboden erhofft Dies genau stürzt jedoch die Volksparteien in ein Dilemma. Die Bedingungen wirksamer Mitgliedermobilisierung und -integration sind gegenläufig zu denen mehrheitsrelevanter Wählermobilisierung und Stimmenmaximierung. Mäßigungszwang nach außen kollidiert nun einmal mit Identifikations-und Einbindungszwängen nach innen.
Wie sich an den Regierungszeiten von SPD und CDU in den siebziger bzw. achtziger Jahren nachvollziehen läßt, treten die organisatorischen Rekrutierungsprobleme der Großparteien dann auf, wenn sie zu sehr zu regierungstechnischem Pragmatismus und ideologischem Profilverlust tendieren. Mit der Prinzipienlosigkeit und den Profilierungsdefiziten wird jedoch die psychologische Vertragsgrundlage des Eintrittswilligen untergraben. Es kommt zu einer Entfremdung und Zerrüttung der Beziehung zwischen Partei und potentiellem Mitglied, ehe sie überhaupt beginnen konnte. Die Visions-und Perspektivlosigkeit regierender und entideologisierter Volksparteien ist am Mitgliederschwund beteiligt, weil diese damit Enttäuschungs-und Entfremdungsgründe für diejenigen bereithalten, die sich einer Partei als politischer Gesinnungsgemeinschaft anschließen würden.
4. Organisationsverdruß Jugendlicher und Mitgliederschwund
Ohne Nachwuchs trocknen Parteien aus. Sie verlieren nicht nur den Kontakt zur jungen Generation, sondern können auch nicht mehr als Mittler zwischen den Generationen fungieren. Die etablierten Parteien stecken längst mitten in diesen Problemen und haben faktisch schon in den Siebzigern den Anschluß an die Jugend verloren.
Jugendliche gehen heute den politischen Institutionen aus dem Wege (Abb. 5). Während die Jugend der späten sechziger und noch frühen siebziger Jahre den Konflikt in den Institutionen suchte, läßt sie diese nunmehr links liegen. Sie ist längst auf dem „Marsch aus den Institutionen“. Das Formprinzip der politischen Großorganisation vermag den Jugendlichen nicht mehr zu binden. Diese begegnen den traditionellen Vermittlungsinstanzen mit Distanz-und Verweigerungshaltung. Im Parteien-oder Gewerkschaftsbereich ist der Jungmitgliederanteil seit Jahren dramatisch rückläufig. Dies geschieht in einer Phase, in der der Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener an der Gesamtbevölkerung kräftig ansteigt. Auch von außen betrachtet ist die Anziehungskraft der Parteien unter Jugendlichen stark rückläufig. Nur jeder fünfte Jugendliche kann sich überhaupt die Mitarbeit in den Parteien als politisch wirksam vorstellen Für aktive und politisch besonders ansprechbare junge Staatsbürger rangieren Parteien als politische Beteiligungsinstanzen deutlich unter „ferner liefen“ Im Laufe der achtziger Jahre läßt der politische Organisations-und Parteienbezug von unter 35jährigen noch weiter nach. Nur noch für jeden Vierten kommt diese Art der politischen Partizipation in Frage Selbst als zweite Wahl, als sekundäre Begleitform ist der At-traktivitätsverlust von Parteiarbeit unverkennbar Ihrer geschrumpften Klientel können die Parteien dabei nicht einmal sicher sein, da diese offenkundig auch mit parteiungebundenen, projektbezogenen Beteiligungsformen liebäugelt Nur unter höher Gebildeten und politisch besonders Interessierten findet sich nach wie vor eine kleine, aber gleichwohl immer noch verläßliche Organisationsreserve
Die Parteifeme der Jugend korrespondiert mit der Jugendfeme der Parteien. Doch ist der Zusammenhang des Parteiverdrusses Jugendlicher mit einer allgemeinen Organisationsmüdigkeit und -schwäche des Jugendvereins-und Verbandswesens in der Bundesrepublik nicht zu übersehen. Wachsende Organisationsfeme hat alle Bereiche des Jugendverbandswesens ergriffen Wertewandel, Ausweitung der Massenkommunikation, wachsende Mobilität und Singularisierung scheinen diese Entwicklung gefördert zu haben. Mit dem sozialen Steuerungsverlust von Lebensplanungen und entsprechendem Zugewinn an Spielräumen hinsichtlich des eigenen Lebensentwurfs und der eigenen Zukunftsgestaltung sinkt der Stellenwert gesellschaftlicher und politischer Großorganisationen. Diese sind traditionell darauf spezialisiert, ihren Mitgliedern und Anhängern normierte organisationspolitische Muster für berufliche, gesellschaftliche. politische und privat-zwischenmenschliche Orientierungs-und Entwicklungslösungen anzubieten und sie gleichzeitig von individuellen Wahl-handlungen und Entscheidungssituationen zu entlasten.
In dem Maße aber, wie individuelle Lebenssinn-und Lebensplanungsfragen sowie gesellschaftliche Status-. Orientierungs-und Bindungsfragen als individuelle und höchst persönliche Entscheidungsprobleme definiert werden, unterliegen kollektive Vertretungs-, Vermittlungs-und Sinnstiftungsinstanzen von den Gewerkschaften über Parteien bis zu den Kirchen einem Geltungsverlust, der sich in Organisationsdistanz und -Verweigerung kundtut. Wenn zudem im vorpolitischen Raum der Kirchenarbeit. Gewerkschafts-und Betriebsarbeit sowie generell der Jugendarbeit immer weniger Jugendliche erreichbar sind, geht für die Parteien ein wesentliches Reservoir verloren, über das ihnen traditionell Potentiale zugeführt wurde. Gleichzeitig wächst die „Peer-Orientierung“ und die tatsächliche Zugehörigkeit zu informellen Gleichaltrigen-gruppen und Cliquen Dabei werden organisati-onsfreie autonome Identifikationsräume und Lebenssphären erschlossen, die einer formalen Organisationsmitgliedschaft als nicht lebensweltgerecht noch weiter entfernt stehen.
Weiter noch geraten Parteien oder andere politische Großorganisationen zusehends in Verdacht, den jugendlichen Schonraum oder selbst den Jugendverbandsbereich durch „strukturellen Expansionismus“ parteiegoistisch kolonisieren zu wollen Gehört zum individualisierten Autonomie-bereich mittlerweile auch die Wahl einer authentischen Weitsicht, so muß der ideologische Integrations-und zugleich auch gesellschaftliche Bemächtigungscharakter der Parteien auch in dieser Hinsicht bei Jugendlichen Verständigungsverluste erzeugen
5. Beteiligungswandel, Organisationsinsuffizienz und Mitgliederschwund
Daß Parteien als traditionelle Kanäle und Plattformen institutioneller Beteiligung nicht mehr so gefragt sind, kann schließlich und endlich auch mit ihrem unzeitgemäßen Formprinzip gegenüber gewandelten Partizipationsbedürfnissen und -vorlieben in der politisch ansprechbaren Aktivbürgerschaft Zusammenhängen. Kurz gefaßt hat sich ihr traditionelles Angebotssortiment für Beteiligung angesichts neuartiger Konkurrenz (Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen) und angesichts gehobener Ansprüche an politische Partizipation zum Ladenhüter des gewandelten Beteiligungsmarktes der achtziger Jahre entwickelt.
Der gesellschaftspolitisch kritische Impuls und Veränderungswille als klassisches Antriebsmoment politischen Engagements setzt sich heute vielfach nicht mehr in eine Parteimitgliedschaft um, weil Parteien selbst als integraler Bestandteil und Herrschaftsträger sozio-ökonomischer und politischer Machtverhältnisse gesehen werden, die man verändern möchte. Gesellschaftskritik wird so zur Parteienkritik und umgekehrt. Vorherrschende gesellschaftskritische politische Einflußnahmemotive wie Kampf gegen Umweltzerstörung, Landschaftszersiedelung, Rohstoffverschwendung, Großtechnologie, Kernenergie, Aufrüstung und Ausbeutung der Dritten Welt lassen sich durch parteipolitisches Engagement nicht umsetzen. Ökologisch-pazifistisches Engagement begründet sich vielfach intentional im Widerspruch zu den etablierten Parteien.
Zu schaffen macht den etablierten Parteien auch das neue Politik-und Demokratieverständnis; denn wo do-it-yourself-Politik gewünscht wird, steht das „Intermediäre“ generell nicht im guten Ruf. Repräsentativ-demokratische Elitenherrschaft und Politik von unten vertragen sich nun einmal nicht. Die Tendenz zur „Entstaatlichung“ und „Privatisierung“ der Politik entzieht den Parteien, die staatsbezogen sind und in den Staat hineinragen, demokratische Legitimation. Zuschauer-und Stellvertreterdemokratie kommen in dem Maße nicht mehr an, wie der selbstbewußte Bürger unmittelbar an Politik teilnehmen und teilhaben will.
Wo sich unmittelbare Beteiligungsdemokratie breit macht, haben Parteien nicht viel zu bieten. Strukturell erstarrt liefern sie Lösungen auf politische Mobilisierungs-und Beteiligungsprobleme von vorgestern und stehen der Expansion und dem Anspruchswandel politischer Partizipation hilflos und überfordert gegenüber. Parteien sind Organisationsdinosaurier. Ihr Formprinzip stammt aus den Anfangsjahren des modernen Parteiwesens. Es entspricht den damaligen Erfordernissen nach einer disziplinierten Kampforganisation und der Mobilisierung und Führung von amorphen Wählermassen. Wie Robert Michels frühzeitig erkannte, gibt es für diese Organisationsform zwangsläufig keinen anderen Weg als den in die Oligarchisierung und hin zur Herrschaft von Berufspolitikern.
Heute steht das Formprinzip der politischen Partei auf dem Prüfstand einer politisch interessierten und ansprechbaren Aktivbürgerschaft, die sich mit ihrer Kompetenz, Informiertheit, ihrem Selbstbewußtsein und Einflußstreben nicht mehr disziplinieren und führen lassen will und das Selbstverständnis als „Parteisoldaten“ abgelegt hat. Was die Parteigliederungen mit ihrer konservativen Binnenstruktur noch an ritualisierten Organisationsmustern pflegen widerspricht dem heute verbreiteten Wunsch nach Spannung. Sinnlichkeit, Spaß, Lust, Reizwechsel, Spontaneität, Risiko und „action“: „Wo nichts los ist, geht auch keiner hin.“
Das Mitglied drinnen und den Interessierten draußen beschleichen der Verdacht, daß die Mitgliederorganisation nur so etwas ist wie ein lästiger Traditionsbestand der modernen Volks-und Wähler-partei. Denn eigentlich käme sie als moderner, pro-fessionalisierter Dienstleistungsapparat für die Parteiführung auch ohne breite Mitgliederbasis aus Wenn schließlich das Gefühl von Minderwertigkeit an der Basis um sich greift, können Parteien, die dem Zeitbild der offenen und bürgemahen Plattform aktiver politischer Beteiligung femstehen, vor der gewandelten Wirklichkeit nicht mehr bestehen.
IV. Die Zukunft der Parteiendemokratie
Abbildung 4
Abbildung 2: Veränderungsraten des Mitgliederbestandes von SPD und CDU
Abbildung 2: Veränderungsraten des Mitgliederbestandes von SPD und CDU
Parteiendemokratie lebt vom engagierten und organisationswilligen Aktivbürger, der die Rückkoppelung der Parteien an ihre Basis sicherstellt und dafür sorgt, daß gesellschaftliche Lebenswelt und institutionell eingebundene Organisationswelt nicht über die Maßen auseinanderdriften. Als Grenzgänger zwischen Organisation und Umwelt trägt das Parteimitglied Fragen und Anliegen in die Partei, die, soweit die Umweltbeziehung intakt ist, mit den Problemen, Wünschen und Interessen der nicht-organisierten Bevölkerung korrespondieren und über die parteienstaatlichen Instanzenwege im politischen Entscheidungsprozeß berücksichtigt werden. Lebendige und breite Parteimitgliedschaft ist verbürgte Vernetzung von Organisation und Umwelt. Nur so können Parteien Bindeglied und Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft bilden.
Doch mit dem Mitgliederschwund und der Organisationsschwäche der Parteien ist die soziokulturelle Verwurzelung der Parteiendemokratie in Frage gestellt. In dem Maße, wie die organisierte Mitgliedschaft ohne Blutzufuhr von außen erstarrt, entstehen Modemisierungs-und Anpassungsstaus: Die Parteien verlieren den Anschluß an die gesellschaftliche Entwicklung. Noch sind die Parteien kein Auslaufmodell politischer Partizipation, doch sind sie in Alterssegmenten der Bevölkerung verankert, die, wenn die Auffrischung weiterhin ausbleiben sollte, sie über kurz oder lang in Alten-Parteien verwandeln. Die Parteien haben versäumt, den jungen Engagierten eine politische Handlungsperspektive zu geben, so daß diese als neue Stütze des alternden Parteiensystems verlorengegangen sind. Der Parteienstaat steht vor der Gefahr, über das angegriffene parteiendemokratische Wurzelwerk seine Verankerung in der Gesellschaft zu verlieren. Gleichzeitig zeigen sich immer stärkere parteien-staatlicheExpansions-und Verfestigungstendenzen, ohne daß das parteiendemokratische Moment damit hätte Schritt halten können.
Politische Parteien als Partizipationsinstanzen, über die man auf die Politik Einfluß nehmen möchte, stecken allem Anschein nach in einer ernsten Krise. Das mündig gewordene Volk setzt offenbar nicht mehr auf die Parteien als seine Sprachrohre. Wenn immer mehr Bürger zu der Überzeugung kommen, daß es attraktiver und wirksamer ist, sich im Streben nach politischer Einflußnahme nicht innerhalb, sondern außerhalb und gegen die etablierten Parteien zu engagieren, dann steckt die Parteiendemokratie in einer kapitalen partizipatorischen Legitimitätskrise. Längst haben die Parteien ihr Partizipationsmonopol politischerWillensbildung verloren. Sie bilden nur noch einen unter mehreren greifbaren, neuen Partizipationskanälen. Die Aktivbürger haben längst ihr politisches Handlungs-und Aktionsrepertoire an den Parteien vorbei in nichtinstitutionalisierte Bereiche ausgedehnt; gelebte Demokratie in der Bundesrepublik ist heute nicht mehr nur Parteiendemokratie. Diese steht sogar vor der Gefahr, von der faktischen Erweiterung und Fortentwicklung des elitenbezogenen repräsentativen Demokratiegedankens abgekoppelt zu werden.
In der Erosion der Mitgliedschaft muß insgesamt ein Fingerzeig auf eine schleichende Integrationsund Legitimationskrise parteiendemokratisch verfaßter politischer Willensbildung gesehen werden. Es stehen deshalb nicht nur der Beitragsfluß und die Organisationspotenz der Parteien auf dem Spiel. Vielmehr kündigt sich, indem die besonders sensibilisierten und ansprechbaren Teile der Wählerschaft sich von den Parteien abwenden, eine allgemeine Klimaverschlechterung an, die bald das Verhältnis der Parteien zur Wählerschaft insgesamt trüben wird
Elmar Wiesendahl, Dr. rer. pol., Dipl. Soz., geb. 1945; Wissenschaftlicher Direktor und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Parteien und Demokratie, Opladen 1980; Moderne Demokratietheorie, Frankfurt a. M. 1981; (zus. mit Reinhold Roth) Das Handlungs-und Orientierungssystem politischer Parteien. Eine empirische Fallstudie, Bremen 1986; Etablierte Parteien im Abseits?, in: U. C. Wasmuth (Hrsg.), Alternativen zur Alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt 1989; Parteien als Politische Sozialisationsinstanzen, in: R. Geißler/B. Clausen (Hrsg.), Politisierung des Menschen. Instanzen der politischen Sozialisation (im Druck).
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