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Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft | APuZ 16-17/1990 | bpb.de

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APuZ 16-17/1990 Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft Reformbewegung und Volksbewegung. Politische und soziale Aspekte im Umbruch der DDR-Gesellschaft Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR Frauen in der DDR

Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft

Artur Meier

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Über die soziale Struktur der jetzt untergehenden Gesellschaften des Realsozialismus existieren verschiedene Vorstellungen. Man hat versucht, ihre bürokratische Herrschafts-und Sozialordnung mit Hilfe von Schichten-, Kasten-und Elitekonzepten sowie mit Annahmen der Klassentheorie zu beschreiben, ohne zu einer konsistenten Analyse zu gelangen. In Wirklichkeit entstand nämlich im Gefolge der sozialistischen Revolution und deren militärischer Expansion eine Ständeordnung mit vorwiegend traditionalen Herrschaftsformen. Ihre geschlossene Struktur kann als eine Pyramide von vier aufeinandergelagerten Ständen mit der Nomenklatura und der Bürokratie an der Spitze verstanden werden. Die obrigkeitsstaatliche Herrschaft beruht auf fünf miteinander verflochtenen Apparaten, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben einer strikten Kontrolle unterwarfen (Partei-, Staats-, Wirtschafts-, Wissenschaftsund ideologischer Apparat). Diese starre Sozialordnung zerbricht gegenwärtig an dem weltweiten technologischen und sozialen Wandel. Als eine Gesellschaftsform, die eher vor-als nachkapitalistische Züge aufwies, wird der Realsozialismus durch demokratische Bewegungen in einem Land nach dem anderen überwunden. An die Stelle der rückständigen staatswirtschaftlich verfaßten Ständegesellschaft mit ihren anachronistischen Herrschaftstypen treten moderne, marktwirtschaftlich verfaßte Industriegesellschaften mit dementsprechenden Klassen- und Schichtstrukturen sowie demokratisch legitimierten Herrschaftsformen.

I. Einleitung

Skizzenartig kann die gesellschaftliche Gliederung der sozialistischen Ständeordnung etwa wie in der folgenden Graphik Umrissen werden:

Max Weber hat Recht behalten. Der Sozialismus bescherte den Gesellschaftsmitgliedern nicht die „wahre Freiheit“ oder „Demokratie“, sondern eine „soziale Ordnung“ und „organische Gliederung“, die er als den „Pazifismus der sozialen Ohnmacht unter den Fittichen der einzigen ganz sicher unentfliehbaren Macht: der Bürokratie in Staat und Wirtschaft“ verstand

Seine Befürchtungen, daß die Verstaatlichung der Wirtschaft und ihre zentrale Planung die ohnehin expandierenden Machtgrundlagen der Bürokratie über alle Maßen steigern und damit die Voraussetzungen für eine historisch neuartige, alle sozialen Lebensbereiche strikt reglementierende Herrschaftsform schaffen würde, haben sich nicht nur bestätigt, sondern sind durch die Wirklichkeit der realsozialistischen Sozialordnungen in Mittel-und Osteuropa sowie in Mittel-und Ostasien in der schlimmsten Weise noch übertroffen worden. Es ist traurig, aber wahr: Herausgekommen sind dabei eine Kommandowirtschaft — außerstande, auf Dauer die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen —, eine politische Zwangsherrschaft, beruhend auf der Unfreiheit und Unmündigkeit des „Staatsvolkes“, und eine Gesellschaft und Kultur, geprägt durch die äußerste Entfremdung der sozialen Beziehungen.

Dieses gesellschaftliche Organisationsmodell, einst -nach verheerenden Weltkriegen — aus einer geschichtlich überkommenen Utopie heraus geschaffen und lange Zeit mit großen Hoffnungen auf soziale Gleichheit und demokratische Gerechtigkeit besetzt, erweist sich heute als überholt und ist im Absterben begriffen. Die ökonomische Ineffizienz ebenso wie das politische und moralische Fiasko machen aus dem real existierenden den real untergehenden Sozialismus. Was da vor unseren Augen zusammenbricht, ist nicht bloß eine bestimmte Form sozialistischer Staatlichkeit, was neuerdings verharmlosend als das Ende des Stalinismus oder des bürokratisch-administrativen Typs der Machtausübung eingestanden wird, sondern es ist das aus inneren Ursachen heraus systembedingte Scheitern des realen Sozialismus selbst und dessen revolutio-näre Überwindung durch die sozialen Bewegungen der Völker in einer wachsenden Zahl von Ländern. Wer dagegen glaubt, es hätte sich in Wahrheit bisher (noch) nicht um eine sozialistische Gesellschaftsordnung gehandelt, sondern nur um deren schuldhaft seitens ihrer Führer verursachte Deformation, verfällt in neue Irrtümer. Zwar pervertierten die Mißwirtschaft, das Privilegienwesen, der Überwachungsstaat und viele andere Erscheinungen politischer Barbarei, sozialer Ungleichheit und kultureller Verödung die alte humanistische Vision von einer Gesellschaft der Gleichen und Friedfertigen geradezu in ihr Gegenteil —, aber es wäre entweder eine naive Selbsttäuschung oder von neuem die unverantwortliche Verbreitung einer Illusion, so zu tun, als hätte es den wirklichen Sozialismus nicht gegeben, und als würde ausgerechnet jetzt die Chance heraufdämmem, ihn demokratisch in den betreffenden Staaten in Szene zu setzen. Der reale Sozialismus erlebt nicht eine Umbruchkrise, aus der er auf einem „dritten Wege“ erneuert hervorgehen könnte, sondern nach langen Jahren seines kontinuierlichen Niedergangs eine Revolution, die seinen Untergang besiegelt.

Das mag für überzeugte Marxisten — darunter gerade auch für Sozialwissenschaftler dieser Observanz — mehr als schmerzlich sein, an der Tatsache selbst ändert es nichts. Da hilft kein Jammern und kein Klagen, auch keine Selbst-oder Fremdbezichtigung, sondern nur das rückhaltlose Eingeständnis der Wahrheit. Zugegeben: Zeiten der Revolution sind, wie könnte es anders sein, Momente großer Irritationen. Aber gerade in solchen Augenblicken, erscheint es als die Aufgabe, ja, als die Pflicht analytisch geschulter Sozialwissenschaftler, zu ergründen, wie die Strukturen der Gesellschaft, deren dramatischen Wandel sie miterleben, vielleicht sogar mitbewirkt haben könnten, im Kem eigentlich beschaffen waren (oder es noch sind) und wohin die ganz Entwicklung zu treiben scheint. Mancher wird sich zwingen müssen, an die Stelle von Wunschdenken „Trauerarbeit“ zu setzen. Sich aber theoretische Klarheit über die jetzt verfallenden sozialen Grundstrukturen des Realsozialismus zu verschaffen, ist mehr als eine wissenschaftlich wie moralisch gleichermaßen notwendige Katharsis. Es ist der einmal mehr fällige Beitrag — zumindest der Soziologie —, die Welt entzaubern zu helfen. Die praktische Aktion, deren Zeitzeugen wir sind und an der wir nach Kräften teilhaben mögen, sollte uns demzufolge von der theoretischen Reflexion über das gesellschaftlich Grundlegende nicht abhalten. Im Gegenteil, sie bedarf ihrer heute mehr denn je.

II. Innenansichten: Zur Anatomie der sozialistischen Gesellschaften

An Versuchen, die tatsächliche Sozialstruktur realsozialistischer Gesellschaften zu entschlüsseln, hat es auch in der Vergangenheit nicht gefehlt. Allein, wenn man sich hier, schon aus Platzgründen, auf einige typische Konzepte beschränkt, die in mehr oder weniger systemkritischer Absicht in den sozialistischen Ländern selbst zur Analyse des Gesellschaftsaufbaus entstanden sind, kommt man schon auf eine Reihe von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. Ohne daß ihr Analysepotential im einzelnen untersucht werden kann, lassen sich an dieser Stelle prinzipiell drei theoretische Stränge zur Erklärung der Sozialstruktur im Sozialismus unterscheiden: Schichtenmodelle, Elite-und Kastenkonzeptionen sowie Klassenanalysen.

1. Schichtenmodelle

Schichtenkonzepte, die den Gesellschaftsaufbau im Sozialismus eher beschreiben als erklären, stellen die ältesten und wohl auch die verbreitetsten Versuche dar, eine soziologische Grundfigur für die vorfindliche soziale Stratifikation zu finden. Als ihr unzweifelhaftes Verdienst kann gelten, daß durch sie die soziale, teils auch die politische Ungleichheit aufgedeckt wurde in einer Gesellschaft, deren erklärtes Ziel das genaue Gegenteil war. Demzufolge enthielten sie — sieht man von den wissenschaftlich indiskutablen apologetischen Behauptungen, an denen es freilich keinen Mangel gab, einmal ab — in der Regel auch gesellschaftskritische Momente. Die mit der Feststellung einer sozialen und politischen Machthierarchie verbundenen frühen Schichtkonzepte aus der jungen Sowjetunion, dem ersten realsozialistischen Staat auf der Welt, entstammten im wesentlichen dem Trotzkismus. Mit heftiger, aus der Enttäuschung resultierender Kritik, ja, mit immer stärkeren Angriffen auf die bürokratische Oberschicht, die die sozialistische Revolution verraten zu haben schien und nun ihr Eigeninteresse verfolgte, wurde demzufolge in diesen frühen Schichtkonzepten nicht gespart. Dabei herrschte die Überzeugung vor, daß es sich im ganzen nur um eine Übergangserscheinung handelte, die in einem reifen Stadium des Sozialismus wieder rückgängig gemacht werden könnte. Zu denken gab jedoch auch den trotzkistischen Systemkritikern schon der Umstand, daß die herrschende Schicht innerhalb der bürokratischen Apparate sich offenkundig immer stärker zu etablieren vermochte und vor allem zahlenmäßig immer mehr anwuchs.

Der Politökonom Ernest Mandel, der diese henschende Schicht allein in der Sowjetunion auf mehrere Millionen Angehörige schätzte, schrieb: „Mir scheint, die richtige Definition der Bürokratie ist die einer sozialen Schicht, die all diejenigen umfaßt, die Verwaltungs-(Leitungs-) Funktionen in irgendeinem Sektor der sowjetischen Gesellschaft ausüben: Wirtschaft, Staat, Armee, Wissenschaft, Kunst usw. All diese Leute sind materiell privilegiert. Ihre Zahl ist viel größer als die einer kleinen , Elite‘. Sie umfaßt wahrscheinlich mehrere Millionen Menschen. Diese Gruppe hat die Kontrolle und die Verwaltung des gesellschaftlichen Mehrprodukts in ihrer Hand. Sie hat ein Monopol der Macht auf jeder Ebene der Gesellschaft. Sie schließt die Masse der Arbeiter, der produzierenden Bauernschaft und einen großen Teil der Intelligenz von der direkten Teilnahme an Entscheidungen aus, zumindest auf der Ebene der Macht. In marxistischerTerminologie und im breiten (. makrogesellschaftlichen'und nicht nur . mikroökonomischen') Sinn des Wortes, spiegelt sie die Arbeitsteilung zwischen Produktion und Akkumulation wider.“

Seitdem hat es eine ganze Reihe von kritischen Untersuchungen und theoretischen Vorschlägen zur Schichtengliederung der sozialistischen Gesellschaften gegeben, die — mit wenigen Ausnahmen — vor allem auf das Bürokratiephänomen abhoben und somit auf die Genesis, die soziale Stellung und die Funktionen der herrschenden Oberschicht konzentriert erscheinen. Sie aufzuzählen und außerdem einer kritischen Würdigung zu unterziehen, würde hier zu weit führen. Das Wesentliche an ihnen bleibt die Enthüllung, daß es anstelle der gepredigten revolutionären Macht des Volkes in Wirklichkeit zur Herrschaft einer bestimmten Minderheit. die dem Wesen nach als bürokratische Schicht dargestellt wird, über die arbeitenden Klassen gekommen ist. In einigen Konzepten wird sie auch selbst schon als Keimzelle einer sich bildenden Klasse, die die ökonomische und politische Macht zu usurpieren imstande ist, apostrophiert. Von den Vertretern der offiziellen Parteiphilosophie und -Soziologie wurden diese „revisionistischen“ Auffassungen nicht nur massiv zurückgewiesen und ihre Vertreter mit Schimpf und Schande überzogen, sondern auch eigene Darstellungen und Theorien verbreitet, die eine fortschreitende soziale Homogenisierung unter den angeblich „befreundeten“ Klassen und Schichten der sozialistischen Gesellschaft behaupteten und zugleich das zentrale sozialstrukturelle Phänomen bürokratischer Herrschaft kurzerhand aussparten

Von dieser Art plumper „Sozialismuspropaganda“, die mit der Wirklichkeit so gut wie gar nichts mehr zu tun hatte, positiv abgehoben zu werden verdienen Schichtkonzepte, die zwar als marxistisch deklariert, dem Typ nach aber im allgemeinen strukturfunktionalistisch angelegt sind. In ihnen wird die hierarchische Schichtung im Prinzip nicht geleugnet. wohl aber als leistungsgerechte Ungleichheit gerechtfertigt. Sie wird zugleich als notwendiger sozialer Unterschied bagatellisiert, ohne daß das Problem der Herrschaft angegangen wird. Folgerichtig bleibt die Forschung auf die Mittel-und Unterschichten beschränkt, so daß ein kurioses Gegenstück zu den revisionistischen Analysen entsteht, die sich ebenso ausschließlich den bürokratischen Oberschichten widmeten.

Ein typischer Vertreter des „Struktur-FunktionsParadigmas“ in der sozialistischen Stratifikationsforschung ist der DDR-Soziologe Manfred Lötsch, dem es in seinen bisherigen Arbeiten bevorzugt um das Ziel einer größeren Effizienz des Sozialismus und dementsprechend um eine Statuserhöhung der Intelligenz zu gehen schien. Ein Schichtungsmodell der realsozialistischen Gesellschaft im ganzen wurde hier auch niemals vorgetragen. Abstrakt argumentierte Lötsch wie folgt: „Damit eine Strukturanalyse, die nicht in bloßer Deskription versanden will, sinnvoll wird, müssen übergreifende Fragen gestellt und beantwortet werden: Strukturen erfüllen — als Moment von Kontinuität — Funktionen der Systemstabilisierung, und sie wirken — als Moment von Wandel — als Faktoren von Entwicklung. Hinter all dem verbirgt sich letztlich das Problem des Fortschritts, d. h. die Frage, wie Strukturen und strukturelle Entwicklungen mit den dominierenden Werten und Fortschrittsvorstellungen einer gegebenen Gesellschaft Zusammenhängen.“ Das Schlüsselwort heißt nach Lötsch „Zielkriterien“, die offenbar als vorgegeben betrachtet werden. Von wem eigentlich?

Aus der verbitterten marxistischen Kritik an der politischen und sozialen Ungleichheit in den frühen Jahren ihrer Entstehung unter der bürokratischen Herrschaft in der Sowjetunion wurde im Spätsozialismus die Legitimation einer systemstabilisierenden Entwicklung zwecks Machtsteigerung. Nur wer weiß, wie schwierig es war, empirisch gehaltvolle Sozialstrukturforschung in den meisten sozialistischen Ländern, wenigstens auf die werktätigen Schichten begrenzt, betreiben zu können, wird diesen Anpassungsprozeß einigermaßen verstehen. Der Materialreichtum der empirischen Erhebungen, die unter solchen Voraussetzungen zustande kamen, müßte jetzt erst noch kritisch erschlossen werden.

Eine positive Ausnahme bildeten indes Ungarn und Polen, wo seit Jahren schon sowohl mit systemkritischer Bürokratieforschung als auch mit modernen Stratifikationsmodellen die schichtenspezifischen Ungleichheiten auf der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Dimension untersucht worden sind

Der bemerkenswerteste systemkritische Versuch der „Anatomie des real existierenden Sozialismus“ aus der DDR entstammt der Feder von Rudolf Bahro und brachte ihm prompt Jahre der politischen Verfolgung ein, eine Haftstrafe eingeschlossen. In seinem im März 1990 endlich auch in seiner Heimat veröffentlichten Buch „Die Alternative“ legte er ein Schichtungsmodell für die „protosozialistischen Industriegesellschaften“ dar, bei dem als die erklärende Variable die hierarchische gesellschaftliche Arbeitsteilung gewählt und, darauf basierend, die „Pyramidengestalt, zu der sich der gesellschaftliche Gesamtarbeiter im arbeitsteiligen Produktions-und Leitungsprozeß organisiert“ zu erklären versucht wurde. Für Bahro wie für viele andere Stratifikationstheoretiker, die sich mit sozialistischen Gesellschaften befaßten, reichte die Beschreibung der dortigen Wirklichkeit nach den traditionellen Kriterien der Klassenstruktur nicht mehr aus. Er schlug, auf die Wirtschaft beschränkt, ein vereinfachtes Modell der Differenzierung nach Bildungsgraden, Leitungsebenen, Funktionen des Reproduktionsprozesses und Zweigen der Arbeitsteilung vor. Dabei wurden die sozialen Gruppen der Ungelernten, Angelernten, Facharbeiter, Spe-zialisten, Fachschulkader und Hochschulkader unterschieden. die sich auf die Unterfunktionen des wirtschaftlichen Reproduktionsprozesses (Hilfsarbeiten, Produktionsgrundprozesse, Produktionshilfsprozesse, Produktionsvorbereitung einschließlich Forschung und Entwicklung) sowie auf die Leitungsfunktionen in den Wirtschaftseinheiten verteilten Bei diesem Schema kommen die Machtverhältnisse nur in Form der angedeuteten ökonomischen Leitungs-und Stabsfunktionen zum Vorschein. Abschließend kommt Bahro aber wieder auf die Herrschaft im Sozialismus zu sprechen. An der Spitze stehe eine „große Gruppe von Menschen mit ausgeprägtem Sonderinteresse, die sich um den Stamm, die Äste und die Zweige des Machtapparates kristallisiert hat“ und deren gewissermaßen natürliche politische Existenzform der Bürokratismus sei. Diese Gruppe umfasse im wesentlichen die hauptamtliche Besetzung der gesamten politischen, staatlichen und „gesellschaftlichen“ Leitungspyramide einschließlich der militärischen, polizeilichen und ideologischen Zweige, also eben die ausgedehnte Partei-, Staats-und höhere Wirtschaftsbeamtenschaft im weitesten Sinne

Bahros Schichtkonzept stellt die bisher wohl gelungenste stratifikatorische Systemkritik am Realsozialismus dar, weil es bei der Anatomie des Gesellschaftsaufbaus die beiden dominanten Erklärungsvariablen „hierarchische gesellschaftliche Arbeitsteilung“ einerseits und „bürokratische Herrschaft“ andererseits vereinigt und auf diese Weise zu einer aufschlußreichen Analyse gelangt.

2. Kasten-und Elitenkonzepte

Die sozialistische Bürokratie wurde schon relativ frühzeitig als eine vom Volk sich immer weiter entfernende selbständige Schicht namhaft gemacht. Sie wurde bisweilen als eine isolierte Kaste angesehen. Ren Ahlberg weist in seiner Studie über die verschiedenen Typen sozialistischer Bürokratie und die Deutungsschemata realsozialistischer Gesellschaften sehr zu recht darauf hin, daß die besonders von den sowjetischen Trotzkisten bevorzugte Kastenkonzeption im Gegensatz zu einer möglichen Verwendung auch des Klassenbegriffs sich zwanglos mit den traditionellen Vorstellungen über Abkapselungsbestrebungen in der Bürokratie verbinden ließ und die herrschende Oberschicht einem konkreten soziologischen Typus der sozialen Ab-spaltung zuordnete, ohne daß die Vision einer egalitären Gesellschaft aufgegeben werden mußte

Anders als der eindeutige Begriff der Klassenherrschaft im Marxismus läßt die vage Annahme einer nur separaten Kaste es zu, von einer nur vorübergehenden Deformation des Sozialismus auszugehen und die spätere Aufhebung dieser Art von sozialer Segregation ins Auge zu fassen. Leo Trotzki selbst war sehr bemüht, Argumente zu entkräften, nach denen die sozialistische Bürokratie sich dauerhaft in eine herrschende Klasse verwandeln könnte und sprach von ihr als einer bonapartistischen Kaste. Am Ende aber schien er doch noch zu begreifen, daß sie ihre Herrschaft auf der Verfügung über das staatliche Eigentum aufrichten könnte. In einem seiner letzten Artikel dämmerte ihm unter dem Eindruck einer internationalen Diskussion die Erkenntnis. daß die Machtstellung der sowjetischen Bürokratie keine kurzfristige soziale Konstellation, sondern womöglich ein dauerhaftes historisches Phänomen sein könnte. Er notierte: „Wenn das bonapartistische Gesindel eine Klasse ist, dann bedeutet das, daß es keine Fehlgeburt, sondern ein lebensfähiges Kind der Geschichte ist. Wenn seine marodierende und parasitäre . Ausbeutung'wirklich Ausbeutung im wissenschaftlichen Sinne des Wortes ist, so hat die Bürokratie als herrschende Klasse eine historische Zukunft vor sich, die für das Wirtschaftssystem unerläßlich ist.“

Die Unerläßlichkeit von speziellen Machtgruppen für das Funktionieren des sozialistischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems wird auch in der Regel in Elitekonzepten vorausgesetzt. Zum Unterschied jedoch von der negativ besetzten Kasten-vorstellung hat das Eingeständnis, daß es auch im Sozialismus eine Machtelite gebe, eher einen positiven Unterton. Nicht daß ihre Existenz gefeiert wird, aber deren Notwendigkeit wird — zumindest indirekt — in diesen Konzepten hingenommen. Als Beispiel kann Wlodzimierz Wesolowskis Arbeit über die Klassen-, Schicht-und Machtverhältnisse dienen, in der er die kapitalistische und sozialistische Gesellschaft verglich und zu dem Schluß gelangte, daß in beiden Systemen die direkte Regierungsgewalt durch eine spezialisierte Gruppe von Menschen ausgeübt werde — die „Powereliten“ In dieser theoretischen Untersuchung aus den sechziger Jahren, die damals an theoretischer Tiefe ihresgleichen in den sozialistischen Ländern suchte, schob der Autor immerhin seine These soweit vor, daß die Arbeiterklasse nur noch in der Retrospektive als herrschende Klasse gelten könnte Trotzdem erhoffte er sich damals noch — wie viele mar-xistische Sozialstrukturforscher mit ihm —, daß eine Dekomposition jeglicher Klassenherrschaft in der sozialistischen Gesellschaft zukünftig möglich sein würde. Diese Hoffnung ist auch in den Konzepten anwesend, in denen angenommen wird, daß nicht die Arbeiterklasse, sondern ihr Gegenpart in Gestalt einer „neuen Klasse“ im Sozialismus zur Herrschaft gelangt sei.

3. Klassentheorie

Schockiert durch den Sachverhalt, daß in Wahrheit nicht die Mehrheit über die Minderheit in der realsozialistischen Gesellschaft herrscht, sondern genau umgekehrt, griffen in der marxistischen Tradition stehende Theoretiker alsbald auch auf das Theorem von der Klassenherrschaft zurück. Die Konzeptualisierung des verblüffenden Phänomens schien zu gelingen, wenn man die Entstehung einer „neuen Klasse“ und deren systematisch ausgebaute Macht mit Hilfe des sozialistischen Staates ins Auge faßte. Dies geschah 1930 in einem Dokument, das Christian Rakovskij, der erste Vorsitzende der ukrainischen Sowjetregierung, mit drei weiteren Autoren verfaßte. In ihm hieß es: „Nach unserer Auffassung hat sich eine umfangreiche herrschende Klasse herausgebildet, die eine differenzierte Struktur besitzt und sich mit Methoden der Kooptation, durch direkte und indirekte Ernennungen (mit dem bürokratischen Mittel der Beförderung oder mit fiktiven Wahlen) ergänzt und erweitert. Das konstitutive Merkmal dieser eigenartigen Klasse besteht in der besonderen Form des Privateigentums, im Besitz des Staatsapparates.“

Die frappierenden Analysen von Rakovskij und seinen Mitstreitern stießen damals auf Widerspruch, besonders auf Seiten Trotzkis und seiner Anhänger, die ihr Konzept von einem nur zeitweiligen Übergangsregime zu verteidigen suchten. Nahezu sechs Jahrzehnte später jedoch erlebt gerade jetzt das Konzept von der Existenz einer bürokratischen Klasse, die sich erneut die sozialistische Gesellschaft unterworfen habe, in der sowjetischen Soziologie eine Neuauflage

So neu allerdings war selbst im Jahr 1930 die Vorstellung, eine neue Klasse könnte im Sozialismus alle Macht an sich reißen, nun auch wieder nicht. Sie läßt sich bis auf Michail Bakunin zurückverfolgen, der Marx wegen dessen intellektuellen Staats-sozialismus angriff und befürchtete, daß dann eine äußerst komplexe Herrschaft die Massen nicht nur politisch regieren und verwalten könnte, sondern auch ökonomisch. Für diesen Fall sah er ein höchst aristokratisches, despotisches, arrogantes und verachtungsvolles Regime voraus

Konzeptionell eindringlich wurde die Theorie von der Existenz einer „neuen Klasse“ an der Macht in der sozialistischen Gesellschaft in den fünfziger Jahren in dem gleichnamigen Buch von Milovan Djilas durchgeführt. Nach der Auffassung des ehemaligen Generalsekretärs des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, der wegen seiner vernichtenden Insiderkritik des sozialistischen Herrschaftssystems zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, ist die neue Klasse eine berufsmäßige Parteibürokratie, die totalitär die Wirtschaft und die Gesellschaft beherrsche und den Staatsapparat als Deckmantel und Werkzeug benutzt „Im Gegensatz zu früheren Revolutionen hat die kommunistische Revolution, die im Namen der Beseitigung aller Klassen gemacht worden ist, zur totalen Herrschaft einer neuen Klasse geführt. Alles andere ist Betrug und Täuschung“ so urteilt Djilas, um dann — fast prophetisch — fortzufahren:

„Historisch gesehen ist die neue Klasse gezwungen, ihre Macht und ihren Besitz immer mehr zu befestigen, wenn sie sich dabei auch immer weiter von der Wahrheit entfernt. Sie muß ununterbrochen demonstrieren, wie erfolgreich sie darin ist, eine Gesellschaft von glücklichen Menschen zu schaffen, die alle die gleichen Rechte genießen und von jeder Art Ausbeutung befreit worden sind. Die neue Klasse kann nicht verhindern, daß sie sich in immer tiefere innere Widersprüche verwickelt; denn wegen ihres historischen Ursprungs kann sie ihren Besitz nicht gesetzlich verankern, und sie kann auf ihren Besitz nicht verzichten, ohne sich selbst das Grab zu schaufeln. So muß sie den Versuch machen, ihre wachsende Macht zu rechtfertigen, indem sie abstrakte und unwirkliche Ziele vorschützt. Dies ist eine Klasse, deren Macht über die Menschen die vollständigste ist, welche die Geschichte kennt. Aus diesem Grund ist sie eine Klasse mit sehr beschränkten Ansichten und Perspektiven, die unsicher und falsch sind. Isoliert und im Besitz der vollständigen Macht, muß die neue Klasse ihre eigene Rolle und die der Welt, die sie umgibt, unrealistisch einschätzen.“ Eine weitere Version vom Aufstieg einer „neuen Klasse“ wurde von dem ungarischen Philosophen György Konrad und dem Soziologen Ivan Szeleny in ihrem 1978 im Exil erschienenen Buch „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ entwikkelt. Allein das Manuskript hatte gereicht, um die beiden Wissenschaftler wegen ihrer brisanten Idee aus dem Lande zu treiben. Die Autoren argumentierten, daß es nun die Intelligenz in Osteuropa kraft ihres Monopols über das technologische Wissen sei, die einen Anteil an der Klassenherrschaft der Bürokratie einfordere und im Begriff sei, ihn auch zu bekommen In einem neueren Aufsatz räumt Ivan Szeleny jedoch ein. daß sie den Zugang der Intelligenz zur Klassenmacht in sozialistischen Gesellschaften sowjetischen Typs in der poststalinistischen Ära überschätzt hätten. Die Bürokratie heute unter Gorbatschow könnte allerdings eher — wenn auch widerstrebend — bereit sein, die Macht mit einer technologischen Intelligenz zu teilen

Theorien der neuen Klasse im Sozialismus sind nicht unproblematisch. Ihr Mangel ist es, daß sie — fast ohne Ausnahme — nur auf die Herrschaft der Bürokratie in der realsozialistischen Gesellschaft abzielen, ohne die vielschichtige Sozialstruktur im ganzen mit ihren Widersprüchen in einem konsistenten Modell abbilden zu können. Dies aber wäre für eine wirkliche Klassenanalyse der gesellschaftlichen Beziehungen unerläßlich. Erst dann könnte auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob die Bürokratie überhaupt als soziale Klasse angesehen werden kann. Ja, noch mehr: Die entscheidenden Voraussetzungen, von denen alle diese Konzepte ausgehen, müssen selbst in Zweifel gezogen werden. Handelt es sich denn tatsächlich im Falle des Realsozialismus um eine Klassengesellschaft? Und kann denn von einer Bürokratie im Sinne eines rationalen Herrschaftstyps überhaupt die Rede sein? Die Implikation also, daß es sich überhaupt um eine moderne Gesellschaft handele, wäre demnach noch zu hinterfragen.

III. Theoretische Skizze: Die realsozialistische Ständeordnung

1. Ihre Entstehung

In allen bisherigen Konzeptionen der sozialistischen Gesellschaftsstruktur, sofern sie vor allem von Theoretikern aus diesen Gesellschaften selbst stammten, wird — auch wenn diese kritisch sind — unterstellt, daß es sich beim Sozialismus um eine revolutionäre oder postrevolutionäre Gesellschaftsform handelt, die eine höhere Stufe in der Evolution gegenüber dem alten Kapitalismus darstelle Genau dies aber ist der Punkt, wo grundlegende Zweifel angemeldet werden müssen.

Im Gegensatz nämlich zu Marx’ Prophezeiung, die sozialistische Revolution werde in den hochentwikkelten kapitalistischen Industrieländern des Westens ausbrechen, weil diese Gesellschaften an ihrer Überproduktion und ihrem Überfluß zugrunde zu gehen bestimmt wären, kam es zu den Umwälzungen überraschenderweise in den armen und rückständigen Agrargesellschaften des Ostens, in Ruß-land zumal und später in China. Abgesehen von den Sozialverhältnissen in wenigen Zentren besaßen diese Gesellschaften keine moderne Klassenstruktur. Von hier aus war es der sozialistischen Revolution demnach auch gar nicht möglich, den ebenfalls prophezeiten Siegeszug des Proletariats um die Welt anzutreten und den entwickelten Kapitalismus zu überwinden.

Statt dessen wurde in den noch halbfeudalen Staaten selbst, in denen die Revolution am Ende siegte, unter der Führung der zur Herrschaft gekommenen kommunistischen Parteien der Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung in Angriff genommen. Was dabei herauskam, war nach blutigen sozialen Konflikten dann in der Tat keine Klassengesellschaft. Mit allen Mitteln, zeitweilig sogar mit Massentenor, wurde die Entfaltung einer modernen industriellen Gesellschaft und Kultur nach westlichem Vorbild verhindert. So entstand schließlich eine klassenlose Gesellschaft. Was sie aber auszeichnete, war keineswegs eine fortschrittliche, egalitäre Solidargemeinschaft, wie sie ständig propagiert wurde, sondern eine sorgfältig abgestufte konservative Stände-ordnung mit allen für einen solchen Gesellschaftstyp charakteristischen Merkmalen krassester sozialer, kultureller und rechtlicher Ungleichheit, wirtschaftlicher Unterentwicklung und obrigkeitsstaatlicher politischer. Machtausübung. Indem der Entwicklungspfad zu einer marktwirtschaftlich verfaßten kapitalistischen Klassen-und Schichtengesellschaft gewaltsam unterbunden wurde, gebar die Revolution eine alternative Gesellschaftsform: die bürokratisch verfaßte, sozialistische Ständegesellschaft. Der ohnehin in den kommunistischen Parteien „neuen Typs“ unumschränkt regierenden Oligarchie gelang es, nach der Machtergreifung innerhalb kurzer Zeit alle Staatsmacht zu usurpieren und zu monopolisieren und auch die Wirtschaft mit Hilfe der Planbürokratie allmählich vollständig unter ihre Verfügungsgewalt zu bringen, als ob es ihr Gruppen-oder gar Privateigentum wäre. Die ganze Gesellschaft wurde nach feudalem Muster organisiert: abgeschlossen nach außen und in sich stratifiziert in Form gegeneinander abgeschotteter Sozial-gebilde, im wesentlichen ständischer Natur, das Ganze überzogen mit einer allgewaltigen bürokratisch-militärischen Diktatur.

Nicht Karl Marx, sondern Max Weber hatte einen solchen Entwicklungsgang in Betracht gezogen. Er schrieb über dieses „Gehäuse“ der Hörigkeit noch im Revolutionsjahr 1917: „Und dieses Gehäuse, welches unsere ahnungslosen Literaten preisen, ergänzt durch die Fesselung jedes Einzelnen an den Betrieb (Anfänge dazu: in den sogenannten . Wohlfahrtseinrichtungen*), an die Klasse (durch zunehmende Festigkeit der Besitzgliederung) und vielleicht einmal künftig an den Beruf (durch , leiturgische* staatliche Bedarfsdeckung, das heißt: Belastung berufsgegliederter Verbände mit Staatsaufgaben), würde nur um so unzerbrechlicher, wenn dann etwa auf sozialem Gebiet, wie in den Front-staaten der Vergangenheit, eine . ständische* Organisation der Beherrschten der Bürokratie angegliedert (und das heißt in Wahrheit: ihr untergeordnet) würde. Eine .organische*, das heißt eine orientalisch-ägyptische Gesellschaftsgliederung, aber im Gegensatz zu dieser: so streng rational, wie eine Maschine es ist, wurde dann heraufdämmern. Wer wollte leugnen, daß derartiges als eine Möglichkeit im Schoße der Zukunft liegt?“

Der Weg in die Ständeordnung in Sowjetrußland und später in China war kein historischer Zufall oder eine Fehlentwicklung. Das Abgleiten in diese Art von sozialistischen Verhältnissen mit einem neofeudalen Charakter entsprach dem tatsächlichen Stand ihrer unentwickelten Produktivkräfte und demzufolge ihrer begrenzten sozialen Problemlösungskapazitäten. Nach dem Sieg der Antihitlerkoalition im Zweiten Weltkrieg wurde dieser Gesellschaftstyp mit dem Vorrücken der sowjetischen Armee, d. h. mit militärischer Gewalt, einigen industriell schon fortgeschrittenen, aber im Krieg unterlegenen modernen Klassengesellschaften Mittel-europas oktroyiert. Sie wurden damit in ihrer Entwicklung zurückgeworfen, ohne daß durch die gewaltsame Sowjetisierung alles bislang auf dem Bo-* den ihrer industriellen Zivilisation schon Erreichte ausgemerzt wurde. Dennoch verschaffte sich, wie überall in den sozialistischen Staaten, auch bei ihnen zunehmend ein rückständiger politischer Herrschaftstyp mit einer angegliederten Zwangswirtschaft rücksichtslos Geltung.

Die realsozialistischen Verhältnisse entsprechen bei weitem nämlich nicht dem reinen Typus legaler bürokratischer Herrschaft gemäß den Kriterien westlicher Rationalisierung. Eher schon stellen sie einen Rückfall in traditionale Herrschaftstypen dar, bei denen sich neopatriarchale und korporatistische Strukturen und Lebensformen mischen. Es ist nicht die Expertokratie rationaler Bürokratien, sondern die Zwangsgewalt eines neuen sozialistischen Adelsstandes mit einem absolutistischen Souverän an der Spitze, die sich die ganze übrige Gesellschaft untertan macht. Befehl und Gehorsam, Herrschaft und Dienerschaft, Obrigkeit und Untertanentum, Nepotismus und Günstlingswirtschaft sind für die sozialistische Ständeordnung charakteristisch; nicht so sehr Fachauswahl und -kompetenz, rationale Entscheidung und sachbedingte Legitimität, mündiges Staatsbürgertum und politischer Interessenausgleich, womit es in der Regel moderne Bürokratien zu tun haben.

Im Sozialismus dominieren nicht die sachlichen, sondern — wie in einer Feudalordnung — die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse. Demzufolge ist auch die sozialistische Bürokratie von einem vorrationalistischen Typ, mit graduellen Unterschieden zwischen den einzelnen Staaten. Je größer die wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit der einzelnen Länder, desto stärker der Anteil an partriachalen Herrschaftsformen, dessen reinste in der Tat die Despotie ist, bei der die Herrschaft wie ein gewöhnliches Vergnügen des Herrn behandelt wird; siehe beispielsweise Stalin, Mao und Ceauescu. Je mehr indes in einzelnen Ländern, besonders in jenen in Mitteleuropa, vor ihrer Unterwerfung schon avanciertere Herrschaftsverhältnisse ausgebildet waren, desto stärker tendierten sie auch unter dem Sozialismus zu immerhin schon mehr bürokratisch-rationalisierten Ständestaaten. wird; siehe beispielsweise Stalin, Mao und Ceauescu.

Je mehr indes in einzelnen Ländern, besonders in jenen in Mitteleuropa, vor ihrer Unterwerfung schon avanciertere Herrschaftsverhältnisse ausgebildet waren, desto stärker tendierten sie auch unter dem Sozialismus zu immerhin schon mehr bürokratisch-rationalisierten Ständestaaten.

Allen realsozialistischen Gesellschaften gemeinsam ist ein streng hierarchisch geordnetes Sozialsystem, bei dem nicht nur die Bürokratie ein abgesondertes Dasein führt, sondern nach dessen postrevolutionärer Konsolidierung Offenheit und Mobilität auch generell vermißt werden. Das Über-und Untereinander der sozialen Großgruppen folgt nicht — jedenfalls nicht in erster Linie — rationalen Gesetzen der Arbeitsteilung, wie vielfach angenommen worden ist, sondern hauptsächlich Machtgesichtspunkten. Demzufolge ist der pyramidische Aufbau der realsozialistischen Gesellschaften nach Kriterien zu erklären, die für traditionale Ständeordnungen und nicht für moderne Klassen-und Schichtstrukturen gelten.

2. Ihre soziale Struktur

Die realsozialistischen Gesellschaften sind in vielfacher Hinsicht sozial stratifiziert (gewesen), ihre dominante Gliederung jedoch ist eine nach ständischen Lagen mit der entscheidenden politischen Demarkationslinie zwischen den Herrschenden und den Beherrschten. Die hierarchische sozialistische Ständeordnung ist vorwiegend „durch die ständische Appropriation von politischen und hierokratischen Herrengewalten als Monopole (politische bzw. hierokratische Stände)“ im Gefolge der Revolution und des Aufbaus der gewaltigen Machtapparate in den Händen der kommunistischen Parteioligarchen entstanden. Auf die übereinander geschichteten ständischen Lagen in den realsozialistischen Gesellschaften trifft auch genau das zu. was Max Weber zu ihrer Charakterisierung allgemein anführte: die positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung, begründet auf der Lebensführungsart, der formalen Erziehungsweise und dem Abstammungs-oder Berufsprestige und deren praktischer Ausdruck in der monopolistischen Appropriation von privilegierten Erwerbs-chancen oder Perhorreszierung bestimmter Erwerbsarten Stände und Klassen vergleichend, kam Weber zu dem Schluß: „Jede ständische Gesellschaft ist konventional, durch Regeln der Lebensführung, geordnet, schafft daher ökonomische irrationale Konsensbedingungen und hindert auf diese Art durch monopolistische Appropriationen und durch Ausschaltung der freien Verfügung über die Erwerbsfähigkeit die freie Marktbildung.“ Wie eigentlich hätte man zutreffender die Insuffizienz des Wirtschaftens sowie die Starrheit des dementsprechenden Erziehungs-und Beschäftigtensystems und die eingeschachtelten schichtenspezifischen Lebensweisen, Ausbildungsgänge, Berufskarrieren und Verkehrskreise der sozialistischen Sozialordnung vorwegnehmen können!

Die realsozialistischen Gesellschaften lassen sich sozialstrukturell demzufolge wesentlich besser aufgrund „ständischer“ Merkmale als nach den gewöhnlichen Kriterien der Schichtenkonzepte (Einkommen bzw. Vermögen. Beruf, Bildung, Ansehen etc.) und erst recht denen der (marxistischen) Klassentheorie erklären (Besitz/Nichtbesitz an Produktionsmitteln und darauf beruhender sozialer Stellung). Es sind die Distribution der Macht — entsprechend einem ständischen Herrschaftstypus — und die darauf basierenden spezifischen Arten des Gütererwerbs und des Güterkonsums sowie der Lebensführung und Qualifikation (Bildung) mit all ihren positiven oder negativen sozialen „Schätzungen“, die die soziologischen Gliederungsgesichtspunkte für die gesellschaftliche Pyramide im Sozialismus bilden.

Demnach können grob, d. h. bei Vernachlässigung der inneren Schichtung und Rangabstufung, in den realsozialistischen Gesellschaften vier große Stände unterschieden werden: erstens der herrschaftliche Stand der „Nomenklatura“ mit einer Politkaste an der Spitze, zweitens der bürokratische Stand der mittleren und unteren leitenden Funktionäre in den verschiedenen Macht-und Verwaltungsapparaten, drittens eine Art Mittelstand der Intelligenz und anderer Professionen (zu dem womöglich auch die Rudimente der kleinbürgerlichen Mittelschicht sozial zugeordnet werden könnten) und schließlich als „vierter Stand“ — von den oberen deutlich abgesetzt, aber in sich, vor allem aufgrund der Arbeitsteilung weithin stark stratifiziert — das „gemeine Volk“: die Arbeiter-und Angestelltenschaft sowie die werktätige Bauernschaft. Ganz unten, sozusagen als Bodensatz dieser Gesellschaft, wurden unterschiedliche soziale Gruppen von sozial „Ausgestoßenen“ angesiedelt, z. B. Rentner, politisch Verfolgte, „kriminell Gefährdete“ und als soziale Außenseiter Abgestempelte.

Analog zu Georges Gurvitschs am Beispiel der mittelalterlichen Feudalordnung vorgenommener Einteilung in diverse Hierarchien unterschiedlicher Bedeutung (damals die Monarchie, die Kirche, die Grundherrschaft, das Militär und die Städte könnte man ebenfalls großflächig fünf hierarchische Säulen der sozialistischen Sozialordnung unterscheiden: den Parteiapparat, den administrativen und militärisch-polizeilichen (Staats-) Apparat, den Wirtschaftsapparat, den Wissenschaftsapparat und den ideologischen Apparat; Medien, Schule und Kulturinstitutionen dazu gerechnet. Sie beherrschen das gesamte gesellschaftliche Leben, indem sie es weitgehend verstaatlichen. Da sie jedoch jeder für sich eine gewisse Eigenständigkeit und Eigendynamik besitzen, ist ihre analytische Unterscheidung sinnvoll, obwohl mannigfaltige Verflechtungen und gegenseitige Abhängigkeiten bestehen, die auch die Zuordnung erschweren a) Der herrschende Stand ist „die Nomenklatura“. Nirgends erscheint er bisher besser charakterisiert als in dem gleichnamigen Buch von Michael S. Voslensky (der allerdings auch von einer neuen Klasse spricht) „In die Nomenklatura aufgenommen werden . Personen, die im Namen der Gesellschaft ... die organisatorischen Funktionen in der Produktion und in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens ausüben*“, zitiert er, um dann sogleich fortzufahren: „Die Nomenklatura ist jenes von Stalin ins Leben gerufene , Fürstengefolge*, sein Apparat, der es gelernt hat, zu herrschen und während der , Eovina‘ der Leningarde die Kehlen durchgebissen hat.“ In Vergleich zum Bürgertum. das seine Führung im gesellschaftlichen Leben aufwirtschaftlichem Gebiet ausübe und erst darauf-hin die Rechtlosigkeit des Dritten Standes abgestreift habe und an die politische Macht gelangte, verlief der Weg der Nomenklatura anders: von der Ergreifung der staatlichen Macht zur Herrschaft auch im Bereich der Wirtschaft „Die politische Führung ist die wichtigste Aufgabe der Nomenklatura. In der Nomenklatura ist die gesamte Machtfülle eines realsozialistischen Landes konzentriert“ schreibt Voslensky. Außerordentlich treffend vergleicht er die Vasallenherrschaft der Nomenklatura mit der im Feudalismus: „Jeder Nomenklaturist hat sein ihm übertragenes Herrschaftsgebiet. Hier ist eine Ähnlichkeit des Nomenklatura-Regimes mit der Feudalherrschaft zu erkennen. Die gesamte Nomenklatura ist eine besondere Art des Lehnswesens, bei dem den Nomenklatura-Mitgliedern von den zuständigen Parteikomitees . Lehen* übertragen werden . . . Das Lehen der Nomenklatura ist die Macht.“

Die Nomenklatura ist eine Art sozialistischer Adelsstand, organisiert als neofeudale Pyramide und im Besitz des umfassendsten Machtmonopols. Dieser Stand hat seine sozial wohldefinierte und politisch abgesicherte Stellung an der Spitze der Gesellschaft, eine Fülle aller nur denkbaren Privilegien und Ressourcen, seine eigene, sorgfältig vor den übrigen Ständen getarnte Lebensführung und eine dementsprechende Denkweise einschließlich eines Standesdünkels, seine abgeschotteten Institutionen und einen sehr spezifischen sozialen Rekrutierungsmechanismus. Als jetzt bestimmte Privilegien und der fürstliche Lebenswandel einiger Führungscliquen der Bevölkerung in den zusammenbrechenden sozialistischen Ländern bekannt wurden, wirkte dies wie ein Schock und rief massenweise moralische Entrüstung und politische Empörung hervor.

Bekanntgemacht wurden bislang aber zumeist nur Einzelheiten über die unumschränkte, teils despotische Machtausübung der „Großfürsten“ im Politbüro mit einem absolutistischen Herrscher an der Spitze und über deren exklusive Lebensführung „hinter den sieben Zäunen“. Diese Kaste der Parteiführer — hier ist der Ausdruck „Kaste“ im Weberschen Sinne eines zum Äußersten gesteigerten Standes am Platze — bildete den Olymp dr realsozialistischen Gesellschaften und zugleich die oberste Machtspitze der Nomenklatura-Pyramide mit ihren genau abgestuften Vasallen-Rängen und scharf umrissenen Lehen. Hier liefen alle Fäden der Willkürherrschaft über Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur, Medien und Alltag zusammen, und von hier aus wurden die verschiedensten Machtapparate, allen voran der flächendeckende geheimpolizeiliche Sicherheitsapparat, dirigiert.

b) Ohne die riesigen bürokratischen Apparate im Sozialismus könnte die Nomenklatura weder ihre Herrschaft ausüben und das Volk ausbeuten noch gelänge es ihr, ihr parasitäres Dasein zu legitimieren und ihre Interessen umfassend durchzusetzen. Es ist nämlich der Stand der mittleren und unteren leitenden Funktionäre in Partei, Staatsapparat, Wirtschaft, Wissenschaft und dem „Kulturleben“, die Bürokratie im eigentlichen Sinne, der mit dem zahlenmäßig kleinen Nomenklatura-Stand funktionell engstens zusammenhängt und als ihr ebenso willfähriges wie mit ihr die Herrschaft ausübendes Instrument fungiert. Werkzeug der Herrschaft zu sein, heißt auch an ihr teilhaben. Trotzdem ist es nicht gerechtfertigt, die sozialistische Bürokratie allein als die herrschende Klasse oder Schicht anzusehen, es sei denn, man rechnet diejenigen, die die Apparate kommandieren, und jene, die die Befehle nach unten erweitern und durchsetzen, der Einfachheit halber zusammen. Dadurch jedoch würden signifikante strukturelle Unterschiede der sozialistischen Ständegesellschaft verdeckt; denn „die Struktur einer Herrschaft empfängt nun ihren soziologischen Charakter zunächst durch die allgemeine Eigenart der Beziehung des oder der Herren zu dem Apparat und beider zu den Beherrschten und weiterhin durch die ihr spezifischen Prinzipien der . Organisation, d. h.der Verteilung der Befehlsgewalten“

Entsprechend dem Herrschaftsgefälle zwischen der Nomenklatura und der Bürokratie sind die Befehls-gewalten erheblich verschieden und innerhalb eines jeden Standes nochmals rangmäßig auf der Leitungspyramide abgestuft. Demzufolge sind die Privilegien und Ressourcen ebenfalls unterschiedlich verteilt, aber eben auch so, daß eine strikt durchgeführte Machtausübung von oben nach unten gewährleistet wird. Die Sicherung der Macht des obersten Standes bzw.seiner Führungskaste erfolgt außerdem über ein zentral gesteuertes Auswahl-und Erneuerungssystem, woraus sich auf der Basis der Ämterhierarchie eine vasallenhafte Loyalitätsstruktur ergibt.

Die sozialistische Bürokratie ist demnach keine autonome Fachverwaltung und — wie im Rechtsstaat — sachlich legitimiert, sondern ein integraler Bestandteil einer korporatistischen Machthierarchie, mittels derer das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben der mittleren und unteren Stände einer engmaschigen Kontrolle unterworfen wird. Als Obrigkeitsstaat ist sie allgegenwärtig. Infolge des Fehlens jeglicher demokratischer Legitimität bedarf die Herrschaft der Nomenklatura eben ausgedehntester bürokratischer Macht-und Verwaltungsapparate, deren konzentriertester Ausdruck ihr „Schwert“, der alles und jedes überwachende und gegebenenfalls unbarmherzig zuschlagende Staatssicherheit„dienst“ ist. Allein die Zahl seiner Opfer geht in die Hunderttausende, in einigen Ländern in die Millionen. c) Zwischen den im Besitz der Herrschaft befindlichen bzw. sie ausübenden Ständen und den unterdrückten Volksmassen sind als ein dritter Stand wachsende soziale Gruppen auszumachen, die heute mit ihren vorwiegend geistigen Dienstleistungsfunktionen in keiner Gesellschaft mehr fehlen: die wissenschaftliche, pädagogische, künstlerische, medizinische und ingenieurtechnische Intelligenz sowie verwandte Professionen Zu den Mächtigen gehören ihre Angehörigen jedoch nicht, es sei denn, sie steigen in die oberen Ränge der neofeudalen Herrschaftspyramide auf, wo sie dann Teil der Bürokratie oder gar der Nomenklatura werden. Im allgemeinen aber war bislang der Dritte Stand in den realsozialistischen Staaten von der wirklichen Herrschaft ausgeschlossen, wenn auch gegenüber dem „gemeinen Volk“, der Masse der Untertanen, privilegiert, und dies zum Teil sogar erheblich. „Mit Zuckerbrot und Peitsche“ wurden im Sozialismus die Intellektuellen in Schach zu halten versucht. Daß Unbotmäßigkeiten dennoch gerade von diesem Stand am häufigsten ausgingen, verrät einesteils ein niemals gänzlich ausrottbares kritisches Bewußtsein, zum anderen aber vielleicht auch doch Ambitionen auf eine Teilhabe an der Macht.

An der „sozialistischen Intelligenz“ indes kann man nicht nur ihre strukturell intermediäre Position und ihre (begrenzten) Privilegien in der Ständegesellschaft studieren, sondern sehr gut auch die distributive soziale Ungleichheit, die Ausbildung von Standesinteressen, die Abgeschlossenheit korporatistischer Vereinigungen, Verkehrskreise und berufsständischer Einrichtungen, im Grunde genommen also auch die binnenstrukturelle Kontrolle über Positionszuweisungen und Rekrutierungskanäle.

d) Die „Hintersassen“ der feudalsozialistischen Ständeordnung sind die nichtprivilegierten Schichten des Volkes, des rechtlosen Vierten Standes, um im Bilde zu bleiben. Es sind die übrigen zwei Drittel der Gesellschaft: die Arbeiter, „kleinen“ (nichtleitenden) Angestellten und die Bauern. Obwohl dieser unterste Stand (oder wäre der Plural besser?) so wenig geschlossen, ja, im Gegenteil, so amorph ist, daß er diese Bezeichnung wahrscheinlich kaum verdient, ist er nicht weniger stratifiziert als jeder andere. Dafür ist er aber soziologisch im Realsozialismus (verständlich!) am meisten erforscht Seine Beschreibung kann demnach hier auch weitgehend entfallen.

Theoretisch interessant sind jedoch die Rangabstufungen, die selbst beim „gemeinen Volk“ in der realsozialistischen Ständeordnung vorgenommen wurden. Sie erfolgen nicht nach Ämtern und damit verbundenen Privilegien in einer pyramidischen Machthierarchie, sondern vornehmlich nach Qualifikation und dementsprechender Tätigkeitsart, Inkonsistenz zwischen beiden nicht ausgeschlossen. Auch überwiegen hier Einkommenskriterien gegenüber den vergleichsweise viel stärker zu Buche schlagenden nicht-monetären gegenseitigen Verpflichtungen innerhalb der höheren Stände. Im Vordergrund stehen die materielle Gütererzeugung für das Ganze und die Sicherung eines bescheidenen Anteils am Güterkonsum. Kaum etwas kann hier monopolisiert werden. Umso größer ist der Anteil des Mehrproduktes, das „nach oben“ abgeliefert werden muß. Betriebliche Anbindungen, genossenschaftliche Zugehörigkeiten, berufliche Bildungsgänge und konventionelle Regeln der Lebensführung, besonders bei der Facharbeiterschaft, sorgen auch hier dafür, daß die meisten auf dem ihnen zugewiesenen Platz bleiben. Aufwärtsmobilität wurde in der realsozialistischen Ständepyramide zur großen Ausnahme, soziale Selbstrekrutierung dagegen die Regel Auch in dieser Hinsicht zeigte der Sozialismus — schon bald nach seiner Entstehung als ein bestimmter Typ einer Herr-Schafts-und Sozialordnung — alle Merkmale einer „geschlossenen Gesellschaft“.

Geschlossene Gesellschaften wie diese sind aber nachweisbar nur in einem äußerst geringem Maße imstande, endogen oder exogen verursachte soziale Wandlungsprozesse zu bewältigen. Die Starrheit und mangelnde Komplexität solcher unter äußerem Zwang zusammengeschlcssenen Großgebilde gesellschaftlichen Daseins werden in Zeiten rascher gesellschaftlicher Veränderungen — im internationalen Maßstab — zu einem totalen Hindernis, unter dem allmählich alle Glieder des Gesellschaftskörpers zu leiden beginnen. Die sozialökonomische „Basis“ wird unfähig, den zu einem ungeheuren Moloch aufgeblähten politischen „Überbau“ überhaupt noch tragen zu können. Der so monolithisch anmutende Gesellschaftsaufbau des obrigkeitsstaatlichen Ständesozialismus wirkt plötzlich wie ein Koloß auf tönernen Füßen. Das ist die Zeit der sozialen Revolutionen, welche seinen vollständigen Umsturz einleiten und den Weg freimachen zu einer neuen Wirtschafts-und Sozialordnung mit dementsprechenden Herrschaftsformen.

IV. Ausblick: Der Übergang in eine moderne Gesellschaft

Gegenwärtig geht die realsozialistische Gesellschaft ihrem raschen Ende entgegen. Die als neofeudale Pyramide organisierte Nomenklatura-Herrschaft bricht unter dem Ansturm demokratischer Bewegungen zusammen, wobei die Kaste an ihrer Spitze zuerst gestürzt wird. Damit ergibt sich zugleich auch die Chance, die parasitäre Allmacht der sozialistischen Bürokratie zu brechen, vorausgesetzt, daß ihr die Verfügungsgewalt über das Staatseigentum entzogen wird und jenes in neue Besitzformen überführt werden kann. Ein Ende der Bürokratie indes ist wohl kaum abzusehen, wohl aber das ihrer exklusiven Vorherrschaft und somit die Möglichkeit, sie in eine mehr rationale Verwaltung zur Erfüllung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Dienstleistungen zu transformieren. Dies wäre immerhin ein Fortschritt.

Die sozialistischen Staaten erleben in der Gegenwart bürgerlich-demokratische Revolutionen. Sie verwandeln Zug um Zug die rückständigen staats-wirtschaftlich verfaßten Ständegesellschaften, die mehr oder weniger einem traditionalen Herrschaftstyp unterworfen waren, in moderne, marktwirtschaftlich verfaßte Industriegesellschaften mit dementsprechenden Klassen-und Schichtstrukturen und demokratischen Herrschaftsformen. Dem gewaltigen Modernisierungsdruck, der letztlich von der universalen Revolutionierung der Produktiv-kräfte im globalen Maßstab ausging, sind die starren und engen Produktionsverhältnisse einer feudalsozialistischen Ständeordnung nicht mehr gewachsen, so daß sie einem neuen Gesellschaftstyp weichen müssen. Das alte System selbst erweist sich trotz aller Versuche der Kurskorrektur in den meisten Ländern als reformunfähig. Erst durch seine revolutionäre Überwindung wird das Tor zu einer freien Entwicklung in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aufgestoßen.

Es war eine weitverbreitete Illusion, anzunehmen, der Realsozialismus wäre eine nachkapitalistische Gesellschaftsordnung und ihr überlegen. Das Gegenteil ist der Fall: Er weist eher die Züge einer vorkapitalistischen Sozialordnung mit einem dementsprechenden vor-rationalistischen Herrschaftstyp auf. Demzufolge kann der heutige Übergang zu einer modernen bürgerlichen Gesellschaft („civil society“) als ein wahrhafter historischer Fortschritt interpretiert werden. Das mag für die marxistischleninistische Orthodoxie, die seit über siebzig Jahren das Umgekehrte behauptete, schwer zu fassen sein. Angesichts des systembedingten Scheiterns ihres Gesellschaftsmodells in einem sozialistischen Staat nach dem anderen wird jedoch die Erkenntnis dafür wachsen, daß die Stunde des Abschieds von der realsozialistischen Ständeordnung endgültig geschlagen hat und wir neuen Zeiten in einer wesentlich freieren Gesellschaft entgegengehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19805, S. 836.

  2. Ernest Mandel, Zur politischen Ökonomie in der UdSSR, in: Die Internationale, (1975) 6, S. 29.

  3. Vgl. Michail Rutkewitsch/Friedrich Filippow. Klassen und Schichten in der Sowjetunion, Berlin (DDR) 1979.

  4. Manfred Lötsch, Sozialstruktur der DDR — Kontinuität und Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 32/88,

  5. Vgl. Andräs Hegedüs, Sozialismus und Bürokratie. Reinbek bei Hamburg 1981; ferner vgl. Tamäs Kolosi/Edmund Wnuk-Lipinski. Equality and Inequality under Socialism. Poland and Hungary compared. SAGE Studies in International Sociology 29, Beverly Hills-London 1983.

  6. Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln-Frankfurt 1977, S. 192 ff.

  7. Vgl. ebd.

  8. Vgl. ebd.. S. 284.

  9. Vgl. Ren Ahlberg. Sozialismus zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Stuttgart u. a. 1979, S. 23.

  10. Leo Trotzki. Eo raz o prirode SSR. zitiert nach: R. Ahlberg (Anm. 9). S. 27.

  11. Vgl. Wlodzimierz Wesolowski. Classes. Strata and Power. London 1979. S. 119ff.

  12. Vgl. ebd., S. 122.

  13. Christian Rakovskij et al., Obraenie oppozicii . . ., zitiert nach: R. Ahlberg (Anm. 9). S. 31.

  14. Vgl. Autorenkollektiv. Das Phänomen Stalin. Moskau 1989 (russ.). Vgl. Alexander Butenko, Politische Macht und Machtkampf im Sozialismus, in: Voprosi Filosofii, (1989) 3, S. 121 ff. (russ.).

  15. Vgl. Michail Bakunin. Marx, the Bismarck of Socialism, in: Leonhard Krimmerman/Lewis Perry (eds.), Patterns of Anarchy, Garden City 1966, S. 80 ff.

  16. Vgl. Milovan Djilas, Die neue Klasse, München 1963, S. 47.

  17. Ebd., S. 48.

  18. Ebd., S. 81 f.

  19. Vgl. György Konrad/Ivan Szeleny. Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt/M. 1978.

  20. Vgl. Ivan Szeleny/Bill Martin, The three waves of New theories, in: Theory and Society, 17 (1988), S. 645— 667.

  21. Auch die linksradikale Kritik am staatskapitalistischen Realsozialismus geht prinzipiell von einer derartigen Vorstellung aus.

  22. M. Weber (Anm. 1), S. 835 f.

  23. M. Weber (Anm. 1). S. 29.

  24. Vgl. ebd.. S. 179.

  25. Ebd., S. 180.

  26. Vgl. Georges Gurvitsch, Determinismes Sociaux, Pari 8 1955.

  27. Auf die Abhängigkeitsbeziehungen unter den Apparaten kann hier nicht näher eingegangen werden. Diese Analyse verspricht jedoch weitere Einblicke in die hierarchische Struktur der feudalsozialistischen Herrschaftspyramide.

  28. Michael S. Voslensky, Nomenklatura. Wien u. a. 1980, S. 170.

  29. Ebd. Zum Begriff „Jeshowschtschina (Eiovääna): Nikolaj Iwanowitsch Jeshow war von September 1936 bis Dezember 1938 Leiter der berüchtigten sowjetischen Organisation für Staatssicherheit NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) und trug in dieser Funktion neben seinem Vorgänger Jagoda und Stalin die Hauptverantwortung für die millionenfache Auslöschung von Menschenleben in den „großen Säuberungen“ der dreißiger Jahre.

  30. Vgl. ebd., S. 171.

  31. Ebd.

  32. Ebd., S. 172.

  33. Max Weber (Anm. 1), S. 549.

  34. Außer der Intelligenz wäre dem Dritten Stand womöglich auch die Gruppe der Kleingewerbetreibenden und selbständigen Handwerker als Residualgröße zuzurechnen. Lebensstil, Qualifikation. Art der Privilegierung/Nichtprivilegie. rung etc. wären freilich recht verschieden vom Stand der Intellektuellen. Sie indes makrostrukturell als eigenen Stand anzusehen, scheint ihre Geringfügigkeit im Sozialismus zu verbieten.

  35. Vgl. Rudi Weidig (Hrsg.), Sozialstruktur der DDR, Berlin (DDR) 1988.

  36. Vgl. Artur Meier, Bildung im Prozeß der sozialen Annäherung und Reproduktion von Klassen und Schichten, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik, Berlin (DDR) 1981, S. 116ff:

Weitere Inhalte

Artur Meier, Dr. sc. päd., geb. 1932; Professor für Bildungssoziologie; seit 1986 Direktor und Lehr Stuhlinhaber am Institut für Soziologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten der Bildungssoziologie und Erwachsenenbildung, Tech nik-und Arbeitssoziologie sowie zu demokratischen Bewegungen.