Anläßlich der Unterzeichnung der Ostverträge am 23. Mai 1972 sprach der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann die Bitte aus, die während der Ratifizierungsdebatte aufgeworfenen innenpolitischen Gräben einzuebnen und die Abkommen mit der UdSSR und der Volksrepublik Polen mit Leben zu erfüllen: „Wenn die Völker sich die Verträge nicht innerlich zu eigen machen, werden sie tote Buchstaben bleiben. Das Gegeneinander vergangener Jahre muß jetzt zu einem Miteinander in der Zukunft werden.“ Vor allem die Normalisierung der Beziehungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk, deren Ziel es sein mußte, trotz der von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft im Zweiten Weltkrieg und den darauf folgenden Leiden der Vertreibung ausgelösten Konfrontation eine dauerhafte, von allen Bevölkerungskreisen gleichermaßen mitgetragene Aussöhnung zu erreichen, hatte sich nämlich in den Jahren vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags als äußerst schwieriges Unterfangen erwiesen
Die hochgespannten Erwartungen, daß mit dem 7. Dezember 1970 ein neues Kapitel in der tausendjährigen deutsch-polnischen Nachbarschaftsgeschichte aufgeschlagen würde, haben sich jedoch nicht auf allen Gebieten erfüllt. Denn das latente polnische Mißtrauen hinsichtlich der Aufrichtigkeit der deutschen Versöhnungsbereitschaft erhielt unbeschadet der im Warschauer Vertrag enthaltenen Verpflichtung, die Bundesrepublik Deutsch-land werde jetzt und künftig keinerlei Gebietsansprüche Polen gegenüber erheben, durch die immer wieder von Sonntagsrednern und Vertriebenen-funktionären erhobene Forderung nach Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 neue Nahrung; das Infragestellen der von den Alliierten als Folge der deutschen Niederlage im Potsdamer Protokoll am 2. August 1945 festgelegten polnischen Westgrenze an Oder und Lausitzer Neiße berührt bis heute den Lebensnerv aller Bürger Polens. Überempfindliche und daher oft überzogene Reaktionen der polnischen Seite, Unnachgiebigkeit bei der Verteidigung „nationaler“ Positionen und das — bei Regierung, Gesellschaft und katholischem Episkopat gleichermaßen — fehlende Gespür, welche Bedeutung der Behandlung der offiziell so lange geleugneten deutschen Minderheit in Polen inzwischen in der westdeutschen Öffentlichkeit beigemessen wird, haben die Normalisierungsanstrengungen nicht gerade gefördert. Dennoch konnte Bundespräsident Richard von Weizsäcker aus Anlaß des 50. Jahrestags des deutschen Angriffs auf Polen in seiner Botschaft an das polnische Staatsoberhaupt Wojciech Jaruzelski mit gutem Grund darauf verweisen, daß „die allermeisten Deutschen, alte und junge Menschen,. . .den Wunsch des polnischen Volkes nach gesicherten Grenzen“ verstehen und respektieren und „die Verständigung mit Polen ohne Vorbehalte“ suchen
I. Das Erbe des Zweiten Weltkriegs
Seit Kriegsende vertraten alle polnischen Regierungen die Auffassung, daß die im Potsdamer Protokoll beschriebene Verwaltungsgrenze an Oder und Lausitzer Neiße trotz des Friedensvertragsvorbehalts eine endgültige, völkerrechtlich verbindliche Festlegung der Westgrenze Polens darstelle. Sie begründeten ihren Standpunkt nicht nur mit dem deutschen Angriff, der den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und Polen über sechs Millionen Tote und schwerste Sachschäden gekostet hatte, sondern vor allem mit der von der Anti-Hitler-Koalition am 6. Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta gebilligten Westverschiebung zugunsten der UdSSR, die polnische Gebietsverluste von rd. 180 000 km 2 beinhaltete. Durch die gezielte Vertreibung der durch Evakuierung und Flucht bereits Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta gebilligten Westverschiebung zugunsten der UdSSR, die polnische Gebietsverluste von rd. 180 000 km 2 beinhaltete. Durch die gezielte Vertreibung der durch Evakuierung und Flucht bereits stark dezimierten etwa zwölf Millionen Deutschen aus den „ehemaligen deutschen Ostgebieten“ und die rasche Ansiedlung von — zum Großteil aus dem neuen sowjetischen Herrschaftsbereich stammenden — Polen sollten die 103 000 km 2 umfassenden „wiedergewonnenen Westgebiete“ unumkehrbar mit dem polnischen Kemstaat verschmolzen werden. Schon im Vertrag über Freundschaft, gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit vom 21. April 1945 hatte die Sowjetregierung die Dauerhaftigkeit der neuen polnischen Westgrenze garantiert, die auch die Regierung der DDR am 6. Juli 1950 im Görlitzer Abkommen als „unantastbare Friedens-und Freundschaftsgrenze“ zu respektieren versprach.
Wie Bundeskanzler Konrad Adenauer, der sich in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949 entschieden gegen eine Abtretung der Gebiete jenseits von Oder und Neiße aussprach und später alle Grenzvereinbarungen zwischen der DDR und Polen als null und nichtig bezeichnete, trat mit Ausnahme der KPD auch lange Zeit keine der Bundestagsparteien für einen Ausgleich mit Polen unter Anerkennung des territorialen Status quo ein. Obschon in den Proklamationen dem im Grundgesetz niedergelegten Wiedervereinigungsgebot in den Reichsgrenzen von 1937 ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde, spielten auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges angesichts viel drängenderer und zukunftsrelevanterer Entscheidungen die Diskussionen um Inhalte und Durchführung einer aktiven Osteuropa-und Polenpolitik nur eine untergeordnete Rolle. Unter Berücksichtigung des Wählerpotentials der Vertriebenen, die dank ihres geschlossenen Massenanhangs Mitte der fünfziger Jahre den Zenit ihrer politischen Einflußnahme erreichten, besaß keiner der führenden Bonner Politiker den Mut, einer — nur durch den glaubwürdigen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete zu erreichenden — vertrauensvollen Aussöhnung mit Polen offen das Wort zu reden. Im Interesse der Ablösung des Besatzungsstatuts und um die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu beschleunigen, konzidierte Kanzler Adenauer jedoch am 21. November 1951 dem amerikanischen Außenminister Dean Acheson: „Die Bundesregierung stellt keine Ansprüche und verlangt keine Bindungen der Alliierten hinsichtlich der Gebiete östlich der Oder-Neiße.“ 5) Am 20. Oktober 1953 fand sich Adenauer auch zu der Aussage bereit, daß „die mit der Oder-Neiße-Linie zusammenhängenden Probleme . . . nicht mit Gewalt, sondern ausschließlich auf friedlichem Wege gelöst werden“ müßten 6).
Die lautstarken Proteste der polnischen Regierung gegen die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, gegen Äußerungen bundesdeutscher Politiker zum bilateralen Verhältnis unter Infragestellung der neuen polnischen Westgrenze und die mit äußerstem Mißtrauen verfolgte rasche Eingliederung dieses deutschen Teilstaats in die westliche Wirtschafts-und Verteidigungsgemeinschaft trugen nicht zu einer Klimaverbesserung bei und vertieften die in der Regierung und Öffentlichkeit der Bundesrepublik lebendige antikommunistische Grundeinstellung. Folgerichtig zeigten sich 1951 nur sieben Prozent der Bundesbürger bereit, den Grenzverlauf an Oder und Neiße zu akzeptieren. Nachdem in der am 22. Juli 1952 angenommenen volks-demokratischen Verfassung Polens die Oder-Neiße-Gebiete als „wiedergewonnen und ewig zurückgekehrt“ bezeichnet worden waren, stellte der Bundestag mit überwältigender Mehrheit am 5. Dezember 1952 in einer Entschließung fest, daß Grenzregelungen im Vorgriff auf einen zukünftigen Friedensvertrag keine Rechtsgültigkeit beanspruchen könnten.
In dem Wissen um die verheerenden Folgen der nationalsozialistischen „Lebensraumpolitik“ in Po-len hatten sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren das Deutsche Büro für Friedensfragen, die um Alfred Weber gescharte „Heidelberger Aktionsgruppe zur Demokratie und zum freien Sozialismus“ und der von dem Würzburger Historiker Ulrich Noak geleitete Nauheimer Kreis bemüht, die schon in der Weimarer Republik geschürten, von den Goebbelsschen Hetztiraden verfestigten Vorurteile gegenüber den Polen abzubauen Doch diese von wenigen Intellektuellen erarbeiteten Vorschläge zur Beendigung des deutsch-polnischen Antagonismus besaßen keine Breitenwirkung. Auch die 1950 von dem früheren General Hanns von Rohr ins Leben gerufene „Hellmuth von Gerlach-Gesellschaft e. V. zur Förderung des deutsch-polnischen Kultur-und Wirtschaftsaustauschs“, aus der 1973 die „Deutsch-polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e. V.“ hervorging, war zahlenmäßig zu unbedeutend, als daß sie viel hätte in Bewegung setzen können. Bei dem verbreiteten militanten Antikommunismus in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre wurde das volksdemokratische Polen nur als gehorsamer Satellit der Suprematsmacht UdSSR ohne eigenen politischen Entscheidungsspielraum eingestuft, was als Rechtfertigung für die „Nichtzurkenntnisnahme“ bereits ausreichte und das Wunschdenken begünstigte, man brauche die Polen nur vom Kommunismus zu erlösen, um von ihnen dann — gleichsam als Akt freier Selbstbestimmung — die Gebiete von jenseits der Oder und Neiße zurückzuerhalten.
Trotz des größer werdenden zeitlichen Abstands seit dem Verlust der Heimat und der Teilnahme der Vertriebenen am bundesdeutschen „Wirtschaftswunder“ wurde eine Aussöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn auf der Grundlage der tatsächlichen Verhältnisse vor allem von ihren Sprechern kompromißlos abgelehnt. Immerhin hatten sie in der am 5. August 1950 proklamierten „Charta der Heimatvertriebenen“ ausdrücklich auf „Rache und Vergeltung“ verzichtet und keine Forderung auf Rückgabe ehemals deutschen Territoriums und nach Rückkehr erhoben, obschon das Recht auf Heimat „als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“ bezeichnet worden war Da sich dem wirtschaftlich-sozialen Integrationsprozeß eine politisch-psychologische Eingliederung anschloß und die meisten Vertriebenen zu Beginn der sechziger Jahre zu vollgültigen „Einheimischen“ geworden waren, fanden die meist mit verletzendem Rigorismus und mangelndem Augenmaß vorgetragenen Postulate ihrer Sprecher nach Zurückdrängung des Kommunismus, Wiedergewinnung der verlorenen Ostgebiete und Rückkehr in die alte Heimat eine immer geringere Resonanz, boten aber der östlichen Propaganda die willkommene Gelegenheit, die Aussöhnungsbereitschaft der Landsmannschaften generell in Frage zu stellen und ihre Mitglieder als Revanchisten und Kriegstreiber zu diffamieren.
Viele Vertriebenenfunktionäre wollten ganz einfach nicht wahrhaben, daß — unbeschadet der Beteuerung der von Konrad Adenauer geführten Kabinette, Verhandlungen über die endgültige Grenzregelung im Osten könne nur eine freigewählte, demokratisch legitimierte gesamtdeutsche Regierung aufnehmen — auch die Politiker der NATO-Partner die Vertreibung als endgültig anzusehen begannen und im Interesse eines Abbaus der Ost-West-Konfrontation für die Akzeptanz des Status quo plädierten. Die Unfähigkeit, konstruktive Alternativen zu entwickeln, schränkte die Einwirkungsmöglichkeiten der Vertriebenen auf die Neuorientierung der Deutschland-und Ostpolitik ein, zumal als mit der Bildung der Großen Koalition im Dezember 1966 der in 17 Jahren bewährte Interessengleichklang mit der jeweiligen Bundesregierung zerbrach.
II. Versuche der Annäherung
Die sich nach 1950 beschleunigende Einbindung beider Staaten in einander antagonistisch gegenüberstehende Blöcke veranlaßte die polnische Regierung, im Interesse einer Absicherung ihrer territorialen Integrität mit vorsichtigen Schritten zu einer politischen Stabilisierung in Mitteleuropa beizutragen. Bereits am 24. August 1953 gab Ministerpräsident Cyrankiewicz einen einseitigen Verzicht auf deutsche Reparationen bekannt. Als die Auseinandersetzung um die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO ihren Höhepunkt erreichte, erklärte die polnische Regierung am 18. Februar 1955 den Kriegszustand mit Deutschland für beendet; drei Wochen zuvor hatte sie eine Normalisierung der Beziehungen nach einer Aner-kennung der Oder-Neiße-Grenze in Aussicht gestellt. Auf die vom neuen Parteichef Wladyslaw Gomutka erstmals am 14. Januar 1957 signalisierte Bereitschaft zur Herstellung diplomatischer Beziehungen ohne Vorbedingungen und — nach sowjetischem Beispiel — selbst unter Hinnahme einer deutschen Vorbehaltserklärung in der Grenzfrage reagierte das Kabinett Adenauer zwar mit der Versicherung „des aufrichtigen Willens zur Verständigung mit den osteuropäischen Nachbarvölkern“, lehnte eine Formalisierung der Kontakte unter Berufung auf die Hallstein-Doktrin und die strittige Interpretation des Potsdamer Protokolls aber rundweg ab.
Auch der polnische Vorschlag vom 2. Dezember 1957 zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa (Rapacki-Plan) mit der Intention, Bonn in ein kollektives Sicherheitssystem einzubinden und somit eine Revision der bestehenden Grenzen zu erschweren, fand am 23. Januar 1958 die schroffe Zurückweisung durch die Bundesregierung. Das sowjetische Berlin-Ultimatum setzte dann im November 1958 den Schlußpunkt hinter eine konstruktive Phase der polnischen Politik.
In der westdeutschen Öffentlichkeit wuchs gleichzeitig die Einsicht in die Unaufschiebbarkeit einer Normalisierung der bilateralen Kontakte. Denn nach dem „polnischen Frühling im Oktober“ von 1956 setzte eine intensivere Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der VR Polen ein, wozu die kenntnisreiche Berichterstattung der seit 1957 auf Dauer in Warschau akkreditierten Journalisten wirkungsvoll beitrug. Publizisten und Redakteure, Wissenschaftler und Theologen forderten beredt die Anerkennung des Status quo als Voraussetzung für die überfällige Verständigung. Auch wenn das durch Spielfilme und Gegenwartsliteratur, Volkskunst und den stilvollen Wiederaufbau der kriegszerstörten historischen Stadtkerne genährte Interesse für die polni-sehen Realitäten vorerst nur ein kleines Spektrum der Intelligenz erfaßte und der seit 1955 praktizierte Ostkundeerlaß in den Schulen die Vermittlung unvoreingenommenen Wissens eher erschwerte, trugen mit der Zeit Kultur und Erziehung zum Abbau alter Vorurteile bei. Auch ohne vertragliche Absicherung kam mit gewisser Regelmäßigkeit der Austausch von Wissenschaftlern zustande Sportler traten zu Wettkämpfen im anderen Land an; Mitglieder der „Aktion Sühnezeichen“ konnten sich zum Arbeitseinsatz in Polen aufhalten; die Rotkreuzgesellschaften pflegten enge Kontakte; das Handelsvolumen wurde ausgeweitet — aber Reise-möglichkeiten für ein breiteres Publikum bestanden nicht. Der mit dem polnischen antikommunistischen Exil in Westeuropa und in den USA gesuchte Meinungsaustausch veranlaßte die Warschauer Regierung sogar zeitweilig, die bilateralen Beziehungen einzufrieren und allein Begegnungen im multilateralen Rahmen oder in den großen internationalen Organisationen zu tolerieren.
Gedrängt von ihrer Jugend-und Hochschulorganisation begann unter schmerzhafter Abkehr von den Positionen, die Kurt Schumacher im Kampf gegen die Oder-Neiße-Grenze bezogen hatte, seit 1957die SPD als erste große Volkspartei, ihre ostpolitischen Positionen zu überdenken und auf der Basis des Gewaltverzichts die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen und eine Verständigung in allen strittigen Fragen „in einer freundschaftlichen Atmosphäre“ zu fordern. Die deutlichen Niederlagen bei der Bundestagswahl 1957 und der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1958 sowie die erneute Zuspitzung des Ost-West-Konflikts nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum im November 1958 dämpften aber die Bereitschaft, mit unkonventionellen, vom Wähler noch nicht honorierten Lösungsvorschlägen vorzupreschen. Immerhin wagte Kanzlerkandidat Brandt im Vorfeld der Bundestagswahl 1961 die Aussage, eine von ihm geführte Regierung werde sich „um friedliche Zusammenarbeit mit allen osteuropäischen Völkern, vor allem dem polnischen Nachbarvolk bemühen und das Verhältnis zu ihm versachlichen, ohne daß einem Friedensvertrag vorgegriffen wird“ In der SPD setzte sich die Erkenntnis durch, daß die Suche nach einem modus vivendi mit den osteuropäischen Volksdemokratien nur aufder Grundlage einer Anerkennung der auf den alliierten Kriegskonferenzen und zumal im Potsdamer Protokoll niedergelegten Vereinbarungen und den inzwischen entstandenen politischen Realitäten möglich war.
Die von Thomas Dehler und Erich Mende geführte FDP, die nach dem Tod von Wolfgang Pfleiderer über keinen unvoreingenommenen außenpolitisehen Kopf mehr verfügte, schloß sich dagegen bruchlos der von CDU/CSU vertretenen, auf der Hallstein-Doktrin und dem Alleinvertretungsanspruch basierenden Deutschland-und Ostpolitik an. Mit beißendem Sarkasmus beantwortete deshalb Premier Cyrankiewicz die Grußadresse, die Kanzler Adenauer aus Anlaß des 20. Jahrestags der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs an das polnische Volk gerichtet hatte. Aus Enttäuschung über die festgefahrenen Positionen Bonns beteiligte sich Polen engagierter als zuvor an der Propagandakampagne der Volksdemokratien gegen die Bundesrepublik Deutschland und begegnete allen Annäherungsversuchen mit skeptischer Reserve.
Das wachsende Interesse der deutschen Wirtschaft an einer Intensivierung des Warenaustauschs begünstigte dann im Dezember 1960 das Zustande-kommen einer inoffiziellen, aber von Kanzler Adenauer autorisierten Kontaktaufnahme des Krupp-Generalbevollmächtigten Berthold Beitz mit der polnischen Regierung. Trotz des Drängens des neu-gewählten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, einen substantiellen Beitrag zum Abbau des mitteleuropäischen Spannungsfeldes zu leisten, engten das deutsche Beharren auf der Hall-stein-Doktrin und die Weigerung, die Grenzfrage auch nur zu erörtern, den Verhandlungsspielraum ebenso ein wie das polnische Bestehen auf vollen diplomatischen Beziehungen. Mit der Unterzeichnung eines für beide Seiten vorteilhaften Wirtschaftsabkommens mit dreijähriger Laufzeit am 7. März 1963 und der Vereinbarung über die Errichtung von Handelsvertretungen ohne Konsularfunktionen konnte wenigstens ein Minimalkonsens erreicht werden Inzwischen wurde selbst im Deutschlandpolitischen und Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU die Einsicht vertreten, daß Initiativen zur Verbesserung der Kontakte zu den osteuropäischen Volksdemokratien unterhalb der Aufgabe von Rechtspositionen nicht länger auszuweichen war
Die polnische Regierung war aber nicht willens, Hilfestellung zu einer wie auch immer gearteten Rettung der Hallstein-Doktrin zu geben und von ihrer unbeirrbar aufrechterhaltenen Forderung nach Aufnahme normaler zwischenstaatlicher Kontakte unter vorbehaltloser Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze abzuweichen. Sie fühlte sich in ihrer Haltung ermutigt durch die westlichen Bündnis-partner der Bonner Republik, die ihren Argwohn erkennen ließen, eine deutsche Ostpolitik mitzuverantworten, die — trotz neuer Nuancierungen — darauf hinauszulaufen schien, aus der Konkursmasse der Weltkriegsniederlage soviel wie möglich für ein wiedervereinigtes „Gesamtdeutschland“ zu retten.
III. Der Beitrag der Christen zum Aussöhnungsprozeß
In der konsequent die Westintegration und die Wiederbewaffnung verfolgenden Politik Adenauers, die von den beiden großen Amtskirchen gebilligt wurde, hatten evangelische und katholische Laien früh eine Gefährdung des Wiedervereinigungsgebots und vor allem ein Hindernis auf dem Weg zur Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas gesehen. Während z. B. Walter Dirks und Eugen Kogon als Sprecher politisch differenzierter denkender Kreise in der Katholischen Kirche ihr Unbehagen an der Übernahme der außen-und vertriebenenpoliti-schen Postulate der CDU/CSU durch den Episkopat äußerten und eine konstruktive Osteuropapolitik verlangten, bahnte sich nach 1955 auch innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein langsamer Meinungswandel an. Einen Sturm der Entrüstung entfachten im November 1961 acht prominente evangelische Laien (unter ihnen Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg, Ludwig Raiser und Klaus von Bismarck), die in einem „Tübinger Memorandum“ die Kritik am Realitätsverlust der Bundesregierung und der politischen Parteien mit der Empfehlung verbanden, eine der Normalisierung dienende Ostpolitik unter Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu betreiben Dieses Durchbrechen eines langgehegten Tabus begünstigte eine zunehmend freimütiger geführte Auseinandersetzung um Ziele und Methoden der als überfällig angesehenen Aussöhnung mit Polen.
Als dann im Oktober 1965 die Denkschrift der EKD über „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ bekannt wurde, löste sie einen leidenschaftlich geführten Meinungsstreit aus. Neben dem Bund der Vertriebenen (BdV) übte vor allem die Springer-Presse scharfe Kritik an den „moralisch, historisch, rechtlich und politisch unverantwortlichen“ Schlußfolgerungen — hatten die Autoren doch gewagt, eine „neue Grundlagenbestimmung ohne vorher feststehendes Ergebnis“ anzumahnen. Diese als „Tendenzschrift einer Minderheit“ abqualifizierte Ost-Denkschrift wurde vom BdV vor allem deshalb angegriffen, weil sie angeblich „das Heimatrecht der Vertriebenen über die Köpfe der Betroffenen hinweg als Kaufpreis für eine Versöhnungspolitik gegenüber dem kommunistischen Regime“ in Polen anbot und mit dem Eingeständnis einer Kollektivschuld aller Deutschen „politischen Selbstmord“ betrieb.
Die Unfähigkeit, ihre politisch inzwischen fragwürdig gewordenen Rechtspositionen sachlich zu diskutieren, bewiesen die Gegner einer wirklichen Aussöhnungspolitik auch beim Bekanntwerden des Briefwechsels zwischen dem polnischen und dem deutschen Episkopat vom November/Dezember 1965. In ihrem Schreiben krönten die polnischen Bischöfe ihre Interpretation der tausendjährigen Nachbarschaft mit der Gewährung von und der Bitte um Vergebung, während ihre deutschen Amtsbrüder in ihrer Antwort — etwas enttäuschend — vor allem die Heimatliebe und die Rechtsauffassung unter den Vertriebenen erläuterten sowie für die Fortsetzung des Dialogs „in allen Lebensbereichen unserer beiden Völker“ plädierten Die Warschauer Regierung hat die Initiative des polnischen Episkopats zwar als Einmischung in Staatsangelegenheiten verurteilt, die Stimmen der deutschen Christen aber, die nicht in direkter politischer Verantwortung zum Handeln gezwungen waren und mit ihren Mahnungen und Lösungsvorschlägen nicht nur auf die Parteien einwirkten, sondern auch die öffentliche Meinung für die existentiellen polnischen Belange sensibilisierten, dankbar registriert. Nachdem sich auch die katholische Friedensbewegung Pax Christi für eine Beschleunigung des Aussöhnungsprozesses mit Polen einsetzte, untersuchten Laien und Geistliche, die sich im Mai 1966 im Bensberger Kreis zusammenschlossen, die Voraussetzungen für das Gelingen des Normalisierungsprozesses. In ihrem am 2. März 1968 veröffentlichten „Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen“ vertraten sie die Ansicht, daß der von der Bundesregierung angebotene Gewaltverzicht erst durch „die Anerkennung der gegenwärtigen territorialen Verhältnisse zwischen Deutschland und Polen“ glaubwürdig werde.
IV. Das Zustandekommen des Warschauer Vertrags
Wenn diese an Deutlichkeit weit über die Schlußfolgerungen der EKD-Denkschrift hinausgehende katholische Stellungnahme nicht einen ähnlichen Proteststurm wie alle früheren Normalisierungsvor-Schläge auslöste, so war dies dem veränderten politischen Klima nach der Bildung der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt zuzuschreiben. Hatte bereits die sogenannte Friedensnote der Regierung Erhard vom 25. März 1966 einen versöhnlichen Tenor angeschlagen, so wies 17 Kiesinger in seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 1966 auf die Bereitschaft der meisten Bundesbürger „nach einer Aussöhnung mit Polen“ hin. zumal der Wunsch der polnischen Bevölkerung, „endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben“, respektiert werde; die Einschränkung jedoch, die endgültige Grenzziehung müsse einer gesamtdeutschen Regierung in einem Friedensvertrag Vorbehalten bleiben nahm seinen verständnisvollen Worten viel von ihrer Wirkung. Parteichef Gomulka.der schon im Zusammenhang mit den Jahrtausendfeiern der Staatsgründung Polens unermüdlich die vollständige, unwiderrufliche und deshalb nicht mehr verhandelbare Integration der Westgebiete betont hatte, versteifte sich unter Berufung auf die am 6. Juli 1966 veröffentlichte Budapester Erklärung der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa nicht nur auf die vorbehaltlose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, sondern verlangte jetzt auch das Eingeständnis der Nichtigkeit des Münchener Abkommens von Anfang an, die völkerrechtliche Respektierung der DDR und eine umfassende Abrüstung der Bundeswehr. Die ost-und deutschlandpolitischen Akzente, die Außenminister Brandt zur Aufweichung der verhärteten Fronten unter Abkehr vom Alleinvertretungsanspruch und der Hallstein-Doktrin zu setzen suchte, wurden von der CDU jedoch nur unter Vorbehalten mitgetragen, von der CSU gelegentlich mit offener Kritik bedacht und von der sich im Aufwind befindenden NPD und dem BdV entschieden abgelehnt.
Der mutige Vorstoß, den der Publizist Wilhelm Wolfgang Schütz in seinem „Deutschland-Memorandum“ im November 1967 unternahm, sorgte ebenso für Aufsehen wie die Einsicht der FDP-Politiker Hans Wolfgang Rubin und Wolfgang Schollwer, daß eine Wiedervereinigung ohne Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der Existenz eines kommunistischen Staates auf deutschem Boden undurchführbar sei Die nach leidenschaftlicher Diskussion vom 13. SPD-Parteitag (17. -21. März 1968) angenommene Entschließung, in der die Bereitschaft zum Ausdruck kam, „die bestehenden Grenzen in Europa, insbesondere die gegenwärtige polnische Westgrenze zu respektieren und anzuerkennen, bis die deutschen Grenzen in einer friedensvertraglichen Regelung, die von allen Beteiligten als gerecht und dauerhaft empfunden werden kann, endgültig festgelegt werden“ stellte den entscheidenden Durchbruch dar. Damit hatte eine der großen Volksparteien eine eindeutige Position bezogen, die sie nach 1969 auch zum Leitmotiv ihrer neuen Ostpolitik erhob.
In der CDU/CSU dagegen erhielt 1968/69, in den Tagen des „Prager Frühlings“, die Hoffnung auf eine allmähliche Lösung der osteuropäischen Staaten von der sowjetischen Suprematsmacht und auf einen nicht mehr aufzuhaltenden Zerfallsprozeß innerhalb des sozialistischen Lagers neuen Auftrieb, die im Rahmen einer weitgehenden Neuordnung Europas auch zur deutschen Wiedervereinigung mit einer weit nach Osten vorgeschobenen Grenze beitragen würden. Die FDP rang sich auf ihrem Nürnberger Parteitag am 25. Juni 1969 zu einer Aufgabe „der leer gewordenen Formeln der deutschen Außenpolitik“ und zur Einleitung einer neuen, die politischen Gegebenheiten über die ideologischen Gräben und unterschiedlichen Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen hinweg akzeptierenden gesamteuropäischen Sicherheitspolitik durch Die Bundesregierung wich aber Polen gegenüber weiterhin jeder Präzisierung ihrer Vorstellungen über die Lösung der Grenzfrage aus und begnügte sich mit realitätsfremden Absichtserklärungen, die zu einem Paket verschnürten Problembereiche Alleinvertretungsanspruch, Hallstein-Doktrin, Oder-Neiße-Grenze, Status Berlins und Beziehungen zur DDR würden von einer demokratisch legitimierten gesamtdeutschen Regierung im Rahmen einer europäischen Friedensordnung einer Regelung zugeführt werden.
In einer Warschauer Wahlrede kam Gomulka am 17. Mai 1969 dem Standpunkt der Bundesregierung erstmals etwas entgegen, als er die polnische Bereitschaft andeutete, den Unterschied zwischen einer Gesamtdeutschland betreffenden Frage — der Grenzziehung — und den souveränen Rechten der beiden deutschen Staaten zu beachten und es bilateralen Verhandlungen zu überlassen, wie weit die Bundesregierung im eigenen Namen bei der Grenzanerkennung gehen würde. Diese danach mehrfach bekräftigte Position war auch das Ergebnis einer innerhalb der polnischen Öffentlichkeit intensiv geführten Diskussion über die Zukunft des Landes. Das Zustandekommen einer sozial-liberalen Koalition nach den Bundestagswahlen vom 28. Septem-ber 1969 stellte für die Bonner Ostpolitik den entscheidenden Wendepunkt dar. „Das deutsche Volk braucht den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens . . . Diese Bundesregierung wird der Regierung der Volksrepublik Polen einen Vorschlag zur Aufnahme von Gesprächen zugehen lassen, mit denen sie die Ausführungen Wladyslaw Gomulkas vom 17. Mai 1969 beantwortet“. kündigte Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 an.
Obschon — auch im polnischen Interesse — den deutsch-sowjetischen Verhandlungen Priorität eingeräumt wurde, kamen unbeschadet der sich rasch herauskristallisierenden Schwierigkeiten die am 5. Februar 1970 aufgenommenen Gespräche zwischen Bonn und Warschau gut voran. Probleme beschworen aber die als Verfassungsgrundsatz niedergelegte Einheit der deutschen Nation sowie die Tatsache herauf, daß nach dem Deutschlandvertrag alle ganz Deutschland betreffenden Fragen in den Zuständigkeitsbereich der Siegermächte fielen. Diese Schranken politischer Bewegungsfreiheit wurden durch die schmale parlamentarische Mehrheit der Regierung noch weiter eingeengt, die Rücksichtnahme auf unsichere Kantonisten in den eigenen Fraktionen notwendig machte; auch wurde eine — wenigstens begrenzte — Zustimmung der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu den Verhandlungsergebnissen angestrebt.
Die Grenzfrage bildete unverändert den nervus rerum. Die Unterzeichnung des Vertrags mit der UdSSR am 12. August 1970 besaß Signalwirkung, war im Art. 3 doch festgehalten worden, daß beide Parteien „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich (betrachten) . . ., einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet“. Erschwerend kam nach Aufnahme der 6.deutsch-polnischen Gesprächsrunde (5. -7. Oktober) aber hinzu, daß über andere Problemkreise — u. a. die Ausreise Deutschstämmiger aus Polen, individuelle Wiedergutmachung für Opfer pseudomedizinischer Versuche in den KZs — die Positionen noch weit auseinanderklafften.
Nach der von den Außenministern Walter Scheel und Stefan J^drychowski am 18. November vollzogenen Paraphierung des Vertragstextes betonten beide Seiten den Kompromißcharakter. Unter Berufung auf den moralischen Stellenwert des deutsch-polnischen Verhältnisses machte die Bundesregierung deutlich, dem Verhandlungsergebnis vorrangig deshalb zugestimmt zu haben, um die „Verständigung mit dem polnischen Volk und die Normalisierung und Verbesserung der Beziehungen“ einzuleiten, die Lösung humanitärer Probleme zu ermöglichen und einen Beitrag zur Stabilisierung der europäischen Friedensordnung und für eine spätere Regelung der deutschen Frage zu leisten Als am 7. Dezember 1970 das Vertragswerk in Warschau unterzeichnet wurde, waren die sich bald danach abzeichnenden Schwierigkeiten bei der Ratifizierung der Ostverträge durch Bundestag und Bundesrat in ihrer dramatischen Zuspitzung aber ebensowenig abzusehen wie die euphemistisch als „Dezember-Ereignisse“ heruntergespielten Unruhen in der Volksrepublik Polen, die Gomulka und einen Großteil seiner Mannschaft kurz danach aus den Ämtern fegten.
Die anschließende Diskussion um das Für Und Wider der Ostverträge und die weniger mit Sachargumenten als mit persönlichen Diffamierungen und Unterstellungen seit Januar 1972 in der Bundesrepublik Deutschland geführte Ratifizierungsdebatte bedingte eine bis heute nicht ganz überwundene Verhärtung der politischen Fronten und eine schroffe Polarisierung der öffentlichen Meinung. Obgleich sich 1967 immerhin 46 Prozent, 1970 bereits 58 Prozent und 1972 sogar 61 Prozent der vom Allensbacher Institut für Demoskopie befragten Bundesbürger für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze aussprachen, lehnten Teile der CDU, die CSU, der BdV und die Springer-Presse die Ostverträge entschieden ab. Die nach dem Scheitern des konstruktiven Mißtrauensvotums gegen Bundeskanzler Brandt am 27. April aufgrund einer gemeinsamen Bundestagsresolution am 17. Mai erreichte Zustimmung zu den Ostverträgen konnte die Polen nicht zufriedenstellen, weil der Warschauer Vertrag bei 248 Ja-und 17 Nein-Stimmen angesichts der 231 Enthaltungen nicht von der absoluten Mehrheit der Abgeordneten gebilligt wurde. Erst nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen durch Bundespräsident Heinemann am 23. Mai 1972 stimmte der Sejm drei Tage später dem Vertragswerk zu, das mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 3. Juni 1972 in Kraft trat. Die Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen am 14. September 1972 bildete einen weiteren formalen Schritt auf dem Wege der Normalisierung.
V. Schwierige Verständigung
Hatte sich die Bundesregierung nach Inkrafttreten des Warschauer Vertrags in der Hoffnung gewiegt, mit Hilfe enger Kooperation auf den verschiedendsten Gebieten die Hypotheken der Vergangenheit rasch tilgen zu können, so verfolgte die polnische Seite nach 1972 vorrangig das Ziel, den vielbeschworenen Normalisierungsprozeß zur Regelung der offengebliebenen Problemkreise zu nutzen. Die Entschädigungsforderungen der Opfer der NS-Herrschaft und das Beharren auf Angleichung der bundesdeutschen Gesetzgebung an den Geist der Ostverträge wurden flankiert von dem mit wachsender Ungeduld vorgetragenen Wunsch nach Gewährung eines substantiellen Kredits zu günstigen Konditionen. Der 1974 eskalierende Streit über die Umsiedlung und Familienzusammenführung Deutsch-stämmiger trug ebenso zu einer spürbaren Irritation in den bilateralen Beziehungen bei wie die Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 und 7. Juli 1975, in denen der Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 ausdrücklich bestätigt wurde. Erst in der Nacht vom 1. auf den 2. August 1975 konnten während des Helsinki-Gipfels Bundeskanzler Helmut Schmidt und Parteisekretär Edward Gierek einen Minimalkonsens erreichen, der eine Pauschalabgeltung von Renten-und Sozialversicherungsansprüchen in Höhe von 1, 3 Milliarden DM, einen Finanzkredit von einer Milliarde DM sowie ein langfristiges Kooperationsprogramm für Wirtschaft, Industrie und Technik beinhaltete und auch ein Einvernehmen in der besonders heftig umstrittenen Umsiedlerfrage vorsah, das Ausreisegenehmigungen für bis zu 125 000 Deutschstämmige gestattete
Die am 9. Oktober 1975 in Warschau von den Außenministern Hans-Dietrich Genscher und Stefan Olszowski unterzeichneten Abkommen stießen sowohl in Polen als auch in der Bundesrepublik Deutschland auf heftigen Widerspruch: Während die polnische Presse die deutsche Unnachgiebigkeit anprangerte und die Auffassung empört zurückwies, mit den finanziellen Zugeständnissen seien die polnischen Entschädigungsansprüche ein für allemal abgegolten, empfahl CSU-Chef Franz Josef Strauß am 25. Oktober wegen der „unabsehbaren kommunistischen Geldforderungen“ die Ablehnung der neuen Vereinbarungen mit Polen. Die Unterstellung, hierbei ginge es um „Menschenhandel mit finanzieller Erpressung“, konnte die Annahme des gesamten Vertragspakets am 19. Februar im Deutschen Bundestag mit 276 zu 191 Stimmen und die einvernehmliche Zustimmung des Bundesrats am 12. März 1976 jedoch nicht verhindern
Auf unterer und mittlerer Ebene hatte sich die bilaterale Zusammenarbeit dagegen recht erfreulich entwickelt. Kontakte der Ressortminister, Reisen von Parteirepräsentanten, gegenseitige Besuche von Vertretern der Wirtschaft und der Gewerkschaften, die Verlängerung und Erweiterung der Handelsvereinbarungen oder die Tagungen der gemischten Kommission für Fragen der wirtschaftlichen, industriellen und technischen Kooperation wurden rasch zur Routine; die Intensivierung der Presse-und Fernsehberichterstattung aus Polen sowie Reiseerleichterungen für Gruppen und Einzelpersonen dienten der verbesserten Wahrnehmung Polens in der Bundesrepublik Deutschland. Bei dem vom 8. — 12. Juni 1976 dauernden Besuch des Ersten Sekretärs der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PVAP), Edward Gierek, konnte in einer gemeinsamen Erklärung auf die erreichten Fortschritte im Normalisierungsprozeß zwischen den beiden Staaten verwiesen werden; unter den ausgefertigten Verträgen besaßen ein Wirtschaftsabkommen mit fünfjähriger Laufzeit, das Kulturabkommen sowie die Vereinbarung über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit besonders großes Gewicht. Die Reise Bundeskanzler Schmidts vom 21. — 25. November 1977 nach Polen machte deutlich, daß beide Seiten dem Ausbau der bilateralen Kontakte im Interesse einer Beschleunigung des Aussöhnungsprozesses einen hohen Stellenwert beimaßen und sie konstruktiv vertiefen wollten.
Für die polnische Außenpolitik nahm die Bundesrepublik Deutschland aber als eine der großen Wirtschaftsmächte und wegen des auf ihrem Gebiet konzentrierten Militärpotentials einen herausgehobeneren Rang ein als Polen im westdeutschen politischen Kalkül. Warschau reagierte deshalb mit großer Empfindlichkeit, ja gereiztem Mißtrauen auf jede noch so vage Infragestellung des politischen und territorialen Status quo in Europa und speziell des Verlaufs der polnischen Westgrenze an Oder und Lausitzer Neiße; besonders heftig wurde gegen die „antipolnischen Aktivitäten“ der Landsmannschaften und die angeblich dem Geist des War-schauer Vertrags zuwiderlaufende bundesdeutsche Verwaltungs-und Gerichtspraxis polemisiert. Bonn dagegen räumte, ohne die wichtige Position Polens im Kreis der osteuropäischen Volksdemokratien aus dem Auge zu verlieren, zur Enttäuschung der polnischen Öffentlichkeit der westeuropäischen Integrationspolitik und der Kontaktpflege zu den NATO-Partnern Priorität ein. Ein weiterer Polen-aufenthalt Kanzler Schmidts am 17. /18. August 1979 konnte diese Interessendivergenz nicht beseitigen. Obgleich aus eigener historischer Erfahrung viele Polen die Teilung Deutschlands als unnatürlich empfanden, hat die traumatische Furcht vor einer deutschen Wiedervereinigung und den möglichen Rückwirkungen auf die polnische Westgrenze die politischen Entscheidungsträger in Warschau veranlaßt, den Ausbau der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten mit gespannter Aufmerksamkeit zu verfolgen und alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um das internationale Gewicht der DDR zu stärken und den deutsch-deutschen Gegensatz zu erhalten
Die dramatische Entwicklung, die seit Sommer 1980 über Polen hinwegfegte und mit der Ausrufung des Kriegerischen Zustands am 13. Dezember 1981 erst einmal gewaltsam unterbunden wurde, fand das lebhafte Interesse der bundesdeutschen Öffentlichkeit, während das offizielle Bonn Mühe hatte, den unerwarteten und in seinen politischen Konsequenzen schwer einzuschätzenden Reformprozeß zu würdigen. Der erstmals im Oktober 1980 erhobene Vorwurf einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens verringerte die Bereitschaft der Bundesregierung, den bei einem Besuch Außenminister Genschers am 19. /20. März 1981 in Warschau vorgetragenen Wünschen nach weiteren Krediten und einem Entgegenkommen bei der Umschuldung der fälligen Zins-und Tilgungsraten großzügig zu entsprechen. Der Niedergang der Wirtschaft, die wachsenden Versorgungsengpässe und die offenkundige Not der Bevölkerung in Polen führten jedoch früh zur Einleitung humanitärer Hilfsmaßnahmen; allein im Jahresverlauf 1982 schickten die Bundesbürger, unterstützt von caritativen und privaten Organisationen, über zwei Millionen Lebensmittel-und Kleiderpakete nach Polen. Trotz der Kritik an der Aussetzung der Grundrechte und der Zurückweisung der „Einmischungs“ -Anschuldigung riß der Gesprächsfaden nicht völlig ab. Bereits vom 19. — 22. Februar 1982 hielt sich der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner, in Warschau auf; informelle Kanäle wurden genutzt, um die Lage der internierten Solidarno-Aktivisten zu erleichtern sowie die baldige Rückkehr zu verfassungsgemäßen Zuständen anzumahnen. Doch eine Verschlechterung der bilateralen Beziehungen als Folge des Bonner Regierungswechsels im Oktober 1982 und der wiederbelebten Diskussion um die Bindewirkung des War-schauer Vertrags blieb nicht aus. Äußerungen von Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann über den Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 veranlaßten im Februar 1983 Außenminister Olszowski zu einem scharfen Protest. worauf nach mehrjähriger Pause die polnische Presse den Vorwurf vom „Revanchismus“ und „Revisionismus“ in der Bundesrepublik Deutschland erneuerte. Die mehrfach vorgetragenen Bitten der Bonner Regierung, die Rechte der auf etwa eine Million Menschen geschätzten deutschen Minderheit zu achten, wurden in den Medien und vom katholischen Episkopat in verletzenden Artikeln, die im Pangermanismus-Vorwurf gipfelten, zurückgewiesen. Als Außenminister Genscher seine für den 21. November 1984 geplante Warschau-Reise absagte, nachdem der Visumsantrag eines deutschen Journalisten abgelehnt und ihm die Niederlegung eines Kranzes am Grab eines deutschen Soldaten verweigert worden war, erreichten die deutsch-polnischen Beziehungen einen neuen Tief-punkt.
Beiden Regierungen konnte jedoch nicht an einer Ausweitung dieser Verstimmung gelegen sein, zumal Warschau nur mit aktiver Unterstützung der Bundesregierung hoffen durfte, durch neue Kredit-rahmenbedingungen und eine Umschuldung ihre drückenden Auslandsverbindlichkeiten in Höhe von 39 Milliarden US-Dollar zu reduzieren und die darniederliegende Volkswirtschaft anzukurbeln. Den Brückenschlag erleichterten die verständnisvollen Worte, die der damalige Ministerpräsident und Parteichef Jaruzelski über das den deutschen Vertriebenen zugefügte „menschliche Leid“ im Rahmen einer Breslauer Großveranstaltung zum „ 40. Jahrestag der Rückkehr der West-und Nord-gebiete zum Mutterland“ am 7. Mai 1985 fand und nicht zuletzt die in Polen mit dankbarem Respekt aufgenommene Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai
Die Bereitschaft beider Seiten, die historische und moralische Dimension in den deutsch-polnischen Beziehungen und für die Zusammenarbeit in Europa anzuerkennen, ist mit den gerade auch von der innerpolnischen Entwicklung beeinflußten Veränderungen im östlichen Mitteleuropa ständig gewachsen. Irritationen blieben freilich nicht aus, weil fehlendes Einfühlungsvermögen in die Psyche des anderen Volkes, mit Drohgebärden verbundenes Beschwören von Rechtspositionen und ein Verlust an politischer Realitätsbezogenheit und Behutsamkeit alte Vorbehalte und Ängste weckten, trotzdem weitere Aussöhnungsschritte aber nicht dauerhaft zu unterbinden vermochten. In Polen konnte kein Verständnis für die innerdeutsche Kontroverse um die geplante Reise des Bundespräsidenten nach Danzig aus Anlaß des 50. Jahrestags des Kriegsausbruchs aufgebracht werden; auch wurde mit zunehmender Verbitterung die Weigerung der Bundesregierung registriert, den im Zweiten Weltkrieg zwangsverpflichteten polnischen „Ostarbeitern" eine individuelle Entschädigung zu gewähren. Die kleinlichen Schikanen gegen die deutsche Minderheit oder das lange Zögern, die Gründung eines deutsch-polnischen Jugendwerks zuzulassen und die Einrichtung eines bundesdeutschen Kulturinstituts zu erlauben, trugen in der Bundesrepublik zur Reaktivierung schlummernder antipolnischer Vorurteile bei. Die in der Resolution des Deutschen Bundestags vom 8. November 1989 erneut ausgesprochene Grenzgarantie, die während des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl vom 9. — 14. November unterzeichneten Vereinbarungen und vor allem der aus diesem Anlaß beschworene „feste Wille“ beider Regierungen, von jetzt ab die „endgültige Aussöhnung“ der Nachbarvölker herbeizuführen, läßt immerhin erwarten, daß nach der „Normalisierung“ hoffentlich bald auch vertrauensvolle und freundschaftliche „Normalität“ die deutsch-polnischen Beziehungen auszeichnen wird.
VI. Multiplikatoren einer Versöhnungspolitik
Die Schaffung eines tragfähigen Fundaments für die überfällige Verständigung wurde — anknüpfend an die schon Mitte der fünfziger Jahre eingeleiteten Initiativen — nach der Unterzeichnung des War-schauer Vertrags von gesellschaftlichen Gruppierungen, Parteien, Stiftungen und Institutionen angegangen die zwar nicht im Auftrag ihrer Regierungen handelten, aber meist mit wohlwollender Unterstützung und oft mit finanzieller Absicherung staatlicher Stellen rechnen konnten.
Während die Parteien der sozialliberalen Koalition keine Mühe hatten, Kontakte zur PVAP und den im Sejm vertretenen Gruppierungen herzustellen, taten sich CDU/CSU nach 1972 schwer, qualifizierte Gesprächspartner in Polen zu finden. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund nutzte früh die Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit dem Zentral-rat der polnischen Gewerkschaften. Obschon von allen bundesdeutschen Institutionen der im Spätsommer 1980 machtvoll einsetzende Veränderungsprozeß in Polen begrüßt und erste Verbindungen zur Landeskommission von Solidarnosd unter ihrem Vorsitzenden Lech Wasa hergestellt wurden, herrschte nach Ausrufung des Kriegerischen Zustands Ratlosigkeit. Unbeschadet aller Appelle an Regierung und PVAP.den Ausnahmezustand zu beenden, die Internierten freizulassen und das Verbot der Solidarnoäc aufzuheben, bestimmten politischer Kleinmut und eine ängstliche Fixierung auf die Herrschenden die weiteren Polen-Kontakte.
Erst als mit dem „Runden Tisch“ von Februar-April 1989 die Krise der kommunistischen Staats-und Parteiführung nicht mehr zu verschleiern war und die Parlamentswahlen vom 4. /18. Juni die Schwäche der PVAP und den breiten Rückhalt des von Solidarnosd-Aktivisten getragenen „Bürgerkomitees“ in der Bevölkerung dokumentierten, fielen die Berührungsängste. Die positive Resonanz auf die Wahl von Tadeusz Mazowiecki am 24. August zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten und der mit allen protokollarischen Ehren abgewickelte Besuch Wasas in der ersten Septemberwoche 1989 in der Bundesrepublik unterstrichen die Korrektur früherer Fehleinschätzungen; generell ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der jetzt in der Regierungsverantwortung stehenden einstigen Opposition gewachsen. „Als Barometer des aktuellen Standes der bilateralen Verhältnisse“ dienten die 1976 vereinbarten Foren Bundesrepublik Deutschland — Volksrepublik Polen, die bisher fünfmal (Bonn 1977, Allen-stein 1978, Darmstadt 1980, Krakau 1985, Kiel 1987) zusammentraten, weil auf ihnen nicht nur die tagespolitischen Sorgen, Klagen und Erwartungen vorgetragen und Normalisierungshindernisse abgebaut werden konnten, sondern weil auch die deutsch-polnischen Beziehungen im gesamteuropäischen Kontext zur Sprache kamen. Die deutsche Frage und die wirtschaftlichen Implikationen der westeuropäischen Integration, zuletzt aber auch die Rolle der beiden Nachbarn im visionären „gemeinsamen europäischen Haus“ standen im Mittelpunkt der zunehmend zukunftsorientierten Überlegungen. Der direkten Begegnung und dem besseren Kenneniemen ihrer Bürger dienen dagegen die Städtepartnerschaften, deren erste am 12. April 1976 zwischen Bremen und Danzig vereinbart wurde. Inzwischen haben u. a. auch Hannover und Posen. Nürnberg und Krakau sowie Wiesbaden und Breslau eine Zusammenarbeit verabredet, gegen die der BdV aber wegen der konsequenten Nennung der polnischen Städtenamen heftig polemisierte.
Nachdem der Vatikan am 28. Juni 1972 mit der Errichtung neuer Bistümer in den ehemaligen deutschen Ostgebieten einer seit 1945 vehement vorgetragenen Forderung der Warschauer Regierung entsprochen hatte, konnte eigentlich mit einer unproblematischen Intensivierung der kirchlichen Kontakte gerechnet werden. Die Reisen der Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, der Kardinale Döpfner und Höffner, 1973 und 1977 nach Polen wurden im September 1978 mit einem Gegenbesuch des Kardinal-Primas Wyszynski und des Krakauer Kardinals Wojtyla beantwortet, ohne daß es hier oder bei einem weiteren Polenaufenthalt deutscher Bischöfe im September 1980 zu einer Vertiefung des im November/Dezember 1965 begonnenen Versöhnungsdialogs kam. Mißverständliche, angeblich „dem polnischen Nationalismus huldigende“ Äußerungen Papst Johannes Pauls II. bei seinem zweiten Heimatbesuch am 21. Juni 1983 in Breslau und auf dem schlesischen Annaberg lösten sogar Proteste des BdV aus. Auf Unverständnis stieß bei westdeutschen Katholiken die Feststellung Kardinal Glemps in seiner Predigt vom 15. August 1984 im Marienheiligtum Tschenstochau, in Polen gebe es keine deutsche Minderheit und daher auch keine Notwendigkeit für die Abhaltung deutscher oder zweisprachiger Gottesdienste. Diese bis heute vom polnischen Episkopat nicht revidierte Auffassung hat die Beziehungen der Amtskirchen beeinträchtigt und dem Gedankenaustausch zwischen den wesentlich fortschrittlicheren Laienorganisationen (u. a. Pax Christi, Klub der katholischen Intelligenz) größeres Gewicht zukommen lassen. Die 1968 aufgenommene Mithilfe der Arbeitsgruppen von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste bei der Erhaltung der KZ-Gedenkstätten findet in Polen hohe Anerkennung, weil jungen Christen die grauenvolle Vergangenheit nahegebracht und ihre Bereitschaft geweckt wird, weiterhin am Versöhnungswerk mitzuwirken.
Die Mitglieder der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, darunter viele Lehrer, Journalisten, Pfarrer und Professoren, bemühten sich vor allem während der Ratifikationsdebatte der Ostverträge im Bundestag, die weitverbreitete Unkenntnis über Polen und die dortigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse abzubauen und seither als Multiplikatoren für die Verständigungspolitik zu dienen. Auch die Historischen Kommissionen für Schlesien, für Posen und für ost-und westpreußische Landesforschung zeigten sich nicht nur an der Bewahrung des deutschen Erbes interessiert, sondern suchten verstärkt den Kontakt mit den polnischen Fachkollegen und die wissenschaftliche Zusammenarbeit.
In den Instituten für osteuropäische Geschichte der westdeutschen Universitäten stand zwar die Vermittlung der russischen Vergangenheit und der sowjetischen Gegenwart im Zentrum der Lehre, aber einzelne Professoren richteten ihre Forschung schwerpunktmäßig auf polnische Themenstellungen aus, auch wenn wegen anfänglicher Engpässe in der Polonistik oft fähiger sprachkundiger Nachwuchs fehlte. Erst die auf der Grundlage des 1976 geschlossenen Kulturabkommens vereinbarten zahlreichen Partnerschaften bundesdeutscher mit polnischen Universitäten haben den zuvor vorwiegend vom Deutschen Akademischen Austausch-dienst, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Alexander von Humboldt-Stiftung betreuten Austausch von Studenten und Wissenschaftlern stark anwachsen lassen und hier zur Einrichtung von Polnischlektoraten, in Polen zur Förderung der Germanistik und des universitären Deutschunterrichts beigetragen. Dem Polonikum an der Universität Mainz, dessen Etablierung allein durch die großzügige Unterstützung der Robert Bosch-Stiftung möglich war, kommt Pilotcharakter zu. Der unermüdlichen Fürsprache des verdienten ÜbersetB zers und Vermittlers der polnischen Literatur in der Bundesrepublik Deutschland. Karl Dedecius, war es zu danken, daß am 11. März 1980 in Darmstadt ein Deutsches Polen-Institut eröffnet werden konnte, das sich vor allem — so durch die Herausgabe einer „Polnischen Bibliothek“ — der Kultur-, Literatur-und Wissensverbreitung annimmt.
Den deutsch-polnischen Normalisierungsprozeß trieb nicht zuletzt die Gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission voran, die zwischen Februar 1972 und April 1976 in zehn schwierigen Verhandlungsrunden mit dem Ziel, eine auf Verständigung und Aussöhnung ausgerichtete Erziehung sicherzustellen, „Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie“ erarbeitete und diese seither auf zwölf weiteren Fachkonferenzen vertiefte. Die dort gehaltenen Referate wurden veröffentlicht und stehen Schulbehörden und Lehrern, Schulbuchautoren und Verlegern als Leitlinien zur Ausgestaltung der Unterrichtsinhalte zur Verfügung Trotz anfänglich heftiger Kritik an den thesenartig knappen Empfehlungen — besonders an den Aussagen zur Zeitgeschichte, mit denen sich mehrfach der Deutsche Bundestag und alle Länderparlamente beschäftigten und die ein breites, höchst kontroverses Presseecho auslösten — haben sich die Arbeitsergebnisse der Expertenkommission, in die bislang 144 polnische und 132 deutsche Wissenschaftler ihren Sachverstand einbrachten, im Schulalltag beider Länder weitgehend durchgesetzt und zum Abbau der tradierten Vorurteile und einer einseitigen, meist nationalzentrischen Interpretation beigetragen.
Ohne die Unterstützung durch Kirchen, Parteien und Verbände, Vereinigungen und Einzelpersonen, die den Dialog über die Grenzen hinweg suchten und hemmende Vorbehalte oft leichter beseitigen konnten, wäre die von den Regierungen beider Länder betriebene, aber nicht immer mit der wünschenswerten Konsequenz verfolgte Verständigungspolitik sicher nicht so positiv gediehen. Obschon 33 Prozent der vom Bielefelder Emnid-Institut im August 1989 befragten Bundesbürger eingestanden, Polen mit Gleichgültigkeit, weitere 18 Prozent mit Mißtrauen und drei Prozent sogar mit Feindseligkeit zu begegnen, sprachen sich doch 65 Prozent für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze aus Gerade die mit der Grenzregelung verbundenen Problemkreise, die angesichts des Friedensvertragsvorbehalts und der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über den Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 in Polen weiterhin mit der gleichen Sorge verfolgt werden wie alle Spekulationen um eine deutsche Wiedervereinigung, könnten sich als Stolpersteine auf dem Weg zur Bewältigung der Vergangenheit und eines nur im Wissen um die historische und moralische Dimension möglichen, längst überfälligen Neuanfangs des Nachbarschaftsverhältnisses erweisen.
In seiner eindrucksvollen Ansprache vom 8. Mai 1985 hat Bundespräsident von Weizsäcker die deutsche Verantwortung für den Angriff auf Polen dargelegt, aber auch Verständnis für alle Betroffenen gefordert, die, wie Millionen Polen und Deutsche, „wehrlose Objekte der politischen Ereignisse wurden und denen keine Aufrechnung von Unrecht und keine Konfrontation von Ansprüchen wiedergutmachen kann, was ihnen angetan worden ist“ 34). Doch erst, wenn der Forderung des Bundespräsidenten Rechnung getragen wird, „den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen“, dürfte eine wesentliche Voraussetzung für das endgültige Gelingen des Normalisierungsprozesses vorliegen.