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Frauen in der DDR | APuZ 16-17/1990 | bpb.de

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APuZ 16-17/1990 Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft Reformbewegung und Volksbewegung. Politische und soziale Aspekte im Umbruch der DDR-Gesellschaft Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR Frauen in der DDR

Frauen in der DDR

Hildegard Maria Nickel

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bisher galt in der DDR nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht auf Berufsarbeit. Das war — bei aller Problematik, die damit verbunden war — ein sozialer Schutz für Frauen und ermöglichte ihnen ein Stück weit materielle Unabhängigkeit und einen eigenen Anspruch auf ein selbständig gestaltetes Leben. Eine zu lange verzögerte, längst überfällige Rationalisierung beginnt sich nun auch in der DDR zu beschleunigen und meist weibliche Opfer zu fordern. Frauen haben die schlechteren Startbedingungen für den Sprung in die marktwirtschaftliche Zukunft. In der DDR wurde ein frauenpolitisches Konzept „patriarchalischer Gleichberechtigung“ verfolgt, das einseitig auf die Vereinbarkeit von Mutterschaft (statt Elternschaft) und Berufstätigkeit setzte und Frauen zur Reproduktions-und Dienstleistungsarbeit in Gesellschaft und Familie verpflichtete. Mit dieser Organisation der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern sind ungleiche Chancen für Frauen und Männer verbunden. Die Machtasymmetrie im Geschlechterverhältnis macht sich in Berufskarrieren, in Familien-pflichten wie schließlich in der Sozialisation von Mädchen und Jungen geltend. Gegenwärtig gibt es kein entwickeltes kritisches Bewußtsein für diese Prozesse; im Gegenteil, es ist von einer Desensibilisierung in der Geschlechterfrage zu sprechen. Sensibilität aber kann sich nur im Diskurs entfalten, braucht jene Öffentlichkeit, die bis vor kurzem in der DDR nicht existierte.

Bisher galt in der DDR nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht auf Berufsarbeit. Das war — bei aller Problematik, die damit zugleich verbunden war — ein sozialer Schutz für Frauen. Dieses Recht auf Arbeit garantierte ihnen zwar kein dolce vita; es ermöglichte ihnen aber doch wenigstens ein Stück weit materielle Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und einen selbstbestimmten Anspruch auf ein eigenes Leben. 1989 waren in der DDR immerhin 91 Prozent aller Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig, in der Ausbildung oder studierten. Eine Ausbildung, einen Beruf und einen sicheren Arbeitsplatz zu haben gehörte zum Selbstverständnis, zur Identität von DDR-Frauen.

Eine zu lange verzögerte, längst überfällige Rationalisierung in den Betrieben und Verwaltungen beginnt nun auch in der DDR auf Touren zu kommen und ihre Opfer zu fordern. Umschulungskonzepte oder soziale Strategien für diese Fälle gibt es nicht -als hätte niemand ahnen können, daß auch hier beginnen würde, was anderswo geschieht oder längst geschehen ist. Angst vor der Marktwirtschaft macht sich breit, vor allem unter Frauen. Wie viele werden künftig noch einen Arbeitsplatz haben und wie sicher wird er sein?

Hinzu kommt das Problem der Kindererziehung: 30 Prozent aller Neugeborenen in der DDR wurden in den letzten Jahren von alleinstehenden Müttern zur Welt gebracht; 50 000 Ehen wurden pro Jahr geschieden. Wie sollen die vielen alleinerziehenden Mütter künftig ihren Lebensunterhalt bestreiten und gleichzeitig sich um ihre Kinder kümmern? Bisher war der Kindergartenplatz für jedes Kind sicher. 94 Prozent aller Kinder ab drei Jahren waren auf diese Weise versorgt. Jetzt beginnen Betriebe, sich „gesund zu schrumpfen“ und den „Rotstift anzusetzen“. Die ersten betriebseigenen Kindertagesstätten wurden bereits geschlossen. Frauen haben — das ist sicher — die schlechteren Startbedingungen für den Sprung in die marktwirtschaftliche Zukunft. Sie werden härter auf dem Boden der Tatsachen landen als die meisten Männer.

I. Patriarchalische Gleichberechtigung statt sozialer Gleichheit

Noch ist etwa die Hälfte aller Berufstätigen in der DDR weiblich; Unterschiede im Niveau der formalen beruflichen Qualifikation von Frauen und Männern sind sukzessive abgebaut worden, so daß es sie bei den unter 40jährigen fast gar nicht mehr gibt. 1988 hatten 87 Prozent aller berufstätigen Frauen eine abgeschlossene berufliche Ausbildung. Diese galt bis vor kurzem in der Politik wie in der Ideologie, in den Medien wie in offiziellen Verlautbarungen als Beweis für die erfolgreiche Realisierung der Gleichberechtigung in der DDR. Mehr noch: Der Mythos von der bereits erreichten Gleichberechtigung hat sich in den Köpfen vieler Frauen festgesetzt und sie blind gemacht für die realen Benachteiligungen, die sie tagtäglich erfahren haben und die sie jetzt auf die schlechteren Startplätze verweisen. Tabuisiert wurde — und zwar verstärkt seit Anfang der siebziger Jahre —, daß mit der formalen Gleichberechtigung längst nicht die sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern beseitigt waren und daß eine Sozialpolitik, die einseitig auf die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufs-tätigkeit (statt Elternschaft und Berufstätigkeit) setzte, neue Diskriminierungen und Benachteiligungen schuf. Frauen wurden damit vorwiegend zur Reproduktions-und Dienstleistungsarbeit in Gesellschaft und Familie verpflichtet.

Männer und Frauen hatten — bei allen Erfolgen, die Frauen für sich erringen konnten — in der Realität weder die gleichen Bedingungen in der Berufs-arbeit noch gleiche Chancen und Ressourcen für berufliche Qualifikation und berufliche Karrieren. Auf dem Hintergrund propagierter Gleichberechtigung hielt „Mann“ fest an der traditionellen, patriarchalischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und übersah geflissentlich die sozialen Differenzierungen, mehr noch die Polarisierungen zwischen Frauen und Männern — zuungunsten der Frauen.

II. Geteilte Arbeit — geteilte Chancen

Spätestens seit Ende der sechziger Jahre ist in der DDR von einer nach Geschlechtern polarisierten Wirtschafts-und Berufsstruktur zu reden. Überproportional ist der Frauenanteil im Sozialwesen (91, 8 Prozent), im Gesundheitswesen (83 Prozent), im Bildungswesen (77 Prozent), im Handel (72 Prozent) sowie im Post-und Fernmeldewesen (68, 9 Prozent). Unterrepräsentiert sind Frauen hingegen in der Industrie, im Handwerk, in der BauWirtschaft, in der Land-und Forstwirtschaft sowie im Verkehrswesen. Der Anteil der Frauen in leitenden Positionen beträgt immerhin insgesamt knapp ein Drittel, variiert aber stark nach Wirtschaftsbereichen und nimmt generell mit der Höhe der Position deutlich ab. Den Frauen sind überall in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik die zweiten Plätze zugewiesen.

Obwohl Mädchen gleichermaßen wie Jungen einen soliden Berufsabschluß anstreben, ist das Berufswahlfeld für Mädchen wesentlich enger als für Jungen. Wie prekär die Situation ist, zeigt sich darin, daß sich mehr als 60 Prozent — also fast zwei Drittel — der Schulabgängerinnen des Jahres 1987 auf nur 16 Facharbeiterberufe (von 259) verteilten Einige dieser Berufe werden so gut wie ausschließlich von Mädchen erlernt. Das betrifft den Facharbeiter für Schreibtechnik (Stenotypistin), aber auch den Fachverkäufer, den Wirtschafts-und Finanzkaufmann, den Facharbeiter für Textiltechnik und schließlich solche Berufe, die eine längere Ausbildungszeit — nämlich die Fachschulqualifikation — erfordern, wie pädagogische und medizinische Berufe. Allen diesen Berufen ist eines gemeinsam: Sie sind die am schlechtesten bezahlten Berufe.

Oder sollte sich die Segmentation des Arbeitsmarktes schließlich doch noch als „Heimvorteil“ für Frauen bezahlt machen? Der Dienstleistungsbereich in der DDR wird künftig eher ausgebaut als reduziert. Derzeit sind immerhin mehr als zwei Drittel der leitenden Positionen im Handel von Frauen besetzt. Wissen diese Frauen, was sie zu verlieren haben? Werden sie stark und „clever“ genug sein, ihre Positionen zu behaupten? Umstrukturierungen stehen an, das bedeutet für die Frauen aber auch mehr Risikobereitschaft, schnelles Reagieren, rasches Zupacken, Konkurrenzkampf um die besseren Plätze. Ein „Kanincheneffekt“, die Starre angesichts der unbekannten Schlange, macht viele Frauen gegenwärtig handlungsunfähig, lähmt sie. Das nun wieder könnte den Männern, die die neuen Chancen des Dienstleistungssektors längst erkannt haben, schnell zum Vorteil gereichen.

In der zur Zeit besser bezahlten Industrie beträgt der Anteil der Frauen ca. 40 Prozent. Gehen Mädchen in diesen Ausbildungsbereich, so sind es auch hier bestimmte Tätigkeitsfelder, die ihnen reserviert sind, wie die Textil-und Bekleidungsindustrie oder Bereiche der elektronischen und elektrotechnischen Industrie, die vor allem auf das „Fingerspitzengefühl“ und die „Fingerfertigkeit“ von Frauen setzen. Seit 1975 — im Zuge der konservativeren Sozialpolitik — sind vor allem solche Stellenangebote für Mädchen rückläufig, die sich im Zentrum der Technikgestaltung und -beherrschung befinden: z. B. Wartungsmechaniker für Datenverarbeitung und Büromaschinen (von 30, 1 auf 18, 4 Prozent), Elektromonteur (von 7, 9 auf 3, 7 Prozent), Facharbeiter für Bedien-, Meß-, Steuer-und Regel-technik (von 25, 9 auf 8, 4 Prozent) An der Peripherie hingegen bzw. in den lediglich ausführenden Bereichen in der Industrie wächst der Frauenanteil: Chip-Produktion, Facharbeiter für Datenverarbeitung (gegenwärtig 71, 2 Prozent), Facharbeiter für chemische Produktion (82, 1 Prozent).

Frauen haben in der Industrie zumeist die unattraktiven Arbeitsplätze. Sie sind — auch wenn sie, wie in der Textilindustrie, mit modernsten Produktionsanlagen umgehen — häufiger dort zu finden, wo eine enge produktionstechnische Einbindung nur geringe Kommunikationsmöglichkeiten zuläßt, und sie arbeiten darüber hinaus auch unter den ungünstigeren arbeitshygienischen Bedingungen. Ihre Tätigkeiten setzen angeblich geringere Qualifikationsanforderungen voraus und sind demzufolge auch in der Industrie meist mit geringerem Einkommen verbunden.

Seit Jahren wurde in der DDR bei den Lehrstellen-angeboten eine bestimmte Quotierung praktiziert: Frauen wurden systematisch aus Männerberufen wie umgekehrt Männer aus Frauenberufen ausgegrenzt. Das gereichte vor allem den Mädchen zum Nachteil. Ihr Berufswahlfeld beschränkte sich weitgehend auf traditionelle Frauenberufe und war damit stark eingeengt. Der Kampf der Mädchen um lukrative Angebote ist demzufolge nicht nur härter, sondern auch aussichtsloser als für Jungen. Oft sind sie gezwungen, auf „Notlösungen“ zurückzugreifen oder „Übergangslösungen“ zu akzeptieren. Das heißt, sie erlernen einen Beruf, von dem sie von vornherein wissen, daß sie ihn nach Beendigung des Ausbildungsverhältnisses, spätestens aber nach der Geburt eines Kindes nicht mehr ausüben werden. Betriebs-und Kombinatsdirektoren haben — trotz staatlicher Auflagen — sukzessive den Anteil weiblicher Lehrlinge in zukunftsträchtigen technischen Berufen zugunsten von männlichen Bewerbern reduziert. Sie begründen das mit der hohen Ausfallrate der Frauen infolge sozialpolitischer Maßnahmen (Babyjahr, Ausfall bei Krankheit des Kindes usw.), der hohen Fluktuationsrate der Frauen, dem mangelnden technischen Interesse der Mädchen und den fehlenden sozialen und hygienischen Einrichtungen für Frauen in „Männerdomänen“

III. Berufsarbeit ist für Frauen nur das halbe Leben

Hausarbeit ist die notwendige Kehrseite von Berufsarbeit, und sie ist noch immer Frauensache. Trotz der fortschreitenden Technisierung der Haushalte und des Ausbaus gesellschaftlicher Dienstleistungen ist der Aufwand für Hausarbeit in den letzten 25 Jahren ziemlich konstant geblieben. Er liegt bei ca. 40 Stunden pro Woche — bedeutet also eine „zweite Schicht“ — bezogen auf eine Durchschnittsfamilie. Dieses Dilemma wird nach wie vor auf traditionelle Weise gelöst: Drei Viertel der Haus-und Familienarbeit werden von meist voll berufstätigen, d. h. 40 bis Stunden pro Woche 433 außer Haus beschäftigten Müttern erledigt. Frauen sind auch für das in Zeiteinheiten nicht zu messende Familienklima zuständig; sie müssen viele kleine unbezahlte Dienste leisten, wenn der Familienalltag funktionieren soll. Der verbreitete Versorgungsmangel wird individuell ausgeglichen: Nähen, Stricken, Einkäufen, Anstehen, Improvisieren, Beziehungen zum wechselseitigen Vorteil pflegen. Männer sind hingegen die Hauptverdiener und Haupternährer in den Familien. Sie verdienen ca. 25 bis 30 Prozent mehr als Frauen und können sich deshalb nicht leisten, auf Erwerbsarbeit zugunsten von Hausarbeit zu verzichten. Diese Arbeitsteilung hat Konsequenzen, die bis in die Lebensmuster der nachwachsenden jungen Generation hineinreichen: Mädchen suchen sich Berufe, die ihnen die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbsarbeit erlauben, und entziehen sich solchen, die einen derartigen Ausgleich gefährden. Jungen hingegen wählen einen Beruf, bei der „Mann“ zumindest so gut verdient, daß die Ehepartnerin im Falle der Mutterschaft die Erwerbsarbeit reduzieren kann. Mit Blick auf die Zukunft grenzen sich damit sowohl Mädchen als auch Jungen von vornherein selbst aus bestimmten beruflichen Karrieren aus.

Gut ein Viertel aller berufstätigen Frauen ist teilzeitbeschäftigt. Der Wunsch nach verkürzter Arbeitszeit und flexibleren Formen von Arbeitszeitregelungen ist noch weiter verbreitet. Inge Lange, die Frauenpolitikerin des alten Machtapparates, glaubte jedoch administrativ gegen diesen Wunsch vorgehen zu können: Teilzeitarbeit durfte nur in Ausnahmefällen genehmigt werden; in manchen Berufen ist sie überhaupt nicht möglich.

Jahrzehntelang hatte es sich Inge Lange zur Aufgabe gemacht, darauf hinzuwirken, „daß die nachfolgende Generation junger Frauen erkennt, daß sich die Art und Weise ihrer Berufsarbeit, ihres Lebens als Mütter unter grundlegend besseren Bedingungen als für vorangegangene Frauengenerationen vollzieht und daß ihre Teilzeitarbeit nicht nur das gesellschaftliche Arbeitsvermögen schmälert, sondern auch ihre berufliche Entwicklung negativ beeinträchtigt“ Notfalls sollten Frauen zu ihrem Glück gezwungen werden, denn der Zweck heiligte die Mittel. Gleichberechtigung verkam so zu einer ökonomistischen Floskel; ihre Kriterien wurden auf formal gleiche Zeitstrukturen in der Berufsarbeit verkürzt. „Männliche“, vom häuslichen Ballast gereinigte Zeitverhältnisse galten als Maßstab.

Propagandistisch ging die Rechnung auf; Gleichberechtigung konnte vollmundig nachgewiesen werden. Die meisten Frauen erfuhren aber tagtäglich die Kluft zwischen Realität und Propaganda. Sie spürten am eigenen Leib und am Zerfall der Familien, wer die Last dieser von oben verordneten, nur formalen Gleichberechtigung zu tragen hatte — die Last einer Gleichberechtigung, die Frauen das Äußerste abforderte, nicht aber gleichermaßen Männer zur Aufgabe traditioneller Privilegien veranlaßte. Die Frauen rebellierten nicht, sondern richteten sich in diesen ambivalenten Verhältnissen ein. Das heißt, sie ließen sich nur auf solche beruflichen Anforderungen ein, die ihnen die GratWanderung zwischen Beruf und Familie, die Vereinbarkeit von Mutterschaft und beruflichem Engagement erlaub-ten. Die Frauen allein zahlten damit den Preis ihrer Ausgrenzung aus zentralen Entscheidungsprozessen im Beruf wie in der Politik; sie überließen Männern die Zentren der Macht, der Ökonomie und Wissenschaft und begnügten sich mit der Peripherie. Soziologische Studien zeigen, wie rationalisierungsanfällig diese aber ist und wie schnell es Männern gelingt, Frauen dort zu verdrängen — wenn aus peripheren zentrale Bereiche werden Jüngste, noch vor der „Wende“ vom Institut für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführte Erhebungen zur Einführung moderner Informations-und Kommunikationstechnik in Angestelltenberufen — und zwar in frauentypischen Berufsfeldern wie dem Versicherungswesen, dem Handel, der Industrieverwaltung einerseits und in männlich dominierten Produktions-und Konstruktionsbereichen andererseits — zeigen: Die Wirkungen dieser neuen Technik sind in sozialer Hinsicht zwar differenziert, das heißt für unterschiedliche Qualifikations-und Berufsgruppen verschieden, ein Ende der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern — und damit ein Abbau der Macht-asymmetrie — ist aber nirgends in Sicht Im Gegenteil: Es bildeten sich „unter der Hand“ unversehens neue Hierarchien, die Frauen wiederum in die zweite Reihe verwiesen.

Die Tabuisierung dieser Probleme einesteils und gesamtgesellschaftliche Erfolgsbilanzen andemteils blockierten über Jahre die Entwicklung eines kritischen Bewußtseins vor allem bei den Frauen selbst, und zwar um so mehr, als sie permanent einem enormen Streß kräftezehrender Doppelbelastung ausgesetzt sind. Die Gewerkschaft ist — gegenwärtig jedenfalls — nicht die Kraft, die den Frauen hilft, ihre Situation zu reflektieren und Gegenstrategien zu entwickeln. In den genannten Untersuchungsfeldem zeichnete sich zwar die dringende Notwendigkeit ab, mit Hilfe von Technisierungsprozessen Partizipation zu ermöglichen, so daß die Betroffenen befähigt werden, ihre Interessen zu erkennen, zu artikulieren, zu vertreten und damit verbundene Konflikte auszutragen. Die entsprechenden neuen demokratischen Strukturen müssen sich aber erst noch bilden und dann ihre Funktionsfähigkeit beweisen. Das Beharren auf alten, „bewährten“ Strukturen war leichter und daher ein durchgängiger Trend. In ihnen wurden Fraueninteressen selten — leider auch in Frauenbetrieben — als legitime und spezifische Interessen erkannt und berücksichtigt.

Frauen müssen erst wieder lernen, ihre Angelegenheiten selbstbewußt in die eigenen Hände zu nehmen. ihre Interessen durchzusetzen. Die zentralisierte Planwirtschaft und eine formalisierte innerbetriebliche (Schein-) Demokratie, die auf Frauen-belange keine Rücksicht nahmen, haben Frauen mürbe gemacht. Sie haben sich schließlich vielfach damit abgefunden, daß die Dinge „woanders beschlossen werden“ und sie zu Befehlsempfängem nach dem Motto „Uns wurde es gesagt, und wir müssen uns damit abfinden“ degradiert werden. Dieser Mechanismus wurde von den Frauen durchaus ambivalent erfahren: Einesteils ist er funktional und kommt den Lebensumständen dieser Frauen auf gewisse Weise entgegen. Er entlastet sie von zu starker beruflicher Einbindung, Verpflichtung und Verantwortung. Andemteils fühlen sie sich ausgegrenzt aus Entscheidungsprozessen, die sie selbst betreffen, bei denen sie mitreden wollen und in die sie aufgrund ihrer hohen fachlichen Qualifikation, beruflichen Erfahrung und auch sozialen Kompetenz einiges einzubringen hätten. Um so mehr, als von den althergebrachten Institutionen keine Ver-ändemng der Situation zu erwarten ist, wird die Frauenbewegung in der DDR zum Hoffnungsträger. Sie muß allerdings erst noch unter Beweis stellen. daß sie sich einen Zugang zu den Frauen der bisherigen DDR-Gesellschaft verschaffen und für ihre Interessen streiten kann.

IV. Einübung in die Geschlechterverhältnisse: Sozialisation

Durch spontane Alltagserfahrungen werden Mädchen und Jungen ganz nebenbei, quasi einem „geheimen Lehrplan“ folgend, in die Strukturen der vorherrschenden Arbeits-und Rollenteilung zwischen den Geschlechtern eingeübt, lernen sie, diese als „natürlich“ zu akzeptieren Jungen und Mädchen besuchen in der DDR dieselbe Schule und werden nach denselben Lehrplänen unterrichtet -oft mehr als zehn Jahre lang: Die meisten von ihnen waren vorher im Kindergarten und davor in der Kinderkrippe. Soziologische Untersuchungen der vergangenen Jahre zeigen, daß diese formal gleichen Bedingungen Geschlechterdifferenzen nicht einfach abbauen, sondern sie punktuell sogar noch verstärken und mit für Mädchen und Jungen verschiedenen Erfahrungen verbunden sind. Mädchen haben beispielsweise zwar durchschnittlich keine schlechteren, oft sogar bessere Zensuren als Jungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen, dennoch lernen sie, ihren Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu mißtrauen und hier Jungen für die von Natur aus Begabteren zu halten. In Computerkursen machen Mädchen die Erfahrung, daß Jungen „besser“ und „schneller“ sind, weil diese vielleicht über mehr Vorkenntnisse verfügen. Mädchen räumen schon nach den ersten Hürden freiwillig die noch knappen Plätze und überlassen es den Jungen, tiefer in die Kunst der Programmierung und die Technik einzudringen, sie zu beherrschen.

Wie läßt sich diese schnelle Rückzugsbereitschaft der Mädchen erklären? Warum sind sie so ohne Widerstand bereit, dieses Feld als männliche Domäne zu akzeptieren? Die Gründe dafür sind vielschichtig. Eine Ursache besteht wohl darin, daß Mädchen frühzeitig und immer wieder erfahren, daß sie in ihrem Leben gut ohne diese Fertigkeiten zurechtkommen. Mehr noch: Mädchen wissen beinahe instinktiv, daß sie auf dem Heiratsmarkt nicht an Wert gewinnen, wenn sie allzu großen Ehrgeiz auf technischem Gebiet entfalten. Es macht sie nicht begehrenswerter, attraktiver für dasjenige Geschlecht, das noch immer die Definitionsmacht über weibliche Werte hat: die Männer. Jungen honorieren es, wenn Mädchen „sexy“ sind: Lange Beine, lange Haare, voller Busen, weich, blond, weiblich gelten als äußere Symbole für Weiblichkeit. Dahinter verbirgt sich ein Weiblichkeitsideal, das auch mit bestimmten Erwartungen an „innere“ Werte verbunden ist und Anpassungsfähigkeit, Treue, Hingabe meint Mädchen, die diesem Ideal nicht entsprechen, haben es schwer.

Wechselseitige Begehrlichkeiten, die latente Sexualität in den Beziehungen der Geschlechter scheinen einen ganz fundamentalen Einfluß auf das Leistungsverhalten, auf die Ausbildung von Interessen und Fertigkeiten zu haben. Sie sind eine Erklärung dafür, daß sich die schulischen Leistungen der Mädchen im höheren Schulalter verschlechtern, während die der Jungen sich im Gegenzug verbessern. Schüler und Schülerinnen — vor allem der oberen Schulklassen, also im Prozeß der schulischen Sozialisation sich verstärkend — haben dann auch auffällig stereotype Selbstbilder, was ihre Fähigkeiten und Anlagen betrifft: Verstärkt ab der sechsten Klasse trauen sich Jungen öfter als Mädchen technisches Geschick, Kraft und die Fähigkeit zu, im Beruf etwas Neues zu entwickeln. Mädchen gleichen Alters hingegen glauben von sich zu wissen, daß sie gut mit kleinen Kindern umgehen können, bei Handarbeiten und auch bei der Gestaltung ihrer unmittelbaren Umgebung geschickt sind. Jungen besitzen in ihrer Selbsteinschätzung bessere Voraussetzungen für technische Berufe, während Mädchen stärker von ihren sozialen Fähigkeiten überzeugt sind. Die gleichen Bilder haben die Lehrkräfte von den Fähigkeiten der Heranwachsenden und perpetuieren sie so, meist unbewußt. Und bei den Jugendlichen fällt dann durch das Sieb der Partnerwahl, wer dem Klischee nicht entspricht.

Jungen und Mädchen kommen aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen schon als sozial Verschiedene in die Schule. Ein Erziehungskonzept, das — wie es bisher geschehen ist — von diesen Unterschieden abstrahiert und sie ignoriert, muß sie zwangsläufig eher verstärken, anstatt sie abzubauen. Koedukation bedarf flankierender Maßnahmen, vor allem für Mädchen, die schon wieder die sozial Schwachen zu bleiben drohen und sich zu wehren lernen müssen.

Seit Ende der sechziger Jahre fehlen gesellschaftliche Konzepte, die auf eine bewußte Infragestellung traditioneller Geschlechterverhältnisse abzielen, insbesondere auch in der Bildungs-und Schulpolitik. In den gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen bleibt demzufolge bis heute vieles dem Selbst-lauf überlassen. Der Inhalt der Schulbücher in Bild und Text sowie Lehrpläne sind dafür beredter Aus-druck. Schon im Kindergarten setzt eine massive — zumeist von den Erzieherinnen nicht besser gewußte — Vermittlung von Geschlechterstereotypen und traditionellen Rollenklischees ein. Eine Sensibilisierung oder gar ein entwickeltes kritisches Bewußtsein für diese Erziehungsprozesse und ihre Folgen gibt es augenblicklich nicht. Dies aber kann sich nur im Diskurs entfalten, braucht also jene Öffentlichkeit, die es bis vor kurzem in der DDR nicht gab. Es setzt eine fundierte Meinungsbildung voraus, die ohne entsprechende Forschungen keine Substanz hat. Feministische Sozialwissenschaft, Frauenforschung ist gefragt, die die Grenzen traditioneller Forschung über Frauen, wie sie seit mehr als 20 Jahren in der DDR praktiziert wird, überwinden muß.

V. Frauenforschung statt Forschung über Frauen

Die traditionelle Forschung über Frauen stößt an Grenzen, — weil Frauen weitgehend funktional und damit einseitig betrachtet wurden. Sie wurden auf ihre ökonomische, biologische und/oder politische Funktion reduziert. Frauen interessierten nicht als Subjekte, d. h. in der Komplexität ihrer konkreten Lebenszusammenhänge, sondern als Arbeitskräfte, politische Funktionäre, Leitungskader, Gebärende und/oder als Mütter; — weil es in „objektiven“, männerzentrierten Analysen um die „optimale“ Verteilung von Frauen auf Qualifikationsgruppen, Berufe, Leitungsfunktionen ging. Gemessen an männlichen Leistungen wurde darin beurteilt, ob Frauen das eine schon „ganz gut“ machen, das andere aber noch lernen müssen. So gesehen handelte es sich über weite Strecken um Defizit- statt um Differenzforschung.

Diese Defizite mußten zur Erreichung „höherer“, meist ökonomischer Zwecke, überwunden werden, vor allem durch den Fleiß und die Anstrengung der Frauen selbst. Die gesellschaftlichen Defizite bzw. die objektive Ungleichheit in der Ausstattung mit Ressourcen — materiellen, zeitlichen, sozialen, kulturellen — standen weniger im Blickpunkt; — weil diese traditionelle Forschung über Frauen parteilich im Sinne der herrschenden Ideologie und Apparate war, nicht aber konsequent parteilich für Frauen. Sie hatte keine Frauenbewegung im Rükken, dafür die Abteilung „Frau“ beim ZK der SED im Nacken. Sie hatte Legitimationsleistungen zu erbringen und demzufolge Anteil an den Mythenbildungen vom erfolgreichen Voranschreiten der Gleichberechtigung in der DDR wie auch an den Tabuisierungen der realen Lebensverhältnisse von Frauen. Sie hat Anteil an der Verkümmerung des Frauenbewußtseins bzw. an der gesellschaftlichen Desensibilisierung in der Geschlechterfrage;

— weil Geschlecht auf eine statistische Merkmals-klasse reduziert und nicht als Strukturkategorie behandelt wurde. Das Gefälle im Geschlechterverhältnis wurde auf einen Nebenwiderspruch von Hauptwidersprüchen verkleinert. Seine Lösung mußte — theoretisch gesehen — so beinahe automatisch erfolgen, wenn die Individuen nur die rechte Einsicht hatten, wiederum vor allem die Frauen selbst.

Frauenforschung, die diese Grenzen überwinden will,

— muß Frauen als Subjekte sichtbar machen, und zwar in Geschichte und Gegenwart. Sie sind die Hälfte der Menschheit;

— muß die internationale Frauenforschung, die es seit mehr als zehn Jahren gibt, aufarbeiten und den Anschluß an diesen Diskussionszusammenhangfinden. Die Theorieansätze der internationalen Frauenforschung haben eine andere Sicht auf den gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang hervorgebracht und eine Diskussion um den Arbeitsbegriff, um Arbeitsleistung und um die Wechselbeziehungen zwischen privaten, individuellen Diensten und produktiver Arbeit in Gang gesetzt, die hierzulande erst noch zu führen ist. Es geht um die Bewertung von Arbeit, im Beruf und im Privaten, aber auch darum, zu verhindern, daß Frauen durch eine „leise“ Umwertung der Werte in den Haushalt, an den Herd abgedrängt werden;

— muß Geschlecht als Strukturkategorie begreifen. Nur so ist die Doppelsinnigkeit von Geschlecht (Regina Becker-Schmidt) zu erfassen, das heißt die Organisation des Geschlechterverhältnisses als strukturelles Phänomen einerseits und die subjektive Verankerung von Geschlechterstereotypen in den Individuen andererseits;

— muß die Patriarchatsdiskussion produktiv machen. Das heißt, es muß ergründet werden, warum die Ordnung der Welt über die Zweigeschlechtlichkeit (Carole Hagemann-White) auch heute noch Sinn macht. Und es gilt zu erklären, wie und warum sich im Geschlechterverhältnis Machtstrukturen perpetuieren;

- muß unter methodischen Gesichtspunkten die Androzentrismus-Debatte führen und fragen, wie männlich unsere Wissenschaften schon von ihren Ansätzen her sind.

Das alles ist eine Programmatik, die sich nicht ad hoc aufarbeiten und einlösen läßt und die auf Widerstände stoßen wird. Dennoch wird eine solche Frauenforschung in Gang kommen. Die auch in der DDR entstehende Frauenbewegung wird sie einklagen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Studie zur beruflichen Orientierung der Mädchen und Frauen, hrsg. vom Zentralinstitut für Berufsbildung, Berlin 1989.

  2. Die offizielle Berufsbezeichnung ist auch in den Berufen, in denen Frauen überrepräsentiert sind, meistenteils männlich.

  3. Vgl. Studie zur beruflichen Orientierung (Anm. 1).

  4. Ebd.

  5. I. Lange. Frauenpolitik der SED in Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages, in: dies.. Die Frauen — aktive Mitgestalterinnen des Sozialismus. Ausgewählte Reden, Berlin 1987, S. 500.

  6. Vgl. C. Unterkirchner/I. Wagner (Hrsg.), Die andere Hälfte der Gesellschaft, Österreichischer Soziologentag 1985, Wien 1987.

  7. Vgl. U. Hoffmann, Computerfrauen, München 1987.

  8. Vgl. die Forschungsberichte: Die soziale Realität der Einführung neuer Technologien — Vier Fallstudien aus Berliner Betrieben, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Soziologie, Berlin 1988; Computerisierung der Büros. Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Soziologie, Berlin 1989.

  9. Vgl. H. M. Nickel, Geschlechtersozialisation und Arbeitsteilung, in: Weimarer Beiträge, 34 (1988) 4.

  10. Vgl. dazu auch die Leserdiskussion zum „Traumtyp“ in: Junge Welt, (1989).

Weitere Inhalte

Hildegard Maria Nickel, Doz. Dr. sc. phil., geb. 1948; stellv. Direktorin am Institut für Soziologie ai der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Technikakzeptanz bei weiblichen Werktätigen, in: Informationen zur soziolo gischen Forschung, 23 (1987) 5; Geschlechtersozialisation und Arbeitsteilung, in: Weimarer Beiträge, 3( 1988) 4;. . . komm an den Herd, in: Sonntag, 44 (1990) 8; Geschlechtertrennung durch Arbeitsteilung, in Feministische Studien (Mai 1990).