Seit dem Herbst 1989 ziehen die großen Entwicklungen in Osteuropa die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit in ihren Bann. Wo jahrzehntelang Völker und Bevölkerungen von autoritären, hoch-bürokratischen Regimen unterdrückt worden sind, brechen sich ganz unverhofft politische Potentiale und Talente Bahn, um mit Vernunft und Pragmatismus Mißwirtschaft und Not zu beseitigen. In Europa entsteht so eine Atmosphäre der Konstruktivität und des guten Willens, die plötzlich eine Lösung multilateraler und zwischenstaatlicher Streitfragen — zuvor Gegenstand jahrzehntelanger, mühseliger Verhandlungen — zu beiderseitigem Nutzen möglich macht. So naheliegend, ja, so natürlich erscheint der neue Umgang zwischen den Staaten West-und Osteuropas, daß der Betrachter sich fragt, welche bösen Geister denn die alten politischen Führer zu solcher Verblendung geritten haben — und warum es denn solange dauern mußte, bis man sich von ihnen befreien konnte.
Bei Europas südlichen Nachbarn im Nahen Osten scheint eine solche Zeitenwende noch in weiter Ferne zu liegen. Dabei gibt es durchaus erfreuliche Entwicklungen in der Region, die immerhin als erste Schritte in Richtung auf etwas mehr Frieden angesehen werden können. Das sind vor allem die Beendigung des irakisch-iranischen Krieges am Golf, ferner der Zusammenschluß von insgesamt neun arabischen Staaten in zwei, primär auf nicht-militärische Kooperation ausgelegten Bündnissen, des weiteren Demokratisierungstendenzen in diversen arabischen Ländern und schließlich die Reintegration des führenden gemäßigten arabischen Staates Ägypten in die Arabische Liga.
Der Nahost-Konflikt, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung zwischen Israel und dem palästinensischen Volk steht, ist seit vielen Jahren keiner Lösung näher gekommen. Von amerikanischer, europäischer, aber auch arabischer und israelischer Seite sind im Verlauf der Jahrzehnte Konzepte für eine Lösung angeboten worden, ohne daß der von allen gewünschte dauerhafte und gerechte Friede erreicht werden konnte. Auf die naheliegenden Fragen, warum das so ist, und welche Ansatzpunkte und Chancen es für eine Verständigung der beiden Konfliktparteien gibt, versucht dieser Beitrag eine Antwort zu finden.
Dieser Aufsatz wurde inhaltlich Anfang März 1990 abgeschlossen. Seither hat die Arbeitspartei sich — anscheinend unter massivem amerikanischem Einfluß — zur Aufkündigung der Koalition bereitgefunden. Die Abspaltung einer kleinen Gruppe vom Likud im Zusammenhang mit der parteiinternen Auseinandersetzung über inhaltliche und Machtfragen hat es möglich gemacht, daß die Arbeitspartei erstmals seit 1973 den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat. Das Resultat der gewiß äußerst schwierigen Regierungsbildung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig offen. Die folgenden Betrachtungen beruhen allerdings auf der Analyse zum einen von mehr als sechs Jahren Außenpolitik der Koalitionsregierung von Likud und Arbeitspartei und zum anderen der israelischen Grundwerte und -interessen, wie sie sich spätestens seit der Staatsgründung 1948 entwickelt haben, so daß sie wohl auch in absehbarer Zukunft Gültigkeit besitzen dürften.
I. Die Entwicklung des politischen Prozesses bis zur Intifada
Zwei Jahre nach Ausbruch des Aufstandes der palästinensischen Bevölkerung in den von Israel besetzten Gebieten (Intifada hat sich im Nahost-Konflikt weniger verändert, als — je nach Interessenlage — erhofft oder befürchtet worden war. Er hat bisher eine Zuspitzung der Auseinandersetzung bewirkt und dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Israels Besatzungspolitik gelenkt. Das ist an sich und aus humanitären Gründen wichtig, doch geraten dabei die eigentlichen Konflikt-punkte leicht aus dem Blickfeld. Diese finden wir jedoch besonders deutlich wieder, wenn wir uns zunächst die politischen Positionen der Kontrahenten vor Ausbruch des Palästinenseraufstandes vergegenwärtigen.
Israel wurde im Dezember 1987 von einer großen Koalition aus Arbeitspartei und Likud-Block regiert. Sie war das Ergebnis der Parlamentswahl von 1984, die mit einem Unentschieden zwischen den beiden großen Parteien endete. Zum ersten Mal in Israels Geschichte bot sich keiner von ihnen die Möglichkeit, zusammen mit einigen der zahlreichen kleineren Parteien eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. In langwierigen und mühsamen Verhandlungen wurde ein Regierungsprogramm erarbeitet, das man unter das Motto der „Nationalen Einheit“ stellte. Da die beiden Partner der Regierung der Nationalen Einheit (RNE) politisch wenig gemeinsam hatten, spiegelte das Programm nicht mehr als einen Minimalkonsens wider. In der Frage einer Nahost-Friedenslösung entsprach das einer Weiterführung des „Camp-David-Prozesses“. Schrittweise sollten Israels arabische Nachbarn, zunächst vor allem Jordanien, in bilaterale Friedensverhandlungen eingebunden werden. Dieses Vorgehen, bei dem keine Rolle für die PLO vorgesehen war, ist in trilateralen Verhandlungen zwischen den Präsidenten Carter (USA), Sadat (Ägypten) und Premierminister Begin (Israel) im Herbst 1978 entwickelt worden. Es war die Grundlage des ägyptisch-israelischen Friedensvertrages vom März 1979. Die Hoffnung, daß auf diesem Weg Frieden auch mit Israels übrigen Nachbarn erreicht werden könnte, hat sich jedoch nicht erfüllt. Die Uneinigkeit begann allerdings bei der Frage, welche Position Israel bei Verhandlungen über die Gestaltung der Friedensordnung einnehmen sollte, wenn ein Friedensprozeß erst einmal in Gang gekommen wäre. Da dies jedoch nicht akut war, ließ man den Dissens auf sich beruhen. In der Folge konnte man von den Mitgliedern der israelischen Regierung je nach Parteizugehörigkeit die unterschiedlichsten und miteinander unvereinbaren Positionen hören, ohne daß dies mehr als wechselseitige und folgenlose Verärgerung in der Koalition ausgelöst hätte.
In diesem Minimalkonsens der RNE fanden sich für die PLO wenig Anknüpfungspunkte. Im Gegenteil, der Kompromiß zwischen Schamir und Peres und ihren Parteien hatte Israels Position im wesentlichen negativ definiert: kein selbständiger Palästinenserstaat, keine Gebietsabtretungen, selbstverständlich keine Verhandlungen mit der PLO, aber auch keine eigene Palästinenservertretung, ja, nicht einmal kleinste Veränderungen am Status quo sollten gebilligt werden.
Die Arbeitspartei war mit dieser Linie keineswegs glücklich, hätte aber ihr eigenes, den PLO-Forderungen etwas entgegenkommenderes Wahlprogramm allenfalls um den Preis eines Bruchs der Koalition forcieren können — was ihr nach sieben Jahren der Opposition nicht ratsam schien. Als Folge des Wahlergebnisses waren die Koalitionspartner einander ausgeliefert, was im Bereich der Außenpolitik besonders für die Arbeitspartei schmerzlich war. Der politische Prozeß um den Nahost-Konflikt war somit auf Stagnation programmiert.
Unter diesen Bedingungen gab es wenig Raum für ein Entgegenkommen gegenüber Israels Nachbarn, und für außenpolitische Initiativen fehlte die Basis. Deutlicher als in anderen Bereichen zeigte sich dies an dem Schicksal des Arbeitsprogramms von Schimon Peres, dem laut Koalitionsvereinbarung die Ministerpräsidentschaft in der ersten Hälfte der Legislaturperiode zufiel. Ambitioniert hatte sich Peres nichts weniger als eine Revision der israelischen Politik gegenüber den arabischen Nachbarstaaten und eine Belebung des „Friedensprozesses“ vorgenommen. Angestrebt wurde der Abzug der israelischen Armee aus dem Libanon, die energische Wiederaufnahme von Verhandlungen mit Ägypten, mit dem es trotz des Friedensvertrages noch etliche ungelöste Streitfragen gab, und schließlich das verstärkte Werben um Jordaniens Zustimmung zum Camp-David-Prozeß und — nach den Vorstellungen nur der Arbeitspartei — zu einer Lösung der Palästina-Frage durch eine jordanisch-palästinensische Föderation. Dies alles waren Punkte, die an sich bereits schon ein gerüttelt Maß an Konfliktstoff zwischen den Koalitionspartnern beinhalteten.
Schon die bloße Entfaltung eines solchen Aktivismus mußte nach den Jahren der Stagnation unter Begin und Schamir für große Teile des Likud-Blocks etwas Irritierendes haben. Besonders provozierend wirkte jedoch auf die Likud-Fraktion, daß sich dieser „Peres-Plan“ zwar ausdrücklich auf das Regelwerk von Camp David berief, jedoch insgesamt einerweniger engen Auslegung folgte. Gerade im prozeduralen Bereich, in dem es zu keiner Einigung der Koalition gekommen war, erklärte der Premier schlicht die Linie seiner Partei zur Regierungspolitik. Dies war für den Likud eine ärgerliche Herausforderung, obwohl dieser Plan in der damaligen politischen Situation mangels arabischer Partner kaum realisierbar war.
Immerhin konnte Peres damit einen taktischen, innenpolitischen Erfolg verbuchen, indem er dem Likud mittels des Koalitionszwanges die Zustimmung abtrotzte. Der Ministerpräsident hatte aber nur-mehr noch sechzehn Monate bis zur vereinbarten Rotation mit Außenminister Schamir zur Verfügung, zu wenig, um große außenpolitische Veränderungen bewirken zu können. Mit diesem Argument, wohl auch mit dem Appell an das nationale Gewissen seiner Fraktionskollegen und vor allem mit dem Gelöbnis, über die penible Einhaltung der Koalitionsvereinbarung zu wachen, gelang es dem Außenminister, dem Peres-Plan schließlich doch zu einer Mehrheit in der Knesset zu verhelfen und damit die Koalition zu retten
Obwohl der Peres-Plan letztlich für konkrete Verhandlungen über die Palästina-Frage keinen Fortschritt gebracht hat, ist er dennoch aus heutiger Sicht in zweierlei Hinsicht wichtig: Inhaltlich interessiert er als letzter detaillierter Entwurf der Arbeitspartei für einen Friedensprozeß und zugleich letzter israelischer Plan vor Ausbruch der Intifada. Sein politisches Schicksal interessiert, weil es Aufschluß über einige Axiome israelischer Außenpolitik gibt, ohne deren Kenntnis die israelische Seite der „Friedens-Gleichung“ im Nahen Osten unverständlich bleibt.
II. Die Palästina-Frage als Prüfstein israelisch-arabischer Beziehungen
Wie an anderer Stelle im Detail ausgeführt wurde verfolgte Schimon Peres das Ziel, unter Ausnutzung seiner geringen Spielräume Israels offizielle Beziehungen zu Ägypten auszubauen und zu verbessern. Auch mit gemäßigten Staaten wie Jordanien und Marokko, zu denen es Anknüpfungspunkte gab, sollte das Verhältnis weiter entwickelt werden, wofür Peres und die von ihm geführte Arbeitspartei einen beträchtlichen Preis zu zahlen bereit waren. Im Kern bot Peres seinen arabischen Gesprächspartnern materielle Anreize gegen politische Zugeständnisse. Diese konnten so unterschiedliche Gestalt annehmen wie ein israelisches Entgegenkommen im israelisch-ägyptischen Streit um den Grenzstreifen Taba am Roten Meer, wie das Angebot von Entwicklungshilfe in der Landwirtschaft oder wie das Jordanien vorgeschlagene Kondominium über das Westjordanland — mit jordanischer Verwaltung und Bewirtschaftung und israelischer Kontrolle allein über die Sicherheitsbelange Im Gegenzug sollten Beziehungen zum Staat Israel aufgenommen und diese auf der Grundlage der jeweiligen bilateralen Interessen gestaltet werden. Konkret hieß dies, daß die Araber darauf verzichten sollten, die Lösung des Palästinenser-problems zur Vorbedingung für irgendwelche Verhandlungen mit Israel zu machen.
Diese auf den ersten Blick vielleicht banal wirkende Gegenleistung bedeutete unter den Bedingungen der arabischen Umwelt jedoch eine grundlegende außenpolitische Kursänderung. Sich darauf einzulassen, hieß für die angesprochenen Staaten nicht nur, in Gegensatz zu allen Beschlüssen arabischer Gipfelkonferenzen seit 1974 und damit in Konflikt mit den Staaten der arabischen Liga zu geraten. Es bedeutete auch ein ganz erhebliches innenpoliti-sches Risiko. Wohl in allen arabischen Bevölkerungen herrschte und herrscht nämlich ein hoher Grad an Mitgefühl und Solidarität mit den Palästinensern und ein ebenso hohes Maß an Abneigung gegen den Staat, dem man deren Unterdrückung zur Last legt. Mit diesem Staat Beziehungen aufzunehmen war und ist daher für arabische Regime ein Schritt mit hohem Risiko. Bis zu einer fundamentalen Änderung der arabischen Beschlußlage bleibt ein solcher Schritt wohl nur einem Land möglich, das — wie Ägypten — autonom und stabil genug ist, den Zorn der Bruderländer auszuhalten und dessen Regime über ein ausreichendes Maß auf Popularität verfügt. Trotz der wenig günstigen Rahmenbedingungen erzielte Peres mit seiner Strategie außenpolitische Achtungserfolge. Es gelang ihm und seiner Mannschaft, Israels Beziehungen mit Ägypten wiederzubeleben und die Lösung rein bilateraler Streitfragen ins Auge zu fassen. Aber selbst von diesem Land erhielt die Regierung der Nationalen Einheit nicht die erhoffte Zustimmung zu ihrem Friedensplan. Jordanien und Marokko, um die sich Peres ebenfalls intensiv bemühte, waren aus ihrer jeweiligen Position heraus weder bereit, noch wohl auch in der Lage, die israelischen Angebote aufzugreifen. Sowohl König Hussein als auch Marokkos König Hassan II. bewegten sich jedoch — gewiß auch im wohlverstandenen Interesse ihrer Länder — behutsam auf Israel zu und gingen dabei wohl an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten. So gab Jordanien den 1979 von der Arabischen Liga gegen Ägypten wegen seines Friedensschlusses mit Israel verhängten Boykott auf und erneuerte seine diplomatischen Beziehungen mit Kairo. Auch an direkten Signalen gegenüber Israel ließ es König Hussein nicht fehlen. Der marokkanische Monarch ging in spektakulärer Weise soweit, Premierminister Peres zu einer offiziellen Unterredung in seinem Sommer-palast zu empfangen. In Israel beglückwünschte man sich zu Recht zu diesen Entwicklungen, verkannte aber oder ignorierte, daß es nun an Israel war, seinerseits echte politische Währung anzubieten. Doch nun zeigte sich, wie eng das außenpolitische Korsett der Regierung der Nationalen Einheit war.
Was sich Israels Gesprächspartner nach ihren Zugeständnissen im Gegenzug erwarteten, hatten insbesondere Präsident Mubarak und König Hussein deutlich zum Ausdruck gebracht: Israel sollte der Palästinensischen Befreiungsorganisation nicht länger jene Anerkennung schuldig bleiben, die es für sich selbst von den arabischen Ländern forderte, oder sich zumindest einer indirekten Mitwirkung der Organisation am Verhandlungsprozeß über eine politische Lösung nicht in den Weg stellen.
Außerdem sollte Israel sich bereit erklären, die Friedensverhandlungen im Rahmen einer internationalen Konferenz abzuhalten. Diese brauchte zwar nicht die verbindliche Autorität zu erhalten, die von arabischer Seite früher gefordert worden war, sollte aber doch mehr als nur den rein zeremoniellen Charakter haben, den in Israel Premierminister Peres — nicht jedoch sein Außenminister und Koalitionspartner Schamir — als äußerstes Zugeständnis akzeptiert hatte.
Hier wurde der israelischen Regierung gewiß kein goldenes Tablett hingehalten. Dennoch handelte es sich bei diesem von Ägypten, Jordanien, Marokko und der PLO mitgetragenen Vorschlag um ein realistisches Angebot. Mehr konnte Israel eigentlich nicht erwarten. Immerhin war ja davon auszugehen, daß diese Verhandlungsposition jenen Ländern bereits erhebliche politische Kosten im Verhältnis zu anderen, kompromißloseren arabischen Staaten verursacht hatte. Hinzu kam, daß die Regierung der Nationalen Einheit selbst mit ihren fortwährenden Koalitionskrisen, der Heterogenität ihrer Partner und dem seltsamen Rotationsarrangement an der Spitze in arabischen Augen keinesfalls als verläßlicher Partner für riskante Initiativen erscheinen konnte. In dieser Situation blieb die Regierung der Nationalen Einheit das erforderliche Gegenangebot aufdie arabischen Vorschläge schuldig. Im Gegenteil — seit dem Wechsel Jitzhak Schamirs an die Spitze der Regierung wurden selbst die bilateral orientierten Initiativen Schimon Peres’ zurückgeschraubt und verebbten schließlich. An dieser verpaßten Gelegenheit wird der israelische Part im nahöstlichen Dilemma deutlich: Zum einen wurde und wird Israel von einer Koalition geführt, die auf einem denkbar kleinen Konsens beruht und deren Flexibilität also gering ist. Daher konnte zum zweiten die Arbeitspartei unter Schimon Peres die materiellen und taktischen politischen Leistungen, die sie potentiellen arabischen Partnern im Zusammenhang mit ihrer Außenpolitik offerierte, nur zum Teil oder nur gegen erheblichen Widerstand aus den Reihen des Koalitionspartners durchsetzen, was die außenpolitische Glaubwürdigkeit der Regierung beeinträchtigte. Zum dritten fehlte es den israelischen Sozialisten an der Entschlossenheit, ihre Außenpolitik auch um den Preis eines Koalitionsbruchs und des Risikos von Neuwahlen durchzusetzen Und schließlich blieb selbst die in der Koalition so umstrittene außenpolitische Position der Arbeitspartei noch weit hinter den nicht unberechtigten Forderungen der kompromißbereiten arabischen Staaten zurück.
III. Israel und die PLO: ein Konflikt von Grundwerten und -interessen?
Gewiß ist Israels Dilemma in dieser Zeit vor Ausbruch der Intifada nicht allein auf die innenpolitische Konstellation, wie sie sich nach den Wahlen von 1984 ergab, zurückzuführen. Eine wichtige Rolle spielt auch das besondere Sicherheitsbedürfnis der israelischen Bevölkerung, wie es sich aus der kollektiven, direkten oder tradierten Erfahrung des Holocaust und des jahrzehntelangen gewaltsamen Konflikts mit den arabischen Nachbarn entwickelt hat Gleichwohl hat sich eine . israelische Regierung unter Menachem Begin, Mosche Dayan und Ezer Weizman trotz hoher Kosten 1979 zu einem Friedensvertrag mit Ägypten bereitgefunden — dem Land, das bis dahin als Israels gefährlichster Feind gegolten hatte. Auch hat die israelische Regierung immer wieder ihre Bereitschaft erklärt, mit allen anderen arabischen Staaten Verhandlungen aufzunehmen, einschließlich des unnachgiebigen, mit Israel um die Wette rüstenden Syrien Hafiz alAssads. Sicherheitserwägungen dürften also kaum der Hauptgrund sein für Israels Weigerung, die PLO als Verhandlungspartner anzuerkennen und damit die wichtigste offene Forderung der arabischen Seite zu erfüllen.
Von prinzipieller Bedeutung ist dagegen die Frage der Anerkennung des Staates Israel. Dabei handelt es sich um ein äußerst diffiziles Problem, das aus israelischer Sicht durch eine diplomatisch-völkerrechtliche Anerkennung seitens einer arabischen Regierung oder gar der PLO selbst noch lange nicht aus der Welt geschafft wäre. Sie müßte vielmehr eine eindeutige Anerkennung auch der Legitimität der Existenz dieses Staates beinhalten Dies wird meist in die Forderung gekleidet, die PLO müsse ihre Nationalcharta, in der der Anspruch auf ganz Palästina, also das israelische Staatsgebiet eingeschlossen, zum Ausdruck gebracht wird, ändern.
An diesem Punkt ist ein fundamentaler Wahrnehmungsgegensatz zwischen Israelis und Arabern zu konstatieren. In Israel wird die Staatsgründung von 1948 als Anknüpfung an die seit der Spätantike unterbrochene Staatstradition verstanden. Als mindestens genauso wichtiges Argument wird außerdem die niemals unterbrochene religiöse und kulturelle Orientierung der Juden auf „Eretz Israel“, das Land Israel, angeführt. Religiöse Argumente im eigentlichen Sinn werden dagegen von israelischer Seite aus gutem Grund nicht ins Feld geführt, da in der jüdischen Teleologie die Wiedererrichtung eines Staates für das in die Diaspora zerstreute Volk der Juden dem wiedergekehrten Messias Vorbehalten ist. Das ist im übrigen der Grund für die auf den ersten Blick seltsam anmutende Opposition der jüdischen Fundamentalisten gegen den Staat Israel. Im Ergebnis gibt es in Israel also einen sehr weitgehenden, wenn auch nicht völligen Konsens über die historisch und gewissermaßen naturrechtlich fundierte Legitimität des jüdischen Staates. Hieraus erklärt sich, daß in israelischer Sicht die Ansiedlung jüdischer Einwanderer zumindest im israelischen Kernland und die Verteidigung der Sicherheit des Staates eine „höhere Legitimität“ besitzen, als die Ansprüche der dort ansässigen oder geflohenen arabischen Bevölkerung.
Von gravierender Bedeutung für ein Verständnis der Situation ist nun die Differenzierung des Begriffs „Anerkennung“. Unausgesprochen wird nämlich dessen weitgefaßte Variante zum Maßstab für das israelische Verhältnis zu den Arabern erhoben. Nun ist jedoch weder für die Araber im allgemeinen, noch für die Palästinenser im speziellen vorstellbar, ein höheres Anrecht der Juden auf Palästina bzw. Eretz Israel anzuerkennen, wie es mit dieser Variante gefordert wird. Schließlich können sie der (zweitausend Jahre lang unterbrochenen) jüdischen Staatstradition ihre jahrhundertealte Besiedlung entgegenstellen. Und heilig ist das Land nicht nur den Juden, sondern auch den Muslimen, für die der Felsendom und die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem die wichtigsten heiligen Stätten außerhalb von Mekka und Medina sind. Daneben sollte man hier auch an die nicht unbedeutende Minderheit der arabischen Christen und deren Heiligtümer denken. Die Araber können insofern ebenfalls historische und naturrechtliche Ansprüche auf Palästina anmelden, die man nicht anders als den israelischen ebenbürtig bezeichnen kann.
Die arabische Haltung schließt aber durchaus keine Anerkennung im engeren Sinne, wie sie letztlich ja auch den Beziehungen Israels mit anderen Staaten und nicht zuletzt mit Ägypten zugrunde liegt, aus. Dies wäre eine Anerkennung, die sich zum einen der normativen Kraft des Faktischen beugt, also der Einsicht, daß der jüdische Staat in über vierzig Jahren zu fest verankert und zu weit entwickelt worden ist, als daß er noch beseitigt werden könnte. Zum anderen wäre sie Ausdruck des arabischen Eingeständnisses, daß es heute in Palästina auch ein jüdisches Volk gibt, das ein authentisches Recht hat, dort zu leben. Dafür bräuchte man die eigenen Ansprüche nicht aufzugeben; sie würden als ein — nunmehr moralisches — Recht fortbestehen, das an politischer Relevanz verlöre, je größer die Freizügigkeit zwischen dem Staat Israel und seinem palästinensischen Nachbarn würde.
Die hier zugrunde gelegte Differenzierung von Legitimität und Anerkennung in eine moralische und eine realpolitische Sphäre ist gewiß keine einfache Leistung. Daß sie realisierbar ist, zeigt zum einen das Beispiel der Bundesrepublik mit ihrer Aufgabe der Hallstein-Doktrin Ende der sechziger Jahre. Zum anderen läßt sich ja durchaus argumentieren, daß die PLO mit ihrer deutlichen, wenn auch nicht expliziten Anerkennung Israels im November 1988 genau diese Differenzierung vollzogen und ihre Machbarkeit auch im nahöstlichen Kontext bewiesen hat Die israelische Koalitionsregierung hat eine solche Interpretation der PLO-Haltung allerdings von sich gewiesen und daher auch keine Notwendigkeit gesehen, ihrerseits in Richtung auf einen Kompromiß zu gehen. Insofern erhellt, daß der israelische Legitimitätsanspruch auch als Instrument zur Torpedierung mißliebiger politischer Entwicklungen eingesetzt werden kann.
Die grundsätzliche israelische Haltung in der Legitimitätsfrage erzeugt jedoch ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu Verhandlungen. Wenn der israelische Staat und die jüdische Besiedlung Palästinas als unzweifelhaft legitim angesehen werden, muß jeglicher Widerstand dagegen kriminell sein. Nun hat sich der bewaffnete Widerstand der Palästinenser gerade in den Jahren bis zum Oktoberkrieg zum Teil solcher Formen der Gewalt bedient, daß damals nicht nur Israel, sondern die ganze westliche Welt vom kriminellen Charakter der PLO überzeugt war. In Israel ist diese Sicht auch heute noch vorherrschend. So besteht zumindest in der Bevölkerung die Tendenz, die PLO für jede Gewalttat gegen Israelis verantwortlich zu machen, gleich, ob dahinter PLO-Renegaten wie die Gruppen Abu Nidals und Abu Musas oder unkontrollierbare Minderheiten innerhalb der PLO stecken.
Gegen Verhandlungen mit der so definierten „Verbrecherorganisation“ aber sperren sich die Parteien des rechten israelischen Spektrums grundsätzlich. Im linken Parteienspektrum sind es nur die kleinsten und radikalsten, die direkte Verhandlungen mit der PLO befürworten. Die Arbeitspartei ist in dieser Frage gespalten. Der Verteidigungsminister Rabin repräsentiert jene, die die PLO nicht als verhandlungswürdig ansehen. Parteichef Peres jedoch äußert sich öffentlich etwas vage dahingehend, daß er mit jedem Palästinenser reden werde, der der Gewalt abgeschworen und sich auf eine friedliche Lösung des Konflikts verpflichtet habe. Daneben gibt es einzelne — wie Minister Ezer Weizman oder Staatssekretär Jossi Beilin —, die es für unvermeidbar halten, sich auf die PLO einzulassen. Bezeichnenderweise liegt nicht einmal der Haltung der kompromißbereiteren Kreise Israels, soweit es sich nicht gerade um vorwiegend von Arabern geprägte Parteien handelt, so etwas wie Vertrauen in die PLO zugrunde. Vielmehr folgt sie der Einschätzung, daß die PLO unumgehbar geworden ist, Verhandlungen mit ihr folglich als Gebot politischer Vernunft zu betrachten sind.
Die PLO hingegen beansprucht für sich, die einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes zu sein. In diesem Anspruch kann sich die PLO nach allen verfügbaren Informationen auf die Unterstützung einer überwältigenden Mehrheit der Palästinenser sowohl in den besetzten Gebieten als in der Diaspora stützen Was den von Israel so bezeichneten Terrorismus angeht, so hält die PLO Schläge gegen israelische Interessen unter Berufung auf das in der Charta der Vereinten Nationen festgelegte Recht auf nationale Selbstverteidigung für legitim. Allerdings distanziert sich die Organisation seit langem von Gewaltaktionen mit eindeutig kriminellem Charakter und beschränkt ihren Kampf erklärtermaßen auf Israel und die besetzten Gebiete Die von der Mehrheit der israelischen Parteien immer wieder gestellte Forderung, „die Palästinenser“ sollten sich zum völligen Gewaltverzicht bereit erklären, ist für die PLO also indiskutabel. Dies gilt gleichermaßen im Zusammenhang mit der palästinensischen Volkserhebung. Die israelische Regierung hat dagegen erklärt, daß sie deren Beendigung zur Vorbedingung für Verhandlungen mit einer Palästinenservertretung (notabene nicht der PLO) macht. Das ist angesichts des menschlichen Leides vor allem für die Palästinenser und der materiellen Schäden für alle Beteiligten ein verständlicher Wunsch. Tatsächlich werden damit jedoch Gespräche in noch weitere Ferne gerückt. Diese Vorleistung widerspricht ja nicht nur den erwähnten palästinensischen Grundrechten, sondern erscheint der palästinensischen Führung angesichts des Erfolges der Intifada auf der internationalen wie der innerpalästinensischen Ebene auch nicht opportun
An dieser Stelle ist noch eine Anmerkung nötig. Bisher wurden vor allem die Hindernisse auf dem Weg zu politischen Verhandlungen, die sich aus israelischen Wahrnehmungen, Grundwerten und Interessen ergeben, dargestellt. Dies sollte vom Leser nicht als Parteinahme oder einseitige Schuldzuweisung interpretiert werden. Es gibt zweifelsohne nicht nur auf Seiten Israels, sondern auch bei den Palästinensern kontraproduktive Einstellungen.
Beispielsweise erschwert es die Kommunikation mit den Israelis, wenn die Einzigartigkeit des Holocaust und dessen Folgen auf die Psyche und das Denken der Überlebenden ignoriert werden oder wenn die PLO das israelische Sicherheitsbedürfnis allzu leicht nimmt. Allerdings hat die Forderung an eine unter Besatzung leidende Bevölkerung, sie solle Mitgefühl ausgerechnet mit ihrer Besatzungsmacht haben, doch auch etwas Wirklichkeitsfernes an sich.
Schließlich ist die palästinensische Rhetorik oftmals nur allzu geeignet, bei westlich denkenden Menschen Mißtrauen in die Vernunft und Besonnenheit sowohl der politischen Führer als auch der Bevölkerung zu wecken. Gewiß, es spricht bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge vieles dafür, daß Israel an der Reihe ist, durch bestimmte Modifikationen seiner Haltung, insbesondere durch die Anerkennung der PLO als Verhandlungspartnerin oder besser: als formeller Konfliktpartei einen Fortschritt im politischen Prozeß im Nahen Osten zu ermöglichen. Dennoch darf man sich keiner Illusion hingeben. Selbst die heute noch so schwierig erscheinende Anerkennung der PLO ist letztlich nur eine Präliminarie zu den eigentlichen Verhandlungen. Zwar werden diese damit wohl erst möglich — leicht wird eine Lösung des Konflikts aber deshalb noch lange nicht.
IV. Die Konzepte einer Friedenslösung in Israel
Im folgenden wollen wir die Konzepte zur Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts betrachten, wie sie von den verschiedenen politischen Kräften in Israel — gleich, ob sie an der Regierung beteiligt oder in der Opposition sind — vertreten werden. Im Interesse der Übersichtlichkeit sollen innerparteiliche Differenzen, wie sie insbesondere im Likud und in der Arbeitspartei bestehen, nur am Rande berücksichtigt werden. Inhaltlich sollen vier grundsätzliche Themenbereiche der Lösungskonzepte unterschieden werden: Erstens die Grenzziehung zwischen Israel und seinen Nachbarn, zweitens die Gestaltung der politischen und administrativen Belange der Palästinenser, drittens der Zeitplan bis zur Erlangung des angestrebten Endzustandes und viertens die Modalitäten der Verhandlungen.
1. Die Grenzziehung
a) Likud
Im Mai 1989 hat die israelische Regierung unter Federführung Jitzhak Schamirs eine „Friedensinitiative“ vorgelegt an deren Ausarbeitung höchstwahrscheinlich auch Verteidigungsminister Jitzhak Rabin von der Arbeitspartei beteiligt gewesen ist; gleichwohl ist die Initiative dem Likud zuzuordnen. Für den Likud kommt eine Veränderung des Status von Judäa, Samaria und dem Gaza-Streifen (d. h.den von Israel besetzten Gebieten) nur in Übereinstimmung mit den Richtlinien der RNE in Frage. Diese Richtlinien, die im Prinzip bereits bei den Verhandlungen zur Bildung der ersten RNE (1984-1988) ausgearbeitet und 1988 nur bestätigt wurden, legen ihrerseits wiederum fest, daß keine Veränderung des Status quo herbeigeführt werden solle, es sei denn im Konsens der Koalitionspartner. Dies bedeutet vor allem, daß Gebiete weder abgetreten, noch annektiert werden dürfen und daß ferner Verhandlungen mit der PLO ausgeschlossen bleiben
Die Bedeutung dieser seltsamen Verklausulierung erhellt, wenn man das Wahlprogramm des Likud konsultiert Dort ist festgelegt, daß „dasjüdische Volk ein ewiges, unanfechtbares Recht auf das Land Israel hat, das mit dem Recht auf Sicherheit und Frieden verwoben ist“. Zudem habe der israelische Staat „ein Recht und einen Anspruch auf die Souveränität über Judäa, Samaria und Gaza“, den Israel „zu geeigneter Zeit . . , erheben“ und verwirklichen werde. Die Aufgabe, aber auch eine Teilung der Gebiete wird strikt abgelehnt, da sie „unser Recht aufdas Land untergräbt, unweigerlich zur Errichtung eines palästinensischen Staates, zur Beeinträchtigung der Sicherheit der Zivilbevölkerung führt, die Existenz des Staates Israel gefährdet und die Chance auf Frieden zerstört“.
b) Techija-Partei
Diese Partei wurde von ehemaligen Likud-Mitgliedem aus Protest gegen Israels Zugeständnisse an Ägypten im Friedensvertrag von 1979 gegründet. In ihren Prinzipien deckt sie sich mit dem Likud, sieht also ein Anrecht Israels aufganz Palästina gegeben. Entsprechend lehnt sie Gebietsabtretungen auch im kleinen ab. Im Gegensatz zum Likud fordert die „Bewegung“ vielmehr die sofortige Annexion der besetzten Gebiete und sogar die Aufhebung der Sonderrechte für Muslime auf dem Tempelberg in Jerusalem, wo mit Rücksicht auf die al-Aqsa-Moschee und den Felsendom, die drittheiligsten Stätten des Islam, keine jüdischen Gottesdienste erlaubt sind. Hinsichtlich der territorialen Frage ist die Techija repräsentativ auch für die übrigen kleinen und noch radikaleren Parteien auf der Rechten des israelischen Parteienspektrums.
c) Arbeitspartei
Mit ihrem Wahlprogramm von 1988 folgt die Arbeitspartei dem Grundinteresse, Israel als einen Staat mit klarer jüdischer Bevölkerungsmehrheit und Identität zu bewahren. Nach ihren Vorstellungen soll sich Israel daher von der administrativen Verantwortung für alle besetzten Gebiete trennen. Allerdings soll sich der militärische Einflußbereich Israels weiterhin bis an den Jordan erstrecken, was zum einen mit der Stationierung israelischer Einheiten an strategischen Punkten und zum anderen mit der Beibehaltung der jüdischen Siedlungen im Jordantal, in der östlichen Umgebung von Jerusalem und anderswo erreicht werden soll. Zum dritten seien die geräumten Gebiete, insbesondere die Ballungszentren der palästinensischen Bevölkerung, zu demilitarisieren. Im Ergebnis bedeutet das Konzept der Arbeitspartei, daß sich Israel auf Grenzen zurückzieht, die jenen von 1967 ähnlich sind. Eine wichtige Abweichung betrifft die Stadt Jerusalem, die die Arbeitspartei — wie fast alle anderen Parteien auch — für Israel beansprucht. Mit dieser Ausnahme würden die vorgesehenen Veränderungen ausschließlich Sicherheitsinteressen, nicht jedoch wirtschaftlichen oder anderen dienen.
d) Parteien des linken Spektrums
Wie die Arbeitspartei, so lehnen auch die Bürgerrechtspartei Ratz, die Partei der sozialistischen Kibbutzbewegung Mapam und die Progressive Friedensliste eine Annexion des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens ab. Ratz und Mapam teilen prinzipiell auch deren territoriale Vorstellungen, d. h. auch sie vertreten eine weitgehende, aber sicherheitsrelevante Bereiche ausnehmende Räumung der 1967 eroberten Gebiete. Dies unterscheidet sie von der Friedensliste, die sich für eine bedingungslose Räumung einsetzt.
2. Die politische Zukunft der Palästinenser
a) Likud
Die Partei Jitzhak Schamirs erklärt sich grundsätzlich nur zu Verhandlungen über das politische Schicksal der jetzt in den Territorien lebenden Bevölkerung bereit. Damit grenzt sie also die heute noch in diversen arabischen Ländern lebenden palästinensischen Flüchtlinge aus. Deutlicher als Schamirs Friedensplan besagt auch in dieser Frage das Wahlprogramm des Likud, daß mit den Palästinensern gemäß dem Autonomie-Plan von Camp David, natürlich in der engeren Likud-Interpretation, verfahren werden soll. Die dort vorgesehene Autonomie sei „nicht als Staat, nicht als Souveränität und nicht als Selbstbestimmung“ auszulegen -Natürlich dürfen auch Israels Sicherheitsinteressen nicht berührt werden. Daher bleiben Sicherheitsund Außenpolitik sowie die Kontrolle der Ressourcen der Gebiete dem Staat Israel vorbehalten. Soweit sie nicht mit diesen Einschränkungen kollidiert, soll den Palästinensern am Ende des Friedensprozesses „volle Autonomie“ gewährt werden. Damit kann aber wohl nur lokale Selbstverwaltung gemeint sein, da nicht allzu viele Befugnisse übrig bleiben. Es gibt im übrigen erste Anzeichen, daß im Likud Erwägungen angestellt werden, Jordanien an der Verwaltung der palästinensischen Gebiete zu beteiligen. So ist schon im Wahlprogramm der Vorschlag enthalten, allen Bewohnern von Eretz Israel entweder die israelische oder die jordanische Staatsbürgerschaft anzubieten. In seinen Erläuterungen zum Friedensplan vor der Knesset hat Schamir darüber hinaus sowohl Jordanien als auch Ägypten eine Beteiligung an den Verhandlungen über Probleme der Wirtschafts-und Infrastruktur, die mit einer gewählten Palästinenservertretung abzuhalten wären, angeboten
b) Techija und rechte Parteien
Wie der Likud so schließen auch die übrigen Parteien des rechten politischen Spektrums die palästinensische Diaspora aus ihren Überlegungen aus. Im Kontrast zum Likud halten sie aberjegliche Art von Zugeständnissen für unakzeptabel. Ihnen allen gemeinsam ist die Ablehnung auch der geringsten Übertragung separater politischer Rechte an die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens. Während die radikalen Miniparteien Tsomet, Kach (der Formierung des gewalttätigen Rabbiners Kahane) und Moledet mehr oder weniger offen den „Transfer“ der arabischen Bevölkerung aus den Territorien in die arabischen Länder fordern, soll diese nach den etwas gemäßigteren Vorstellungen der Techija die jordanische Staatsbürgerschaft annehmen, aber dann in Israel permanente Aufenthaltserlaubnis und „gleiche Rechte und Pflichten“ — ausgenommen Wehrdienst und Wahlrecht — erhalten.
c) Arbeitspartei
Die politische Zukunft der Palästinenser ist in der Sicht Schimon Peres’ und seiner Partei am besten in einem gemeinsamen jordanisch-palästinensischen Staat zu verwirklichen, dem auch die „dicht von Palästinensern bevölkerten Gebiete des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens“ zuzuschlagen wären An diesen Staat wünscht die Partei die Kontrolle über die rund 1, 5 Millionen Palästinenser abzutreten. Auf einen separaten Palästinenser-staat, auch wenn er eine Konföderation mit Jordanien anstrebte, will sie sich aber nicht einlassen.
d) Mapam und die linken Parteien
Die Mapam-Partei, die bis zur Bildung der Regierung der Nationalen Einheit 1984 eine Listenverbindung mit der Arbeitspartei hatte, stützt ihr Konzept für die politische Zukunft der Palästinenser auf eine ganz ähnliche Einschätzung wie ihre frühere Partnerin. In ihrem Lösungsvorschlag ist sie jedoch mutiger. Zwar strebt auch sie die Errichtung eines jordanisch-palästinensischen Staates unter Einbeziehung des Hauptteils der Gebiete an; ihn hält sie auch für die wünschenswerteste Lösung. Doch erklärt sie sich ausdrücklich bereit, nach einem Friedensschluß mit Jordanien auch einen separaten Palästinenserstaat zu akzeptieren, wenn dadurch die „im Friedensvertrag getroffenen Übereinkünfte und Sicherheitsarrangements nicht verletzt“ würden. Die Vorstellungen der Bürgerrechtspartei sind hier weniger ausdifferenziert, liegen jedoch im Wesentlichen auf der gleichen Linie. Am weitesten geht auch hier die Progressive Friedensliste, die die Einrichtung eines separaten Palästinenserstaates befürwortet.
3. Der Zeitplan
Mit Ausnahme derjenigen Parteien, die entweder keine Zugeständnisse an die palästinensische Bevölkerung beabsichtigen oder die sich für die sofortige Errichtung eines separaten Staates der Palästinenser einsetzen, rechnen alle Konzepte mit einer Übergangsphase zwischen dem jetzigen Zustand und einer permanenten Lösung. Der Schamir-Plan sieht vor, daß auf der Grundlage vorläufiger Verhandlungsergebnisse eine gewählte Palästinenser-vertretung die Verantwortung für die Angelegenheiten des Alltags übernimmt. Wenn diese sich drei Jahre — gerade auch im Hinblick auf das friedliche Zusammenleben mit Israel — bewährt hat. sollen Verhandlungen über das endgültige Arrangement begonnen werden. Letzteres soll dann nach maximal zwei weiteren Jahren implementiert werden. Die Arbeitspartei hat in diesem Punkt ziemlich ähnliche Vorstellungen. Sie wäre aber gewillt, bei entsprechendem Verhandlungsfortschritt den Endzustand schon nach drei Jahren zu erreichen. Auch die Mapam sieht eine zweistufige Lösung vor, legt sich aber auf keinen Zeitraum fest. 4. Die Verhandlungsmodalitäten
a) Likud
In dem zweistufigen Plan des Likud sind zunächst Verhandlungen zwischen Israel und einer von der palästinensischen Bevölkerung frei zu wählenden Vertretung vorgesehen. Jordanien und Ägypten können dazu „eingeladen werden, wenn sie es wünschen“. An den Verhandlungen über die permanente Lösung sollen Jordanien und die Palästinenservertretung beteiligt werden. Darüber hinaus dürfe auch Ägypten hinzugezogen werden. Im Prinzip soll zur gleichen Zeit auch der Friedensvertrag mit Jordanien ausgehandelt werden, unter Beteiligung der gewählten Repräsentanten der ansässigen Palästinenser. Zu der Bestimmung der palästinensischen Vertreter ist anzufügen, daß sie gemäß dem Schamir-Plan aus freien, demokratischen und geheimen Wahlen hervorgehen sollen. Für einige Sonderbestimmungen hinsichtlich der Kandidaturen wird auf ein „detailliertes Dokument“ verwiesen, das aber bis dato meines Wissens nicht publiziert worden ist. Das verwundert nicht, da hierüber noch immer heiße Debatten innerhalb des Likud ausgetragen werden. Parteichef Schamir und eine schwer zu quantifizierende Mehrheit der Partei vertreten hier die folgende Linie: eine Beteiligung der PLO als solcher mit ihrem Präsidenten Arafat wird kategorisch ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird auch die Kandidatur von Personen, die sich ausdrücklich als PLO-Mitglieder zu erkennen gegeben haben. Personen, die dem Umfeld der PLO zugerechnet werden, sich hierzu jedoch nicht eindeutig geäußert haben, scheinen jedoch als akzeptabel zu gelten.
Neben dem „PLO-Faktor“ ist durch den Baker-Plan die Frage, ob die arabische Bevölkerung (Ost-) Jerusalems an diesen Wahlen teilnehmen darf, zu einem Hauptstreitpunkt zwischen Schamir und seiner innerparteilichen Opposition geworden. Der Parteivorsitzende und Regierungschef hat diese Frage, wohl nicht zuletzt auch aus Rücksicht auf seinen Koalitionspartner und auf die amerikanische Regierung, offen gelassen. Abgesehen von ihrer parteitaktischen Verwendbarkeit hat die Frage auch zwei inhaltliche Komponenten. Einmal bewirkt eine Einbeziehung Ostjerusalems in den Wahlbezirk, daß wichtige lokale Führungspersönlichkeiten, wie etwa der Herausgeber der Zeitung al-Fajr, Hanna Siniora, wähl-und kandidaturberechtigt sind. Zum zweiten ist der Status des östlichen Stadtteils mit seiner überwiegend arabischen Bevölkerung angesprochen, der von Israel wie den Palästinensern gleichermaßen als „integraler Bestandteil“ des jeweiligen Territoriums betrachtet wird. Nun behauptet die Likud-Fronde um Scharon. Modai und Levy, daß eine Billigung der Wahl, beteiligung der Araber Ostjerusalems die dortigen israelischen Ansprüche untergraben würde. Jitzhak Schamir weist dagegen die Unterstellung, er würde sich auf derartiges einlassen, heftig zurück. Unter dem Strich gehen die Vorschläge der Schamir-Initiative zu den Verhandlungsmodalitäten tatsächlich in einem Punkt über frühere Positionen des Likud hinaus: Sie gestehen den Palästinensern eine Rolle bereits von Anbeginn der Verhandlungen zu. Diese Modifikation könnte ein Resultat der Intifada sein.
b) Techija und übrige rechte Parteien
Gemäß ihren Vorstellungen über die Annexion der besetzten Gebiete sehen die Parteien rechts vom Likud keine politische Rolle im Friedensprozeß für die palästinensische Bevölkerung, geschweige denn für die PLO vor. Sie sind nur an Verhandlungen mit Jordanien und anderen arabischen Regierungen interessiert.
c) Arbeitspartei
In ihrem Wahlprogramm von 1988 hat die Arbeitspartei erklärt, daß „die PLO und andere Organisationen, die sich auf die Palästinensische National-charta, die Israels Existenzberechtigung leugnet und den nationalen Charakter des jüdischen Volkes ablehnt, gründen oder sich terroristischer Methoden bedienen, keine Partner in Verhandlungen sein können.“ Nun hat sich die PLO auf die Anerkennung Israels festgelegt; ferner haben die Arafat-treuen Fedajin-Organisationen in der PLO seit geraumer Zeit auf Guerilla-Aktivitäten gegen Israel verzichtet, um so die „Terrorismus-Klausel“ zu erfüllen. Ob das genügt, um das profunde Mißtrauen selbst eines Schimon Peres geschweige denn das der weniger kompromißbereiten Kreise der Arbeitspartei gegen die Intentionen der PLO zu zerstreuen und eine Revision deren offizieller Haltung zu ermöglichen, ist nicht gewiß. Hier spielt schließlich auch eine ganz erhebliche Rolle, ob eine solche Haltung den Wählern vermittelbar ist. Hinsichtlich der Beteiligung der arabischen Bevölkerung Ostjerusalems an den Wahlen zu einer palästinensischen Interessenvertretung gibt sich die Arbeitspartei deutlich kompromißbereit, ohne allerdings den israelischen Anspruch auf das ganze Jerusalem in Frage zu stellen.
Bezüglich der übrigen Verhandlungsmodalitäten gilt für die Partei wohl nach wie vor der Peres-Frie-densplan vom Juni 1985 der bis dato weder revidiert noch zurückgenommen worden ist. Darin sind zunächst fortgesetzte vorbereitende Gespräche zwischen Vertretern nicht nur Israels, Jordaniens, Ägyptens und der palästinensischen Bevölkerung, sondern auch der USA vorgesehen. Diese Idee findet sich auch in dem aktuellen Vorschlag des US-Außenministers Baker wieder. Durch die Gespräche soll die Grundlage für eine dreiseitige Arbeitsgruppe geschaffen werden, die ihrerseits die Agenda für eine jordanisch-israelisch-palästinensische Gipfelkonferenz mit amerikanischer Beteiligung erarbeitet. Diese Konferenz soll dann die endgültige Lösung und den Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien zustandebringen. Die palästinensische Vertretung soll aus Wahlen hervorgehen und „für alle Parteien akzeptabel“ sein, also auch für Israel. In diesen Punkten sind also keine großen Unterschiede zum Schamir-Plan zu verzeichnen, der ja wohl zum Teil aus Vorstellungen des Koalitionspartners hervorgegangen ist.
d) Die linken Parteien
Die Mapam erwähnt die PLO in ihrem Konzept nicht ausdrücklich. Sie erklärt sich allerdings zu Verhandlungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechtes der Verhandelnden bereit. Die einzige Bedingung dafür soll die gleichzeitige und gegenseitige Anerkennung sowie der Verzicht auf Terror und bewaffneten Kampf sein. Das ist entgegenkommender als der entsprechende Passus bei der Arbeitspartei, weil die Änderung der PLO-Charta nicht ausdrücklich zur Bedingung gemacht wird. So bräuchte die Palästinenserorganisation ihre prinzipielle Haltung nicht aufzugeben und könnte dennoch mit verbindlichen politischen Vereinbarungen den israelischen Interessen Rechnung tragen. Eine Etappe palästinensischer Autonomie als Übergangsphase vom Status quo zur endgültigen Lösung ist schließlich auch bei der Mapam-Partei vorgesehen. Sie hält die Autonomie aber im Gegensatz vor allem zum Likud „nur für eine vorübergehende Zeitspanne . . . und nicht für eine dauerhafte Lösung geeignet“
Die Bürgerrechtspartei setzt sich für Verhandlungen mit „jedem repräsentativen Organ der Palästinenser auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung“ ein. Die Friedensliste hingegen geht als einzige jüdisch-israelische Partei soweit, die PLO als Verhandlungspartner sowohl direkt zu benennen, als auch deren Alleinvertretungsanspruch für das palästinensische Volk anzuerkennen
V. Das Lösungskonzept der PLO im Vergleich
1, Grenzziehung
Die Palästinensische Befreiungsorganisation erhebt einen moralischen Anspruch auf ganz Palästina, auf den sie durch die Nationalcharta verpflichtet ist. In der Praxis hat sie sich unter Führung Arafats bereits seit 1974 — wiewohl zunächst stark verklausuliert und indirekt, seit 1988 aber offen — für eine Zwei-
Staaten-Lösung eingesetzt. Israel soll dabei wieder auf das Staatsgebiet in den Grenzen vom 4. Juni 1967, wie es also vor den Eroberungen des Sechs-Tage-Krieges bestanden hatte, reduziert werden. Jerusalem reklamiert man zur Gänze als palästinensische Hauptstadt. Von bestimmten Kreisen innerhalb der PLO wird hier allerdings ein Kompromiß mit den analogen israelischen Forderungen vorgeschlagen, der Israel den westlichen, von ihm seit 1967 entwickelten Teil der Stadt beläßt und nur Alt-Jerusalem mit seiner vorwiegend arabischen Bevölkerung dem Palästinenser-staat zueignet.
Selbst diese gemäßigte, und derzeit keinesfalls majoritäre Position muß jedoch noch als unvereinbar mit den israelischen Lösungsvorschlägen aller jüdischen Parteien (im Gegensatz zu rein arabischen oder gemischten Parteien wie der Kommunistischen Partei Israels), die mit Ausnahme der Friedensliste einhellig von der Unteilbarkeit Jerusalems ausgehen, bezeichnet werden.
2. Die politische Zukunft der Palästinenser
Die PLO fordert einen souveränen Staat der Palästinenser und hat dieses Ziel mit dessen Ausrufung im November 1988 durch den Palästinensischen Nationalrat bekräftigt. Wichtig ist, daß sich die PLO dadurch förmlich auf eine Zwei-Staaten-Lösung festgelegt hat — nach heftigen Kontroversen im Vorfeld des Beschlusses. Bei der Fortführung der darauf beruhenden Politik werden Arafat und seine Mehrheit in den Führungsgremien der PLO wie im PNR also auch in Zukunft eine nicht oder nur teilweise kontrollierbare Opposition sowohl von innerhalb der PLO als auch seitens arabischer Staaten — wie zur Zeit insbesondere Syrien oder Libyen — zu gewärtigen haben. Zur Anerkennung des Staates Israel ist die Organisation faktisch seit langem bereit, kann dies aus Gründen des Prestiges und der Verhandlungstaktik aber natürlich nicht einseitig erklären.
Im übrigen kann die PLO angesichts der realen Machtverhältnisse nur schwer auf diesen Trumpf verzichten. Sie hat ja sonst nur geringe Möglichkeiten, das vom Status quo begünstigte und hochgerüstete Israel zu beeinflussen. Ihre einzigen Druckmittel neben der Anerkennung sind nur der Guerrilla-Kampf und seit Ende 1987 die Intifada. Beide sind — im Westen häufig übersehen — mit sehr hohen Kosten für die PLO verbunden, deren Berechtigung sich überhaupt wohl nur aus der israelischen Sensibilität gegenüber menschlichen und wirtschaftlichen Verlusten auf der einen und dem Mangel an realistischen Alternativstrategien für die Palästinenser auf der anderen Seite ergibt.
Der neue Staat soll allen palästinensischen Flüchtlingen offenstehen. Eine Unterteilung des palästinensischen Volkes in eine politisch zu berücksichtigende ansässige Bevölkerung und die zu vernachlässigenden Flüchtlinge im Ausland, wie dies in den meisten israelischen Konzepten angelegt oder ausgesprochen ist, akzeptiert die PLO nicht. Sie operiert hingegen mit dem doppelt problematischen Begriff des „Rückkehrrechts für alle Palästinenser“. Die Problematik des Begriffs ergibt sich daraus, daß er zum einen die Assoziation einer Rückkehr der Flüchtlinge auch in das israelische Kern-land weckt, die das Ende des israelischen Staates bedeuten würde. Damit aber liefert die PLO gerade den kompromißfeindlichen Kreisen in Israel das Argument oder weckt die echte Befürchtung, daß die PLO weiterhin auf die Zerschlagung des jüdischen Staates aus ist. Zum anderen verhindert dieser Slogan, daß sich unter den Flüchtlingen eine realistische Einschätzung der Lage und die Orientierung auf „Klein-Palästina“ verbreitet.
Allerdings sind hier eben prinzipielle Haltungen und wichtige Wertvorstellungen berührt, an denen die PLO sowohl von der eigenen Klientel als auch von den arabischen Staaten gemessen wird. Folglich könnte sich die PLO-Führung auch bei gegebener Opportunität nur schwer davon lösen. Wahrscheinlich steht der PLO bei dieser Frage das israelische Vorbild vor Augen. So geht es ihr im Kern darum, die Staaten-und folglich die Rechtlosigkeit der vielen Palästinenser zu beenden, denen andere Staatsbürgerschaften bisher versagt geblieben sind. Wie auch im Falle Israels wäre davon auszugehen, daß längst nicht alle Auslandspalästinenser zurückkehren würden. Angesichts der bereits äußerst hohen Bevölkerungsdichte besonders im Gaza-Streifen und dem hohen Bevölkerungswachstum unter den Palästinensern ist die Vorstellung eines weiteren Bevölkerungszuflusses von außen jedoch für Israel kein Thema.
Hinsichtlich der politischen Rechte der Palästinenser in ihrem Staat fordert die PLO völlige Souveränität, lehnt also eine Entwaffnung oder partielle Mitspracherechte Dritter — gleich, ob für Israel oder Jordanien — ab. Sie ist einem Zusammenschluß mit Jordanien durchaus nicht abgeneigt, macht aber die vorherige eigene Staatsgründung und die völlige Gleichberechtigung zwischen „Palästina“ und Jordanien zur Bedingung. Das ist natürlich die umgekehrte Reihenfolge des Lösungsvorschlags der Arbeitspartei und schon für diese kaum akzeptabel.
3. Der Zeitplan
Die zeitlichen Vorstellungen des PLO-Konzeptes sind eher vage. Offiziell werden nur kurze Übergangszeiträume bis zur völligen Souveränität angenommen, wie z. B. bei dem Angebot einer Stationierung von UN-Truppen im ersten halben Jahr nach der Staatsgründung.
4. Die Verhandlungsmodalitäten
Prinzipiell besteht die PLO darauf, als Repräsentantin der Palästinenser gleichberechtigt neben Israel und den arabischen Staaten am Verhandlungstisch zu sitzen. Schon seit einigen Jahren akzeptiert sie aber jordanische und ägyptische Kompromißvorschläge, nach denen zumindest die Vorverhandlungen nicht von Repräsentanten der PLO selbst, sondern von formal unabhängigen, jedoch von der PLO gebilligten Persönlichkeiten bestritten werden könnten. Dies haben noch 1985 sowohl der Likud als auch die Arbeitspartei abgelehnt. Nun, da US-Außenminister Baker sich diese Vorstellung zu eigen gemacht hat, scheint hier ein Umdenkungsprozeß in Gang gekommen zu sein. Allerdings hat bereits das zu heftigen Reaktionen im Likud geführt.
Die endgültige Friedensregelung möchte die PLO auf einer internationalen Konferenz aushandeln lassen, an der nicht nur sie und die anderen unmittelbaren Konfliktparteien, sondern auch die fünf permanenten Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates beteiligt wären. Aus der Sicht der Arbeitspartei könnte das internationale Element dann kompromißfähig werden, wenn das Verhältnis mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten sich in den konstruktiven Bahnen der vergangenen Monate weiterentwickelt. Eine verbindliche Entschei-dungsbefugnis, wie sie die Palästinenser zumindest offiziell fordern, wäre jedoch nicht akzeptabel. Der Likud lehnt das ganze Konzept ab und billigt nur die konsultative Beteiligung Ägyptens und der Vereinigten Staaten. Die PLO hält aber die internationale Beteiligung für die einzig denkbare Garantie, daß Israels sehr reales Übergewicht nicht zu einem Diktatfrieden führt. Im übrigen ist die PLO wegen ihrer Interessen in zahlreichen arabischen Ländern auf möglichst breite arabische Zustimmung angewiesen, auf die sie nur bei einer wirklich umfassenden Lösung hoffen kann
VI. Welche Aussichten für einen Frieden?
Der hier gegebene Überblick über Grundhaltungen und Positionen in Israel und bei der PLO hinsichtlich einer Friedenslösung vermittelt einen Eindruck von den inhaltlichen Schwierigkeiten, die auf dem Weg zum Frieden noch zu bewältigen sind. Es wird deutlich, daß die prinzipiellen Grundhaltungen und politischen Wertvorstellungen fast aller Parteien in Israel auf der einen und die der PLO auf der anderen Seite einander diametral entgegenstehen. Auf der prinzipiellen Ebene erscheint eine Vermittlung auch deshalb ausgeschlossen, weil die beiden Positionen direkt mit der jeweiligen Existenzberechtigung verknüpft werden.
Weder jetzt noch in Zukunft kann aber mit der Selbstauflösung oder gar der Vernichtung einer der Seiten gerechnet werden. So bleibt man auf konkrete, pragmatische Lösungsvorschläge angewiesen. In Israel sind dazu ja durchaus Vorstellungen formuliert worden, die sich mit den bescheidener gewordenen PLO-Forderungen der letzten Jahre in Einklang bringen ließen. Doch fehlt diesen eine relevante Unterstützung in der israelischen Wählerschaft. Das liegt auch daran, daß die Parteien Mapam, Bürgerrechtspartei und Progressive Friedens-liste auch wegen anderer, rein innenpolitischer Positionen nicht mehrheitsfähig sind. Ähnliches gilt für die radikalen Parteien rechts vom Likud mit ihren wohl eher nicht zum Frieden führenden Plänen. Eine entscheidende Wende im Kräfteverhältnis zwischen Arbeitspartei und Likud ist allenfalls dann zu erwarten, wenn sich der Likud noch länger internen Zwistigkeiten hingibt oder sich gar spaltet und dadurch bei der Wählerschaft und als Koalitionspartner, z. B. bei den religiösen Parteien, in Verruf gerät
Große Überraschungen auf der israelischen Seite sind eher unwahrscheinlich. Die PLO wird folglich an einer maßvollen Politik festhalten und weiterhin daran arbeiten müssen, daß Verhandlungen mit ihr für eine Mehrheit in Israel akzeptabel werden. In dieser von historischen Umwälzungen geprägten Zeit müssen sich beide Seiten in diesem Konflikt aber trotz allem die Frage gefallen lassen, ob denn die Kluft zwischen ihnen wirklich so viel tiefer ist als die in den vergangenen Monaten überwundene europäische? Gewiß, im Nahen Osten leiden beide Seiten unter inneren Spannungen von beträchtlichem Ausmaß, die hier wie dort die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiß reduzieren. Die Beispiele besonders Europas, aber auch des südlichen Afrikas zeigen jedoch, daß die kompliziertesten Probleme lösbar werden, wenn der politische Wille dazu erst einmal vorhanden ist. Und der wächst besonders dort, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß Koexistenz und Kooperation allemal ergiebiger und profitabler sind als Krieg, Konflikt oder Boykott.