I. Voraussetzungen
Die Bolschewiki, die im Oktober 1917 in Rußland die Macht ergriffen hatten, betrachteten sich als Vollstrecker historischer Gesetze auf dem Weg zur kommunistischen Gesellschaft. Sie hielten es deshalb für unnötig, sich Mandat und Legitimation durch die Zustimmung der Bevölkerung in freien Wahlen zu verschaffen. Dieses selbst erteilte Mandat der Geschichte steht nach mehr als siebzig Jahren Sowjetherrschaft heute grundsätzlich zur Disposition.
Das traditionelle sowjetische Herrschafts-und Gesellschaftssystem beruhte vor allem auf drei Säulen: der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ des Marxismus-Leninismus; der Einparteiherrschaft; der zentralen Planwirtschaft. Diese tragenden Prinzipien kommunistischer Machtausübung sind in eine tiefe Krise geraten. Der Ausschließlichkeitsanspruch der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ hat zu keiner Zeit in der Sowjetunion wirklich durchgesetzt werden können, aber niemals haben Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander-geklafft wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Weil der Sowjetstaat niemals ein säkularer Staat hat sein wollen, für den die Sinngebung menschlicher Existenz, Religion und Kultur, Angelegenheiten des einzelnen oder gesellschaftlicher Gruppen sind, nicht aber Aufgabe des Staates, mußte der Verfall des Geltungsanspruchs des Marxismus-Leninismus schwerwiegende Auswirkungen auf die öffentliche Moral haben. Der propagierte Verzicht auf das kleine private Glück, auf Wohlstand und Selbständigkeit zugunsten eines zukünftigen großen Glücks für alle hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Typisch für das tatsächliche Verhalten der Menschen und das gesellschaftliche Klima sind vielmehr die entgegengesetzten Normen geworden: Rückzug ins Private, Materialismus, Überordnung des Eigeninteresses über das Gemeininteresse. Die Folgen waren sinkende Arbeitsmoral, Verantwortungsscheu, Entwendung öffentlichen Eigentums, Korruption und Vetternwirtschaft. Die Krise der öffentlichen Moral erreichte in den achtziger Jahren früher nicht gekannte Ausmaße.
Alle diese Krisensymptome betrafen eine Gesellschaft, die sich seit der Stalin-Zeit gründlich gewandelt hatte. Die totalitäre Diktatur hatte selbständige Regungen der Gesellschaft weitgehend unterdrückt, unabhängige Gruppen zerschlagen, Interessenartikulation verhindert, ein hierarchisches Befehlssystem aufgebaut und damit das Land in eine ständige Ausnahmesituation versetzt. Das Verhältnis zwischen Herrschaftssystem und Gesellschaft in den achtziger Jahren war durch ein dreifaches Dilemma gekennzeichnet. Erstens: Die Strukturen der Herrschaft — administratives Kommandosystem, Nichtvorhandensein einer demokratisch-parlamentarischen Legitimation — waren seit den dreißiger Jahren die gleichen geblieben. Zweitens: Die Führung war aber nicht mehr bereit und in der Lage, zur Durchsetzung der Diktatur uneingeschränkt Gewalt und Massenterror einzusetzen. Das äußere Feindbild konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Drittens: Die Gesellschaft war aus dem Trauma von Terror und Krieg erwacht. Eine Fülle von alten und neuen Interessengruppen, Schichten und Organisationen entstand und forderte Selbsttätigkeit und Mitsprache. Die Gesellschaft emanzipierte sich von der Diktatur, die aber nicht bereit war, die Gesellschaft freizugeben, sondern allenfalls pragmatisch einzelne Abstriche am Monopolanspruch auf die Macht zuließ. Es kam zu einer Legitimitätskrise der Einparteiherrschaft. Allerdings erreichte diese Krise vor 1985 noch nicht den Punkt, an dem in breiten Schichten der Gesellschaft die Machtfrage — d. h. die Forderung nach Abtreten der KPdSU von der Macht — gestellt wurde.
Die Gesellschaft in der Sowjetunion hatte in den achtziger Jahren einen erheblichen Grad an allgemeiner und beruflicher Bildung sowie beruflicher Differenzierung und verbunden damit ein wachsendes Niveau kultureller und materieller Ansprüche erreicht. Auch insofern unterschied sich die Gesellschaft grundsätzlich von jener, der die Bolschewiki einst ihre Revolution oktroyiert hatten. Die Bildungsexplosion hatte in den fünfziger Jahren endgültig das Analphabetentum beseitigt, außerdem war eine breite Schicht der technischen, ökonomischen und kulturellen Intelligenz herangewachsen. Während im Bildungswesen, im Prozeß der Urbanisierung und in bestimmten Wissenschaften die Modernisierung rasche Fortschritte machte, wurde die Gesellschaft insgesamt von der herrschenden Partei nach wie vor wie ein unmündiges Kind behandelt. Den Menschen wurde vorgeschrieben, welche Bücher sie lesen und welche Bilder sie sehen durften, die politischen Nachrichten unterlagen einer engstirnigen Zensur. Die Bürokratie entschied, ob jemand ins Ausland reisen durfte. Es gab keine ungehinderte Religionsausübung, und der KGB zerschlug jeden Versuch zur Gründung von Bürgerrechtsorganisationen oder gar von Gruppen mit politischen Zielen. Der Weltanschauungsstaat verwehrte seinen Bürgern die liberalen Rechte und politischen Freiheiten, die in den säkularen Staaten Europas und Amerikas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts selbstverständlich geworden waren.
Die Konflikte in der Gesellschaft wuchsen auch dadurch, daß sozialer Aufstieg seit den fünfziger Jahren zunehmend schwieriger wurde. Die Elite-schichten, allen voran die Nomenklatura — das Establishment in Politik, Wirtschaft und Militär — tendierten zunehmend zur Selbstrekrutierung; es entstand die „neue Klasse“ (Milovan Djilas). Stalin hatte rasche soziale Aufwärtsmobilität einerseits durch periodische Säuberungen möglich gemacht, bei denen Zehntausende von Führungspositionen „frei“ wurden, und andererseits durch die forcierte Industrialisierung und Bürokratisierung eine riesige Zahl von Aufstiegspositionen neu geschaffen. In der Nach-Stalin-Zeit wurde das Hochschulstudium eine entscheidende Voraussetzung für sozialen Aufstieg. Aber der Zugang zu den Hochschulen wurde schwieriger, weil ihr Ausbau nicht mit der wachsenden Zahl der Absolventen der Sekundarschulen Schritt hielt. Traten zu Beginn der fünfziger Jahre noch ungefähr 60 Prozent der Abiturienten in die Hochschulen ein, so waren es 1977 nur noch 15 Prozent (beide Zahlen ohne Berücksichtigung der Abend-und Fern-Hochschulen) Dennoch ist in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Fachbereichen und manchen Regionen ein Überangebot an Hochschulabsolventen entstanden, die nicht angemessen in den Arbeitsprozeß integriert werden können. Zu den frustrierten Abiturienten, die keinen Studienplatz erhielten, gesellen sich die frustrierten Hochschulabsolventen ohne den erhofften Arbeitsplatz. Ansprüche und Erwartungen sind gewachsen — gleichzeitig sanken die Realisierungsmöglichkeiten. Die Folgen sind Perspektivlosigkeit und ein zunehmender Pessimismus als Grundstimmung in der Gesellschaft.
Die Gorbatschow-Führung entschloß sich zu einer radikalen Reformpolitik, weil sie den Gesamtzustand des Landes überwiegend negativ beurteilte. Kein Bereich ist bei dieser Negativbilanz in der Publizistik so stark herausgestellt worden und hat wohl auch bei der subjektiven Motivierung der neuen Führung zum Handeln eine so große Rolle gespielt wie der kritische Zustand der Wirtschaft. Eindrucksvoller Beweis dafür war der Rückgang der Wachstumsraten. Während die jährliche Wachstumsrate des produzierten Nationaleinkommens 1956— 1960 9, 2 Prozent betragen hatte, fiel sie im Zeitraum von 1981 bis 1985 auf 3, 4 Prozent. Umgerechnet auf das Bruttosozialprodukt (den in westlichen Industrieländern verwendeten Indikator der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) bedeutet dies einen Wachstumsrückgang von etwa 7 Prozentjährlich in den fünfziger Jahren auf 1, 5 — 2 Prozent in der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Damit bezeichnet der 11. Fünfjahresplan (1981— 85) ein historisches Tief in der Geschichte der Sowjetunion Diese Daten sind zudem geschönt, weil die Mechanismen der Planerfüllungsstatistik systematisch zu Korrekturen nach oben motivieren. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die Realität, daß seit Ende der siebziger Jahre der Lebensstandard zum Null-und Minuswachstum tendiert, wobei regional und produktmäßig erhebliche Unterschiede bestehen. So wie in den beiden vorausgegangenen Jahrzehnten die Verbesserung des Lebensniveaus ein Stabilitätsfaktor gewesen war, trug jetzt der Rückgang des Lebensstandards erheblich zum Loyalitätsverlust gegenüber Partei und Regierung bei.
Der Rückgang des Wirtschaftswachstums erscheint deshalb so dramatisch, weil er strukturell bedingt ist und — ohne grundsätzliche ordnungspolitische Eingriffe — keine Trendwende zu erkennen ist. Die extensiven Wachstumsfaktoren — Zufuhr von Arbeitskräften, Kapital und billigen natürlichen Ressourcen —, die früher die Wirtschaft angekurbelt hatten, standen nicht mehr zur Verfügung. Die Umstellung auf intensive Wachstumsfaktoren -Steigerung der Arbeits-und Kapitalproduktivität — ist der sowjetischen Wirtschaft bis jetzt nicht gelungen. In den Bereichen Effizienz und Qualität vergrößerte sich vielmehr der Abstand zu den westlichen Industrienationen. Eine Verbesserung der Lage war auch deshalb nicht zu erwarten, weil die Arbeitsmotivation wegen fehlender materieller Anreize weiter rückläufige Tendenzen zeigte.
Alle hier beschriebenen Krisensymptome in Gesellschaft und Wirtschaft entwickelten sich vor dem Hintergrund einer partiellen Öffnung der Sowjetunion nach außen. Für immer mehr Menschen wurden der Westen und die aufstrebenden Länder Ostasiens zum Maßstab. Die abnehmende Leistungsfähigkeit des sowjetischen Systems im internationalen Vergleich bedeutete auch insofern eine schwere Belastung, als sie in scharfem Gegensatz zu dem lange erstrebten und am Beginn der siebziger Jahre erreichten militärischen und außenpolitisehen Weltmachtstatus der Sowjetunion stand. Ende der siebziger Jahre verschlechterte sich auch die internationale Lage der Sowjetunion. Die USA hatten nach der Überwindung der Traumata des verlorenen Vietnam-Krieges und der Watergate-Affäre zu neuem Selbstbewußtsein gefunden, während die Sowjetunion in Überschätzung ihrer Kräfte immer neue außenpolitische Engagements (in Afrika, Lateinamerika, Intervention in Afghanistan 1979) eingegangen war. Sie hatte durch eine anhaltende Phase der Hochrüstung in den siebziger Jahren der NATO einen Rüstungswettlauf aufgezwungen, der die Staaten des Warschauer Pakts technologisch und finanziell zu überfordern drohte.
Während die Sowjetunion in die erste Phase der Entspannung in den sechziger Jahren aus einer Position der Stärke eintrat, mußte sie Mitte der achtziger Jahre aus einer Situation der Schwäche han-dein Gorbatschow hat wiederholt ausgesprochen. daß die Sowjetunion im Jahre 2000 keine Supermacht mehr sein wird, wenn sie nicht zu „radikalen Reformen“, ja zu einer „Revolution“ auf allen Gebieten die Kraft findet. So wirkten vielfältige innen-und außenpolitische Krisensymptome und Motive zusammen, um die Sowjetunion auf den Weg der Perestroika zu weisen.
II. Gorbatschow: Neue Orientierungen und alte Techniken der Macht
Das historische Verdienst Michail Gorbatschows besteht darin, die Krisensymptome erkannt und daraus die entsprechenden Konsequenzen gezogen zu haben. Er stellte sich und die neue Partei-und Staatsführung an die Spitze der Reformbewegung, um nicht von ihr überrollt zu werden. Gorbatschow hat zu Recht abgelehnt, die Perestroika mit dem Begriff „Revolution von oben“ zu bezeichnen, den Stalin zur Charakterisierung seiner Politik der dreißiger Jahre eingeführt hatte Er nahm vielmehr die weithin in der Sowjetunion verbreitete Über-zeugung auf, daß es so wie bisher nicht weitergehen konnte, daß die Stagnation der Breschnew-Jahrzehnte einen Problem-und Konfliktstau hatte wachsen lassen, der entschiedenes Handeln dringend erforderte. Mit dieser Überzeugung stand Gorbatschow in der Führungsspitze der KPdSU keineswegs allein.
Als Michail Gorbatschow am 11. März 1985 mit knapper Mehrheit vom Politbüro dem ZK als neuer Generalsekretär zur Wahl präsentiert wurde, hatte er eine typische Karriere als Parteifunktionär hinter sich, die erst seit 1978 mit der Berufung nach Moskau steil in die Höhe geführt hatte. Der am 2. März 1931 im Nordkaukasus geborene Russe Gorbatschow machte 1955 an der Moskauer Universität sein Abschlußexamen als Jurist und kehrte in seine Heimat zurück, wo er zunächst in der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol und dann in der Partei als hauptamtlicher Funktionär immer weiter nach oben stieg. 1970 wurde er Erster Parteisekretär der Region Stawropol. 1978 berief ihn Breschnew als ZK-Sekretär für Landwirtschaft nach Moskau. Im Jahr darauf wurde er zum Kandidaten und 1980 zum Vollmitglied des Politbüros kooptiert Gorbatschow ist der erste sowjetische Führer, dessen Karriere nicht mehr in die Stalin-Zeit zurückreicht und insofern nicht mit Blut befleckt ist.
Die Perestroika begann im Bereich des Wortes, der Glasnost. Seit 1986 — insbesondere nach dem XXVII. Parteitag der KPdSU (Februar/März 1986) — wurde zunehmend der Terminus Perestroika, d. h. Umbau, zur Bezeichnung des neuen politischen Kurses benutzt. Gorbatschow gebrauchte daneben Begriffe wie „radikale Reform“, „tiefgreifende Erneuerung“, „radikale Wende“ und sogar „Revolution“ zur Bezeichnung seiner Politik.
Dieser Wortradikalismus steht allerdings in einem deutlichen Mißverhältnis zum politischen Handeln, das eben nicht auf Revolution, d. h. die Ablösung des alten Systems durch eine neue Herrschafts-und Gesellschaftsordnung, sondern aufVerbesserungen und Erneuerungen am Ancien rgime gerichtet war. Gorbatschow hielt bis zum Februar 1990 an den Fundamenten des Sowjetsystems weitgehend fest, zu denen für ihn vor allem das Machtmonopol der Partei und die sozialistische Planwirtschaft gehörten. Beides sollte zwar aufgelockert werden, die Parteiherrschaft z. B. durch ein gewisses Maß an innerparteilicher Demokratie und die Planwirtschaft durch Einführung begrenzter Marktelemente, aber als Strukturprinzipien stand beides nicht zur Disposition.
Bei aller Entschlossenheit, an „sozialistischen“ und „leninistischen Idealen“ festzuhalten, war Gorbatschow doch bereit, bisher unantastbare Tabus in Frage zu stellen, um die Sowjetunion wieder in Schwung zu bringen. Man kann ihn deshalb als Revisionisten bezeichnen So stellte Gorbatschow fest: „Wir haben kein Universalrezept. . . Wir sind weit davon entfernt, unseren Weg für den einzig richtigen zu halten.“ Das „Monopol auf die Theorie“ müsse überwunden werden Solche revisionistischen Positionen hielten Gorbatschow jedoch nicht davon ab, sich als Retter des Sozialismus darzustellen, der Antwort auf alle Fragen „nicht außerhalb, sondern innerhalb des Sozialismus“ sucht. „Wir werden uns weiter auf einen besseren Sozialismus zu bewegen, und nicht von ihm weg.“
Als Gorbatschow im März 1985 die Führung des Landes übernahm, hatte er kein fertiges Programm oder gar einen festen Bauplan, wie eine Sowjetunion nach Abschluß einer Perestroika aussehen sollte. Diese Konzeptionslosigkeit ist ihm, insbesondere von den dogmatischen Bremsern in den eigenen Reihen, immer wieder zum Vorwurf gemacht worden. Tatsächlich gehört es jedoch zu Gorbatschows Verdiensten, daß er keine klaren Vorstellungen von den Strukturen eines zukünftigen Rußland hatte, weil damit der Weg für pragmatisches politisches Handeln geöffnet wurde, zu dem weder Chruschtschow noch Breschnew fähig waren. Gorbatschow hat sich in erheblichem Umfang als lernfähig erwiesen. Er hat viele zunächst getrof-fene Entscheidungen und Maßnahmen zurückgenommen, als sie ohne Erfolg blieben. Das hat ihn in die Lage versetzt, auf die von niemandem erwartete Dynamik der gesellschaftlichen Kräfte, die durch die vergleichsweise begrenzten Reformschritte der Führung ausgelöst worden ist, zu reagieren.
In seiner Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution am 2. November 1987 pries Gorbatschow noch die Kollektivierung der Landwirtschaft als einzigen Ausweg aus der damaligen Krise und als Großtat des sozialistischen Aufbaus. Im Sommer 1988 plädierte er für das Pachtsystem, das wahrscheinlich der erste Schritt zur Auflösung vieler Kolchosen und Sowchosen sein wird Im März 1989 sprach er davon, daß während der Kollektivierung „Millionen Bauern mit ihren Familien ihr Land, ihren Heimatboden verloren . . . und in den Lagern und in der Verbannung zugrunde gingen“ Fünf Jahre lang war Gorbatschow gegen alle Versuche zu Felde gezogen, am Machtmonopol der KPdSU zu rütteln — in der Neufassung des Parteiprogramms von 1986 war in alter Tradition sogar vom weiteren Wachsen der führenden Rolle der Partei die Rede —, um dann im Februar 1990 einem verblüfften ZK-Plenum den Verzicht auf die Führungsrolle der Partei vorzuschlagen.
Was als mangelnde Festigkeit und Sprunghaftigkeit erscheint, ist in Wirklichkeit die Fähigkeit zum Eingehen auf sich drastisch verändernde politische Handlungsbedingungen und politische Taktik der Machtsicherung. Während 1985 in der Führung und wohl auch in Teilen der Apparate weitgehend Einigkeit über die Notwendigkeit von Reformen bestand, haben sich in den Jahren danach in der Auseinandersetzung um konkrete Maßnahmen und die Qualität der Veränderungen deutliche Fronten formiert. Den dogmatischen Bremsern — mit Politbüro-Mitglied Jegor Ligatschow an der Spitze — traten die Liberalen und Radikalreformer — mit Andrej Sacharow als Integrationsfigur — gegenüber. Gorbatschow hat im Laufe der Jahre mehrfach die Fronten und die Koalitionspartner gewechselt, immer darum bemüht, sich eine zentristische Position zu erhalten. Das Risiko einer solchen Taktik besteht allerdings im Verlust an Glaubwürdigkeit und in der Gefahr, zwischen den Fronten aufgerieben zu werden.
Die fehlende Konzeption auf Seiten der Gorbatschow-Führung und die Taktik der wechselnden Fronten erklären, warum die Perestroika nicht geradlinig verlief und unterschiedliche Perioden aufweist. 1985 und 1986 wurde im wesentlichen mit traditionellen administrativen Mitteln versucht, die wirtschaftliche Talfahrt aufzuhalten. Neben die Umorganisation der schwerfälligen wirtschaftlichen Leitungsapparate traten Kampagnen zur Disziplinierung am Arbeitsplatz, gegen die Produktion von Ausschuß und die Anti-Alkohol-Kampagne. Erst seit 1987 wurde der Führung klar, daß eine Wiederbelebung der Wirtschaft ohne tiefgreifende Einschnitte in das System der Herrschaft nicht zu erreichen war. Vor allem die kritische Publizistik gewann seit 1987 an Schärfe und Kraft; sie sollte die Gesellschaft aus Passivität und Resignation reißen.
Mit der 19. Unionsparteikonferenz im Juni/Juli 1988 trat die Perestroika in eine neue Phase ein, die Reform des politischen Systems wurde forciert. Seit dieser Zeit erreichte auch Glasnost eine höhere Stufe, die z. B. durch die Publikation von Solschenyzins „Archipel Gulag“ im Jahr 1989 markiert war.
Die letzten Monate des Jahres 1989 bis Januar 1990 waren ein Rückschritt und eine Periode der Dogmatiker und Bremser. Gorbatschow solidarisierte sich — wohl auch unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der kommunistischen Parteien in Ost-mitteleuropa — in wesentlichen Punkten mit den Konservativen in der KPdSU, um sich dann während des ZK-Plenums im Februar 1990 scheinbar den radikalen Reformern zu nähern und den Verzicht auf das Machtmonopol der KPdSU vorzuschlagen. Es gehört durchaus zu den traditionellen Techniken der Macht, daß sich ein neuer Führer, insbesondere während des Ausbaus seiner persönlichen Machtstellung, mal auf die eine, mal auf die andere Gruppierung stützt und sich selbst das Image des gemäßigten Zentristen gibt. Auch in einem anderen Bereich hat Gorbatschow alte, im sowjetischen Herrschaftssystem erprobte Machtmittel besonders intensiv eingesetzt: in der Personalpolitik. Kein sowjetischer Führer seit Stalin hat in so kurzer Zeit so viele Funktionäre auf allen Ebenen entlassen und so viele Positionen mit neuen Leuten besetzt. Dabei sind sicherlich nicht alle neuen Amtsinhaber lupenreine Gefolgsleute Gorbatschows, aber er hat sich doch in der Nomenklatura eine beträchtliche Klientel geschaffen, die im Prinzip auf dem Standpunkt steht, daß es zu Gorbatschow keine Alternative gibt.
Seit 1987 wächst die Zahl der zum wiederholten Mal neu besetzten Nomenklatura-Posten und damit die allgemeine Verunsicherung der Kader. Dies bedeutet eine Belastung für die Loyalität gegenüber der Gorbatschow-Führung. Außerdem ist es Gorbatschow trotz umfangreicher Personalrevirements in den Spitzen und an der Basis der Nomenklatura nicht gelungen, sich eine sichere Mehrheit im ZK aufzubauen. Der Grund ist vor allem das Parteistatut, das die Bestellung neuer Mitglieder und Kandidaten des ZK dem Parteitag vorbehält. So blieb Gorbatschow zunächst auf das vom XXVII. Parteitag (Februar/März 1986) gewählte ZK angewiesen, obwohl viele seiner Angehörigen danach jene Funktionen verloren, die ihnen zuvor die Mitgliedschaft im ZK eingebracht hatte. Zwar gelang es Gorbatschow, auf dem ZK-Plenum im April 1989 110 „tote Seelen“ im ZK und in der Zentralen Revisionskommission zum Rücktritt zu nötigen, aber er konnte seine Klientel nicht an ihrer Stelle in diese Gremien aufnehmen lassen. Einen Versuch Gor batschows zur personellen Umgestaltung des ZK durch die 19. Unionsparteikonferenz (Juni/Juli 1988) hatte das konservative Parteiestablishment verhindert.
Parallel zur personellen Neugestaltung der Nomenklatura konnte Gorbatschow in erstaunlich kurzer Zeit seine persönliche Machtstellung institutionell ausbauen. Seit seiner Wahl zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet mit deutlich erweiterten Kompetenzen im Mai 1989 verfügte er über eine breitere institutioneile Machtbasis als seine Vorgänger Breschnew, Andropow und Tschernenko. Schon am 1. Oktober 1988 hatte er überraschend und ohne öffentliche Diskussion die Funktion des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet (in seiner alten Form) übernommen. Seit seiner Wahl zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet durch den Kongreß der Volksdeputierten im Mai 1989 vereinigte Gorbatschow folgende Ämter in seiner Person: Generalsekretär der KPdSU, Vorsitzender des Verteidigungsrates und damit Oberkommandierender der Streitkräfte, Vorsitzender des Obersten Sowjet und damit zugleich Parlamentspräsident des Kongresses der Yolksdeputierten und des Obersten Sowjet. Diese Ämterkumulation verband also die entscheidenden Schlüsselstellungen der Exekutive und der Legislative miteinander. Gleichzeitig mit der Erweiterung der institutionellen Machtbasis sank die Autorität Gorbatschows in der Bevölkerung. Nur 43 Prozent bezeichneten Gorbatschow bei einer Repräsentativumfrage im August 1989 als den „bedeutendsten Politiker des Landes“
Das sinkende Ansehen der Perestroika und der galoppierende Machtverfall der Partei waren die wesentlichen Ursachen für die Einführung eines Präsidialsystems durch den Kongreß der Volksdeputierten auf seiner außerordentlichen Sitzung vom 12. bis 15. März 1990. Gorbatschow wurde am 15. März als einziger Kandidat mit der verhältnismäßig knappen Mehrheit von 59 Prozent der Stimmen der Mitglieder des Volkskongresses in das Präsidentenamt gewählt, das mit noch weitergehender Machtfülle ausgestattet ist als das Amt des Vorsitzenden des Obersten Sowjet. Das Vetorecht gegenüber Gesetzen des Obersten Sowjet und das alleinige Recht zur Verhängung des Kriegszustands (der Ausnahmezustand ist von der Zustimmung des Präsidiums des Obersten Sowjet abhängig) sowie die Möglichkeit, mit Präsidialdekreten (ukazy) zu regieren, erinnern an die Machtfülle eines Autokraten.
III. Die Krise des politischen Systems
Seit 1989 läßt sich deutlich erkennen: Das sowjetische politische System ist nicht mehr funktionsfähig. Die KPdSU befindet sich in einer Legitimationskrise, die ihre Existenz bedroht. Die Partei hat sichtbar ihre „führende Rolle“ eingebüßt, noch bevor das ZK-Plenum im Februar 1990 daraus die Konsequenz zog. Die KPdSU ist nicht mehr regierungsfähig. Der Zerfall der regierenden kommunistischen Parteien, der zuerst in Polen 1989 offensichtlich wurde und sich dann auf alle Länder Ostmitteleuropas ausbreitete, griff zunächst auf die baltischen und transkaukasischen Republiken der Sowjetunion über.
Der Film läuft sozusagen rückwärts. Wie sich einmal die Revolution vom russischen Machtzentrum auf das ganze Russische Reich und nach 1945 auf Ostmitteleuropa ausgebreitet hat, so brach das revolutionäre Regime zuerst an den Rändern zusammen und der Zusammenbruch zog immer engere Kreise um das Zentrum.
Wie konnte es dazu kommen? Latent war die Legitimationskrise der Partei bereits seit den sechziger Jahren, aber erst die Flutwelle der Perestroika hat sie akut werden lassen. Die KPdSU war seit ihren leninistischen Ursprüngen eine politische Organisation zur Machteroberung und Machterhaltung — und zwar durch nichtdemokratische Mittel. Aber sie verband diesen Machtanspruch zu Beginn unseres Jahrhunderts mit einer Zukunftsvision, die sie jedenfalls einem Teil der Intelligenz und der Arbeiterschaft vermitteln konnte. Außerdem fand die bolschewistische Revolution in einer internationa-len Umwelt statt, in der die parlamentarische Demokratie die Ausnahme zu sein und der Diktatur die Zukunft zu gehören schien. In beiden Fällen haben sich heute die Handlungsbedingungen gegen die Kommunistische Partei gewendet. Die Demokratie hat im letzten Drittel des Jahrhunderts in vielen Teilen der Welt eine erstaunliche und überraschende Kraft entfaltet. Zumal in Europa geht die Zahl der Diktaturen zurück.
Besonders der Zusammenbruch der Einparteiherrschaft in den Staaten Ostmitteleuropas 1989 hat den Druck auf die KPdSU erheblich verstärkt. Zwei Gesichtspunkte erscheinen dabei von besonderer Bedeutung. Erstens: Der Verzicht der kommunistischen Parteien in Ostmitteleuropa auf ihr Macht-monopol hat ihre Machtstellung nicht stabilisieren können, sondern zum weiteren Verfall der Herrschaft geführt. Zweitens: Auch Reformkommunisten wie in Ungarn, der DDR oder der Tschechoslowakei waren nicht in der Lage, die Macht in ihren Händen zu behalten. Beides sind Indizien dafür, daß das politische System der Einparteiherrschaft nicht mehr reformfähig ist. Die Gesellschaft akzeptiert nicht mehr die Version der Reformkommunisten, nach der einzelne Parteiführer, der Stalinismus und überhaupt die „Deformationen des Sozialismus“ verantwortlich seien für den blutigen Terror der Vergangenheit und die wirtschaftliche Misere der Gegenwart. Die Verantwortung wird dem politischen System der Einparteiherrschaft als solchem angelastet.
Die Legitimationskrise der KPdSU ist — so paradox das klingen mag — Folge einer extremen und gut funktionierenden Machtsicherung. Die Partei hat dazu einzigartige Instrumente entwickelt, die in dieser Form eine Erfindung der Partei Leninschen Typs waren. Sie ist in alle Organisationen des Staates, der Wirtschaft, der Armee, der Bildung eingedrungen, bildet dort mit ihren Parteikomitees den „führenden Kern“ und hat das öffentliche Leben und die Wirtschaft zu „Transmissionsriemen“ des Parteiwillens degradiert.
Zentrales Lenkungsinstrument ist die Personalpolitik in der Form der Nomenklatura. Hunderttausende von Schlüsselstellungen in allen Bereichen werden durch die Partei und mit Parteimitgliedern besetzt. Funktionsstellungen werden also nicht aufgrund von Kompetenz und in offenem Wettbewerb vergeben. Die KPdSU mit ihren gegenwärtig etwa 19 Millionen Mitgliedern ist in erheblichem Umfang eine Organisation von Karrieristen, die weltanschauliche und politische Konformität simulieren, soweit und solange das dem Fortkommen nützt. Über 90 Prozent der Bevölkerung sind vom Aufstieg in Führungspositionen weitgehend ausgeschlossen. Keine moderne Gesellschaft kann sich einen solchen Aderlaß bei der Rekrutierung ihrer Eliten ungestraft leisten, durch den Fähigkeiten, Talente und Ambitionen in großem Stil mißachtet werden und ungenutzt bleiben, während Opportunismus und Konformismus belohnt werden.
Ohne daß sich am Nomenklatura-System im Prinzip etwas geändert hat, wurde in den vergangenen Jahren auch von Seiten der Parteiführung in einzelnen Fällen die Übertragung von Führungspositionen an Nichtparteimitglieder gefördert und propagandistisch herausgestellt. Seit 1989 gibt es zum ersten Mal im Ministerrat der UdSSR ein Mitglied ohne Parteibuch: den Vorsitzenden des Staatskomitees für Naturschutz, N. Woronzow. Auf der anderen Seite war der Parteiapparat ängstlich bemüht, in Schlüsselstellungen nach wie vor möglichst viele Parteimitglieder hineinzubringen — in der Hoffnung. so am besten Machtpositionen bewahren zu können. 88 Prozent der im März 1989 gewählten Abgeordneten des Kongresses der Volksdeputierten sind Mitglieder der KPdSU — im Obersten Sowjet von 1984 hatten „nur“ 71 Prozent Parteimitglieder gesessen
Der eiserne Zugriff des Parteiapparates auf die Betriebe, Verwaltungen und Bildungseinrichtungen erweist sich als kontraproduktiv und läßt sich auch nicht mehr durch den Hinweis auf die Tätigkeit angeblicher „Volksfeinde“ rechtfertigen. Allerdings wird gerade deswegen verständlich, warum der Parteiapparat mit großem Eifer überall „Extremisten“ und „Feinde der Perestroika“ namhaft macht — von den Balten und Aserbaidschanern bis zu den informellen Gruppen und der interregionalen Abgeordnetengruppe. So kann „bewiesen“ werden, daß die Partei die einzige Klammer ist, die das Land zusammenhält und vor der Anarchie bewahrt. Alle Anstrengungen des Parteiapparats, seine Unersetzlichkeit zu demonstrieren, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich am Ende der achtziger Jahre zum ersten Mal seit 1917 die Frage der Macht stellt. In immer größer werdenden Gruppen der Gesellschaft und in immer mehr Regionen des Landes wird die Einparteiherrschaft nicht mehr akzeptiert. Die Gorbatschow-Führung hat aus dieser Situation Konsequenzen gezogen: Durch die seit der 19. Unionsparteikonferenz (Juni/Juli 1988) eingeleiteten Reformen am politischen System werden die Kompetenzen der Sowjets erweitert und die Machtbefugnisse des Parteiapparats eingeschränkt. Diese teilweise Verlagerung der Macht auf die gewählten Sowjets steht im Dienst der Machterhaltung der Partei. Die Macht soll auf ein breiteres Fundament gestellt werden. Die Partei soll sich sozusagen mit und in den Sowjets bewähren. Deshalb beschloß die 19. Unionsparteikonferenz, daß die Ersten Parteisekretäre von der lokalen Ebene bis zum Zentralkomitee „in der Regel“ zugleich Vorsitzende des Sowjets auf der entsprechenden Ebene sein sollten. Zwar verwirklichte Gorbatschow im September 1988 für seine Person diese Ämterkombination, eine „Regel“ ist daraus jedoch nicht geworden, und nach den Wahlen im März 1989 wurde dieser Beschluß der 19. Unionsparteikonferenz fallengelassen Zu viele Parteisekretäre waren bei den Wahlen durchgefallen oder mußten das für die Zukunft befürchten.
Die 19. Unionsparteikonferenz beschloß erste Schritte zur Einführung des Parlamentarismus, die mit der Verfassungsreform und dem Wahlgesetz vom 1. Dezember 1988 in Kraft traten. Dahinter stand offenbar das Kalkül, es könne und müsse gelingen, mit der teilweisen Übernahme parlamentarischer Instrumente eine neue Vertrauensbasis für die Einparteiherrschaft in der Gesellschaft zu schaffen und sie auf diese Weise für die Zukunft zu sichern. Die Gorbatschow-Führung war sich über das Risiko dieses Schrittes nicht im klaren: Ein wenig Parlamentarismus oder Schein-Parlamentarismus löst die Forderung nach umfassendem Parlamentarismus. d. h. nach einem Mehrparteiensystem. aus — mit unübersehbaren Folgen für die künftige Rolle der KPdSU.
Die Verfassungsreform vom 1. Dezember 1988 schuf ein neues oberstes legislatives Organ, den Kongreß der Volksdeputierten mit 2 250 Abgeordneten. Der Kongreß der Volksdeputierten wählt den — wie bisher aus zwei Kammern (dem Unionssowjet und dem Nationalitätensowjet) bestehenden — Obersten Sowjet, in dem 542 Berufsparlamentarier sitzen. Der Oberste Sowjet — das eigentliche gesetzgebende Organ — tritt zu zwei Sitzungsperioden im Jahr jeweils für mehrere Monate zusammen. 20 Prozent seiner Mitglieder sollen jährlich aus dem Bestand der Abgeordneten des Volkskongresses neu gewählt werden. Die Legislaturperiode beträgt fünf Jahre, die Wiederwahl der Abgeordneten und auch des Vorsitzenden des Obersten Sowjet ist nur einmal möglich. Zu den Kompetenzen des Volkskongresses gehören die Wahl des Vorsitzenden des Obersten Sowjet, Verfassungsänderungen und die nicht näher präzisierte Festlegung von Hauptrichtlinien der Politik. Ein Drittel der Abge-ordneten des Volkskongresses wurden nicht in allgemeinen Wahlen bestimmt, sondern von der KPdSU, den Gewerkschaften und anderen Organisationen entsandt.
Dieser eingeschränkte Parlamentarismus wurde zusätzlich beeinträchtigt, weil es zum Zeitpunkt der ersten Wahlen im März 1989 kein Mehrparteiensystem gab. (Es wurde erst an der Jahreswende 1989/90 zunächst nur in den drei baltischen Republiken legalisiert.) Gerade weil sich im März 1989 nicht verschiedene Parteien zur Wahl stellen konnten, kam der Wahlmöglichkeit unter mehreren Kandidaten erhöhte Bedeutung zu. Das Wahlgesetz schreibt allerdings die Aufstellung mehrerer Kandidaten für ein Mandat nicht zwingend vor; so kandidierte in einem Viertel der Wahlkreise im März 1989 nur eine Person. Weitere Manipulationsmöglichkeiten hatte sich der Parteiapparat über die Wahlkreisversammlungen offengehalten, die nach dem Wahlgesetz die Aufgabe haben, bereits nominierte Kandidaten zu registrieren. Nur 38 Prozent der nominierten Kandidaten (etwa 2 900 für die 1 500 territorialen und national-territorialen Wahlkreise) passierten dieses Registrierungsverfahren.
Trotz der vielfältigen Kautelen gegen Machtverlust fielen bei den ersten Wahlen am 26. März 1989 Parteifunktionäre reihenweise durch. Über 50 Erste Sekretäre von Gebiets-, Regions-und Stadtparteikomitees wurden nicht gewählt. In manchen Städten wie in Leningrad und in Kemerowo im Kusnezk-Becken kam es geradezu zu einem Kahlschlag unter den Führungskadern Dennoch behielt die „schweigende Mehrheit“, d. h. die große Zahl der von den Apparaten nominierten und gesteuerten Abgeordneten, sowohl im Volkskongreß als auch im Obersten Sowjet, klar die Oberhand. Gorbatschow konnte sie weitgehend in seinem Sinn manipulieren. Im Juli 1989 schlossen sich demokratisch gesinnte Abgeordnete des Volkskongresses, denen die politischen Schritte Gorbatschows zu halbherzig und unentschlossen erschienen, zur „interregionalen Abgeordnetengruppe“ zusammen. Zu ihr gehörten Ende 1989 360 Abgeordnete unter Führung von Andrej Sacharow (t 14. Dez. 1989), Boris Jelzin, Gawriil Popow, Jurij Afanasjew und W. Palm Wie hart der Boden für die Entwicklung eines wirklichen Parlamentarismus ist, wird auch daraus deutlich, daß diese Gruppe zwar zunehmend antileninistische Programmpunkte formulierte, sich aber nicht dazu entschließen konnte, sich als „Opposition“ zu bezeichnen Dies, obwohl Gorbatschows populärster Widersacher, der Moskauer Abgeordnete Jelzin, die Grundlage des sowjetischen Systems in Frage stellte: „Es gab in unserem Leben vielerlei Unglück, aber das Haupt-Unglück war trotzdem das Machtmonopol der Partei.“
Die erste Sitzungsperiode des Kongresses der Volksdeputierten (25. Mai— 9. Juni 1989) wurde von der „redenden Minderheit“ bestimmt, die in zuvor unvorstellbarer Offenheit ein weitgehend schonungsloses Bild von der sowjetischen Realität vor der erregten sowjetischen Gesellschaft ausbreitete, die die Debatten — von wenigen Ausnahmen abgesehen — live am Fernsehschirm verfolgte Die Offenlegung der Armut, der Versorgungsmängel, der Verfilzung von Kriminalität und Parteiapparat oder die Verurteilung des Afghanistan-Krieges haben zur Politisierung der Öffentlichkeit beigetragen, andererseits jedoch auch hochgespannte Erwartungen auf eine schnelle Verbesserung aller Verhältnisse geweckt, die sehr bald enttäuscht wurden. Sacharow brachte am 9. Juni 1989, dem letzten Sitzungstag, ein „Dekret über die Macht“ ein, das die Abschaffung der „führenden Rolle“ der KPdSU (Art. 6 der Verfassung von 1977), politischen Pluralismus und die Einschränkung und Kontrolle der nahezu unbegrenzten Macht Gorbatschows forderte. Eine Debatte darüber wurde jedoch ebensowenig zugelassen wie über den Vorschlag des Abgeordneten Jurij Karjakin, Lenin aus dem Mausoleum zu entfernen und in Petersburg (sic) zu beerdigen
Verglichen mit dem Volkskongreß und seinen über 2 000 Abgeordneten erwies sich der Oberste Sowjet als Berufsparlament mit 542 Abgeordneten und zahlreichen ständig arbeitenden Kommissionen als schwieriger durch die Führung lenkbar. Die erstmals in der Sowjetunion vorgeschriebene Bestätigung aller Regierungsmitglieder durch den Obersten Sowjet führte während der ersten Sitzungsperiode (7. Juni— 4. August 1989) entgegen dem Willen Gorbatschows zu langwierigen Personaldebatten und zur Ablehnung einiger von Ministerpräsident Nikolaj Ryschkow vorgeschlagener Kandidaten. In der Herbst-Sitzungsperiode (25. September— 28. November 1989) erlitt Gorbatschow erstmals Abstimmungsniederlagen. So votierte der Oberste Sowjet entgegen dem ausgesprochenen Willen Gorbatschows dafür, in Zukunft nicht mehr ein Drittel der Abgeordneten des Volkskongresses durch die KPdSU und andere „gesellschaftliche“ Organisationen bestimmen zu lassen. Gorbatschow hatte diese Drittelvertretung für die KPdSU und von ihr abhängige Organisationen auf die Sowjets aller Ebenen bis hinunter zu den lokalen Sowjets ausweiten wollen. Ebenso verweigerte der Oberste Sowjet seine Zustimmung zu einem von Gorbatschow beantragten allgemeinen Streikverbot, das daraufhin eingeschränkt wurde
Im Kongreß der Volksdeputierten und im Obersten Sowjet haben sich drei politische Gruppierungen herausgebildet, die allerdings weder personell noch in der politischen Programmatik strikt voneinander abzugrenzen sind. Sie spiegeln aber politische Strömungen in der Gesellschaft wider, die auch in der Publizistik deutlichen Ausdruck finden. Eine große Gruppe von Abgeordneten — wahrscheinlich die größte — bilden die Vertreter der Apparate, vorab des Parteiapparats. Viele von ihnen waren in den ersten Jahren nach 1985 für die Perestroika eingetreten, weil sie gewisse Reformen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des politischen Systems für unausweichlich hielten. Als sich jedoch herausstellte, daß es mit kosmetischen Reparaturen am Gebäude des „entwickelten Sozialismus“ nicht getan sein würde, daß vorsichtige Reformschritte einen immer größeren Bedarf nach immer weitergehenderen Veränderungen auslösten und daß vor allem die Perestroika von oben eine bedrohliche Dynamik von unten in Gang brachte, da wurden die Apparatschiki zu entschiedenen Bremsern. Sie sahen jetzt den Sozialismus an sich bedroht, diagnostizierten den beginnenden Zerfall der Partei und des Imperiums und warnten vor dem heraufziehenden Kapitalismus und der Anarchie. Zur Leitfigur der konservativen Bremser wurde Politbüromitglied Jegor Ligatschow.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehen die Demokraten oder Radikalreformer, organisatorisch vor allem von der interregionalen Abgeordnetengruppe repräsentiert. Sie stimmen mit den konservativen Vertretern des Apparats in der Diagnose der gegenwärtigen Situation vielfach überein, bewerten sie jedoch radikal anders. Die Demokraten halten das Machtmonopol der Partei, die Herrschaft der Apparate und die zentrale Planwirtschaft für verhängnisvoll und überholt. Sie fordern ein Mehrparteiensystem. Abschaffung der Nomenklatura.den Übergang zur Marktwirtschaft und die Auflösung des Imperiums — jedenfalls in seiner heutigen Gestalt. Die radikalen Reformer haben sich im Laufe des Jahres 1989 schrittweise, aber grundsätzlich von der leninistischen Tradition losgesagt. Sie verlangen nicht nur die Demokratisierung innerhalb der Partei, d. h. die Abschaffung des demokratischen Zentralismus, sondern die Demokratie. Damit treten die Radikalreformer nicht mehr für einen „Umbau“ (Perestroika) des alten Systems ein, sondern für seine Abschaffung.
Gorbatschow und seine Führungsmannschaft haben versucht, eine zentristische Position zwischen diesen beiden Flügeln aufzubauen und zu behaupten. Je weiter die politischen Ziele jedoch auseinandertraten, um so schwieriger wurde dieser Balanceakt. Zur „Leninschen Konzeption des Sozialismus zurückzukehren“, nachdem der reale Sozialismus stalinistischen und neostalinistischen Typs restlos diskreditiert war , erwies sich je länger um so mehr als eine Fata Morgana. Deshalb suchte die Gorbatschow-Fraktion seit Herbst 1989 zunehmend Anlehnung an die konservative Apparate-Fraktion, mit der zusammen sie im ZK, im Kongreß der Volksdeputierten und im Obersten Sowjet über eine klare Mehrheit verfügt.
In einer scharfen Rede warf Gorbatschow am 13. Oktober 1989 hinter verschlossenen Türen der liberalen sowjetischen Presse Panikmache, „die Einschüchterung der Menschen durch drohende Katastrophen: Hunger, Verschwörung und Umsturz“ vor. Die Führer der interregionalen Abgeordnetengruppe nannte er „eine Clique von Gangstern, die nach der Macht streben“ Auch die Verabschiedung der von Ministerpräsident Ryschkow vorgelegten Richtlinien für ein Wirtschaftsprogramm bis zur Mitte der neunziger Jahre durch den Kongreß der Volksdeputierten im Dezember 1989 beweist die Anlehnung der Gorbatschow-Führung an die alten Apparate. Es handelt sich tatsächlich um ein Programm zur Verhinderung radikaler Eingriffe in die Eigentumsordnung und die Planwirtschaft.
Auf dem ZK-Plenum im Februar 1990 vollzog Gorbatschow dann eine scheinbare Wende, indem er die seit 1988 von den Demokraten geäußerte Forderung nach Aufgabe des Machtmonopols der KPdSU — entgegen vielfachen früheren Positionsbestimmungen — nun selbst zum Programmpunkt erhob Damit rückt auch Gorbatschow in einem wesentlichen Punkt vom Leninschen Erbe ab. Allerdings schloß er sich mit diesem Schritt nicht den Radikalreformern an. Tatsächlich gab die KPdSU nicht etwas auf, was sie noch besessen hätte. Das Festhalten am Macht-und Organisationsmonopol der Partei, das in der politischen Realität des Landes spätestens seit Frühjahr 1989 nicht mehr bestand, war zu einem Hemmschuh geworden und bot den Gegnern nur noch eine willkommene Angriffsfläche. Gorbatschow verband diesen Schritt in Richtung auf politischen Pluralismus mit der Einrichtung eines Präsidialsystems, das der Volkskongreß im März 1990 auf einer außerordentlichen Sitzung förmlich durch entsprechende Verfassungsänderungen installierte.
Die Auflösung der Parteieinheit schreitet mit schnellen Schritten voran und ist in ein organisiertes Stadium getreten. 1989 entstanden an vielen Orten sogenannte Parteiklubs innerhalb der KPdSU, in denen sich die radikalen Reformer treffen und organisieren. Am 20. /21. Januar 1990 kamen Vertreter von Parteiklubs aus über 100 Städten in Moskau zusammen und verabschiedeten eine „Demokratische Plattform“, die eine Absage an die Grundprinzipien der Partei Lenins enthält. Der „undemokratische Charakter“ der Partei gehe auf den „Beginn des Jahrhunderts“ — also die Zeit vor 1917 — zurück. Jetzt gelte es, die KPdSU in mehrere politische Parteien oder zumindest Fraktionen aufzulösen. die sich im demokratischen und parlamentarischen Wettbewerb bewähren müßten. Die Unterwerfung und Okkupation des Staates durch die KPdSU wird scharf verurteilt und der eigene Wegin die Zukunft als „demokratischer Sozialismus“ be-zeichnet Eine wachsende Zahl von Parteiorganisationen oder Teile von ihnen führen ihre Mitgliedsbeiträge bereits nicht mehr der Kasse der KPdSU zu, sondern den Organen der „Demokratischen Plattform“. Auch die Zahl der demonstrativen Austritte aus der KPdSU wächst; noch rascher sinkt die Autorität des Jugendverbandes der Partei.
Allein von Oktober 1988 bis Oktober 1989 verließen vier Millionen den Komsomol, das waren etwa 11 Prozent der Mitglieder
Ein anderes Symptom für den Zerfall der Partei-herrschaft ist die seit 1989 zunehmende Zahl der Revolten an der Basis und in der Provinz. Allein von Anfang Januar bis Mitte Februar 1990 mußten 13 Erste Sekretäre von Gebietsparteikomitees auf Druck von unten ihre Posten räumen, meist wurden zahlreiche weitere Mitglieder der Parteiführung oder sogar das gesamte Büro des Gebietskomitees wie in Wolgograd in den Strudel der Rücktritte hin-eingerissen. Die Vorwürfe, die teilweise auch bei Straßendemonstrationen artikuliert wurden, lauteten Amtsmißbrauch. Korruption und Inanspruchnahme von Privilegien. In einer Zeit ständig sich verschlechternder Versorgung mit den Gütern des täglichen Bedarfs werden die Privilegien der Funktionäre zu einem immer größeren und gefährlicheren Stein des Anstoßes. Der Volkszorn kann in soziale Unruhen umschlagen und sich grundsätzlich gegen jeden Träger der Macht richten.
Während die Partei vielfältige Auflösungserscheinungen zeigt, entstehen neue politische Strukturen, die allerdings bisher zumeist noch wenig Festigkeit haben. Die Streikkomitees, die sich während des Bergarbeiterstreiks im Juli und August 1989 im Kusnezk-und im Donez-Becken bildeten, haben sich nach dem Ende der Streiks nicht aufgelöst und sich im Herbst 1989 in den „Bund der Werktätigen des Kusbass“ bzw.des Donbass umgewandelt. Diese Organisationen sind ähnlich wie die polnische „Solidarität“ teils Gewerkschaften, teils der Kern einer neuen politischen Partei. Sie verfügen in der Bevölkerung über wesentlich mehr Ansehen als die Sowjet-und KP-Organe; deshalb wird von den Apparatschiki die Gefahr einer „Doppelherrschaft“ beschworen, wie sie der bolschewistischen Machtergreifung im Oktober 1917 vorausging.
Neben der Arbeiterbewegung formieren sich andere politische Gruppierungen, die aus den 2 000 bis 3 000 sogenannten informellen Gruppen heraus-wachsen. Diese Gruppen unterhielten zu Beginn des Jahres 1990 mehr als 700 periodische Blätter allein in russischer Sprache, die außerhalb der Zensur im Samisdat erscheinen. Nach dem Vorbild der nichtrussischen Völker entstanden 1989 auch in Rußland zahlreiche Volksfronten, die demokratisch und national orientiert sind. Es gelang ihnen jedoch bisher nicht, eine feste überregionale Dach-Organisation zu bilden. Viele Volksfronten gründeten „Wählervereinigungen“, weil sie nur über diese organisatorische Hilfskonstruktion das Recht hatten, Kandidaten für die Wahlen zu den lokalen und republikanischen Sowjets (in der RSFSR, der Ukraine und Weißrußland im März 1990) zu nominieren. Die größte Organisation war zu Beginn des Jahres 1990 die „Moskauer Wählervereinigung“, die im Februar politische Wahlkampfveranstaltungen durchführte. Allein in Moskau nahmen am 4. und 25. Februarjeweils mehr als 200 000 Menschen an einer Demonstration teil.
Ein Teil der demokratischen Volksfronten. Klubs und Wählervereinigungen schloß sich im Januar 1990 zu einem losen Wahlbündnis „Demokratisches Rußland“ zusammen, das für ein Mehrparteiensystem und Marktwirtschaft eintritt. Ähnliche Zusammenschlüsse bildeten sich in der Ukraine und in Weißrußland unter dem Namen „Demokratischer Block“, angeführt von den jeweiligen Volksfronten. Neben diesen lockeren Wahlbündnissen formierten sich Organisationen, die bereits über eine größere Festigkeit verfügen. So wurde im Januar 1990 in Tallinn die „Sozialdemokratische Assoziation“ gegründet, zu der etwa 100 örtliche Gruppen im ganzen Land gehören. Schon seit Mai 1988 besteht der „Demokratische Bund“, der inzwischen in fast allen Großstädten der Sowjetunion vertreten ist. Der „Demokratische Bund“ verstand sich von Anfang an — im Unterschied zu den Volksfronten und anderen Gruppierungen — als oppositionelle politische Partei, die das bestehende politische System und jede Zusammenarbeit mit den Kommunisten grundsätzlich ablehnte. Der KGB hat auf vielfache Weise die Tätigkeit dieser Gruppe behindert
Das gesamte Spektrum von den Reformern innerhalb der KPdSU bis zum „Christlich-Demokratischen Bund“ und zum „Christlich-Patriotischen Bund“ bezeichnet sich als demokratische Bewegung und tritt für das Ende der Einparteiherrschaft ein. Aber auch die Reaktionäre haben sich formiert. Ihre Gruppierungen reichen von den Apparatschiki über russisch-nationale Gruppen bis zu faschistischen Organisationen. Die „Vereinigte Front der Werktätigen“ verfügt über einen gewissen Rückhalt in der Arbeiterschaft, deren Ängste vor Privateigentum, Spekulanten und Manchester-Kapitalismus systematisch geschürt werden. Die Gesellschaft „Erinnerung“ („Pamjat“) vertritt einen offenen Antisemitismus und Rassismus und organisiert politische Schlägertrupps. Die reaktionär-nationalen russischen Gruppen — allerdings ohne „Pamjat“ — schlossen sich im Dezember 1989 zu einer Wahlplattform „Block der gesellschaftlich-patriotischen Bewegungen Rußlands“ zusammen. Diese Wahlplattform ist ein Manifest für die Welt-macht Sowjetunion, eine Kampfschrift gegen jede Art von Separatismus und ein Aufruf, sich mit den Konservativen in der KPdSU zusammenzuschlie-ßen, um den Sozialismus zu retten Die kommunistisch-patriotischen Gruppen haben ebenfalls Wählervereinigungen unter dem Namen „Rußland“ gegründet.
Obwohl die Wahlen zu den lokalen und republikanischen Sowjets in der ersten Jahreshälfte 1990 noch — ebenso wie die Wahlen zum Volkskongreß im März 1989 — unter den Bedingungen des formellen Machtmonopols der KPdSU und während eines harten Abwehrkampfes der alten Apparate stattfanden, waren die Fortschritte auf dem Weg zum Parlamentarismus doch unverkennbar. Entgegen manchen Entwürfen für die Wahlgesetze in den Unionsrepubliken setzten die demokratischen Kräfte fast überall die Streichung von nicht gewählten Vertretern der Apparate der KPdSU und anderer Organisationen in den zukünftigen Obersten Sowjets durch. Nur in Weißrußland und in Kasachstan blieben Reste dieser „ständischen“ Vertretungen erhalten. Unter dem Druck der demokratischen Kräfte mußten die „Wahlkreisversammlungen“ aus den Wahlgesetzen der Ukraine und Weißrußlands gestrichen werden. Sie waren bei den Wahlen im März 1989 ein wichtiges Instrument in den Händen des Parteiapparats zur Manipulation bei der „Registrierung“ der Kandidaten gewesen
Wo es den demokratischen Kräften gelang, trotz der noch immer zahlreichen Manipulationsmöglichkeiten der Apparate Kandidaten aufzustellen und sie dem Wähler auch nur einigermaßen bekanntzumachen, errangen sie fast überall überzeugende Erfolge. Der Trend der Wahlen vom März 1989 setzte sich beschleunigt fort: Der Wähler entschied dort, wo ihm die Möglichkeit dazu gegeben wurde, gegen die Vertreter der Apparate und gegen die reaktionär-chauvinistischen Kräfte.
IV. Das Ende des sowjetischen Zentralstaates
Das Ende des sowjetischen Zentralstaates ist neben dem Zusammenbruch der Einparteiherrschaft der zweite wesentliche Aspekt der Krise des politischen Systems. Unter dem Deckmantel des Sowjetföderalismus ist die Sowjetunion ein hoch zentralisierter Staat gewesen, in dem alle wesentlichen und viele unwesentliche Fragen in Moskau entschieden wurden. Der Zentralstaat war das entscheidende Instrument zur Beherrschung des Vielvölkerreiches. Wie viele andere Probleme, wurde das nationale Problem in der Sowjetunion seit Ende der dreißiger Jahre — nach dem „Aufbau des Sozialismus“ — für „gelöst“ erklärt. Die Ideologie verkündete, die „sozialistischen Nationen“ würden immer homogener, rückten einander immer näher und würden schließlich — wie schon Lenin gesagt hatte — in der kommunistischen Zukunft miteinander „verschmelzen“. Die Wirklichkeit verhielt sich allerdings nicht ideologiekonform. Zum Teil unbemerkt, brauten sich hinter dem Nebelvorhang der Ideologie, mit dem die sowjetische Propaganda die Wirklichkeit verhängt hatte, die Konflikte zusammen. Seit 1987 stellen diese Konflikte eine zunehmende Bedrohung für den Zentralstaat dar, der sich bisher als unfähig erweist, Instrumente zur Konfliktlösung zu entwickeln.
Die Nationen streben überall nach Autonomie. Sie akzeptieren nicht mehr den Mythos des „Sowjetföderalismus“, der ihnen auf dem Papier Selbstverwaltung.den Unionsrepubliken sogar das Recht zum Austritt aus der UdSSR garantiert, ihnen jedoch in Wirklichkeit sogar die Sprachautonomie beschneidet. Die Erwartungen und Forderungen der Völker an den Zentralstaat gehen im einzelnen weit auseinander und reichen von Fragen der Kulturautonomie bis zur Aufkündigung der staatlichen Gemeinschaft. Nachdem die Gorbatschow-Führung in den ersten Jahren Eigenständigkeit und Gewicht der nationalen Frage nicht hat zur Kenntnis nehmen wollen, ist sie inzwischen davon überzeugt, daß es sich hier um einen zentralen Bereich der Innenpolitik handelt und daß der Fortbestand der staatlichen Einheit zur Disposition steht. Trotzdem hat die Gorbatschow-Führung auch nach fünf Jahren noch kein Konzept für die Zukunft entwickelt. Gorbatschow will an der staatlichen Einheit festhalten, doch fehlt es an Vorstellungen zur Umgestaltung des Zentralstaates in eine Art Commonwealth oder eine Wirtschafts-und politische Union, wie sie in Westeuropa angestrebt wird. Deshalb nehmen die Zerfallsprozesse und die Dekolonialisierung ihren Lauf und schaffen zunehmend Faits accomplis, denen die Zentralmacht mit immer neuen „Feuerwehraktionen“ entgegenzuwirken sucht. Die Zentralmacht ist bisher nicht bereit, den bisherigen staatlichen Aufbau grundsätzlich in Frage zu stellen und den nichtrussischen Republiken, aber auch den einzelnen Gebieten Rußlands. Eigenständigkeit in Fragen der Wirtschafts-und Steuerpolitik, des Bildungswesens und der inneren Ordnung zuzugestehen. Die Umwandlung der Sowjetunion in ein dezentralisiertes Staatswesen mit starker Peripherie und schwachem Zentrum erscheint — so lange die KPdSU diesen Staat regiert — kaum denkbar, weil eine solche Politik den Bruch mit ihrer eigenen Tradition voraussetzen würde. Noch schwerer wiegt, daß die Völker in zunehmendem Maß das Vertrauen in die KPdSU verloren haben, die die Vergangenheit zu verantworten hat und die keinen Kredit für die Gestaltung der Zukunft mehr genießt.
Das Nationalitätenproblem ist seit 1987 fast in der gesamten Sowjetunion in ein akutes Stadium getreten. Neben den offenen Konfliktherden Baltikum und Transkaukasien stellen die Großregionen Ukraine und Zentralasien eine noch größere potentielle Herausforderung für die Zentralmacht dar. Auch die nationalen Kräfte in Rußland distanzieren sich zunehmend von der UdSSR. Symbolischen Charakter hat die Forderung, Moskau müsse wieder die Hauptstadt Rußlands werden; „das Zentrum“ solle sich eine andere Hauptstadt suchen. Aber auch die kleinen Völker des Hohen Nordens und des Fernen Ostens, zu denen nur einige 10 000 Menschen zählen, sind unzufrieden. Sie beklagen die Zerstörung ihres angestammten Lebensraumes durch die Industrialisierung und die Überfremdung ihrer Sprachen durch das Russische
Die Unabhängigkeitsbewegung der Esten, Letten und Litauer hat seit 1987 sowohl innerhalb der Sowjetunion als auch im Ausland die meiste Aufmerksamkeit gefunden Dies ist verständlich, weil sich die nationalen Bewegungen hier von Anfang an überzeugend artikulierten, weil sie in demokratischen und friedlichen Bahnen verliefen und weil auch im Westen weitgehend anerkannt war. daß diese Völker Teil der lateinisch-europäischen Tradition sind. Viele Staaten Westeuropas und die Vereinigten Staaten von Amerika haben darüber hinaus die Annexionen von 1939/40 niemals anerkannt. Die Los-von-Moskau-Bewegung ist heute im Baltikum am weitesten fortgeschritten. Psychologisch ist der Austritt der Völker aus dem Verband der Sowjetunion bereits vollzogen. Die Litauer übernahmen mit der förmlichen Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit durch das neugewählte Parlament am 11. März 1990 eine Vorreiterrolle. Gleiche oder ähnliche Schritte sind in naher Zukunft von Estland und Lettland, aber auch von den transkaukasischen Unionsrepubliken zu erwarten.
In Transkaukasien wurden und werden — im deutlichen Unterschied zum Baltikum — die nationalen Gegensätze auch mit Gewalt ausgetragen. Hauptgegner waren die Aserbaidschaner und Armenier, der Konflikt mit dem Zentrum trat demgegenüber zunächst in den Hintergrund. Russen waren an den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Transkaukasien und in anderen Landesteilen bislang — außer als Angehörige der Ordnungskräfte — kaum beteiligt. Die meisten Opfer waren unter Armeniern, turkstämmigen Mescheten in Zentralasien und Aserbaidschanern durch den Einmarsch sowjetischer Truppen nach Baku am 20. Januar 1990 zu beklagen. Der Zentralmacht ist es nicht gelungen, den Konflikt zwischen Aserbaidschanern und Armeniern um Berg-Karabach mit friedlichen Mitteln beizulegen. Eine Konsequenz des seit Februar 1988 offen ausgebrochenen Konflikts, der seit Herbst 1989 bürgerkriegsähnliche Züge annahm, besteht darin, daß auf beiden Seiten das Vertrauen in die Autorität Moskaus fast auf den Nullpunkt gesunken ist.
Wie ist zu erklären, daß in vielen Teilen des riesigen Landes bei Völkern ganz unterschiedlicher Geschichte, Kultur und Größe nahezu gleichzeitig nationale Konflikte aufbrechen? Bei der Klärung dieser Frage sind zwei Ursachenbündel zu unterscheiden. Neben langfristig wirkenden Ursachen handelt es sich dabei um Entwicklungen, die erst durch die Perestroika in Gang gesetzt worden sind.
Die wichtigste langfristige Ursache für die Zunahme des nationalen Bewußtseins war das Heranwachsen einer neuen sozialen Trägerschicht für Nationalismus. Diese Bildungseliten ließen sich nicht in eine homogene Sowjetgesellschaft einschmelzen. Sie identifizierten sich mit den nationalen Traditionen, Kulturen und dann auch mit den politischen Forderungen ihrer jeweiligen Völker. Die Loyalität eines estnischen Arztes, eines russischen Facharbeiters oder eines aserbaidschanischen Dichters galt nicht einer von der Ideologie mythologisierten Klasse, sondern der eigenen Nation. Menschen aus diesen Schichten sind inzwischen die hauptsächlichen Träger des neuen Ethno-Nationalismus. Sie sind in der Lage, ganze Nationen oder doch wesentliche Teile von ihnen politisch zu mobilisieren Darüber hinaus drängen die neuen Bildungsschichten überall in die Führungspositionen ihrer Republiken. Es gibt heute zum ersten Mal genügend usbekische Arzte, turkmenische Lehrer und ukrainische Ingenieure; man braucht in diesen Berufen keine Russen mehr wie noch vor 50 Jahren. So vollzieht sich in der Sowjetunion schon seit Jahrzehnten ein bisher eher schleichender Prozeß der Entkolonialisierung.der erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in eine militante und politische Phase eingetreten ist. Der beschriebene sozialgeschichtliche Wandlungsprozeß hat dazu geführt, daß die meisten Nationen heute kulturell, bewußtseinsmäßig und im Blick auf ihre Sozialstruktur fester gefügt sind als zu Beginn der Sowjetmacht.
Das Heranwachsen eigener nationaler Bildungsschichten und ihr Ethno-Nationalismus stellen die Zentralmacht vor eine grundsätzlich neue Situation: Die Sowjetunion ist ohne die Mitwirkung der nationalen Eliten heute nicht mehr zu regieren. Die Zeit. in der das Vielvölkerreich durch die natürliche Klammer russischer Führungskader zusammengehalten werden konnte, ist vorbei.
Außer dem Heranwachsen der neuen nationalen Bildungsschichten wirken weitere Faktoren auf die Verstärkung des nationalen Eigenbewußtseins. Die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus ist zusammengebrochen. So hat sich ein großes geistiges Vakuum aufgetan, in das nationales Gedankengut und nationale Wertvorstellungen einströmen. Auch die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung seit Mitte der siebziger Jahre verstärkt den Ethno-Nationalismus. Nationale Spannungen und Konflikte haben stets auch eine soziale Komponente. Die ökonomische Stagnation und der Rückgang des Lebensstandards seit etwa zehn Jahren haben das soziale Klima im Land erheblich verschärft. Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse und die allgegenwärtigen Versorgungsmängel schlagen in nationale Ressentiments und Feindseligkeit um.
Zu den längerfristigen Ursachen für die Zuspitzung der nationalen Frage muß auch die Nationalitäten-politik der Partei gerechnet werden, die heute einem Scherbenhaufen gleicht. Dabei geht es keineswegs nur um die Nationalitätenpolitik Stalins mit ihren gewaltsamen Eingriffen, der Deportation ganzer Völker und der Annexion großer Territorien vor allem im Westen der Sowjetunion. Gescheitert sind vielmehr Grundsätze und Ziele dieser Politik, die bis in die letzten Jahre hinein vertreten wurden. Dies soll am Beispiel der Migrations-und Sprachen-politik verdeutlicht werden.
Seit Ende der zwanziger Jahre hat die Partei eine Migrationspolitik betrieben, die zwei Ziele verfolgte: die Ausbreitung der Russen in der ganzen Union und darüber hinaus eine möglichst hochgradige Vermischung der Völker durch Wanderungsbewegungen. In fast allen Landesteilen ist der Bevölkerungsanteil der Russen erheblich angestiegen.
Der Anteil der Russen an der Bevölkerung außerhalb der heutigen Grenzen der RSFSR betrug 1926 8, 6 Prozent und stieg bis 1959 auf 17, 8 Prozent.
Heute leben etwa 25 Millionen Russen außerhalb der RSFSR. Die tatsächliche Bedeutung dieser riesigen Wanderungswelle der Russen in fast alle Teile des Landes ist noch bedeutsamer als es die Zahlen allein erkennen lassen, denn es handelte sich zum überwiegenden Teil um Fachkräfte aus allen Bereichen. die von Rußland aus an die Peripherie gingen.
Die russischen Kader waren als die natürliche Klammer des Imperiums und als die Vertreter der Zentralmacht in den nichtrussischen Republiken gedacht. Sie haben über Jahrzehnte diese Funktion erfüllt Sie haben aber zugleich auch antizentralistischen und antirussischen Widerstand provoziert. Die russische Einwanderung ist zu einem der Hauptanstöße für die nationalen Bewegungen der Nichtrussen geworden. Schon seit den sechziger Jahren gibt es deshalb aus bestimmten Unionsrepubliken eine Rückwanderung von Russen, die sich in den achtziger Jahren weiter beschleunigt hat.
Die Sprachenpolitik war seit Mitte der dreißiger Jahre daraufgerichtet, dem Russischen in möglichst vielen Bereichen des öffentlichen Lebens zum Durchbruch zu verhelfen und die anderen Sprachen auch mit Hilfe administrativer Eingriffe in der Tendenz auf die Funktion von Privat-und Familien-sprachen zu begrenzen. Noch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sind neue aggressive Maßnahmen in der Sprachenpolitik ergriffen worden. Damals wurde das Ziel formuliert, nach und nach das Russische zur einzigen Unterrichtssprache an den Hochschulen zu machen. Gerade diese aggressive Sprachenpolitik in der Spätzeit Breschnews hat das Gegenteil von dem bewirkt, was erreicht werden sollte. Viele Völker hielten ihre nationalen Sprachen für bedroht und reagierten mit Widerstand. Sobald Glasnost die Zensur auch nur ein wenig gelockert hatte, wurde allenthalben der gesetzliche Schutz für die Nationalsprachen und eine Beschränkung des Russischen im öffentlichen Leben gefordert. Inzwischen sind in fast allen Unionsrepubliken Gesetze und Verfassungsänderungen verabschiedet worden, in denen die jeweilige Nationalsprache zur Staatssprache auf dem eigenen Territorium erklärt wird
Glasnost und Tauwetter in der Kultur-und Medienpolitik haben wesentlich zur Verschärfung der nationalen Frage beigetragen. Die Aufforderung zur schonungslosen Analyse der Gegenwart hat die Nationen ermuntert, lange zurückgestauten Groll und Frustration zu artikulieren. Außerdem traten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zu den klassischen Verbündeten des Nationalismus — wie soziale Spannungen und Wirtschaftskrise — zwei neue Koalitionspartner hinzu: das ökologische Bewußtsein und der Anti-Stalinismus.
Die Öko-Bewegung ist überall zu einem mächtigen Schwungrad des nationalen Bewußtseins geworden. Die Empörung über die Katastrophe von Tschernobyl, die Verschmutzung des Baikalsees oder über die Austrocknung des Aralsees verbindet sich mit dem Protest gegen die unfähige Zentral-macht. Eine Besserung der Lage kann nach Einschätzung der Öko-Bewegung nur aus der Eigeninitiative vor Ort kommen. Nur eine Rückbesinnung auf die Nation als handelndes Subjekt in Geschichte und Politik vermag Schutz zu bieten vor der allmächtigen, zerstörerischen Bürokratie, die ohne Rücksicht auf die betroffenen Menschen die Natur und ihre Ressourcen verbraucht.
Der Anti-Stalinismus ist eine treibende Kraft bei der gegenwärtigen Selbstreinigung und Selbstauflösung des sowjetischen Systems. Bei vielen Völkern verleiht er der nationalen Bewegung zusätzliche Schubkraft. Das gilt zuerst für die baltischen Völker, für die Entstalinisierung gleichbedeutend mit dem Austritt aus der Sowjetunion ist. Sie vertreten den Standpunkt, daß ihre gewaltsame Einverleibung in die Sowjetunion ausschließlich die Folge des Stalinschen Unrechtsregimes gewesen ist. Der Anti-Stalinismus stand aber auch als treibende Kraft hinter der Entstehung der Volksfront in Weißrußland. Die Entdeckung der Massengräber in Kuropaty bei Minsk, in denen weit mehr als 100 000 Tote ruhen, die zwischen 1937 und 1941 vom NKWD erschossen worden waren, hat die Öffentlichkeit zutiefst aufgewühlt
Die Erosion des hergebrachten sowjetischen Zentralstaates und die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der neuen Führung, ihn durch eine Konföderation von gleichberechtigten Partnern zu ersetzen, treiben die Sowjetunion immer tiefer in den Zustand der Unregierbarkeit. Insofern bildet die ungelöste nationale Frage einen zentralen Aspekt der Krise des politischen Systems.
Die Unabhängigkeitserklärung Litauens durch den neu gewählten Obersten Sowjet (Parlament) am 11. März 1990 markiert einen vorläufigen Höhepunkt des Ausscherens der alten Herrschaftsinstitutionen aus dem Sowjetsystem und ihres Übergangs zur nationalen Bewegung. Diese Unabhängigkeitserklärung kam weder unerwartet noch unvorbereitet. Allenfalls der frühe Zeitpunkt mag überrascht haben; er wurde von den Litauern gewählt, weil die Befürchtung bestand, der neue sowjetische Präsident werde seine umfassenden Vollmachten nutzen, um die Unabhängigkeitserklärung zu verhindern.
Der Schritt Litauens fügt sich in die Kette der Selbständigkeitsäußerungen nationaler Sowjetorgane seit Ende 1988: Die Obersten Sowjets zahlreicher Unionsrepubliken beschlossen — entgegen dem ausgesprochenen Willen der Zentralmacht — ein Vetorecht gegenüber Unionsgesetzen und legten den Vorrang von Republik-Recht gegenüber Unions-Recht fest. Der Oberste Sowjet Armeniens , beschloß im Dezember 1989 einseitig die Einverleibung von Berg-Karabach nach Armenien. Der Oberste Sowjet Aserbaidschans forderte im Januar 1990 ultimativ den Rückzug sowjetischer Truppen aus Baku. Der Oberste Sowjet Nachitschewans erklärte ebenfalls als Reaktion auf den Einmarsch in Baku den Austritt dieser Autonomen Republik aus der UdSSR.
Im Rahmen der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen haben sich neue gesellschaftliche und politische Institutionen entwickelt. Herzstück der neuen politischen Struktur sind die Volksfronten, die 1988 zunächst im Baltikum entstanden und dann in vielen Republiken Nachahmung fanden. Inzwischen gibt es in allen westlichen und in den drei transkaukasischen Unionsrepubliken solche Organisationen, in Zentralasien besteht eine Volksfront allerdings bisher nur in Usbekistan; in Kasachstan und Tadschikistan gibt es allenfalls Ansätze zur Bildung von Volksfronten. Die Volksfronten sind Sammlungsbewegungen, die eine größere Zahl unterschiedlicher politischer Gruppierungen vereinigen. Den Zusammenhalt der Volksfronten gewährleisten der gemeinsame Bezug auf die Nation und die Entschlossenheit zur Ablösung des bisherigen politischen und wirtschaftlichen Systems. Es ist denkbar, daß die Volksfronten nur eine begrenzte politische Lebensdauer haben, und sich mit der Zeit in einem unterschiedlichen Spektrum politischer Parteien auflösen werden.
Neben den Volksfronten bestehen vielfach radikale politische Gruppierungen, die in den Unionsrepubliken von Anfang an den Austritt aus der Sowjetunion gefordert haben. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums organisierten sich vor allem in den baltischen Republiken und in der Moldau-Republik die Internationalen Fronten oder Internationalen Bewegungen. Hier schloß sich ein Teil der russischsprachigen Bevölkerung mit den reaktionären Vertretern der Apparate zu einem Abwehr-bündnis zur Erhaltung der Einparteiherrschaft und vor allem der sprachlich-kulturellen Privilegien für die russischsprachige Minderheit in den Unionsrepubliken zusammen.
Die politische Krise hat zwei wesentliche Fundamente des sowjetischen Systems unterspült: die Einparteiherrschaft und den Sowjetföderalismus. Die Herrschaft der KPdSU und die staatliche Einheit sind in Frage gestellt. Die Antwort der Gorbatschow-Führung auf das erste Krisensymptom war die Einführung einer Präsidialverfassung. Ein mit nahezu unbegrenzten Vollmachten ausgestatteter Präsident soll die Herrschaft der Apparate — wenn auch in reformierter Form — erhalten. Gorbatschow ging dazu ein Bündnis mit den reaktionären Kommunisten im ZK und im Volkskongreß ein. Dabei hat sich deutlich gezeigt, daß die Machterhaltung allein auf der Grundlage des Parteiapparats unmöglich geworden ist.
Eine Antwort auf das zweite Krisensymptom steht noch aus. Die Frage, ob ein von der Gorbatschow-Führung in Aussicht gestellter neuer Unionsvertrag die Autonomieforderungen zufriedenstellen und den Separatismus überwinden kann, muß vorerst eher mit Skepsis beantwortet werden. So spricht vieles dafür, daß sich die gegenwärtigen uflösungs-und Zerfallsprozesse in der Sowjetunion fortsetzen werden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Land mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in die Anarchie oder den Bürgerkrieg hineintreibt, wie manche westlichen Beobachter annehmen. Die Zukunft der Sowjetunion wird wesentlich davon abhängen, ob und wie rasch es den demokratischen Kräften gelingt, sich wirksam zu organisieren, sich mit politischen Mitteln eine Massengefolgschaft zu sichern und die Übernahme der Macht einzuleiten.