I. Was können Ost und West voneinander übernehmen?
Mit der Oktoberrevolution 1917 hat Rußland vor über siebzig Jahren einen neuen Entwicklungsweg eingeschlagen. Damals erwarteten die Bolschewiki, daß das rückständige Agrarindustrieland, das sich erst wenige Monate zuvor in der Februarrevolution von der zaristischen Autokratie befreit hatte, das gesellschaftliche Leben optimal organisieren, einen allgemeinen Wohlstand sichern und seine Staatsbürger geistig allseitig entwickeln könnte.
Diese Hoffnungen verknüpfte man mit der Theorie des „wissenschaftlichen Kommunismus“. Die Prinzipien und Prognosen dieser Theorie haben sich in der Folgezeit in der Praxis allerdings nicht bestätigt. Das betrifft insbesondere die behauptete Polarisierung und Auflösung der bürgerlichen Gesellschaften, die wachsende historische Rolle des Proletariats, seine relative und absolute Verarmung, die allgemeine Krise des Kapitalismus und den Sieg der sozialistischen Weltrevolution. Nicht bestätigt haben sich auch die Postulate der Klassiker des Marxismus-Leninismus. wonach die Beseitigung des Privateigentums und die Verstaatlichung der Investitionsgüter die Ausbeutung aufheben und die Humanisierung der Gesellschaft verwirklichen würden. Am Beginn der achtziger Jahre erkannten nicht nur fortschrittliche Intellektuelle, sondern auch zahlreiche Arbeiter in der Sowjetunion, daß das im Land bestehende System nicht lebensfähig ist. In den folgenden Jahren hat sich diese Erkenntnis zunehmend durchgesetzt und schließlich die Mehrheit der Werktätigen erfaßt. Unterschiedliche soziale Einstellungen kommen darin zum Ausdruck, für welche Wandlungen bestimmte Gruppen eintreten. In der UdSSR lassen sich grundsätzlich zwei politische Gruppierungen unterscheiden, die sich einerseits an den westlichen Erfahrungen orientieren, andererseits an die russischen Traditionen anknüpfen und einen eigenen Weg in die Zukunft suchen. Im Anschluß an die russische Geschichte des 19. Jahrhunderts werden die Vertreter dieser unterschiedlichen gesellschaftlichen Denkrichtungen als „Westorientierte“ oder als „Slawophile" bezeichnet. Die erstgenannten fragen vor allem, was der Osten vom Westen übernehmen könnte, die anderen verweisen auf den originären Beitrag des Ostens zur Weltkultur. Obwohl ich mich eher für die erste Richtung entscheide, enthält auch die zweite sinnvolle Ansätze.
Was könnte der Westen vom Osten übernehmen? Die sowjetische Bevölkerung weiß, daß es sich dabei natürlich nicht um politische und ökonomische Strukturen handeln kann. Bei einer Umfrage wurde 1989 folgende Frage gestellt: „Wem und in welchem Bereich könnte unser Land als Musterbeispiel dienen?“ Die Befragten haben sich dabei sehr selbst-kritisch geäußert. Insgesamt haben nur fünf bis sechs Prozent geantwortet: „Die UdSSR kann als Beispiel für alle und in allen Bereichen dienen.“ Etwa genau so viele Befragte meinten, die sowjetischen Erfahrungen könnten einige Entwicklungsländer erfolgreich auswerten. Jeder fünfte sagte, die UdSSR könnte für viele Staaten ein Beispiel friedlicher Außenpolitik bieten. Mehr als die Hälfte (55 Prozent) war der Ansicht, die sowjetischen Erfahrungen „können kein Musterbeispiel in irgendeinem Bereich für andere Staaten liefern“ oder „sie sind ein Beispiel dafür, wie es nicht gemacht werden sollte“.
Diese Antworten sind offensichtlich überzeichnet und reflektieren in gewissem Maße einen Minderwertigkeitskomplex, der durch eine überstürzte und durchgreifende Revision der Geschichte, eine gravierende Distanzierung der Gesellschaft von den bisher proklamierten Werten verursacht worden ist. Mit der Zeit wird klar werden, daß die sowjetische Gesellschaft sowohl während der Reformperiode Chruschtschows als auch in der Stagnationsphase Breschnews wie in der heutigen Epoche der Perestroika neben dunklen auch viele helle Seiten aufweist. Dazu gehören nach meiner Ansicht im Vergleich zu anderen Staaten geringere soziale Unterschiede, ein entwickelter Geist des Kollektivismus und der gegenseitigen Hilfe, Kameradschaftlichkeit und Freundschaft, Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Menschheit und eine hohe Einschätzung geistiger Werte. Die westlichen Gesellschaften könnten einige dieser Merkmale zu ihrem eigenen Nutzen übernehmen. Wenn man nach dem positiven Beitrag des Ostens fragt, sollte man auch die Kultur nicht übersehen. Trotz (oder wegen?) ungünstiger politischer Bedingungen konnten sich in der UdSSR und den osteuropäischen Staaten in den letzten Jahrzehnten viele bedeutende Schriftsteller, Künstler und Musiker entwickeln, deren Schaffen zum integrierenden Bestandteil der europäischen und der Weltkultur geworden ist. Was könnten die östlichen Gesellschaften vom Westen übernehmen? Hier ist die Palette breiter. In der Sphäre der Ökonomie gehören dazu die Marktwirtschaft, das freie Unternehmertum, vielfältige Eigentumsformen, die Konkurrenz, die Orientierung der Betriebe auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Fähigkeit zur umfassenden Befriedigung gesellschaftlicher wie individueller Bedürfnisse. In der Politik sind vor allem die strikte Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Rechtsprechung, das parlamentarische Regierungssystem, die Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die öffentliche Kontrolle der Macht durch die Medien, pluralistische Parteien und Interessenverbände zu erwähnen. Die westlichen Gesellschaften verfügen über eine hohe Lebensqualität, zuverlässige soziale Garantien, moderne Arbeitsbedingungen und eine hohe Leistungsmotivation. Die geistige Sphäre ist durch unterschiedliche Weltanschauungen und einen breiten Pluralismus der Ansichten und Vorstellungen, eine geringere Ideologisierung von Wissenschaft und Kultur sowie Gewissens-, Rede-und Pressefreiheit gekennzeichnet. Ähnliche Ziele verfolgt auch die Umgestaltung von Politik und Gesellschaft in der Sowjetunion, die vor fünf Jahren eingeleitet wurde. Im Hinblick auf ihre historische Bedeutung und das Ausmaß der angestrebten Veränderungen ist die Perestroika durchaus mit der Großen Oktoberrevolution von 1917 vergleichbar. Sie bedeutet ihrem sozialen Inhalt nach die Rückkehr auf den Weg der fortgeschrittenen Weltentwicklung, den unser Land vor einigen Jahrzehnten verlassen hatte. Das hat zwangsläufig eine gewisse Konvergenz mit dem Westen zur Folge, doch dürfen dabei einige spezifische Merkmale der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Situation in der Sowjetunion nicht übersehen werden.
II. Die gegenwärtige Etappe der Perestroika
Das spezifische Hauptmerkmal der gegenwärtigen Situation besteht darin, daß die Reform „von oben“ spontan in eine soziale Revolution „von unten“ hinüberwächst. Das kommt zunächst in der zunehmenden Umverteilung des Eigentums und der Macht (Grundgehalt der meisten Revolutionen) und außerdem darin zum Ausdruck, daß die Hauptrolle von den „oberen Etagen“, die die Reform eingeleitet haben, zur „wachgerüttelten Basis“ wechselt, die bereit ist, ihre Interessen selbst zu verteidigen. Die gesellschaftlich-politischen Prozesse entziehen sich häufig der Kontrolle und nehmen unerwartete, für die Macht riskante Formen an. Dazu gehören beispielsweise die zentrifugale Kraft der National-bewegungen, die Formierung alternativer politischer Strukturen (neue Parteien, unabhängige Gewerkschaften, Arbeiterkomitees, Künstlerverbände usw.), große überregionale Streiks, die Blokkade von Verkehrswegen u. a.; dabei verflechten sich positive demokratische Bewegungen mitunter mit reaktionären und destruktiven Aktivitäten. $Um diese Situation lenkbar zu machen, muß man die Wechselbeziehungen zwischen der ökonomischen, politischen und sozialen Umgestaltung tief-greifend analysieren. Die Initiatoren der Perestroika betrachteten die Umgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen als Hauptkomponente: Bildung eines freien Marktes, Entstaatlichung des Eigentums, wirtschaftliche Eigenständigkeit der Betriebe usw. Dabei wurde angenommen, daß die Wirtschaftsreformen keine grundlegende politische Umstrukturierung erfordern. Auf die vielfältigen Auswirkungen der Wirtschaftsreform auf die Gesellschaft wurde von den Politikern zwar hingewiesen, doch wurde die Veränderung der Sozialbeziehungen zumeist nur technokratisch und nicht soziologisch erörtert: Die sozialen Folgen der ökonomischen Reformen im Prozeß der Perestroika und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Kräfte wurden nur ungenügend berücksichtigt, woraus sich viele Fehleinschätzungen und Störungen erklären.
Die letzten fünf Jahre der Perestroika haben gezeigt, daß nicht nur das administrative Befehlssystem, sondern das ganze Gesellschaftssystem umgewandelt werden muß, wobei die Politik eine entscheidende Rolle spielt. Die Wirtschaftsreform kann nur dann Erfolg haben, wenn das politische System grundlegend verändert wird. d. h. wenn die oberste politische Macht von der Partei auf den Staat übertragen wird. Solange ihre praktische Umsetzung durch die Macht der Parteiorgane blockiert wird, bleiben auch die besten revolutionären Gesetze, die der Oberste Sowjet beschließt, mehr oder weniger wirkungslos. Nur eine politische Reform kann daher neuen wirtschaftlichen Initiativen freien Raum geben. Sie ist die grundlegende Voraussetzung für weitreichende Veränderungen in der Wirtschaft.
Die soziale Situation kann gesellschaftliche Prozesse fördern, hemmen oder gar blockieren. Soziale Beziehungen spiegeln die Lage. Bedürfnisse, Interessen und Widersprüche der Gesellschaftsgruppen, d. h.des „menschlichen Faktors“ der gesellschaftlichen Entwicklung. Wandlungen in Wirtschaft und Politik „projizieren“ sich auf die Interessen der Menschen. Gewöhnlich fördern sie die Interessen einzelner sozialer Klassen, Schichten und Gruppen und widersprechen den Interessen der anderen. Das Verhältnis zwischen den sozialen Kräften, die im Pro und Kontra auftreten, wird zu einem entscheidenden Faktor. Wenn in der Gesellschaft, einer Republik oder Region soziale Kräfte überwiegen, die sich für die Reformen einsetzen, werden diese Erfolg haben. Wenn Gegenkräfte vorherrschen, sind die Chancen für eine Veränderung sehr gering. Die Bedeutung dieser sozialen Bedingungen für den Erfolg der Perestroika ist erst in der letzten Zeit deutlicher erkannt worden.
Die Umverteilung der politischen Entscheidungskompetenzen zwischen der Partei und den Sowjets bewirkte eine eigenartige „Doppelmacht“. Nach der Verfassung wird die oberste Macht im Lande vom Kongreß der Volksdeputierten und dem von ihm gewählten Obersten Sowjet der UdSSR ausgeübt. Für die Verwirklichung dieses Verfassungsprinzips haben sich bei einer Befragung im Juli 1989 insgesamt 90 Prozent ausgesprochen. Nur knapp 40 Prozent glaubten allerdings, daß die Macht tatsächlich von den Sowjets ausgeübt wird. Die verbleibenden 60 Prozent waren der Ansicht, daß die oberste Macht im Lande, den Republiken und Regionen nach wie vor bei den Parteiorganen liegt — dabei haben sich nur vier bis sechs Prozent der Befragten für diese Praxis ausgesprochen. Zwischen der realen politischen Machtsituation und der gesetzlichen Regelung, die mit der Willensäußerung des Volkes übereinstimmt, besteht demnach ein eindeutiger Widerspruch. Die „Doppelmacht“ bedeutet, daß die Legislative häufig gelähmt wird oder die Exekutivorgane ihre Machtkompetenzen überschreiten; dadurch entstehen häufig schwerwiegende negative politische Folgen, wie sich insbesondere bei verschiedenen Nationalitätenkonflikten (Sumgait, Tbilissi, Baku u. a.) gezeigt hat.
Die Einführung des Präsidentenamtes in der UdSSR am 15. März 1990 war eine wichtige Maßnahme zur Konsolidierung der Macht der Sowjets. Der Präsident, der sich auf seine beratenden Organe — den Präsidialrat und den Rat der Föderation — stützt, hatjetzt wesentlich größere, rechtlich festgelegte Kompetenzen als das Politbüro der KPdSU, das diese zuvor in Anspruch genommen hatte.
Eine heftige politische Auseinandersetzung wurde um den Artikel 6 der sowjetischen Verfassung von 1977 geführt, in dem die führende Rolle der kommunistischen Partei verankert war, die ihr ein politisches Machtmonopol sicherte. Erst im März 1990 hat der außerordentliche Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR diesen Artikel revidiert. Damit hat die KPdSU ihr Machtmonopol eingebüßt. Gegenwärtig wird vor allem die Einführung des Mehrparteiensystems, die rechtlich gesicherte Gewährleistung der Pressefreiheit sowie der Freiheit für Kundgebungen und Demonstrationen der Staatsbürger — auch mit alternativen politischen Vorstellungen — diskutiert. Die hohen Einkommen von Mitarbeitern des Parteiapparats und die ihnen gewährten gesetzwidrigen Vorrechte und Privilegien rufen bei demokratischen Kräften des Landes zunehmend Kritik hervor.
Gegenwärtig zeigt sich eine tiefe Vertrauenskrise des Volkes zu den traditionellen Machtinstitutionen: der kommunistischen Partei, den Gewerkschaften, dem Komsomol, den Sicherheitsorganen usw. Mitte 1989 bekundeten lediglich 14 Prozent der Befragten volles Vertrauen zu den gewählten Machtvertretern und immerhin 45 Prozent hatten nur ein beschränktes Vertrauen. Etwa 30 Prozent der Befragten äußerten, daß sie gegenüber den politischen Institutionen großes Mißtrauen hegen, da die Staats-und Parteiführung eine besondere Sozial-schicht sei, die eine spezifische Stellung in der Gesellschaft einnehme und vorwiegend ihre eigenen Interessen vertrete. Mehr Vertrauen wurde Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie den Obersten Sowjets der UdSSR und der Unionsrepubliken entgegengebracht. Das geringste Vertrauen genießen die Sicherheitsorgane, der Komsomol und die offiziellen Gewerkschaften. Ein natürliches Ergebnis dieser Situation ist der massenhafte Austritt aus den traditionellen Organisationen und die umfangreiche Gründung alternativer Gruppierungen.
Der Kampf zwischen den demokratischen und konservativen Kräften verläuft mit wechselndem Erfolg: Bald gewinnen die einen, bald die anderen die Oberhand. Der allgemeine Trend zielt jedoch auf eine allmähliche Demokratisierung der Gesellschaft, darunter auch der Partei. Bei den letzten Wahlen zu den Sowjets auf der Republik-und der lokalen Ebene im März 1990 hat der demokratische Block einen entscheidenden Sieg über die konservativen Kräfte errungen. Das stimmt optimistisch.
Die Demokratisierung der politischen Machtausübung schafft die notwendigen Voraussetzungen für die Lösung der Hauptaufgabe bei der Umgestaltung der Wirtschaft: „Entstaatlichung“ des Eigentums und Bildung eines freien Marktes. Bis in die letzte Zeit entwickelte sich die Perestroika nur schleppend, da sie den Widerstand des Partei-und Staatsapparats, der Mitarbeiter in Ministerien und anderen Zentralorganen, der Vertreter des Militär-Industrie-Komplexes, der Leiter von Großbetrieben und eines erheblichen Teils der Arbeiter überwinden mußte, die im bisherigen System bestimmte Vorrechte besaßen. In den Medien verbreiteten sie, das „Volk“ würde das „sozialistische“ Eigentum an Grund und Boden, an Werken und Fabriken niemals an Republiken, Regionen, Belegschaften oder gar an Privatpersonen übertragen. Die neuen Gesetze über das Eigentum sowie über Grund und Boden waren in den Kommissionen und Ausschüssen des Obersten Sowjets heftig umstritten. Die Studien des Unionszentrums für Meinungsforschung haben jedoch Ende 1989 ausgewiesen, daß die Öffentlichkeit auf die Reprivatisierung des gesellschaftlichen Eigentums viel besser vorbereitet ist als dies vermutet wurde. Für eine Übereignung der Betriebe an die Belegschaften haben sich 75 Prozent der Befragten, an Privatpersonen ein Drittel ausgesprochen. Auch die vom Standpunkt des Marxismus besonders heikle Frage, ob es Lohn-arbeiter in Privatbetrieben geben dürfe, haben 51 Prozent der Befragten positiv und ein Drittel negativ beantwortet. Im Hinblick auf die Eigentumsformen der Agrarwirtschaft haben sich lediglich knapp ein Fünftel für Kolchosen oder Sowchosen, aber mehr als 75 Prozent für kleine Kooperativen, Pachtbetriebe und Farmen ausgesprochen. Knapp 90 Prozent der befragten Stadt-und Land-bewohner waren der Ansicht, man solle den Boden den Bauern übergeben, wobei er vererbt (73 Prozent) und verkauft (36 Prozent) werden dürfe. Das alles beweist, daß die Bevölkerung weitgehend die radikale Wirtschaftsreform unterstützt. Der Oberste Sowjet der UdSSR hat die Gesetze über das Eigentum und über den Grund und Boden in jenen Lesarten angenommen, für die sich die Mehrheit der Bevölkerung ausgesprochen hatte. Der Kampf wird sich jetzt vor allem um die Durchführung dieser Gesetze entfalten, die sicher mit Schwierigkeiten verbunden sein wird.
Was haben wir unter diesen Bedingungen zu erwarten? Wie wird sich die Lage künftig entwickeln? Nach meiner Meinung sind drei Varianten — eine linksdemokratische, eine liberaldemokratische und eine rechtsreaktionäre — möglich. Als Scheidelinien dienen dabei die Einstellungen zum Privateigentum und zur Marktwirtschaft, zur Beseitigung des Machtmonopols der KPdSU, zur staatlichen Souveränität der Republiken und zur Aufhebung unberechtigter Privilegien.
Das Programm der linksdemokratischen Kräfte sieht die Beseitigung jeder Monopolstellung durch eine konsequente Reprivatisierung des gesellschaftlichen Eigentums, vielfältige Eigentumsformen, die Bildung eines freien Waren-, Arbeits-und Kapitalmarkts, die Aufhebung der Kadernomenklatur, ein Mehrparteiensystem und einen neuen Unionsvertrag vor. Die rechtsreaktionären Kräfte fordern, die traditionelle ökonomische und politische Monopolstellung zu erhalten und zu festigen. Der Staat soll über den ganzen gesellschaftlichen Reichtum des Landes, darunter auch über das Produktionspotential verfügen, die KPdSU unbeschränkte politische Macht besitzen, die Sowjets und die zentralen Leitungsorgane in den Republiken anweisen; die Position der „Nomenklatura“ soll erhalten bleiben. Die liberaldemokratischen Kräfte plazieren sich in der Regel zwischen den Linksdemokraten und den Rechtsreaktionären, unterstützen jedoch häufiger die letztgenannte Richtung.
Die weitere Entwicklung wird vor allem vom Volk selbst abhängen. Wenn seine politische Aktivität zunimmt und sich die fortschrittlichen Arbeiter mit den Intellektuellen verbünden, wird schließlich das ganze Land einen Weg der effektiven gesellschaftlichen Entwicklung einschlagen und überholte politische, ökonomische und gesellschaftliche Strukturen auflösen. Wenn die politische Aktivität der Massen angesichts der Mißerfolge der Perestroika abflaut, wird sich dagegen der Apparat konsolidieren und die soziale Revolution auf einen halbherzigen Kompromiß reduzieren, womit praktisch nichts verändert würde. Viele Bürger sind sich dieser Gefahr bewußt. Etwa 60 Prozent befürchten, daß die Perestroika erfolglos auslaufen könnte.
Leider muß man auch die schlimmste Variante der künftigen Entwicklung berücksichtigen: Wiedergeburt des Stalinismus, Mißachtung des Menschen, „eiserne“ Disziplin und politische Massenrepressalien. Unverhohlen treten nach unterschiedlichen Angaben fünf, acht oder zehn Prozent der Befragten für eine solche Lösung ein. Die meisten blutigen Auseinandersetzungen in verschiedenen Landesteilen sind vermutlich auf Aktionen dieser Gruppierung zurückzuführen.
III. Soziale Probleme und Sozialpolitik
In der Perestroika muß sich die Rolle der staatlichen Sozialpolitik wesentlich verändern. Im administrativen Befehlssystem beruhte sie auf dem „Restprinzip“: Für die sozialen Bedürfnisse wurden nur die verbleibenden Ressourcen bewilligt. Nur durch eine weitgehende Unterstützung der Bevölkerung kann die Perestroika sozialpolitische Erfolge erreichen.
Die Sozialpolitik soll jetzt vor allem den Zukunftsglauben der Menschen stärken, eine positive soziale Einstellung festigen, Konflikte regeln und negative soziale Folgen der Reformen eliminieren.
Die vordringlichen sozialen Probleme, die unsere Gesellschaft aus der Vergangenheit geerbt hat, sind:
— das niedrige Lebensniveau der Bevölkerung: Etwa ein Drittel der sowjetischen Staatsbürger leben an oder unter der Armutsgrenze; die Wohnverhältnisse sind völlig unzureichend; das Sortiment an Lebensmitteln ist beschränkt, ihre Qualität unter ökologischen Gesichtspunkten ungenügend; vor den Geschäften stehen lange Schlangen; der Dienstleistungsbereich ist nur schwach entwickelt usw.; — eine hohe Umweltbelastung in den meisten Großstädten und zahlreichen Regionen des Landes: Wasser, Luft und Ackerflächen sind mit Schadstoffen belastet, Wälder sind geschädigt, die Tierwelt verarmt. Im Hinblick auf die Erkrankungshäufigkeit und die Sterblichkeitsrate liegt die Sowjetunion im internationalen Vergleich auf den hinteren Rangplätzen; — die Krise des Gesundheitswesens: Die medizinische Betreuung in Städten und Dörfern, Regionen und Republiken ist ungenügend; es besteht ein Mangel an Krankenhäusern, Polikliniken und Entbindungsheimen, medizinischen Geräten und Arzneimitteln; ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung ist gesundheitsgefährdet; — ein gravierendes Stadt-Land-Gefälle: Die Land-bewohner haben eine deutlich schlechtere soziale Infrastruktur, weniger hochwertigen Wohnraum, Geschäfte. Schulen, medizinische Einrichtungen, Kulturhäuser, Sportanlagen usw., eine schlechtere Konsumgüterversorgung, ungünstige Verkehrsbedingungen; — eine schwierige Lage für Altersrentner und Invaliden, insbesondere für jene, die pensioniert wurden, als die Löhne noch sehr niedrig waren, weil es keine automatische Anpassung der Renten an das gestiegene Mieten-und Preisniveau gibt.
Die Lösung all dieser Probleme erfordert immense Mittel, über die der Staat gegenwärtig nicht verfügt. Vielmehr übersteigen die Ausgaben des Staatshaushalts die Einnahmen derzeit um 100 Milliarden Rubel. Die angeführten sozialen Probleme werden inzwischen durch neue Probleme verstärkt. Die ökonomische Eigenständigkeit der Betriebe, die Entwicklung von Pachtbeziehungen und die individuelle Erwerbstätigkeit verteuern die Massenbedarfsartikel. Preisgünstige Waren verschwinden aus dem Angebot, die Schlangen werden noch länger, das Leben wird schwieriger. Trotz der Inflation bleiben die Einnahmen der meisten Sozialgruppen (Angestellte, Mitarbeiter des Sozialbereichs, Rentner, Studenten usw.) konstant, so daß sich ihr Lebensstandard reduziert. Es darf daher nicht verwundern, wenn 30 bis 60 Prozent der Bevölkerung eine Nahrungsmittelrationierung fordern, um wenigstens das bisherige Lebensniveau zu erhalten.
Die größten Einnahmen erzielen derzeit nicht ehrliche Werktätige (Facharbeiter. Ingenieure. Lehrer. Wissenschaftler), sondern vornehmlich Schwarzhändler. Darauf verweisen 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung. Zugleich betrachten die meisten Bürger solche Einkommen als „nicht erwirtschaftet“ und „unehrlich“. Der Mangel an gefragten Gütern führt zu spezifischen Handelsformen über die Betriebe; ihre Belieferung mit attraktiven Waren hängt nicht nur vom Stellenwert des Betriebes ab, sondern auch vom Geschick ihrer Versorgungsspezialisten, die entsprechende „Kontakte“ zur Warenbeschaffung knüpfen. Dieser Sachverhalt wird von vielen Bürgern als Ungerechtigkeit betrachtet. Nur drei Prozent der Befragten halten das Verteilungssystem der Konsumgüter für gerecht, 45 Prozent für wenig gerecht und 52 Prozent für ungerecht.
Ein weiteres Problem hängt mit der Freisetzung von Arbeitskräften aus dem Produktions-und Verwaltungsbereich zusammen, die in den letzten Jahren zugenommen hat. Dieser Prozeß ist eine Folge der neu entstehenden Marktbeziehungen, der technologischen Modernisierung der Produktion, der Umstrukturierung der Volkswirtschaft, der Auflösung unrentabler Betriebe und Produktionsstätten, der Reduzierung der Streitkräfte im Ausland und anderer Veränderungen. 1989 wurden dadurch etwa zwei Millionen Beschäftigte freigesetzt. Eine ähnliche Zahl wird auch in diesem Jahr erreicht werden. In der Volkswirtschaft besteht andererseits Arbeitskräftebedarf.
Arbeitsangebot und -nachfrage können jedoch nur ausgeglichen werden, wenn die Arbeitskräfte mobil sind. In der UdSSR wird diese Mobilität durch das System der zentralisierten Wohnungsverteilung und Anmeldepflicht stark behindert.
Dieses System läßt sich nur mühsam modernisieren.
Wenn diese Aufgabe nicht bald gelöst wird, entsteht unvermeidlich eine erhebliche Arbeitslosigkeit.
Die Bürger sind darüber sehr besorgt.
36 Prozent der Befragten vermuten, daß die Arbeitslosigkeit zunehmen wird, 52 Prozent verspüren eine Bedrohung für sich selbst und ihre Angehörigen.
Das ist ein destabilisierender psychologischer Faktor.
Nicht zu übersehen sind auch 500 000 ethnische Flüchtlinge aus den transkaukasischen und mittelasiatischen Republiken. Sie mußten ihre Wohnungen und Häuser verlassen und haben alles verloren:
Arbeit, Einrichtung und oft auch ihre Freunde.
Man sollte meinen, sie könnten auf Anteilnahme und Gastfreundschaft an ihrem neuen Zufluchtsort rechnen. Da es aber überall akut an Wohnraum und Versorgungsgütern mangelt, weigern sich viele Regionen, Flüchtlinge aufzunehmen. So brechen häufig Konflikte aus, wodurch sich das soziale Klima in der Gesellschaft noch mehr verschlechtert.
Ein gefährlicher Trend ist durch die Zunahme von Streiks gekennzeichnet. Ausgangspunkt sind oft berechtigte Forderungen, akute Sozialprobleme zu lö-sen; aber die Streiks selbst spielen eine destruktive Rolle, sie verstärken noch die ökonomische Zerrüttung. Unter den gegenwärtigen Bedingungen muß die Sozialpolitik vor allem auf zwei Schwerpunkte konzentriert werden: Einerseits braucht man staatliche Programme, die eine soziale Absicherung für notleidende Bevölkerungsgruppen (Rentner, Invaliden, Arbeitslose, alleinstehende Mütter usw.) garantieren. Andererseits müssen rechtliche Rahmenbedingungen und ökonomische Maßnahmen zur Lösung sozialer Probleme durch gesellschaftliche Eigeninitiative entwickelt werden.
Die finanziellen Mittel, die Republiken, Regionen, Städte und Betriebe für soziale Zwecke bereitstellen, dürfen nur minimal mit Steuern belastet werden. Außerdem müssen günstige Bedingungen für die Lösung sozialer Aufgaben durch gesellschaftliche Eigeninitiative geschaffen werden. Bei einer solchen Politik müßten die Menschen nicht mehr jahrelang auf staatliche Geschenke warten, sie könnten sich vielmehr erfolgreich bemühen, diese Probleme selbständig — im Rahmen von Betriebs-vereinigungen oder territorialen Gemeinschaften — zu lösen. Die neuen Formen der Wirtschaftsorganisationen, die ökonomische Eigeninitiative fördern, werden hierfür die notwendigen Voraussetzungen schaffen.
Eine solche neue Sozialpolitik ist erforderlich, um den merklich gesunkenen Glauben an die Perestroika zu festigen und jene Kräfte zu aktivieren und zu stärken, die bereit sind, die fortschrittliche, linksdemokratische Variante unserer Entwicklung zu unterstützen. Ich hoffe, daß unser Land auf diese Weise den Weg einer effektiven gesellschaftlichen Entwicklung beschreiten wird.