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Die Bedeutung des Holocaust für das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft | APuZ 15/1990 | bpb.de

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Die Bedeutung des Holocaust für das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft

Chaim Schatzker

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Über zwanzig Jahre lang nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Shoah — der Holocaust — als Unterrichtseinheit im israelischen Erziehungswesen kaum aufgegriffen. Erst seit dem Eichmann-Prozeß befaßte sich die didaktische Fachliteratur in Israel durchgehend mit diesem Thema. Weitere Wellen von Publikationen folgten nach dem Sechstagekrieg und nach dem Yom-Kippur-Krieg. Vier Tendenzen bestimmten während der ersten Periode der Auseinandersetzung mit diesem Thema die Einstellung der Israelis zum Holocaust: die Dämonisierung der Täter, ein Prozeß der Verdrängung, Anklage und Apologetik sowie Mystifizierung und Ritualisierung. Als Reaktion auf diese eher irrationalen, wenn auch angesichts der Dimension des Geschehenen verständlichen Tendenzen, verbreitete sich zunehmend die Auffassung von der Notwendigkeit einer „instrumentalen“ Funktion der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, mittels derer vor allem staatsbürgerliche, moralische, historische und nationale Ziele erreicht werden sollten. Beeinflußt durch die Ereignisse der letzten Jahre — nicht zuletzt durch die kriegerischen Konflikte — scheint sich eine dritte, „existentielle“ Auffassung durchzusetzen, die nunmehr das Empfinden von größeren Teilen der israelischen Gesellschaft gegenüber dem Holocaust prägt.

i.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Shoah — der Holocaust — weder im israelischen Erziehungswesen noch in der israelischen Gesellschaft als Thema aufgegriffen. Es waren dies gleichzeitig die Jahre der Enthüllung der Shoah, ihres Ausmaßes und ihrer Folgen durch Bücher, Zeugen, Gerichtsprotokolle und andere Quellen; Jahre, in denen die Immigration eines großen Teils der Überlebenden nach Mandatspalästina erfolgte, und schließlich die Jahre des Befreiungskrieges und der Staatsgründung. Das Thema des Holocaust jedoch wurde kaum als selbständige Unterrichtseinheit in die jeweiligen Lehrpläne der israelischen Schulen aufgenommen. Die Behandlung des Schicksals der Juden im Dritten Reich wurde entscheidend dadurch bestimmt, daß die jähe Enthüllung der vorher entweder nur bedrohlich geahnten und in ihrem Ausmaße ganz unvorstellbaren Wahrheit oder vielleicht des schon Gewußten, aber nicht bewußt Gewordenen mit dem Kriegsende schlagartig erfolgte. Diese Enthüllungen wurden zunächst nicht als Wahrnehmung eines kontinuierlichen geschichtlichen Prozesses empfunden, der mit rationalem historischem Kausalitätsdenken zugänglich und erfaßbar wird, sondern vielmehr als die einen trauma-tischen Effekt auslösende Katastrophe — Shoah. Dies bewirkte die folgenden vier, noch im einzelnen näher zu erklärende Tendenzen, die die Einstellung der israelischen Gesellschaft zum Holocaust bestimmten. Die erste: Die begriffliche Hilflosigkeit im Erfassen und Ergründen des Geschehens hatte eine dämonisierende Auffassung und Verteufelung der Täter zur Folge, nicht unähnlich der Projizierung des Bösen auf dämonische Ungeheuer und Teufel. Stichwort: Dämonisierung.

Die zweite: die Unfaßbarkeit des Holocaust. Die vergeblichen Bemühungen einiger Überlebender, die Dimensionen jenes „anderen Planeten“ denjenigen, die es selbst am eigenen Leibe nicht erfahren hatten, zu vermitteln, ihr verzweifelter Drang, den Holocaust als neuen Eckstein und Kriterium der Menschheit wie der condition humaine zu begreifen und zu etablieren, führten allesamt zu einem Kommunikationsverlust zwischen der einsamen Gemeinde der Überlebenden, ihren eigenen Kindern und der neuen Generation. Das unerklärte und das innerste Sein verneinende Geschehen wurde, obgleich stets gegenwärtig, weder in das tagtägliche Leben noch als innerer Bestand der israelischen Wirklichkeit integriert, sondern verfiel einem Prozeß der Verdrängung. Stichwort: Verdrängung.

Die dritte: Die Ermordung eines Drittels des jüdischen Volkes erschütterte das Selbstbewußtsein und löste eine Reaktion des verwundeten Stolzes aus, die sich jeglicher rationalen Argumentation verschloß. Die quälenden Fragen, innerjüdische Fragen, die aufgewühlt worden waren durch verwundeten nationalen Stolz und ein beeinträchtigtes Selbstbewußtsein bildeten den Mittelpunkt des Interesses und bestimmten die aufgeworfene Problematik in den Lehrbüchern, in der fachdidaktischen Literatur, in den Schulklassen wie überhaupt die Rezeption des Holocaust durch die gesamte israelische Gesellschaft.

Da der Holocaust nicht als eine durch politische Umstände ausgelöste Folge von realen Ereignissen in das nationale Bewußtsein eingedrungen war, wurde auch die Problematik des jüdischen Widerstandes nicht als eine reale Reaktion auf gegebene Situationen empfunden, sondern als eine beschämende, stereotype Verhaltensweise, welche sich in entrüsteten Fragen Luft machte, wie: „Warum sind die Juden nicht beizeiten geflohen?“, „Warum haben sie die sich so massiv abzeichnende Gefahr nicht beizeiten erkannt und nicht vorausgesehen?“, „Warum setzten sie sich nicht zur Wehr, und warum“, so dieser gängige Slogan, „gingen sie wie Lämmer zur Schlachtbank?“ Eine ganze Lehrergeneration versuchte vergeblich, derartigen Fragen sachlich zu begegnen. Vergeblich, da ihre Antworten und Erklärungen — wie auch immer geartet und ganz abgesehen von ihrer Gültigkeit — auf dem Hintergrund der selbstanklägerisch gestellten Fragen apologetisch klingen mußten. Stichwort: Anklage und Apologetik.

Die vierte Reaktion oder Tendenz: Die verdrängten Ereignisse des Holocaust, aus dem alltäglichen Leben verbannt und eliminiert, wurden kompen19 siert, gar überkompensiert durch eine sich in Gedenktagen durch symbolische Zeichen der Trauer und Identifizierung manifestierende heftige seelische und emotionsgeladene Reaktion. Nicht vorwiegend im Bereich der Wissenschaft, nicht in den Universitäten, nicht in den Schulen, sondern in Gedächtnis-und Mahnstätten wie Yad Vashem, Kibbuz Lochame-Hagettaoth und in Erinnerungszeremonien vornehmlich im Rahmen des Shoah-Tages, der alljährlich als ein allgemeiner und gesetzlicher Trauertag begangen wird. In symbolischen Akten der Trauer und des Identifikationsbestrebens suchte der Staat Israel, den Prozeß der Verdrängung der Shoah zu kompensieren, ja auch überzukompensieren. Stichwort: Mystifizierung und Ritualisierung.

Diese vier von den Bewältigungs-bzw. Verdrängungsversuchen her verständlichen Tendenzen bildeten zugleich ein Hindernis, das sich einer sachlichen Information und einem Lernprozeß mit rationalen Zielen und lernpsychologischen und fachdidaktischen Begründungen in den Weg stellte und deren Möglichkeiten verbaute. Jedoch wurde die Notwendigkeit eines solchen Lernprozesses anläßlich des dramatischen Wendepunktes des Eichmann-Prozesses im Jahre 1961 in aller Schärfe ersichtlich. Erst mit dem Eichmann-Prozeß setzte eine Flut von Publikationen ein, die der Shoah und ihrer Unterrichtung als sozialpsychologischem und fachdidaktischem, erzieherischem Problem gewidmet waren. Sie wiesen allesamt auf die Tatsache hin, daß die israelische Gesellschaft und das israelische Bildungswesen der Aufgabe der Unterrichtung der Shoah nicht gerecht geworden waren und der erzieherischen Pflicht, dem durch den Eichmann-Prozeß erweckten Interesse der Schüler entgegenzukommen, unvorbereitet gegenüberstand.

Seit dem Eichmann-Prozeß befaßte sich die didaktische Fachliteratur durchgehend mit diesem Thema, wobei eine zweite Welle von Publikationen, die zum einen nach dem Sechstagekrieg und zum anderen nach dem Yom-Kippur-Krieg einsetzte und in den letzten Jahren noch an Bedeutung gewann, hervorgehoben sein soll.

II.

Im Zuge dieser Entwicklung wurden neue Lehrpläne erarbeitet und eine beträchtliche Anzahl von Fortbildungskursen für Lehrer und Jugendliche eingerichtet. Die diesen Bestrebungen zugrunde liegenden Überlegungen orientierten sich zunächst an der Geschichtsforschung, deren Ergebnisse sie aufzunehmen bemüht waren; andererseits jedoch spiegelten sie die verschiedenen Ideologien, Weltanschauungen und Strömungen innerhalb der israelischen und gesamtjüdischen Gesellschaft und ihre Wandlung im Laufe der Zeit wider, die ihrerseits von der jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und existentiellen Situation bedingt sind. Vor allem jedoch galt es, die vier oben erwähnten Tendenzen als Hindernisse, die der irrationalen Einstellung zum Holocaust entsprangen, zu überwinden.

Die erste Einstellung — die der begrifflichen Hilflosigkeit in der Erfassung des Nazi-Phänomens entspringende dämonisierende Auffassung der Täter — ist sowohl wissenschaftlich unzulässig als auch erzieherisch verfehlt, da es ja darum gehen sollte, das Böse an sich und im Menschen zu erkennen und zu bekämpfen, es aber nicht auf außerhalb unseres Machtbereiches liegende Objekte zu projizieren und mithin die Verantwortung abzulehnen. Die Ermordung der Juden war nicht Teufels-, sondern Menschenwerk, das nicht dämonischen Urgründen, sondern menschlichen, psychischen, politischen, gesellschaftlichen Motiven und Mechanismen entsprang. Es gilt mithin, diese Mechanismen aufzudecken, ihre historischen Wurzeln und kausalen Verbindungen darzustellen und zu verstehen zu suchen. Dies kann dazu beitragen, die Menschen zu sensibilisieren, ihren Sinn für diese Gefahren zu schärfen und durch die Erziehung zu einem an dieser Form von Aufklärung orientierten Handeln künftigen Gefahren besser vorbereitet gegenüberzustehen.

Zur psychologischen Verdrängung: Es liegt im Wesen der psychologischen Verdrängung, daß das Verdrängte nicht verschwindet, sondern weiterbesteht, um in gefährdenden, verunsichernden Situationen — Krisenzeiten der einzelnen Persönlichkeit wie des gesellschaftlichen und politischen Lebens — um so gefährlicher, weil unkontrolliert, aufzutauchen. Es liegt nahe, daß neue traumatische Erfahrungen, die an das Trauma des Holocaust erinnern — wie der Eichmann-Prozeß, die Spannung, die dem Ausbruch des Sechstagekrieges vorausging, das Trauma des Yom-Kippur-Krieges wie auch die steigenden wirtschaftlichen, politischen und existentiellen Probleme der letzten Jahre — den Verdrängungsprozeß rückgängig machten. Das Verdrängte und Wiederaufgetauchte wurde somit zu einem realen Faktor im Leben Israels und beeinflußte das Bewußtsein und die Reaktionen der Gesellschaft und des Staates, auch im Bereiche der Sicherheits-und Außenpolitik, in entscheidendem Maße. Auch die dem verwundeten nationalen Stolz entspringenden Fragen bezüglich des Fehlens jüdischen Widerstandes verbauten die Möglichkeit einer relevanten Auseinandersetzung, indem sie diese Fragen zum dominierenden Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem Holocaust machten und die Aufmerksamkeit von anderen, nicht wenigerwichtigen Gesichtspunkten ablenkten. Antworten, die auf die Aussichtslosigkeit der Juden inmitten eines totalitären Machtstaates und einer feindlichen Umwelt hinwiesen, die überdimensionale Betonung des Aufstandes im Warschauer Getto und ähnliche Beispiele jüdischen Widerstandes oder das der Bezeichnung Shoah („Katastrophe“) hinzugefügte Wort Hagewura („Heldentum“) verfehlten allesamt, weil als apologetisch aufgefaßt, ihre Wirkung.

Apologetik vermag auch die reinste Wahrheit ins falsche Licht zu rücken und ist aus erzieherischer Sicht auch dann verwerflich, wenn sie sich für ein gutes Ziel einsetzt und eine an sich berechtigte Sache vertritt. Anstelle einer Unterrichtung über die Shoah ist häufig eine Diskussion über die Haltung der Juden in der Shoah getreten, in deren Verlauf die Lehrer und die Erwachsenen in eine Verteidigungsposition gedrängt wurden, und das Verhalten der Opfer von den Schülern mit größter Naivität pauschal beurteilt und abgeurteilt wurde. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die menschliches Vorstellungsvermögen bei weitem überschreiten und die auch mit Hilfe von Simulationsspielen bestenfalls zu scheinbaren Identifizierungsprozessen führen und begrifflich nicht nachvollziehbar sind. Erst die Nachwirkungen des Yom-Kippur-Krieges und weitere Entwicklungen, die zur wesentlichen Beeinträchtigung des Selbstbewußtseins und Selbstvertrauens der israelischen Jugend und der israelischen Gesellschaft führten, haben eine größere Einfühlungsbereitschaft in die Shoah-Problematik mit sich gebracht; eine Bereitschaft, den Begriff „Widerstand“ auch in einen breiteren geistigen und verinnerlichten Kontext zu stellen und zu verstehen.

Ich komme zur vierten Tendenz: Auch die Überkompensierung des Verdrängungsprozesses durch Gedenkzeremonien war den Bemühungen um Verständnis nicht gerade förderlich. Wie berechtigt, eindrucksvoll und würdig diese Andachts-und Gedenkzeremonien auch sein mögen, so muß aus lernpsychologischer Sicht folgendes dazu bemerkt werden: Sämtliche den Gedenktagen und Gedächtnisfeiern zugrunde liegenden Voraussetzungen sind von einem Lernprozeß grundsätzlich verschieden. Eine Gedächtnisfeier ist nicht analytisch und lernorientiert, sondern ganz im Gegenteil darauf angelegt, die schwer zu ertragende Wirklichkeit mit einem Schleier zu überdecken, sie in eine sich ständig weiter entfernende metaphysische Sphäre entrükken zu lassen, denn nur mit Hilfe dieses Schleiers erscheint es möglich, trotz der Wirklichkeit und mit ihr bestehen zu können. Sobald jedoch die begriffliche Unterscheidung zwischen Lernprozeß und Gedächtnisfeier verwischt oder gar aufgehoben wird, ist beiden kein guter Dienst getan. Im gleichen Maße, wie beide im Leben von Menschen, Gesellschaften und Völkern berechtigt und notwendig sind, kann keines von beiden an die Stelle des jeweils anderen treten.

Dies scheint jedoch in der israelischen Gesellschaft und in den israelischen Schulen weitgehend vergessen zu sein. Anstelle der Konzeption von sachlichen Lernprozessen, die sehr wohl auch Gefühle erwecken, auslösen und verstärken können — im Falle der Shoah sogar müssen —, trat nun der an sich fragwürdige Begriff des emotionalen Lernens. Diese Konzeption, die sich nicht damit begnügen mochte, das Erwecken von Emotionen als eines der Resultate eines an sich sachlichen Lernprozesses zu erwarten, sondern die Emotion als seelische Voraussetzung, Motivation, Inhalt, Lemziel und Lernmittel zugleich erachtete, erschien der israelischen Schulpraxis bis vor wenigen Jahren als dem Thema der Shoah am angemessensten; sie wurde jedoch letztlich weder dem Lernvorgang noch dem Empfinden wirklich gerecht.

III

Die negativen Reaktionen auf diese die erste Periode kennzeichnenden Tendenzen führten zu einer zweiten Periode der Perzeption des Holocaust durch die israelische Gesellschaft. Eine Konzeption, die ich als instrumentale Tendenz oder Periode gekennzeichnet habe. Im Mittelpunkt der Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust standen nun eher die Schüler als die Überlebenden mit ihrer undurchdringbaren und unübertragbaren Welt von Erinnerungen, die Zukunft mehr als die Vergangenheit, Unterrichtung mehr als Gedenken, nüchterne Unterrichtsmethoden mehr als sakralrituelle Zeremonien, universale und nicht lediglich jüdische Elemente. Dies war bezeichnend für eine Zeit, in der die ersten hoffnungsvollen und vielversprechenden Schritte des neugeschaffenen Staates Israel mit dem Ziel einer vollen Integration in die Völkerfamilie als ein normales und gleichberechtigtes Mitglied unternommen wurden; ein Ziel, das zunächst trotz aller Schwierigkeiten möglich und sogar unerwartet erfolgreich erschien; ein Ziel, dem der Holocaust und das Andenken an den Holocaust nicht im Wege stehen sollten.

Anstelle der irrationalen, dämonisierenden, emotionsgeladenen und sakralen Einstellung trat nun die Auffassung der Unterrichtung des Holocaust als ein eine instrumentale Funktion erfüllender Vorgang. Mittels der Auseinandersetzung mit dem Holocaust sollten nun demokratische, staatsbürgerliche, moralische, historische, nationale sowie universal-humanistische Ziele wahrgenommen und erreicht werden: Unterrichtung des Holocaust nicht als Selbstzweck, sondern auch als Mittel, die Schüler mit den ihm zugrunde liegenden Mechanismen und Verhaltensstrukturen vertraut zu machen und dadurch die Verhaltensweisen der jüngeren Generation mit Blick auf eine bessere Zukunft zu verändern. Es scheint, als ob auch diese Einstellung, wenn bis zur äußersten Konsequenz gespannt, sich selbst ad absurdum zu führen droht und leicht in das Gegenteil des Gewollten umschlagen mag. Die Gefahr besteht auch in der Bundesrepublik, daß der Holocaust, wenn er durch die verschiedenen Disziplinen lediglich als Mittel zur Erreichung ihrer jeweiligen Ziele verstanden und eingesetzt wird, seine eigene Substanz und seine eigenständige Definition einzubüßen droht — siehe Historikerstreit. Das Resultat war in manchen Fällen ein überabstrahierter Unterricht. Um den Holocaust den Schülern zugänglich zu machen, zu erklären und erzieherische Ziele zu erreichen, wurde er nicht selten trivialisiert, wegerklärt. Anstatt die Schüler im Hinblick auf seine Abnormalität zu sensibilisieren, gewöhnten sich die Schüler daran, ihn als eine von verschiedenen möglichen menschlichen und sozialen Verhaltensweisen zu betrachten.

Sollte die Behandlung der Shoah lediglich eine solche instrumentale Funktion erfüllen als exemplarisches Anliegen und als eindrucksvollstes Beispiel für eine fehlentwickelte Minoritätenbehandlung und Entstehung von sozialen Vorurteilen, für die Gefahren eines totalitären Machtstaates und dergleichen mehr? Wird eine solche schematische und der historischen Einmaligkeit nicht adäquate Behandlung der innewohnenden Tragik der Ereignisse gerecht? Eine solche rein soziologische, politologisehe Analyse der Shoah, die die Strukturen der gesellschaftlichen und politischen Prozesse verabsolutiert, überabstrahiert und von menschlichen Belangen, Gedanken, Gefühlen, Taten, Freuden und Trauer entleert betrachtet, muß eher verfremdend wirken und kann Empathie und Identifizierungsbereitschaft gar nicht erst aufkommen lassen. War die Unterrichtung in der ersten Epoche allzu sehr von Emotionen belastet, so scheint die hier eingeschlagene Richtung der entgegengesetzten Gefahr nicht zu entgehen. Wird im Zuge der an sich wertvollen Bemühungen der jeweiligen Disziplinen, die Grundstrukturen im Holocaust auszulegen und transparent zu machen, wird dadurch nicht der Holocaust selbst zu einem instrumentalen Stereotyp, der sich letztlich auch austauschen ließe -Gastarbeiter? —, wenn sich ein näherliegendes und anschaulicheres Beispiel dafür böte?

IV.

Es waren unter anderem auch diese Überlegungen, die zu der dritten Periode führten, in der sich die Auseinandersetzung der israelischen Gesellschaft mit der Shoah zur Zeit befindet und die ich als existentielle Einstellung bezeichnen will. Die existentielle Einstellung ist ein Vorgang, der sich in den letzten Jahren, in der jüngsten Zeit herausgebildet hat. Die existentielle Einstellung kritisiert die instrumentale als zu einseitig, abstrakt, universal und verfremdend und mithin den wahren Kern des Holocaust verfehlend — nämlich die direkte, unmittelbare Konfrontation der Schüler mit dem existentiellen Kampf der Juden in einer inhumanen, dehumanisierenden Situation angesichts von Verfolgung, Gettobedingungen und des fabrikmäßigen Mordes.

Mittels interdisziplinärer Methoden und der Heranziehung von Literatur, Filmen und vor allem mündlicher Zeugenberichte von Überlebenden, die jahrelang geschwiegen haben und erst in den letzten Jahren eine intensivere Aufmerksamkeit gefunden zu haben scheinen, ist diese Einstellung bestrebt, die Schüler zu einer direkten Identifikation mit dem traumatischen Erlebnis der Realität des Holocaust zu führen und mit der jüdischen Welt zu konfrontieren, die dabei vernichtet wurde und untergegangen ist — so z. B. durch Schülerreisen nach Auschwitz. Ganze Schulen, Tausende von israelischen Jugendlichen erleben dort eine fast physische Identifizierung durch den Gang durch Auschwitz selbst, den Todesweg, diesen Gang in die Gaskammern, den seinerzeit die Opfer gegangen sind. Wer im israelischen Fernsehen diese Bilder gesehen hat von einer jüdischen Jugend, die in Auschwitz stand und weinte, der versteht, bekommt es anschaulich vor Augen geführt, was mit dieser direkten Identifizierung'gemeint ist. Es ist schwer, allein durch Worte zu verdeutlichen, welches Ziel diese Einstellung durch eine solche direkte Identifizierung — man könnte auch Traumatisierung sagen — mit dem gräßlichen Geschehen verfolgt und welche Motivationen sie dabei bestimmen.

Besteht eine gewisse Affinität zwischen der gegenwärtigen Situation Israels, seiner politischen und wirtschaftlichen Probleme und seiner existentiellen Verunsicherung? Ist es vielleicht das rapide Anwachsen einer aggressiven neonazistischen, antisemitischen und antizionistischen Bewegung, die zu der uralten Erfahrung zurückzufinden scheint, daß alle Welt gegen uns ist, und damit eine Erfahrung, die sich mit den Wurzeln des existentiellen Lebenskampfes zur Zeit des Holocaust innerlich verbunden fühlt? Ist es vielleicht gar die uneingestandene Hoffnung politischer wie religiöser Extremisten, mittels der Identifikation mit dem Holocaust ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen? Oder ist es schließlich ein weltweites Phänomen, den Holocaust als Symbol der condition humaine zu betrachten — charakterisiert durch Vietnam, Biafra, Kambodscha, die Energiekrise, ungelöste wirtschaftliche und soziale Probleme, Ungewißheit und Befürchtungen bezüglich der Zukunft, illustriert durch das neu erwachte, weltweite Interesse am Holocaust?

Im gesamten Spektrum des israelischen Lebens gibt es wohl kaum ein emotionsbeladeneres und von ungelösten seelischen Konflikten beschwerteres Thema als die Shoah. Schwankend zwischen Anklage, Selbstbeschuldigung und Apologetik, zwischen dem Zwang zur Bewältigung und dem Zwang zur Verdrängung, begleitet sie das israelische Leben und bestimmt das Bewußtsein des Volkes und des Staates, insbesondere in Situationen der Spannung und der Gefahr.

Fussnoten

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Chaim Schatzker, Dr. phil., geb. 1928 in Lemberg/Polen; aufgewachsen in Wien; seit 1941 in Palästina/Israel; Studium der Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der Universität Hamburg; Professor für jüdische Geschichte an der Universität Haifa; Gastprofessor an der Universität-Gesamthochschule Duisburg und an der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Jüdische Geschichte in deutschen Geschichtslehrbüchern, 1963; Das Deutschlandbild in israelischen Geschichtslehrbüchem, 1979; Die Juden in den deutschen Geschichtsbüchern. Schulbuchanalyse zur Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel, 1981; Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich, 1988.