Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

„Lebensschützer“ auf dem Rechtsweg | APuZ 14/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14/1990 Abtreibung: Das Versagen des Rechtsstaats „Lebensschützer“ auf dem Rechtsweg Was wissen wir über den Schwangerschaftsabbruch? Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts Schwangerschaftsabbruch — Betroffene Frauen berichten Weniger Abtreibungen — aber wie? Ein Beitrag zur Überwindung der Polarisierung

„Lebensschützer“ auf dem Rechtsweg

Monika Frommel

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Abtreibungsfrage ist in den achtziger Jahren in einer Weise politisiert worden, daß Politiker zum Handeln aufgerufen sind. Vordringlich ist die Beseitigung der Rechtsungleichheit, die dadurch entstanden ist. daß in einzelnen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg die gesetzlichen Spielräume ungleich genutzt und ein Landesrecht geschaffen wurde, das den Sinn der Reform von 1976 in ihr Gegenteil verkehrt. Nur ein Rückzug des Strafrechts kann diese Situation verbessern. Daher wird empfohlen, in der nächsten Legislaturperiode erneut eine Fristenlösung einzubringen. Das BVerfG kann heute — nach den Erfahrungen der letzten 14 Jahren — nicht mehr darauf vertrauen, daß ein Formelkompromiß wie die Notlagenindikation Rechtsfrieden schaffen kann. In der Zwischenzeit könnte ein Bundesgesetz zur Zulassung ambulanter Einrichtungen und eine Verbesserung des Datenschutzes in Strafverfahren die schlimmsten Mißstände mildem.

I. Die Gegenreform der achtziger Jahre

Schaubild 1: Wege zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch

Am 9. Februar 1987 verweigerte ein Vormundschaftsrichter des Amtsgerichts Celle einem 16jährigen Mädchen die Einwilligung zu einem Schwangerschaftsabbruch. Er hielt die ärztlich festgestellte soziale Indikation für rechtswidrig und ersetzte sie durch einen extrem restriktive Maßstäbe anlegenden Beschluß. Zur Rechtfertigung verwies er auf seine Lebenserfahrung: „erfahrungsgemäß“ weicht „eine im Frühstadium einer Schwangerschaft vorhandene psychische Verweigerungshaltung bei fortschreitender Schwangerschaft in vielen Fällen deren innerer Akzeptanz“. Dem Mädchen sei daher trotz des Vorliegens gravierender Umstände das Austragen der Leibesfrucht zuzumuten. Zur Bekräftigung des Verbots wurden alle in Betracht kommenden Ärzte mit einem Zwangsgeld belegt (AG Celle. FamRZ 1987. S. 738).

Die Gründe für die Anrufung des Vormundschaftsgerichts werfen ein bezeichnendes Licht auf die Verhältnisse, in denen sich die Minderjährige befand. Selbst unehelich geboren, lebte sie auf Veranlassung der Mutter in einem Kinderheim. Auf Hilfe konnte sie nicht hoffen. Der Vater des Kindes konnte oder wollte keine Verantwortung übernehmen. ebensowenig wie ihre Mutter. Außerdem war zu befürchten, daß eine Überdosis von Medikamenten bereits zu einer Schädigung des Embryos geführt hatte. Der Heimleiter wollte sich absichern und vertrat die Ansicht, daß Minderjährige nicht wirksam die nach § 218 a Strafgesetzbuch (StGB) erforderliche Einwilligung in einen Schwangerschaftsabbruch erteilen können und bat die Mutter um ihre Zustimmung. Diese wollte mit der Sache nichts zu tun haben; nicht weil sie einen Schwangerschaftsabbruch prinzipiell ablehnte, sondern wegen der Spannungen zwischen ihr und ihrer Tochter wollte sie weder positiv noch negativ Stellung beziehen (und damit zumindest eine moralische Verantwortung übernehmen). In dieser verfahrenen Situation hielt es der angerufene Vormundschaftsrichter für angebracht, rechtlichen Zwang auszuüben, ohne irgendeine Hilfe anbieten zu können und legte seine persönliche Auffassung als allgemeinverbindliche dem Bürgerlichen Recht zugrunde.

Die Entscheidungsgründe laufen darauf hinaus, die §§ 218 ff StGB zivilrechtlich zu unterlaufen. Würde sich diese Ansicht durchsetzen, könnte jedermann, also nicht nur die Erziehungsberechtigten einer minderjährigen Schwangeren oder der Vater eines Kindes, eine Abtreibung mit rechtlichen Mitteln verhindern. Konsequent zu Ende gedacht zielen sie auf eine umfassende Verrechtlichung der nur von einer Minderheit vertretenen Position der Lebens-schützer Auch wenn man die Macht der Justiz nicht überschätzt, ist unübersehbar, daß Teile dieses Verrechtlichungsprogramms wirksam umgesetzt worden sind. Ginge es nach dem Konzept der Lebensschützer in Justiz und einigen Landesministerien, wäre jede eigenverantwortliche moralische Entscheidung unmöglich, auch die gläubiger Katholiken, da sie von Rechts wegen tun müssen, was sie möglicherweise moralisch wollen. Es gibt eben einen grundlegenden Unterschied zwischen einer moralischen Position und deren zwangsweisen rechtlichen Durchsetzung. Wenn Privatpersonen Abtreibung als „Mord“ bezeichnen, kann man ausweichen. An eine rechtsverbindliche Entscheidung ist man gebunden.

Der Celler Amtsrichter stützte seinen Beschluß auf § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Danach kann ein Vormundschaftsgericht gegen den Willen der Erziehungsberechtigten von Amts wegen die „erforderlichen Maßnahmen“ treffen, um eine „Gefährdung des Kindeswohls“ abzuwenden. Vorausgesetzt ist hier eine mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge. Diese sah der Richter in der Absicht der minderjährigen Frau, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Er subsumierte also den Begriff „Leibesfrucht“ unter den gesetzlichen Ausdruck „Kind“ und setzte rechts-technisch gleich, was das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) allenfalls metaphorisch gleichgesetzt hatte: „Kind“ im Sinne des § 1666 BGB sei auch das „gezeugte, aber noch ungeborene Leben“. Ins Strafrecht übertragen bedeutete dies, daß Abtreibung ein Tötungsdelikt sei, da „Leibesfrucht“ und „ein anderer“ im Sinne der §§ 211, 212 StGB (Mord und Totschlag) gleichzusetzen sei. Der Celler Amtsrichter mag überzeugt davon gewesen sein, daß seine Ansicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 (BVerfGE 39, S. 1 ff.) entspricht. Jedenfalls rechtfertigte er sein Urteil mit „Wertentscheidungen des Grundgesetzes“. Prüfen wir also, ob diese Argumentation stringent ist.

II. Der Embryo — ein Grundrechtsträger?

Schaubild 2: Schwangerschaftsabbruch: Versorgung und Wanderungen Quelle: Pro Familia, Bundesverband, (1989) 10.

Es ist üblich geworden, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 zu zitieren als Beleg für die Schutzpflicht des Staates gegenüber dem werdenden Leben und einer grundsätzlich anzuerkennenden Pflicht einer schwangeren Frau, die mit einer Schwangerschaft „normalerweise“ verbundenen Belastungen auf sich zu nehmen. Diese Argumentation übersieht einen in der Entscheidung angelegten zweiten, zum ersten in Widerspruch stehenden Begründungsstrang

Verfassungsrechtlich geschützt ist nach Ansicht der damaligen Mehrheit der Richter nicht nur das werdende Leben, sondern auch die Gewissensentscheidung der Frau. Diese wird — systematisch wenig einleuchtend — nicht schon im Tatbestand (Fristen-lösung), sondern erst bei der Rechtfertigung wegen einer Notlage (Indikationenlösung) berücksichtigt. Um die Entscheidung des BVerfG zu verstehen, empfiehlt es sich, die Bedeutung der auf den ersten Blick lediglich rechtstechnischen Ausdrücke „Rechtsgut“ und „Grundrechtsträger“ oder „Rechtssubjekt“ deutlicher zu machen, als dies die unklare Sprache der Güterabwägung zuläßt.

Der Embryo ist im Gegensatz zur schwangeren Frau weder rechtsfähig noch grundrechtsfähig. „Jeder“ im Sinne der Artikel 1 und 2 Grundgesetz (GG) sind nur geborene Menschen. Grundrechte sind zunächst einmal Bürgerrechte. Zwar wird der Embryo als „selbständiges Rechtsgut“ (BVerfGE 39, 36) bezeichnet, aber nicht als Rechtssubjekt. Präzisiert man also die „Interessen“ hinter der Interessenabwägung, die das BVerfG vornimmt, dann wird deutlich, daß es wenig Sinn macht, das Selbstbestimmungsrecht der Frau als „Rechtsgut“ zu bezeichnen und auf dieselbe Ebene zu stellen wie das „Rechtsgut“ des werdenden Lebens. Die Gewissensentscheidung einer Frau für oder gegen die Mutterschaft betrifft den Kern ihrer Rechtssubjektivität. Sie berührt ihr künftiges Leben so zentral, daß es schon sehr gewichtige Gründe geben müßte, um ihr eine eigenverantwortliche Entscheidung zu versagen. Das BVerfG versucht nun. das Rechtsgut des „werdenden“ oder „ungeborenen“ Lebens, philosophisch gesprochen den „moralischen Status“ des Embryos, dadurch aufzuwerten, daß es ihn in den Begriff „jeder“ in Art. 2 II GG einbezieht und ihn als selbständiges, menschliches Wesen unter den Schutz der Verfassung stellt. Aber bei aller Ambiguität solcher Zuschreibungen macht doch der Kontext der Begründung deutlich, daß die gewählte Interpretation nicht zwingend aus dem Wortlaut der Verfassung folgt, sondern aus einem sehr umstrittenen Vorverständnis einer „objektiven Wertordnung“ (BVerfGE 39, 41). Methodisch heißt dies, daß „Menschenwürde“ und „Lebensschutz“ wertende Attribute sind, die den hohen Rang des streitigen Rechtsguts umschreiben sollen. Aber selbst wenn man — wogegen nichts spricht — zustimmt, daß das werdende Leben ein besonders schützenswertes Rechtsgut ist, so vermag doch diese Bewertung den qualitativen Unterschied zwischen Rechtsgut und Rechtssubjekt nicht zu beseitigen. Sie tauchen immer wieder auf, etwa bei der Rechtfertigung des unbestimmbaren Rechtfertigungsgrunds der Notlagenindikation. Die Lösung schwerwiegender Konflikte durch eine Strafandrohung erscheine „im allgemeinen nicht als angemessen“. da sie „äußeren Zwang einsetzt, wo die Achtung vor der Persönlichkeitssphäre des Menschen volle Entscheidungsfreiheit fordert“.

Formulierungen wie diese zeigen, daß selbst in dieser nach wie vor umstrittenen Entscheidung, die den Rang des werdenden Lebens sehr hoch ansetzt, eine strafrechtliche Intervention Grenzen haben muß. jenseits derer die betroffene Frau selbst eigenverantwortlich, d. h. moralisch entscheiden kann und muß, in der Diktion des Gerichts eine „achtbare Gewissensentscheidung“ (BVerfGE 39, 48) treffen kann. In welche Richtung auch immer der immanente Widerspruch dieser beiden Argumentationsstränge aufgelöst wird: es bleibt eine grundlegende Differenz zwischen dem eine Gewissensentscheidung fällenden „Rechtssubjekt“ und dem davon betroffenen „Rechtsgut“. „Mensch“ und „Leibesfrucht“ sind asymmetrisch und können nicht im Wege der Güterabwägung verrechnet werden.

Was folgt daraus? Für die dem positiven Recht Unterworfenen — seien sie nun von der Strafandrohung betroffen oder als Rechtsanwender zur Auslegung und Anwendung der §§ 218 ff StGB berufen — liegt folgende Lesart der Notlagenindikation nahe: Wegen des Persönlichkeitsrechts der schwangeren Frau sind Mediziner befugt, eine Notlagenindikation bis zu einem gewissen Grade eigenverantwortlich — „nach ärztlicher Erkenntnis“ (§ 218a StGB) — festzustellen. Dies können sie nur, wenn sie einen Beurteilungsspielraum haben, an den Gerichte gebunden sind. Sie können die ärztliche Entscheidung also nur begrenzt auf ihre Vertretbarkeit — nicht „Richtigkeit“, da es diese im strengen Sinne nicht geben kann —, überprüfen. 1975 entschied ein Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in diesem Sinne

Dieser Ansicht widerspricht insbesondere das Bayerische Oberste Landgericht (BayrObLG, MDR 1978, S. 951). Es legt die Notlagenindikation außerordentlich eng aus und verlangt, daß „eine ähnlich schwere Belastung der Schwangeren“ wie in den übrigen Indikationsfällen vorliege. Es müsse eine Beeinträchtigung „konkret wahrscheinlich“ sein, die so schwer wiege wie eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit (Leitbild der medizinischen Indikation). Mit dieser Rechtsmeinung ist der Weg freigegeben für weitgehende Strafverfolgungsmaßnahmen. Folgt man der Ansicht des 6. Zivilsenats des BGH, dann können Mediziner eigenverantwortlich darüber befinden, ob die Fortsetzung einer Schwangerschaft — aus der notwendigerweise subjektiven Sicht sowohl der Frau als auch der Mediziner — zumutbar ist oder nicht. Die praktischen Konsequenzen einer solchen Interpretation sind beträchtlich. Weder Strafgerichte noch andere Instanzen könnten — wie vielfach geschehen -ihre Entscheidung an die Stelle der Ärzte setzen. Die Einhaltung des vorgeschriebenen Verfahrens präjudiziert im wesentlichen die Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Eine so verstandene Notlagenindikation käme im Ergebnis einer Fristenlösung sehr nahe.

Was spricht für diese Interpretation? Sie ist in jeder Hinsicht methodengerecht gewonnen und verbürgt im Gegensatz zu der bayerischen Interpretation Rechtssicherheit. Der Gesetzeswortlaut — „ärztliche Erkenntnis“, die Entstehungsgeschichte und der Sinn und Zweck der Indikationenlösung sprechen gegen die in der Kommentarliteratur vertretene restriktive Meinung Die Gesetzgebung wollte der Ärzteschaft eine normative Ermächtigung einräumen. Dies ist auch sinnvoll, da die Zumutbarkeit der Fortsetzung einer Schwangerschaft nicht objektivierbar ist. Sie ist nur in einer Atmo-Sphäre des Vertrauens zu klären, entzieht sich also weitgehend einer strafrechtlichen Überprüfung ex post. Die herrschende Meinung in der Literatur und den Kommentaren widerspricht zur Zeit noch dieser Ansicht. Aber sie stammt auch aus einer Zeit, in der niemand damit rechnete, daß es in der Rechts-wirklichkeit zu Strafverfahren wegen § 218 StGB kommen könnte. Nach den Memminger Verfahren kann sich die Rechtswissenschaft einer Stellungnahme nicht mehr entziehen. Dementsprechend mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, daß die für eine Notlagenindikation bedeutsamen Gesichtspunkte nicht objektivierbar, sondern das Ergebnis einer notwendigerweise subjektiv bestimmten, ganzheitlichen Betrachtung und komplexen Bewertung sind. Diese kann nicht in die juristische Technik einer Güterabwägung übersetzt werden. Die hier vertretene Rechtsansicht würde die ärztliche Praxis von juristischen Fiktionen befreien, die ihnen zur Zeit noch zugemutet werden. Ein juristisch unüberprüfbarer ärztlicher Beurteilungsspielraum ist anzunehmen für a) alle nach den Erfahrungen der ärztlichen Praxis bedeutsamen Gesichtspunkte, also für die Diagnose und Prognose der Belastung einer Schwangeren durch die Schwere einer Notlage ebenso wie für die Bewertung der Schwere ihres Entscheidungskonfliktes, b) die Würdigung des Einzelfalles. Voraussetzung für die Erkenntnis und Bewertung der bedeutsamen Gesichtspunkte ist ein ärztliches Gespräch, dessen Ergebnis nicht gerichtlich überprüft werden kann. Ein angerufenes Gericht hat sich auf die Frage zu beschränken, ob der abbrechende Arzt die relevanten rechtlichen Gesichtspunkte für seine komplexe Bewertung erfaßt und die kollidierenden Interessen bei seiner Abwägung in ausreichendem Maße berücksichtigt hat.

Stand der Rechtsprechung: Der Streit zwischen dem Bayerischen Obersten Landgericht und dem 6. Zivilsenat des BGH ist noch offen. Anfang Oktober wurde Revision gegen die Verurteilung des Frauenarztes Dr. Theissen eingelegt. Unter anderem geht es dabei auch um die Frage der strafgerichtlichen Überprüfung einer ärztlich festgestellten Notlagenindikation. Theoretisch also könnte ein Richterspruch aus Karlsruhe die erforderliche Klärung bringen. Aber bekanntlich sind Richter nur dann entscheidungsfreudig, wenn sie Mehrheiten auf ihrer Seite wissen. Zur Zeit ist es wenig wahrscheinlich. daß die BGH-Richter vorpreschen. Sie können sich nämlich des Problems auf einfache Weise entledigen. Das Urteil der drei Memminger Richter ist grob fehlerhaft. Im Eifer des Gefechts berechneten sie die Verjährungsfristen unübersehbar falsch. Sie haben wegen der bloßen Formverstöße nach § 219 und § 218 b StGB (d. h.der Pflicht zur Sozialberatung und Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt) verurteilt, obwohl die Verjährung von nur drei Jahren — im Gegensatz zu fünf Jahren bei § 218 StGB — bereits verstrichen war. Sollte der BGH eine „kleine Lösung“ vorziehen und das Urteil wegen dieses Mangels aufheben, geht das Verfahren weiter. Es kann noch Jahre dauern, bis ein rechtskräftiges Endurteil ergehen wird

III. Rechtsungleichheit und Abbruchstourismus

Die Auseinandersetzung um den § 218 hat zu völlig gegensätzlichen Implementationen der gesetzlichen Spielräume geführt Der wichtigste Hebel für regionale politische Entscheidungen sind die Schwangerenberatungsgesetze der Länder und die von den jeweiligen Arbeits-und Sozialministerien erlassenen Richtlinien Eine große Bedeutung hat auch die jeweilige Genehmigungspraxis sowohl der Beratungsstellen als auch der zugelassenen Einrichtungen für einen legalen Schwangerschaftsabbruch. Aus diesem Grund sei im folgenden nachgezeichnet. wie die divergierende Praxis zur Zeit aussieht. Es gibt Bundesländer, die das geltende Recht liberal interpretieren und die Gewissensfreiheit aller Betroffener akzeptieren, und solche, die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden administrativen, organisatorischen und rechtlichen Mitteln das geltende Recht strikt anwenden. Die Konsequenzen dieser Verrechtlichung kann niemand gutheißen, schon gar nicht gläubige Christen, die für sich persönlich eine Abtreibung ablehnen würden. Lebens-schutz auf dem Rechtsweg führt nämlich zu inhumanen. unsozialen und ungerechten Ergebnissen wie

— Rechtsungleichheit.

— Abtreibungstourismus und -willkürlichen Kriminalisierungsschüben, mit allen Begleiterscheinungen wie Mißachtung des Datenschutzes und einer Politisierung höchst privater Lebensentscheidungen.

1. Soziale Beratung

Das Beratungsziel ist in § 218 b StGB definiert. Die Schwangere soll nicht direktiv im Sinne des Lebens-schutzes beraten werden, sondern neutral über mögliche Hilfen. In der Hamburger Richtlinie wird explizit darauf abgestellt, daß die Beratung der Frau eine „verantwortliche Entscheidung“ erleichtern soll. Aber die überwiegende Mehrzahl der Schwangerenberatungsgesetze weicht vom Bundesrecht ab und definiert das Beratungsziel einseitig in Richtung Lebensschutz. In Bayern etwa lautet Art. 3 (Ziel der Beratung): „Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens und der Sorge für die Schwangere.“

Diese Aufforderung zu direktiver Beratung wird durch ein engmaschiges Regelwerk von Richtlinien, Rundbriefen und organisatorischen Maßnahmen flankiert. So gibt es etwa eine Richtlinie, die u. a. vorschreibt, der Beratenen die Informationsschrift des Bayerischen Staatsministeriums zu übergeben. Nur wenn die Schwangere die Gesprächs-und Informationsangebote entgegennimmt, darf ihr (so explizit Nr. 3. 3. 3 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 15. Juni 1988. in: AlIMBl Nr. 12/1988) bestätigt werden, daß die gesetzlich vorgesehene Beratung stattgefunden hat, mit der Folge der Straffreiheit der Schwangeren nach § 218 Abs. 2 StGB. In einem Rundbrief wird den Mitarbeitern der staatlich anerkannten Beratungsstellen verboten. Adressen weiterzugeben. Sie würden sich ansonsten wegen Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch strafbar machen. „Anfragen über Krankenhäuser. die Schwangerschaftsabbrüche durchfüh-ren. sind in der Regel von den zuständigen Krankenkassen zu beantworten“ (Richtlinie Nr. 3. 2. 5 der oben zitierten Bekanntmachung).

Bislang wurde noch nie gerichtlich geklärt, ob die Länder abweichend vom Bundesrecht weitergehende Einschränkungen vorsehen können. Alles spricht dafür, daß sie es nicht können, da der Bund seine vorrangige Regelungskompetenz wahrgenommen hat. Die Richtlinien sind also — juristisch gesehen — Makulatur, aber sie wirken zusammen mit anderen Faktoren sehr effektiv, und zwar einschüchternd auf Berater und Beratene.

Die Schwangerenberatungsgesetze der Länder wirken so effektiv, weil die Beratung in der Praxis fast nur durch staatlich anerkannte Stellen, sehr selten durch niedergelassene Ärzte erfolgt. Nur in etwa zwölf Prozent der Fälle beraten Gynäkologen, die sich um eine staatliche Anerkennung bemüht haben. Aus der Sicht der betroffenen Frauen ist die staatsfreie Beratung sehr viel angenehmer. Ärzte als Berater können die soziale Beratung verbinden mit der ohnehin erforderlichen ärztlichen Aufklärung und dem Gespräch im Rahmen der Indikationsfeststellung. Betrachten wir, bevor wir uns der regional sehr unterschiedlichen Praxis zuwenden, die gesetzliche Regelung genauer.

Alle zugelassenen Ärzte — egal welcher Fachrichtung — können sich entweder als Berater anerkennen lassen oder sich „auf andere Weise über private und öffentliche Hilfen informieren“ (§ 218 b Abs. 2. Nr. 2c StGB). Würde diese Norm genutzt, dann könnten die staatlich anerkannten Beratungsstellen das vorhandene Beratungsangebot verbessern und erweitern. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich, daß über diese Passage (Prinzip der „Staatsfreiheit“ der Sozialberatung) heftig gestritten wurde. Gedacht hatte man in erster Linie an Hausärzte. Bezeichnenderweise schwiegen in der Folgezeit alle Interessierten — juristische Kommentatoren, Ärztevereinigungen und beratende Berufe — über diese Alternative. Das Ergebnis ist eine regional — je nach der Landespolitik — verschiedene Rechtspraxis.

2. Indikation

Die Indikation muß von einem Mediziner schriftlich bestätigt werden. Dieser darf den Eingriff nicht selbst vornehmen. Das bedeutet, daß Sozialberatung. ärztliche Beratung und Indikationsfeststellung durch ein und dieselbe Person erfolgen kann. Nach den geltenden Richtlinien in Nordrhein-Westfalen soll gewährleistet sein, daß beides — Berafung und Indikationsfeststellung — in den Beratungsstellen erfolgt, so daß zeitliche Verzögerungen vermieden werden. Ein entgegengesetztes Ziel verfolgen die Richtlinien anderer Bundesländer. Wie bei der Beratung ist auch hier der Widerspruch zwischen Bundesrecht und Landesrecht in Bayern besonders kraß. Das Landesrecht verlangt — gegen die Intention des Bundesrechts — eine institutionelle (d. h. personelle und räumliche) Trennung zwischen Beratung und Indikationsfeststellung (Art. 9 Bayr. Schwangerenberatungsgesetz): „Der Inhalt der Beratung darf nicht zu Auskünften und Gutachten über das Vorliegen von Indikationen Verwendung finden. Ärzte dürfen in ihrer Eigenschaft als Mitarbeiter einer anerkannten Beratungsstelle keine Feststellungen nach § 219 StGB treffen.“ Auch diese Bestimmung wird durch restriktive Richtlinien und organisatorische Vorgaben flankiert. Von den ca. 40 Beratungsstellen in Bayern sind nur drei nichtkonfessionell. Der Grund ist die Genehmigungs-und Anerkennungspraxis. Pro Familia hat nur in München und in Augsburg eine anerkannte Beratungsstelle. Weitere Beratungsstellen werden mit dem Argument, es bestünde kein „Bedarf“, abgelehnt Wegen der in Bayern vorgeschriebenen räumlichen, und personellen Trennung stellen diese wenigen nicht-konfessionellen Beratungsstellen keine Indikationen fest, mit Ausnahme von Nürnberg, weil man dort auf die Anerkennung als Beratungsstelle verzichtet hat. In allen anderen Bundesländern ist es üblich, daß Pro Familia beides anbietet. Beratung und Feststellung einer Indikation. In den Familienplanungszentren (Bremen. Hamburg, Kassel. Rüsselsheim, neuerdings Gießen) besteht außerdem die Möglichkeit, im selben Haus auch den Eingriff vornehmen zu lassen, da sie Beratungsstelle und zugelassene Einrichtung im Sinne des Strafrechtsreformgesetzes sind.

3. Zugelassene Einrichtungen S

chwangerschaftsabbrüche dürfen nur in einem Krankenhaus oder einer „hierfür zugelassenen Einrichtung“ vorgenommen werden (Art. 3 des 5. Strafrechtsreformgesetzes). Die mittlerweile herrschende Meinung interpretiert diese Bestimmung restriktiv, und zwar dahingehend, daß die jeweiligen Bundesländer ohne sachlichen Grund davon absehen können. Richtlinien zu erlassen, die die Anforderungen an die Zulassung regeln. Legitimiert wird diese Ansicht mit der Konstruktion einer Entschließungsfreiheit der Länder Die Konse-quenz ist eine regionale Unterversorgung und der sog. Abtreibungstourismus. Da es in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen keine Einrichtungen für ambulante Schwangerschaftsabbrüche gibt, begeben sich die Frauen in andere Bundesländer. Nach einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts in Freiburg fuhren zu Beginn der achtziger Jahre etwa 60 Prozent der abtreibungswilligen Frauen aus Baden-Württemberg nach Hessen. Dieser Trend hat sich seitdem verstärkt. Im folgenden wird gezeigt, daß es sehr verschiedene, einfache und beschwerliche Wege zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch gibt. Es ist eine Frage des Landesrechts und der Initiative Einzelner, ob und wie viele

— Beratungsstellen bzw. beratende Mediziner es gibt,

— wie die medizinische Versorgung aussieht und

— unter welchen Bedingungen ein Schwangerschaftsabbruch stattfindet.

IV. Kriminalpolitisches Minimalprogramm

Abtreibungstourismus“ ist eine beschönigende Formulierung für die Situation der Frauen, die in einem Bundesland leben, das eine restriktivere Haltung gegenüber dem Schwangerschaftsabbruch einnimmt. Einen gangbaren Weg zur Beseitigung dieser Rechtsungleichheit zeigt der Deutsche Juristinnenbund. Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung im September 1989 beschlossen die dort Versammelten fast einstimmig ein umfassendes Sofortprogramm zur Sicherung der Reform der §§ 218ff. StGB.

Die Landesministerien stützen sich auf Art. 3 Strafrechtsreformgesetz und vertreten die vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte Rechtsansicht, sie könnten nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten. also willkürlich, ambulante Einrichtungen genehmigen oder nicht. Nichts liegt näher, als diese Bestimmung durch ein zustimmungspflichtiges Bundesgesetz zu ändern. Die Chancen für eine Mehrheit sind günstig. Schließlich genehmigen CDU-regierte Bundesländer wie Hessen und Rheinland-Pfalz ambulante Einrichtungen. Die Bedingungen sind also günstig für eine fraktionen-übergreifende Initiative. Was ist zu tun? Statt der vagen Formulierung in der Fassung von 1978: „Der Schwangerschaftsabbruch darf nur in . . . einer hierfür zugelassenen Einrichtung vorgenommen werden“, sollte es heißen: „Der Schwangerschaftsabbruch darf nur in einer Einrichtung vorgenommen werden, in der die notwendige medizinische Nachbehandlung gewährleistet ist“ (so auch die ursprüngliche Fassung aus dem Jahre 1974).

Diese kleine Änderung hätte große Folgen. Alle Länder, auch Bayern, müßten ambulante Einrichtungen zulassen. Sie hätten nicht mehr wie bisher eine „Entschließungsfreiheit“, ob sie zulassen wollen oder nicht, sondern nur das Recht, die medizinischen und technischen Anforderungen an eine adäquate Nachbehandlung zu normieren.

V. Strafverfolgung wegen unerlaubtem Schwangerschaftsabbruch

Rückblickend kann man folgende Phasen der Rechtspolitik im 20. Jahrhundert unterscheiden:

-Kriminalisierung (Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa 1960),

-Entkriminalisierung,

-Legalisierung und/oder die Ersetzung „harter“ strafrechtlicher Verfolgung durch „weiche“, medizinische oder sozialarbeiterische Kontrollformen.

Das Reichsstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1871 stellte Schwangerschaftsabbruch ohne Ausnahme unter Strafe. Ansätze zu einer Indikationenlösung entwickelte das Reichsgericht erst im Jahre 1927 im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung. Es entschied, daß bei Gefahr für Gesundheit oder Leben der Frau das „geringerwertige Rechtsgut dem höherwertigen“ zu weichen habe (sog. medizinische Indikation). Die Entscheidung fiel in eine Zeit, in der beides. Forderungen nach einer Reform und eine zunehmende Kriminalisierung von Frauen und Ärzten, hart aufeinander trafen. Eine pragmatische Zwischenlösung schien ausgeschlossen zu sein. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden etwa 2000 Personen proJahr wegen illegaler Abtreibung verurteilt. 1927 waren es bereits über 5000 Verurteilungen. Es kam zu Protesten gegen den „Klassenparagraphen“, der arme Frauen zum Kurpfuscher treibe.

Großes Aufsehen erregte 1931 ein Massenverfahren in Stuttgart mit rund 300 Angeklagten. Unter ihnen der kommunistische Arzt Dr. Wolf, bekannt als Autor eines Theaterstückes „Cyankali" zum Problem des § 218. und die Ärztin Dr. Kienle, die eine der ersten Beratungsstellen des „Reichsverbandes für Sexualhygiene und Geburtenregelung" leitete. Beide wurden verhaftet und traten daraufhin in den Hungerstreik. Es kam zu Massenkundgebungen. auf denen die Freilassung der Inhaftierten und die Streichung des § 218 gefordert wurden Die Ärzte-Vereinigungen waren damals überwiegend für die Beibehaltung des rigiden Verbots, aber zahlreiche Mediziner kritisierten seine verhängnisvollen Auswirkungen. Schließlich, nach heftigen Auseinandersetzungen, verfaßte 1931 die Württembergische Ärztekammer eine vorsichtige Stellungnahme, die in Richtung einer medizinisch-sozialen Indikation ging. Auch zahlreiche Juristen traten für eine Reform ein. Neben einigen Vertretern einer Fristenlösung forderte die Mehrheit eine medizinisch-soziale Indikation. Die Begründungen waren teilweise dieselben wie heute, aber unüberhörbar überwogen bei den Befürwortern einer Reform gesundheitspolitische und bei den Gegnern bevölkerungspolitische Gesichtspunkte. Weder das Selbstbestimmungsrecht der Frau noch eigene Rechte des ungeborenen Lebens spielten in der Öffentlichkeit die Rolle, die sie heute haben.

Seit Mitte der sechziger Jahre kam es zu einer weltweiten Entkriminalisierung. Die Zahl der Verurteilten ging erheblich zurück. 1960 wurden in Deutschland noch 1800 Personen verurteilt. 1965 noch 700, in den siebziger Jahren, also schon vor der eigent19 liehen Gesetzesreform, kam es kaum noch zu Verurteilungen. Der Tiefstand wurde 1983 mit 24 Verurteilungen erreicht. Aber schon zwei Jahre später schlug das Pendel in die andere Richtung. Es kam erstmals wieder zu Strafverfahren gegen Ärzte und Frauen

Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch eine Pola-• risierung der öffentlichen Meinung: Forderungen nach Kriminalisierung und nach völliger Freigabe der Abtreibung stehen unvermittelt nebeneinander. Betrachtet man die jeweiligen Kontrollstile in verschiedenen Ländern, kann man etwa folgende Gruppen bilden: Es gibt Länder mit einer Fristen-lösung. wie etwa die Niederlande, Schweden, England, Frankreich und die USA, aber auch die Türkei, Japan, Österreich und (mit Einschränkungen) Italien. Daneben gibt es Länder, die, wie die Bundesrepublik, eine Notlagenindikation haben oder die medizinisch-soziale Indikation weit auslegen wie Spanien, Griechenland und Portugal. Des weiteren existieren Länder mit einem rigiden Strafrecht, das allenfalls eine enge medizinische, kriminologische und eugenische Indikation kennt. Aber auch in diesen Ländern kommt es selten zu Strafverfolgungen, d. h. die Strafdrohung wird nicht umgesetzt. Rechtsvergleichende Untersuchungen haben ergeben, daß die Zahl der Abbrüche mit der Strenge oder Liberalität der jeweiligen Strafgesetze so gut wie nicht zusammenhängt, wohl aber mit anderen sozialen Faktoren wie Religion, Praxis der Empfängnisverhütung und der Lebensweise. So ist etwa in Großstädten die Zahl der Abbrüche höher als auf dem Land. Dies bedeutet, daß weder die Strafdrohung noch die Strafverfolgung das Verhalten der betroffenen Frauen beeinflußt. Somit sind Versuche einer „harten“ Kontrolle zum Scheitern verurteilt. Strafrechtliche Kontrolle ist aber nicht nur ineffektiv, sie ist auch illegitim. Dies zeigen die Reaktionen auf die Memminger Verfahren.

Der Unmut wird wachsen, denn der nächste Prozeß ist schon vorprogrammiert: Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat gegen einen Arzt Anklage vor dem Landgericht wegen Betrug und unerlaubtem Schwangerschaftsabbruch erhoben Die Strategien im Ermittlungsverfahren erinnern in vielem an das bayerische Vorbild. Noch warten die rheinland-pfälzischen Richter das Ergebnis der Revision im Theissen-Verfahren ab. Der Kompromiß des geltenden Rechts ist spätestens seit Memmingen auf-gekündigt. Positionen, die noch vor einigen Jahren nur von Außenseitern vertreten wurden, sind die Realität von morgen. Nichts tun bedeutet, den Strategien der umfassenden Verrechtlichung einer Minderheiten-Position Vorschub zu leisten.

VI. Brauchen wir eine Reform der Reform?

Die gegenwärtige Diskussion zwingt zu der Unterscheidung zwischen programmatischen Grundsatz-debatten und pragmatischen Forderungen. Beginnen wir mit der Programmatik. Lebensschutz mit Mitteln des Strafrechts, nein oder jein? Streichung der §§ 218 ff StGB verlangen die Grünen und der Arbeitskreis sozialdemokratischer Frauen (ASF); etwas vorsichtiger formulieren die Juristen in der SPD (Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristen). Die Gewichte verschieben sich zur Zeit deutlich zugunsten eines generellen Rückzugs des Strafrechts. Strafdrohungen in Gewissensfragen erscheinen zunehmend unangemessen, und die Strategien der Lebensschützer in den letzten 14 Jahren haben gezeigt, daß halbherzige Kompromisse zu immer neuen Verrechtlichungen führen.

Aus diesem Grund gibt es innerhalb der SPD Befürworter einer erneuten Fristenlösung. Sie sehen spätestens seit Memmingen die Prognosen des Jahres 1976 als widerlegt an. Bundesverfassungsrichter könnten heute einen vergleichbaren Übergriff in die Sphäre der Politik nicht mehr legitimieren. Sollte es zu einer sozialdemokratischen Initiative kommen, dann würde sie wohl von der FDP unterstütztwerden. Gangbar wäre folgender Weg. Inder nächsten Legislaturperiode könnte erneut eine Fristenlösung eingebracht werden. Bis zum Spruch des BVerfG wäre eine lautlose Reform durch Richter-spruch, etwa im Sinne des hier vorgeschlagenen ärztlichen Beurteilungsspielraums möglich. Sofort reformierbar ist die bestehende Rechtsungleichheit bei der Zulassung ambulanter Einrichtungen. Schließlich ist eine Verbesserung des Datenschutzes in Strafverfahren (allgemein, nicht nur bei § 218-Verfahren) überfällig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im allgemeinen geht man davon aus. daß eine strafrechtlich relevante Einwilligung auch von Minderjährigen erteilt werden kann. Es hätte also genügt, lediglich für den Bchandlungsvertrag mit dem abbrcchcnden Arzt die moralisch neutrale Zustimmung der Mutter einzuholen.

  2. Vgl. zum Hintergrund Herta Däubler-Gmelin/Renate Faerber-Husemann. Der tägliche Kampf gegen die Reform. Bonn 1987. Einige der Strategien sind vom BVerfG durchkreuzt worden: abgelchnt wurde die Verfassungsbeschwerde gegen die Finanzierung durch die Krankenkasse (Beschluß vom 15. 6. 1988 -1 BvR 1301/86); ebenso die Verfassungsbeschwerde gegen die Lohnfortzahlung (Beschluß vom 5. 4. 1989 -5 AZR 495/87). Ein geplantes Schwangerenberatungsgesetz scheiterte an der extremen Position der CSU. die die bayerische Lösung bundeseinheitlich durchsetzen wollte: vgl. hierzu die Kritik des Deutschen Juristinnenbundes, in: Streit, (1988), S. 74. In der juristischen Literatur vertreten insb. Josef Isensee und Herbert Tröndle die Strategie der umfassenden Verrechtlichung. Vgl. Josef Isensee in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW). (1986). S. 1645 (Krankenkasse); Herbert Tröndle. in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP), (1989), S. 54 (Beratungsgesetz); ders.. in: NJW. (1989). S. 2990 (Lohnfortzahlung).

  3. Kritik an den rechtsphilosophischen Prämissen eines Vorrangs des Lebensschutzes äußerte Ronald Dworkin. The Great Abortion Case, in: The New York Review of Books vom 29. 6. 1989, S. 49. Neuere Aufsätze zur verfassungsrechtlichen Problematik betonen den Aspekt der Gewissensfreiheit: Thilo Ramm, in: Juristenzeitung (JZ), (1989), S. 861; Michael Köhler, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht, (1988), S, 435; Günther Jerouschek, in: JZ, (1989), S. 279.

  4. Für einen Beurteilungsspielraum plädiert der 6. Zivilsenat des BGH im Jahre 1975. (BGH Z 95. 199). ebenso Albin Eser in: Adolf Schönke/Horst Schröder. Strafgesetzbuch, 198823, Rdnr. 16 zu § 218a; M. Köhler (Anm. 3); in dieselbe Richtung zielen die Stellungnahmen von Klaus Bernsmann. Arbeit und Recht. 1989. S. 10; Gudrun Doering-Striening. in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 69 (1989) 4, S. 139. Die Gegenmeinung von W. Kluth, in: NJW, (1986), S. 2348 ignoriert den gesetzgeberischen Willen, ebenso die ablehnende Kommentierung von K. Lackner, 198918, § 218 a, 2 c) bb). Die Kritiker übersehen, daß § 218a kein Unterfall des rechtfertigenden Not-standes ist, bei dem es auf das objektive Vorliegen der Notstandslage ankommt (Rettung eines überwiegenden Rechts-guts). Die Notlagenindikation ist ein spezieller Rechtfertigungsgrund.dessen Grund die Achtung vor der Gewissensfreiheit der schwangeren Frau ist. Die normative Ermächtigung an die „ärztliche Erkenntnis“ ist ein Kompromiß, da man sich an einer Fristenlösung gehindert sah. Im Gegensatz dazu gibt es beim rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB keinen Grund, den Betroffenen einen Bcurtcilungsspiclraum einzuräumen. § 218a StGB weicht also von der Regel ab, daß die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes objektiv gegeben sein müssen.

  5. Gesetzentwurf der SPD/FDP Bundestagsfraktion. BT-Drs. 7/4128; Bericht des Sonderausschusses. BT-Drs. 7/4696. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich eindeutig, daß die damalige Koalition den Spielraum, den das BVferG gelassen hatte, voll ausschöpfen wollte. Aus diesem Grund ersetzte man die für die stärker objektivierbare medizinische, eugenische und kriminologische Indikation sinnvolle Formulierung der Fristenlösung, wonach eine Indikation „nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft“ vorliegen müßte, (so noch im 5. StrRG vom 18. 6. 1974) durch die offene Formulierung: „nach ärztlicher Erkenntnis“. Der Grund für die sprachliche Änderung ist das Prinzip der Rechtssicherheit. Wenn man einen ärztlichen Beurteilungs-Spielraum einräumt, vermeidet man widersprechende Entscheidungen und garantiert Rechtssicherheit. Spätere Stellen (Krankenkasse, Strafverfolgungsbehörden) sind an die einmal getroffene Entscheidung gebunden. An die Stelle einer materialen Wertentscheidung durch Gerichte tritt ein prozedurales Verfahren. Letztlich waren diese Zusammenhänge allen am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten klar. Niemand dachte an eine gerichtliche Überprüfung von Indikationen. Umstritten waren lediglich die inhaltlichen Anforderungen an das Verfahren. Man verhandelte darüber, ob nur ein Arzt oder zwei Ärzte (so der Vorschlag der CDU/CSU Fraktion. BT-Drs. 7/4211) zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung ermächtigt werden sollten. Nach Erlaß des Gesetzes versuchten die im Ergebnis Unterlegenen, durch offensive Rechtsmeinungen zu verschleiern, daß auch sie ursprünglich von der Notwendigkeit einer normativen Ermächtigung der Mediziner ausgegangen waren. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß nach Ansicht der CDU/CSU statt zweier unabhängiger Mediziner ein Gutachtergremium vorgesehen war (so auch Krauss, in: Deutsches Ärzteblatt. 28 (1978). S. 1649; gegen Hiller/Hiersche, ebd., S. 781).

  6. Herbert Tröndle, StGB, 1988«, §§ 218 ff, mit weiteren Nachweisen.

  7. Urteil vom 5. 5. 1989 -1 Kis 23 Js 9443/86. Zum Memminger Verfahren vgl. Gisela Friedrichsen. Abtreibung. Orclli-Füssli 1989; ferner Pro Familia/Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.). Abtreibung vor Gericht. Dokumentation. 1989.

  8. Vgl. hierzu die empirische Untersuchung des Max-Planck-Instituts Freiburg (Leitung Monika Häußler), auszugsweise dokumentiert in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. (1988). S. 817ff.

  9. Abgedruckt in Pro Familia (Anm. 7). Eine Auswahl findet sich auch am Ende des Abschnitts über die Bundesrepu-blik in der breit angelegten rcchtsvcrglcichcnden Untersuchung von Albin Escr/Hans-Gcorg Koch (Hrsg.). Schwan-gerschaftsabbruch im internationalen Vergleich. Bd. 1. Frankfurt 1988. Bd. 2. 1990.

  10. Seit zehn Jahren wird in Bamberg eine Pro Familia-Beratungsstelle gefordert. Sie wird vom Ministerium nicht genehmigt. vgl. die Tageszeitung (TAZ) vom 12. 2. 1990.

  11. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG). Urteil vom 15. 1. 1987. DöV 1987. 546; gegen VGH-Baden-Württemberg. MedR 1985. 232. Eine Verfassungsbeschwerdc gegen die Entscheidung des BVerwG scheiterte Anfang 1988 am Dreier-Ausschuß des BVcrfG. Die Folge ist. daß von den insgesamt 370 zugelassenen Einrichtungen nahezu alle in Hessen. NRW. Hamburg. Bremen. Schleswig-Holstein und Berlin sind, gefolgt von Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Bayern. Baden-Württemberg. Niedersachsen genehmigen ambulante Einrichtungen nicht.

  12. Vgl. Else Kienle. Der Fall Kienle, in: Die Weltbühnc. 27 (1931). S. 535 ff.

  13. Die Zahlen können den seit 1880 vergleichbaren Strafverfolgungsstatistiken entnommen werden. Für die Zeit nach 1945 vgl. Hans-Gcorg Koch, in: A. Eser/H. -G. Koch (Anm. 9).

  14. Presseinformation der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 28. 8. 1989; die Anklage ist mittlerweile geringfügig revidiert. vgl. TAZ vom 9. 2. 1990.

Weitere Inhalte

Monika Frommel, Dr. jur., Dr. habil., geb. 1946; Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen und München; Vertreterin eines Lehrstuhls für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt; Vorsitzende der Strafrechtskommission des Deutschen Juristinnenbundes. Veröffentlichungen u. a.: Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, Berlin 1987; Forderungen an eine Reform der sexuellen Gewaltdelikte, in: Zeitschrift für Sexualforschung, (1989); Memmingen und die Folgen, in: Neue Kriminalpolitik, (1990) 1.