I. Der Niedergang der polnischen Partei
Von Anfang an befanden sich die polnischen Kommunisten als regierende Partei in einer außerordentlich schwierigen Lage. Vor allem die Legitimität des politischen Systems an sich stand stets in Frage. Denn erstens war dieses System gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung eingeführt worden. Zweitens ließ es sich hier — anders als in der DDR und den ehemaligen Satellitenstaaten des „Dritten Reichs“ — nicht mit der Notwendigkeit von Reeducation oder einfach mit dem Grundsatz von Schuld und Vergeltung rechtfertigen. Drittens widersprach es in eklatanter Weise polnischen Traditionen: vor allem der verbreiteten Abneigung gegen Rußland und russische Vorbilder, der ausgeprägten Geringschätzung fürjede Art von Obrigkeitshörigkeit (gepaart mit beachtlichen Fähigkeiten der Gesellschaft, sich unabhängig von der Staatsmacht bzw. gegen diese zu organisieren), schließlich dem hohen Rang der katholischen Religion und ihres Brauchtums für die polnische Gesellschaft.
Im Sinne einer wie auch immer schwachen und ständig bezweifelten Legitimation des Systems wurde dagegen eine Reihe von Thesen ins Feld geführt, die sich im wesentlichen auf die Behauptung konzentrierten, daß es a) soziale Gerechtigkeit schaffe, b) eine effiziente, raschen Aufschwung ermöglichende Wirtschaftsordnung gewährleiste und schließlich c) den Frieden und die äußere Sicherheit Polens durch den Schutz der Supermacht Sowjetunion und deren Garantien für die polnischen Grenzen sichere
Die erste Behauptung wurde vielfach in Frage gestellt. am nachhaltigsten durch die massenhaften Proteste der Arbeiterschaft — jener sozialen Gruppe also, deren Benachteiligung die kommunistische Ordnung eigentlich hätte beseitigen sollen und die dem Anspruch nach die herrschende Klasse bildete. So wurde der Mythos von einem proletarischen Polen der sozialen Gerechtigkeit schrittweise demontiert durch die Unruhen in Posen 1956, in Danzig und Stettin 1970 sowie in Ursus und Radom 1976. Der entscheidende Einbruch erfolgte jedoch in dem Moment, als die Arbeiter das förmliche Recht erlangten, unabhängig von der Partei eigene Interessenvertretungen, nämlich Gewerkschaften, zu bilden. Das Mandat, „die führende Kraft des Proletariats“ zu sein, mußte die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) jetzt an die „Solidarität“ abtreten. Die so verlorene soziale Legitimation vermochte die Partei auch durch die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 nicht zurückzugewinnen. als sie unter Einsatz von Panzern und Sturmtruppen der Bereitschaftspolizei viele der großen Betriebe und Kohlegruben besetzen ließ.
Die Legitimation durch wirtschaftliche Erfolge hat verschiedene Entwicklungsphasen durchlebt. Hier bestanden angesichts des niedrigen Ausgangsniveaus in der Nachkriegszeit sowie der wachen Erinnerung an die Kriegszerstörungen eigentlich günstige Voraussetzungen. Auch ließ sich selbst mit schwach entwickelter Technologie und übermäßig aufwendiger Bürokratie sowie bei stagnierendem Lebensstandard über etliche Jahre ein extensives Wachstum produzieren. Trotz allem wuchsen gigantische Fabriken und neue Wohnviertel; sogar ganz neue Städte wurden gebaut. Mit Bildern von stahlspeienden Hochöfen, von der Massenförderung kostbarer Bodenschätze und von Stapelläufen neuer Hoch-seeschiffe vermochte die Propaganda zu suggerieren. daß Polen auf dem Weg zu einer Wirtschaftsmacht war. Am Anfang der Gierek-Ära. in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, gelang es schließlich dank westlicher Kredite, jenes extensive Wachstum mit einer spürbaren Steigerung des Lebensstandards zu verbinden. Gierek schuf ein „anderes Polen“, und für etliche Jahre konnte das kommunistische Regime sich durch seine Erfolge rechtfertigen. Um so herber war die Enttäuschung. Einerseits geriet der Giereksche Aufschwung aufgrund überhöhter Auslandsverschuldung, geringer Produktivität und mangelnder Konkurrenzfähigkeit der polnischen Wirtschaft sowie der in kommunistischen Systemen typischen Inflation ins Stocken: Versorgungslücken, Schwarzmarktspekulation und wirtschaftliche Zerrüttung waren die Folge, Andererseits trug die relativ großzügige Öffnung der Grenzen für private Auslandsreisen dazu bei, daß sich die Menschen der Ineffizienz des kommunistischen Wirtschaftssystems als Ursache der Krise bewußt wurden.
An die Verhängung des Kriegsrechts wurden dann Versprechungen geknüpft, die Wirtschaft durch grundlegende Reformen zu sanieren. Doch ließ sich auf wirtschaftlicher Ebene keinerlei Legitimation mehr zurückgewinnen. Rasch erwies sich, daß eine wirkliche Wirtschaftsreform unter Beibehaltung des kommunistischen Systems nicht möglich war. Denn „das Regime befürwortet zwar eine wie auch immer geartete Reform unter seiner strikten Kontrolle, ist aber zugleich entschlossen, jegliche strukturelle, vor allem gesellschaftliche Konsequenzen, die sich daraus ergeben müßten, auszuschließen“
Als das beständigste Legitimationsmotiv erwies sich das geopolitische Argument. Immer wieder berief sich die Partei in Konfliktsituationen darauf, und weite Kreise der Gesellschaft waren dafür auch ansprechbar. Nach der geopolitischen These kam den Kommunisten in Polen die Rolle eines unverzichtbaren Puffers zu. Vorhandene Freiheitsräume mochten erkundet und genutzt werden, ohne daß jedoch außenpolitisch die Bindung an den von Moskau gesteuerten Block, innenpolitisch die Grundstrukturen des „real existierenden Sozialismus“ in Frage gestellt werden durften. Dieses geopolitische Argument war das einzige Legitimationsmotiv, das auch von der seit Mitte der siebziger Jahre sich formierenden Opposition bzw. von der legalen wie der illegalen „Solidarität“ respektiert wurde
So ist auch kaum zu überschätzen, welche Bedeutung die sowjetische Perestrojka für den endgültigen Legitimationsverlust des kommunistischen Systems in Polen gehabt hat. Zwar waren die Signale, die von ihr ausgingen, nicht eindeutig. Doch sie ließen kontinuierlich die Überzeugung wachsen, daß der Handlungsspielraum für die Innenpolitik der Blockstaaten beträchtlich gewachsen war. Dies wirkte sich in zweifacher Hinsicht aus. Einerseits wurde den polnischen Kommunisten bewußt, daß Moskau ihren Herrschaftsanspruch nicht verteidigen würde, wenn dieser innenpolitisch in Frage gestellt war. Andererseits erhielt die polnische Opposition, also vor allem die „Solidarität“, nun die Chance, aus dem historischen Teufelskreis auszubrechen, der im Dezember 1981 noch einmal wirksam geworden war.
Der letzte PVAP-Chef Mieczyslaw Rakowski sagte auf dem Auflösungsparteitag am 27. Januar 1990: „Die Breschnew-Doktrin hing wie ein Beil über der polnischen Partei und ihren Führungskadern. Sie übte politische und psychologische Wirkungen aus. Beide Momente kamen über viele Jahre in der stereotyp hergebeteten Frage zum Ausdruck: Und was werden die sowjetischen Genossen dazu sagen?“ In Wahrheit bildete diese Frage für die polnischen Kommunisten nicht nur eine Einschränkung ihres Handlungsspielraums, sondern in gleichem Maße auch eine Rechtfertigung.
Der Wegfall dieses letzten Widerstands bahnte den Weg zum Zusammenbruch des Systems. Wiederholt hatten die Soziologen bereits im Verlauf der achtziger Jahre konstantiert, daß das kommunistische System nur noch eine äußerst geringe Akzeptanz in der Bevölkerung hatte. Auf die Frage: „Würden Sie wünschen, daß die Welt sich der Form des Sozialismus annähert, die in Polen existiert?“ antworteten 1983 und 1984 von verschiedenen sozialen Gruppen nur 4 bis 20, 5 % mehr oder weniger zustimmend. Bei Umfragen im Jahre 1986 sprachen sich selbst 28 % der Parteimitglieder für eine Beschränkung der Macht der Partei aus
Zum Verfall der kommunistischen Partei trug aber auch ihre innere Demoralisierung bei, wenngleich diese ihrerseits Ausdruck des schwindenden Gleichgewichts und des Legitimationsverlusts war. Es kam einem öffentlichen Eingeständnis von Korruption und anderer Demoralisierungserscheinungen in ungeheurem Ausmaß gleich, wenn die Parteiführung sich beharrlich bemühte, die Verantwortung dafür von sich zu weisen Rakowski schrieb 1985 in einem in Buchform erschienenen Interview über die achtziger Jahre: „Sie haben gesagt, daß ich den Leuten in der staatlichen Führung nahestand, und ich füge hinzu: auch denen in der Parteiführung, ich sei also relativ gut informiert gewesen, was wohl bedeute, daß ich von der Korruption, dem Neureichtum und den Machtmißbräuchen um persönlicher Interessen willen wissen müßte. Richtig ist, daß ich der Staatsführung nahestand . . . Aber mußte ich wirklich von allen diesen Übeln, die Sie genannt haben, wissen? Warum hätte ich wohl davonwissen sollen?“ Wenn man bedenkt, daß der Verfasser in jenen Jahren Chefredakteur des bestinformierten Wochenblatts in Polen „Polityka“ und zugleich Mitglied des Zentralkomitees der PVAP war, klingt diese Aussage wenig überzeugend.
Wichtig ist, daß die Demoralisierung die Partei nicht nur zusätzlich kompromittierte, sondern ihr zugleich auch den Kampfgeist nahm. In den achtziger Jahren war es bereits ein normaler Vorgang, daß Leute aus dem Parteiapparat in die Privatwirtschaft überwechselten, noch häufiger aber daß versucht wurde, Partei-oder Staatsämter mit Tätigkeiten in Genossenschaften verschiedenster Art zu verbinden. Es ist dieser Vorgang, der gemeinhin mit dem Begriff „Besitzzuweisung an die Nomenklatur“ bezeichnet wird.
Die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 erwies sich angesichts der inneren Verfassung der Partei als eine Sackgasse. Ein deutscher Kenner bemerkte dazu richtig: „Die PVAP hatte ihre Glaubwürdigkeit fast völlig verloren, befand sich in einem desolaten Zustand und verlor 1980 bis 1983 fast ein Drittel ihrer Mitglieder.“ Entsprechend erklärte 1987 einer der führenden Berater der „Solidarität“, heute Präsident des Senats, daß „die herrschende Partei zur Interessenvertretung der Schicht der Parteifunktionäre und Staatsbeamten geworden war ... Es formierte sich eipe relativ zahlreiche, im wesentlichen konservative Kern-gruppe, die in einem Interessengegensatz stand zur passiven Masse des Parteivolks.“
Das Grundproblem der Partei in den Jahren 1982 bis 1988 bestand darin, daß die Führung — Jaruzelski, Rakowski, Czyrek, Kiszczak oder auch Ciosek — zwar erkannt hatte, daß nur tiefgreifende Reformen das Land aus der Krise führen konnten, doch fehlten ihr dazu die Möglichkeiten. Dies galt auch noch in den Jahren, als aufgrund der Veränderungen in der Sowjetunion die außenpolitischen Hindernisse für den Reformprozeß bereits gefallen waren. Denn dieser Prozeß hätte zwangsläufig mit den Interessen der bewußten „Kerngruppe“ in der Partei kollidiert, und er hätte zugleich für einen gewissen Zeitraum erhebliche Opfer von Seiten der Bevölkerung verlangt. Eine unglaubwürdige Partei, die eine unglaubwürdige Regierung trug, hätte bei einem derartigen Unternehmen nicht die geringsten Erfolgschancen gehabt.
II. Die „Solidarität“: Gewerkschaft — politische Bewegung — Mythos
Die entscheidende Rolle bei dem Umgestaltungsprozeß in Polen spielte die „Solidarität“. Im Blick aufdie Vorgänge des letzten Jahres wird man indessen manche Ansichten in bezug auf ihre vorangegangene Entwicklung revidieren müssen. Was früher als das Wesentliche erschienen sein mag, erweist sich heute vielfach als nebensächlich und lediglich situationsbedingt.
Im August 1980 war die „Solidarität“ vor allem eine Gewerkschaft. Solange der kommunistische Staatsapparat noch über eine funktionierende Organisation und vor allem über physische Machtmittel verfügte, waren allenfalls die Belegschaften der Großbetriebe in der Lage, sich diesem wirksam zu wider-setzen. Hier war es leicht, sich zu organisieren, und eine organisierte Belegschaft von mehreren Tausend flößte auch der Gegenseite Respekt ein.
Es zeichnete sich eine Alternative zur kommunistischen Variante des Mythos von der fortschrittlichen Rolle der Arbeiterklasse und deren führender Gruppen in der Großindustrie ab. Die in der „Solidarität“ aktiven Angehörigen des technischen Aufsichtspersonals und der Betriebsleitungen gaben sich nicht selten selbst als Proletarier. Manche Gewerkschafter eigneten sich einen schlesischen Dialekt an oder auch den Vorstadtslang, den man für ein typisches Klassenmerkmal halten mochte. Den Intellektuellen fiel die Rolle der Berater zu, die in Wahrheit großen Einfluß hatten, aber formal über keinerlei Entscheidungskompetenz verfügten. Die Organisationsform der „Solidarität“ ist durch sehr verschiedene Faktoren geprägt worden. Maßgeblich war jedoch, daß sie legal allein in der Form einer Gewerkschaft bestehen konnte, wenngleich auch dieser Status mühsam erkämpft werden mußte. Millionen von Leuten, die der „Solidarität“ beitraten, hielten eine offene politische Betätigung nicht einmal für denkbar. Die kommunistische Propaganda (und mehr noch: die Polizei) hämmerte ihnen ein. daß jede nicht legalisierte, also nicht der kommunistischen Partei untergeordnete politische Aktion als Verbrechen zu gelten habe.
Das kommunistische System ist totalitär. Es ordnet das wirtschaftliche und soziale Leben der Politik unter. Der apolitische Charakter der „Solidarität“ als Gewerkschaft war daher von Anfang an eine Fiktion. Die Formel von der gewerkschaftlichen Rolle war Ausdruck des ständig unterstrichenen Prinzips der „Selbstbeschränkung“ (das auch Kurorts Formel von der „sich selbst beschränkenden Revolution“ einschloß), doch war die Politisierung der „Solidarität“ dadurch nicht aufzuhalten Mehr noch, von Anfang an stellte sich für die „Solidarität“ die Kardinalfrage, welche Aufgaben einer Gewerkschaft in einem totalitären System zufallen. Wenn der Staat gleichermaßen über die Betriebe, die Massenmedien, die Gerichte, das Bildungswesen und — natürlich — über den Verwaltungsapparat einschließlich Polizei und Armee verfügt, dann steht der Arbeitnehmer im Konflikt mit dem Arbeitergeber direkt einer hundertköpfigen Hydra gegenüber. Der Staat wird von einer allgegenwärtigen Partei gesteuert, aber auch eine Gewerkschaft, die sich von dieser Partei zu lösen versucht, gerät in den Zwang, ihrerseits praktisch in allen Lebensbereichen Präsenz zu zeigen. Sie wird automatisch zu einer Art Anti-Partei und politisiert sich damit zwangsläufig
Indem die „Solidarität“ einem Eingeständnis dieser Politisierung auswich, um den Drohungen der Gegenseite sowie den Ängsten der eigenen Mitglieder „gesellschaftliche Bewegung“. Damit war nur angedeutet, daß die „Solidarität“ nicht zu einem Kampf um die Macht oder auch nur um Regierungsbeteiligung antrat Hingegen schloß die Formel nicht aus, daß die Gewerkschaft mit verschiedenen Druckmitteln, vor allem durch Streiks, das kommunistische Machtmonopol in allen Lebensbereichen außer der Staatsverwaltung, der Armee und der Polizei aufzubrechen versuchen würde.
Und noch eine weitere Selbstbeschränkung der „Solidarität“ war von Bedeutung: Im Einklang mit der Doktrin des kommunistischen Systems und mit Rücksicht auf mentale Barrieren bei der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder stellte sie das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln als Grundlage des polnischen Wirtschaftssystems nicht in Frage. Vielmehr kritisierte sie lediglich die ideologische Verdrehung des Grundsatzes und forderte statt dessen, daß auf die verbale Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch Entbürokratisierung und Mitbestimmung endlich die reale Vergesellschaftung folgen müsse. Dies erklärt, warum die Programme zur Schaffung eines Mitbestimmungsmodells in der legalen Phase der „Solidarität“ von 1980/81 einen derart breiten Raum in den Diskussionen eingenommen haben
Der Zwang der Umstände sowie der Bewußtseinsstand ihrer Mitgliedermehrheit machten die „Solidarität“ von 1980/81 minimalistisch. Rasch begann die Gewerkschaft nach einem Motto für ihr Programm der Selbstbeschränkung zu suchen. Sie fand es mit der Konzeption des „selbstverwalteten Polen“. Der Weg zur Befreiung von der Herrschaft der bürokratischen Nomenklatur sollte nicht über den Frontalangriff auf das System führen, sondern über die Schaffung verschiedenster Bereiche von Selbstverwaltung — lokaler und regionaler, berufsständischer, zunächst aber vor allem gewerkschaftlicher. Um der Selbstbeschränkung den Rang eines politisch-moralischen Imperativs zu geben, sollte es dabei zugleich darum gehen, die Arbeit aufzuwer-ten und mit Sinn zu erfüllen, also aus bloßen Brotessern selbstverwaltete Engel zu machen.
Die Verhängung des Kriegsrechts hat sowohl die Organisationsstruktur als auch den Bewußtseinsstand in der „Solidarität“ tiefgreifend verändert. Unter den Bedingungen der Illegalität hörte sie auf, eine Gewerkschaft zu sein und nahm primär den Charakter einer konspirativen politischen Organisation an. Dies hatte mehrere Gründe. Der wichtigste war die offenkundige Tatsache, daß gewerkschaftliche Arbeit aus dem Untergrund und in ständiger Bedrohung durch Repressionen nicht geleistet werden kann. Die „Solidarität“ wurde nun zu einer elitären Organisation, obwohl weiterhin Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende für sie tätig waren. Doch waren Millionen von Mitgliedern für die Gewerkschaft verlorengegangen, selbst wenn sie ihr in Sympathie verbunden blieben und ihre Symbole zur Schau stellten. Die verbleibende Elite hatte zweifellos keine Vorbehalte gegen politische Betätigung als illegale Aktivität, da ja auch die unabhängige gewerkschaftliche Arbeit kriminalisiert worden war.
Bezeichnend ist, wie stark sich seit der Verhängung des Kriegsrechts die Sprache der Kommentare und Programme der „Solidarität“ veränderte, d. h. politisierte. Ein ansonsten eher nüchtern berichtender englischer Journalist schrieb dazu: „Though Solidarity’s cells fade away even in the industrial strongholds, though the Solidarity badges, the photos and the tapes are pushed to the back of the bottomost drawer, the dramas. the ideals and the political methods of the Polish revolution will live on, in this most tenacious of national memories, as myth — and as precedent. This simple Statement , They will not forget'is a Statement of the first political importance.“ Entsprechend gebrauchte Jacek Kurori in seiner ersten Stellungnahme nach Verhängung des Kriegsrechts, einem Brief aus dem Gefängnis, die Begriffe „Solidarität“ und „Widerstandsbewegung“ geradezu synonym
Aus dem Untergrund wurde jetzt Kritik an der kommunistischen Herrschaft auf allen Gebieten laut. Besonders charakteristisch war dafür die schrittweise Formulierung des neuen wirtschaftlichen Programms, das immer weiter von sozialistischen Vorstellungen und in der Konsequenz auch immer weiter von dem zuvor so einmütig verfochtenen Konzept der Arbeiterselbstverwaltung abrückte. Die Überzeugung setzte sich durch, daß die Schaffung marktwirtschaftlicher Bedingungen, und zwar in einem mehr oder weniger strikt liberalen Sinne, den einzigen rationalen Ausweg darstellte. Der Schlüssel zur Wirtschaftsreform war nicht mehr die Arbeiterselbstverwaltung, sondern die Privatisierung. Wenn die politische Kritik der „Solidarität“ sie mit den Kommunisten in Konflikt brachte, so stieß die wirtschaftliche Kritik bei der Gegenseite in paradoxer Weise auf Resonanz. Die enttäuschten und demoralisierten Kommunisten waren gerne bereit, die Staatswirtschaft mit vollen Händen zugunsten der Privatwirtschaft umzuverteilen. Denn nach ihren Vorstellungen sollte die geplante Wirtschaftsreform vor allem in der „Besitzzuweisung an die Nomenklatur“ bestehen.
In der Situation von 1988 war nicht etwa die „Solidarität“ besonders stark, sondern das kommunistische System besonders schwach, oder besser: in der Agonie. Die Streiks in den großen Industriebetrieben erinnerten nur vordergründig an den August 1980. Denn die Streikbewegung hatte in Wahrheit nur eine brüchige Basis. Das unmittelbare Interesse an Lohnerhöhungen war ein wesentlich stärkeres Motiv als das Interesse an einer Wiederzulassung der „Solidarität“; nur wenige wollten den Arbeitskampf in ihren Betrieben als Besetzungsstreik führen, und von diesen hätten wiederum etliche vorgezogen, den Kampf auf der Straße auszufechten.
Dennoch siegte die „Solidarität“ bei den Streiks von 1988, weil die noch immer herrschende kommunistische Partei sich selbst nicht mehr zutraute, das Land aus der Krise zu führen. Die kommunistischen Führer wurden von alptraumhaften Zukunftsvisionen heimgesucht: spontane Aufstände, brennende Parteikomitees. Lynchjustiz, im besten Fall der völlige wirtschaftliche Zusammenbruch, wie ihn Tadeusz Konwicki in seinem Roman „Die kleine Apokalypse“ prophezeit hatte. Die Ereignisse von 1988 zeigten, daß es den Kommunisten aus eigener Kraft weder gelingen konnte, die „Besitzzuweisung an die Nomenklatur“ erfolgreich voranzubringen, noch einen anderen Ausweg aus der Katastrophe zu finden. Schon früher hatte die „Solidarität“ gesagt, daß die wirtschaftliche Reform ohne eine politische nicht gelingen würde. Jetzt glaubten auch die Kommunisten daran, und in dem von der „Solidarität“ angebotenen Krisenpakt sahen sie die einzige Chance, sich am Ruder zu halten.
III. Der „Runde Tisch“
Die Gespräche am sog. Runden Tisch zwischen Vertretern der Kommunisten und ihrer Bündnis-parteien auf der einen Seite und den Sprechern der „Solidarität“ und der ihr nahestehenden Oppositionsgruppen auf der anderen Seite stellen sich dem politischen Analytiker als ein geradezu klassisches Szenario gegenseitiger Fehleinschätzungen dar. Denn selten trifft man eine Situation an, in der sich bei einem Konflikt beide Parteien gleichermaßen von derart weitgehenden Fehlbeurteilungen der Lage leiten lassen. Es ist inzwischen schon ein Gemeinplatz, daß in diesem Fall jede Seite gerade diejenigen Fragen bei den Verhandlungen in den Mittelpunkt stellte, welche sich dann gerade als ihre spezifischen Schwachpunkte erweisen sollten.
Der „Solidarität“ ging es um die Wiederzulassung der Gewerkschaft. Das war nur zu verständlich, da sie nur aufdiesem Wege ihre Identität in den Augen von Millionen Polen wiedererlangen konnte — und zwar in den Augen ihrer Anhänger ebenso wie der indifferenten Masse und sogar der Gegner. Bereits in einem Interview, das den Annäherungsprozeß in der Vorbereitung des Runden Tischs einleitete, hatte Bronislaw Geremek sich über die Chancen eines Krisenpakts geäußert und u. a. festgestellt, daß er „dem Gewerkschaftspluralismus das größte Gewicht beimesse“ Nicht in Frage stellen wollte Geremek dagegen die zwar problematische, aber vermeintlich unaufhebbare Formel von der „führenden Rolle der PVAP, die auch ein gewisses Ausmaß von Machtmonopol impliziert“. Fast ein Jahr später, unmittelbar vor den Verhandlungen am Runden Tisch, erklärte in ähnlicher Weise auch Lech Waea die Wiederzulassung der „Solidarität“ zur Schlüsselfrage
Der Irrtum der „Solidarität“ bestand nicht darin, daß sie auf die Wiederzulassung der Gewerkschaft bedacht war, sondern daß sie das Gewicht dieser Frage überschätzte. Sie war bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen, nämlich der kommunistischen Regierung (zumindest für eine Übergangszeit) neue Legitimität zu verschaffen und die Verantwortung für eine von den Kommunisten gesteuerte Wirtschaftsreform mit zu übernehmen. Was die „Solidarität“ in dieser Lage retten sollte, war die Tatsache, daß gerade die Vereinbarung, die sowohl von der Gewerkschaft als auch von den Kommunisten als Teil des zu entrichtenden Preises betrachtet wurde. nämlich die Vereinbarung über die Beteiligung an den Parlamentswahlen, ihr letztlich einen ungleich größeren Sieg einbrachte als die erneute Legalisierung der Gewerkschaftsorganisation.
Den Kommunisten ging es darum, die „Solidarität“ vermittels der Wahlen in ihr seit 1945 bestehendes Herrschaftssystem einzubinden — um den Preis, die Gewerkschaft zu legalisieren. Dabei verstanden im Grunde beide Seiten nicht, worauf die Stärke der alten „Solidarität“ von 1980/81 beruht hatte: nämlich darauf, daß sie eine „gesellschaftliche Bewegung“ gewesen war. Wenn sie sich damals vor allem als Gewerkschaftsbewegung dargestellt hatte, so doch nur, weil ihr der Weg zur förmlichen Umwandlung in eine politische Bewegung verstellt gewesen war. Entsprechend war es logisch, daß sich die „Solidarität“ in dem Moment, wo man das von ihr verlangte, was man ihr sieben Jahre zuvor verboten hatte, sofort in eine primär politische Bewegung verwandeln mußte. Sie erlangte ihre Macht zurück, indem sie sich legal, d. h. ungefährdet dem kommunistischen System entgegenstellen konnte. Und sie konnte diese Macht jetzt in allen Bereichen zur Geltung bringen, und nicht mehr nur auf dem künstlich abgegrenzten Gebiet der Gewerkschaftsarbeit. Die „Partei-und Regierungskoalition“ war sich während der Verhandlungen am Runden Tisch nicht bewußt, wie stark die „Solidarität“ tatsächlich war und worauf diese Stärke beruhte. Aber ebensowenig erkannte sie, wie weitgehend das Fundament des kommunistischen Regimes nach so vielen Krisenjahren erschüttert war. Bezeichnend waren dafür Tonlage und Aussage einer Ansprache, die der höchste Repräsentant des kommunistischen Regimes bei den Verhandlungen. Innenminister Czeslaw Kiszczak, gehalten hat. Der Minister sagte: „Was die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei angeht, so hat sie aufrichtig Rechenschaft abgelegt, und zwar für die zurückliegenden vierJahrzehnte.“ Er forderte nun Garantien für die „Unantastbarkeit der sozialistischen Grundlagen der Staatsverfassung“ sowie die „Anerkennung des Grundsatzes gemeinsamerVerantwortlichkeit für die Reformen, auch wo es . gegen den Strom'gewisser Stimmungen geht“. Gleichzeitig versprach er die Wiederzulassung der Gewerkschaft, machte sich dabei aber auch zum Anwalt bestimmter Befürchtungen, die angeblich von Leuten innerhalb wie außerhalb der Partei gehegt wurden, „Diese wollen und müssen Gewißheit haben, daß die . Solidarität', die jetzt wiedererstehen soll, nicht wieder in die alten Gleise gerät und den sozialen Frieden nicht in Frage stellen wird, daß Polen nicht wieder in Konflikte und in Anarchie verfällt.“
Der Hauptgrund für die Niederlage der Kommunisten war die „strategische“ Fehlentscheidung, die Parlamentswahlen derart kurzfristig anzusetzen und die „Solidarität“ zur Beteiligung zu nötigen. Offenbar setzte die Partei dabei auf eine Reihe von Faktoren, die vermeintlich für ihren Erfolg sprachen. Erstens unterstellte sie im Hinblick auf die zahlenmäßig schmale Basis der Untergrund-„Soli-darität" sowie auf die geringe Beteiligung an den Streiks von 1988, daß die „Solidarität“ dauerhaft geschwächt sei. Zweitens rechnete sie damit, daß die Fraktionierungen und unterschwelligen Konflikte innerhalb der „Solidarität“ bei den Wahlen offen aufbrechen würden, wodurch es sowohl zu partiellem Wahlboykott als auch zu konkurrierenden Kandidaturen kommen mochte. Vor allem aber hoffte man drittens, bei einem möglichst frühen Wahltermin das enorme organisatorische Übergewicht der Partei gegenüber der „Solidarität“ mit ihren noch rudimentären Strukturen optimal ausspielen zu können.
Die kommunistische Partei entwarf ein ganzes System weiterer Sicherungen und setzte es am Runden Tisch als Gegenleistung für die Wiederzulassung der „Solidarität“ durch. Alle diese Sicherungen versagten freilich. Die erste bestand in der Beschränkung des passiven Wahlrechts auf einen bestimmten Anteil der Mandate. Lediglich 35 Prozent der Sejm-Mandate blieben parteilosen Kandidaten vorbehalten. Die übrigen 65 Prozent wurden auf die Kandidaten der PVAP und ihrer Bündnisparteien verteilt. Eine weitere Sicherung sollte die Änderung der Verfassung zugunsten einer beträchtlich breiteren Kompetenzausstattung des Präsidenten-amts darstellen. Als die „Solidarität“ mit ihrer Zustimmung zögerte, kam man ihr mit der Einrichtung einer zweiten Kammer, des Senats, entgegen, die zwar keine wichtigen Befugnisse haben, dafür aber völlig frei gewählt werden sollte. Um indessen einen gewissen Einfluß auf die Zusammensetzung des Senats zu behalten, setzte die Partei durch, daß fast alle Wojewodschaften unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl je zwei Senatoren entsenden sollten; 19 lediglich den größten Wojewodschaften Kattowitz und Warschau wurden je drei Mandate zugestanden. Dies sollte die bevölkerungsarmen ländlichen Wojewodschaften begünstigen, in denen die „Solidarität“ bisher keine Stützpunkte hatte.
Der Kardinalfehler der Partei war, daß sie nicht erkannte, daß die Wahlen zwangsläufig den Charakter eines Plebiszits annahmen, bei dem es angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit zu einer Abrechnung mit dem kommunistischen System und der herrschenden Partei kommen mußte. Damit war im Grunde vorprogrammiert, daß die „Solidarität“ einen spektakulären Erfolg, die Partei aber eine vernichtende Niederlage davontrug. Die am Runden Tisch ausgehandelten Sicherungen setzten die Kommunisten und deren Bündnisparteien lediglich in die Lage, ein rein numerisches Übergewicht zu wahren Die Unfähigkeit zu einer realistischen Lagebeurteilung führte schließlich dazu, daß auf Verlangen der Partei die Einrichtung einer Landesliste in die Wahlordnung aufgenommen wurde; auf dieser sollten die führenden Köpfe der Partei und ihrer Verbündeten kandidieren, und zwar ohne Gegenkandidaten, jedoch mit der Vorgabe, daß mehr als 50 Prozent der Stimmen für eine gültige Wahl erzielt werden mußten. Der plebiszitäre Charakter der Wahl wurde dadurch noch unterstrichen und die Niederlage der Partei letztlich verschärft.
Indessen hat sich vor den Parlamentswahlen wohl auch niemand — weder auf Seiten der „Partei-und Regierungskoalition“, noch bei der „Solidarität“ — die Frage gestellt, inwieweit die Kommunisten fähig sein würden, das krisengeschüttelte Land zu regieren, wenn eine Mehrheit, gar die überwältigende Mehrheit der Wähler, dem Regime das Vertrauen versagte. Im Grunde wurde die Frage ausschließlich unter formalrechtlichen, nicht aber unter politischen Gesichtspunkten erörtert. Freilich spielte dabei auch eine Rolle, daß praktisch bis zur Wahl in kommunistischen Führungskreisen eine durchaus zuversichtliche Stimmung herrschte, während die Führung der „Solidarität“ ihre Chancen skeptischer einschätzte.
IV. Die polnische Politik heute
Obwohl dies nicht gleich ins Bewußtsein trat, war mit den Juni-Wahlen von 1989 bereits entschieden, daß die Kommunisten die Macht verlieren und später auch ihre Partei auseinanderfallen würde. Die Kommunisten nahmen die Signale der Wahl jedoch offenkundig nicht wahr. Denn daß es gelang, gemäß den Vereinbarungen vom Runden Tisch die Wahl General Jaruzelskis zum Präsidenten zu bewerkstelligen, war letztlich nur einer kleinen Gruppe von „Solidaritäts“ -Abgeordneten zu verdanken, die für ihn gestimmt hatten. Eine wesentlich größere Gruppe von Abgeordneten aus den Reihen der Bündnisparteien und sogar der PVAP hatte ihm die Unterstützung versagt. Dennoch sah die Partei darüber hinweg und nominierte für das Amt des Premierministers einen weiteren führenden Parteivertreter, der nicht nur für die Politik des Runden Tischs stand, sondern auch für die frühere Politik des Kriegsrechts: General Kiszczak.
Man könnte sich heute fragen, was geschehen wäre, wenn nicht Kiszczak für die Partei kandidiert hätte, sondern einer der wenigen Kommunisten, die als Reformer gelten durften und die sich in der Zeit des Kriegsrechts nicht kompromittiert hatten. Freilich wäre das eine rein theoretische Überlegung, da die Partei sich selbst keine solche Chance gab. Die Kandidatur Kiszczaks galt im ganzen Land als inakzeptabel, stand sie doch in eklatantem Widerspruch zu der im Juni von 80 Prozent der Wähler unterstützten Forderung nach tiefgreifenden politischen Reformen Unter dem Druck der Stimmung im Lande verlor die PVAP auch ihre bisherigen Bündnis-bzw. Satellitenparteien und damit zugleich die für die Regierungsbildung notwendige Mehrheit. So mußte sich die Partei mit der Preisgabe der Regierungsmacht abfinden.
In dieser Situation gab es für die PVAP zwei Möglichkeiten: Sie konnte entweder eine Regierungsbeteiligung anstreben, um die politischen Schlüsselministerien (Verteidigung, Inneres und Außenpolitik) in der Hand zu behalten (an den Wirtschaftsressorts lag ihr aus verständlichen Gründen wenig); oder sie konnte sich auf die Rolle einer entschiedenen Opposition einstellen. Nach der ersten Variante wurde der am Runden Tisch erzielte Konsens gewahrt, allerdings um den Preis einer erheblichen Schwächung der Kommunisten. Die zweite Variante lief auf eine Konfrontation hinaus; dabei hätte die neue Regierung, die noch über keinerlei Rückhalt im Staatsapparat, der Armee und der Polizei verfügte, einer Partei gegenüber gestanden, die ihrerseits keinerlei gesellschaftliche Akzeptanz mehr besaß, dafür aber noch über die Machtmittel verfügte und auch mit äußerer Hilfe, u. a. von Seiten der Sowjetunion rechnen konnte. Die erste Variante barg enorme Risiken für die Zukunft: Es konnte zum Verfall oder auch zur Spaltung der Partei kommen, die zwar zahlenmäßig noch immer stark war, jedoch verstrickt in das Spiel um Nomenklatura-Interessen und — auf niederer Ebene — um geringe, jedoch stetig gewährte Vorteilerbei politischen Karrieren, beim beruflichen Aufstieg und bei der Verteilung von Mangelwaren. Mit der zweiten Variante lief die Partei Gefahr, in der Isolation zu unterliegen, konfrontiert mit lange aufgestauten Emotionen, einer Atmosphäre der Vergeltung und der historischen Frage „Wer frißt wen?“.
Die Partei wählte die erste Variante, und zwar aus verschiedenen, gleichermaßen gewichtigen Gründen. Erstens mußte sie die Hoffnung auf eine mögliche Unterstützung eines neostalinistischen Kurses durch die Sowjetunion angesichts des beschleunigten Tempos der Perestrojka aufgeben. Zweitens war die Führung der PVAP selbst mit der Politik des Runden Tischs verbunden, weshalb sie im Falle einer neostalinistischen Restauration ihrerseits damit rechnen mußte, gestürzt zu werden. Drittens schlug zu Buche, daß die breiteren Trägerschichten des kommunistischen Systems in Polen zwar den Verlust der Macht und der materiellen Privilegien fürchteten, aber mehr noch eine elementare antikommunistische Erhebung, der die Partei ohne Hilfe von außen nicht hätte standhalten können.
In den fünf Monaten bis zum Auflösungsparteitag der PVAP am 27. Januar 1990 war diese letzte Konsequenz ständig vorgezeichnet; die Partei konnte sich ihr angesichts der Politik des nationalen Konsenses nicht entziehen. Charakteristisch waren dafür sowohl die politischen als auch die persönlichen Kontroversen zwischen den Vertretern der verschiedenen Richtungen, die vor diesem Hintergrund ausgetragen wurden. Es ist jedoch bezeichnend, daß eine Richtung, die mit Sicherheit noch eine breite Anhängerschaft in der Partei hatte, die Befürworter einer neostalinistischen Restauration, sich nicht offen zu Wort gemeldet hat.
Jede Klassifizierung nach Richtungen oder gar Gruppen hat freilich nur relativen Wert, da die Selbstdarstellungen der betreffenden Gruppierungen weder klar noch kohärent waren und die Positionen sich in Abhängigkeit von den Ereignissen ständig wandelten. Die Parteikreise um Präsident Jaruzelski, darunter viele Militärs, aber auch etliche kommunistische Politiker, übten in den innerparteilichen Kontroversen deutlich Zurückhaltung. Sie machten sich die traditionelle Überparteilichkeit des Präsidentenamts wie der Armee zunutze, um zur Partei auf Distanz zu gehen. Dieser Prozeß endete im Januar 1990, indem dieser Personenkreis aufweitere Parteitätigkeit im Rahmen der epigonalen kommunistischen Nachfolgeorganisationen verzichtete. Diejenigen, die weiter parteipolitisch aktiv sein wollten, standen vor einem Dilemma: Sollten sie sich um möglichst starken Rückhalt auf den bisherigen Grundlagen bemühen, oder um Glaubwürdigkeit außerhalb der Partei werben? Im ersten Fall kam es darauf an, der Partei durch Kontinuität Macht zu sichern. So wollte Rakowski der Partei ihren aktiven Kem sowie ihr Vermögen, einschließlich des umfangreichen Propagandaapparats, erhalten. Das ungarische Beispiel konnte als Warnung vor dem Versuch verstanden werden, die Partei aufzulösen und sie von Grund auf neu zu formieren. Doch fehlte es an positiven Vorbildern für eine einigermaßen erfolgreiche Transformation einer bestehenden Partei. Im Gegenteil, die kommunistischen Parteien in der DDR und der Tschechoslowakei waren einem starken Erosionsprozeß ausgesetzt, in Rumänien hatte die Partei aufgehört zu existieren. Rakowski rang sich daher allmählich dazu durch, eine ideologische und politische Erneuerung der Partei, deren „Sozialdemokratisierung“ zu akzeptieren, wenn nur die organisatorische Kontinuität gewahrt bliebe. Sein Besuch bei Willy Brandt galt der Kontaktsuche zur Sozialistischen Internationale. Für den Fall eines Mißerfolgs aber hatte er bereits beschlossen, in Zukunft keine Führungsposition in der Partei anzustreben. Auf dem Auflösungsparteitag vertrat er nur noch minimalistische Losungen: „Wir fürchten uns nicht, verantwortungsbewußt über die Zukunft nachzudenken .... für den Sieg der sozialistischen Ideale zu kämpfen..., große Anstrengungen für den Sieg des demokratischen Sozialismus auf uns zu nehmen“ Mit diesen Losungen verabschiedete er sich faktisch in ein politisches Rentnerdasein. Indem Rakowski als Parteiführer an Einfluß verlor, traten etliche jüngere, pragmatische Funktionäre aus dem zentralen Parteiapparat in den Vordergrund, der fähigste unter ihnen war Aleksander Kwasniewski. Da sie nicht von Mitverantwortung für die bisherige Politik belastet waren, konnten sie glaubwürdiger für die Bildung einer neuen, sozialdemokratischen Partei eintreten. Doch ähnlich wie Rakowski wollten auch sie das Unmögliche: eine neue Partei schaffen, zugleich aber die Verluste an Mitgliedern und Vermögenswerten, die ein solcher Identitätswechsel mit sich bringen mußte, auf ein Minimum beschränken. Kwasniewski gelang es schließlich, eine Gruppe von radikalen Kritikern vor allem aus Hochschulkreisen, die „Bewegung 8. Juli“, um sich zu scharen. Auf dem Gründungskongreß der Sozialdemokratie der Republik Polen wurde Kwasniewski zum Vorsitzenden gewählt. Bezeichnend ist, daß sich der Oberste Parteirat zu einem Drittel aus ehemaligen Funktionären der PVAP und zu einem weiteren Drittel aus Wissenschaftlern und Hochschullehrern zusammensetzt
Anfangs mochte es scheinen, daß Tadeusz Fiszbach bessere Aussichten auf die Wahl zum Parteivorsitzenden hatte, verfügte er doch über die Unterstützung der „Bewegung 8. Juli“ sowie der Mehrheit der Sejm-Fraktion unter ihrem Vorsitzenden Marian Orzechowski. Jedenfalls hatte Fiszbach gute Chancen. 1980/81 war er Erster Sekretär der PVAP in der Wojewodschaft Danzig gewesen, hatte eng mit der „Solidarität“ zusammengearbeitet und war — nachdem man ihn nach Verhängung des Kriegs-rechts abgesetzt hatte — erst zur Zeit der Juni-Wahl wieder in die Politik zurückgekehrt. Was Fiszbachs Position vermutlich schwächte, war sein Eintreten für eine entschiedene Distanzierung von den kompromittierten Parteifunktionären, noch mehr aber seine Absichtserklärung, vollständig auf das Parteivermögen der PVAP verzichten zu wollen. Die schließlich gegründete Konkurrenzpartei Union der Sozialdemokratie der Republik Polen vermochte nur wenige Delegierte zu gewinnen, wenngleich mehr Sejm-Abgeordnete dieser Partei folgten als der Partei Kwasniewskis. Ohnehin erklärte sich die Mehrzahl der Sejm-Fraktion vorerst neutral, um die weitere Entwicklung abzuwarten.
Zurückhaltung wahrte noch eine andere Gruppe, die in den letzten Monaten eine nicht unbedeutende Rolle in der PVAP gespielt hatte: Alfred Miodowiczs Kreis von Parteifunktionären aus der Gewerkschaftszentrale der Partei beim Gesamtpolnischen Verband der Gewerkschaften (OPZZ). Sie verstanden sich vor allem als Sprachrohr für egalitär orientierte Gruppen, vor allem unter den Arbeitnehmern. Anfänglich sparten sie nicht mit vehementer Kritik an dem Wirtschaftsprogramm der Regierung Mazowiecki, schlugen dann aber im Hinblick auf die Popularität der Regierung versöhnlichere Töne an. Innerhalb der PVAP gründeten sie eine „Bewegung der Arbeitnehmer“. Nach der Auflösung der alten Partei legten sie sich vorerst nicht auf eine neue Option fest, d. h. sie erklärten 23 sich weder förmlich für unabhängig, noch traten sie einer der beiden Sozialdemokratien bei.
Während also die Kommunisten von der politischen Bühne abtraten, richtet sich dort die „Solidarität“ in verschiedenen Organisationszusammenhängen als neue Kraft ein. So unerwartet ihr Erfolg aufgrund der Wahl gewesen war, so provisorisch, wildwüchsig und inkohärent hatten sich auch ihre Organisationsstrukturen entwickelt. Die wichtigsten Strukturen waren die Gewerkschaft „Solidarität“, neugegründet am 18. Dezember 1988, das Bürgerkomitee beim Vorsitzenden der „Solidarität“ Wasa und die im Wahlkampf gegründeten Bürgerkomitees der Wojewodschaften und Gemeinden, die Gewerkschaft „Solidarität der privaten Bauern“ und der Parlamentarische Bürgerklub, dem die Abgeordneten und Senatoren aus dem Umkreis der „Solidarität“ angehören. Dieser organisatorische Pluralismus bei gleichzeitigem Fehlen verbindender Hierarchien und abgegrenzter Kompetenzen trat nach der Übernahme der Regierung im September 1989 noch stärker hervor. Daraus erwuchsen vielfältige Konflikte, die ihren spektakulärsten (wenn auch künstlich überspitzten) Ausdruck in einem viel diskutierten Artikel von Piotr Wierzbicki fanden Durch ihn ist es populär geworden, den Kreis um die parlamentarischen Führer als „Familie“ zu bezeichnen, die der Regierung nahestehenden Gruppen als das „Gefolge“ und den Kreis um Wasa als den „Hof“.
Die „Solidarität“ erlangte am Runden Tisch den Status einer legalen Gewerkschaft. Dennoch scheinen viele Gewerkschaftsführer bis heute nicht zu verstehen, worin die Macht der alten „Solidarität“ von 1980/81 bestand. Wenn man gegenwärtig Klagen darüber hört, daß sich die Politiker von der „Solidarität“ gelöst hätten oder daß die Bürgerkomitees ein neues Aufblühen der wieder legalisierten Gewerkschaft verhindert hätten, so ist dies vor allem als ein Indiz der Ernüchterung zu werten.
In einem verarmten Land wie Polen können die Gewerkschaften von den Arbeitgebern nur schwer Zugeständnisse abringen, ja oft genug nicht einmal den aktuellen Besitzstand verteidigen.
Die Universalität der „Solidaritäts“ -Bewegung und ihre Funktion als eine Anti-Partei bilden heute auch für die Gewerkschaft selbst eher eine Belastung als eine Erleichterung. Denn es gereicht der Gewerkschaft keineswegs zum Vorteil, daß sie derart eng an die regierenden Gruppen gebunden ist. Die Gewerkschafter in der Bundesrepublik haben daherzu Zeiten der SPD-Regierung strikt auf die Wahrung ihrer Unabhängigkeit geachtet, desgleichen die britischen Gewerkschaften unter den jeweiligen Labour-Regierungen. Freilich gibt es Gründe für die Larmoyanz der Gewerkschaftsfunktionäre. Es handelt sich vielfach um altbewährte Leute mit beträchtlicher Autorität und großen politischen Fähigkeiten. Gerade deshalb fühlen sie sich heute auf dem Abstellgleis. Am wenigsten gilt dies für Wasa selbst, denn er ist weiterhin die Symbolfigur der „Solidarität“ insgesamt, und er hat gute Aussichten, seine Position unabhängig von der Entwicklung der Organisationsformen zu behaupten. Um so unzufriedener sind alle diejenigen, welche keinen berühmten Namen haben.
Die Gewerkschaft „Solidarität“ zählt gegenwärtig etwa 2 Millionen Mitglieder, also nur ein Fünftel ihres Mitgliederstands von vor neun Jahren. Daraus ist nicht zu schließen, daß die Polen eine Phase politischer Lethargie oder Passivität durchmachen. Gegenbeweise sind die Wahlbeteiligung, die hohe Auflage der „Gazeta Wyborcza“ oder die Einschaltquoten bei den Fernsehnachrichten. Natürlich äußert sich politisches Engagement nicht mehr so dramatisch wie in den Jahren 1980/81, und es umfaßt auch nicht mehr derartig breite Kreise der Bevölkerung. Polen ist ein politisch normaleres Land geworden. Da die Regierung das Vertrauen einer überwältigenden Mehrheit der Bürger genießt, hat die Motivation, ständig kampfbereit zu sein, nachgelassen. Die Neigung, pausenlos Versammlungen abzuhalten, zu diskutieren oder gar zu demonstrieren oder zu streiken, ist verständlicherweise geringer geworden.
Dennoch ist einstweilen die Frage ungelöst geblieben, welche demokratischen Organisationsformen des politischen Lebens gefunden werden müssen, um allen, die dies wünschen, die Teilnahme zu ermöglichen. Im allgemeinen gibt es dafür zwei Möglichkeiten: politische Parteien und die lokale Selbstverwaltung. Im heutigen Polen herrscht indessen die nach den Maßstäben des ausgehenden 20. Jahrhunderts kuriose Situation, daß sich die große Mehrheit der politisch Engagierten nicht für die Parteien interessiert, eine lokale Selbstverwaltung aber nicht existiert. Klar ausgeformt sind bisher nur die elitären politischen Institutionen: das Parlament mit seinen Fraktionen und die Redaktionen der politischen Presse.
Gewisse Stellvertreterfunktionen erfüllen einstweilen die Bürgerkomitees. Aber auch hier bestehen zahlreiche Hemmnisse, die einer möglichen Umgestaltung der „Solidarität“ in eine parteiartige Orga-nisation erschweren. Gleich nach den Wahlen, für deren Bedürfnisse die Komitees gebildet worden waren, hatte die Gewerkschaftsleitung der „Solidarität“ ihre Auflösung angeordnet und dabei auf den Primat der Gewerkschaftsaufgaben hingewiesen. Allerdings wurde diese Entscheidung später wieder annulliert, doch konnten viele Bürgerkomitees, selbst in Warschau, bis heute nicht wieder vollständig reaktiviert werden. Widerstände gegen ihre Umgestaltung in parteiartige Institutionen gibt es aber nicht nur von Gewerkschaftsseite. Vielmehr werden auch grundsätzliche Einwände laut, vor allem die Überzeugung, daß es bei der gegenwärtigen Popularität der „Solidarität“ durch politische Institutionalisierung zur Entstehung einer Art neuen Einheitspartei kommen würde, was die Entwicklung des politischen Pluralismus stark beeinträchtigen müßte. Schließlich gibt es auch aktuelle politische und nicht zuletzt persönliche Motive des Widerstands. vor allem bei den Vertretern der derzeit in der „Solidaritäts“ -Führung wie in der Regierung, im Parlamentarischen Bürgerklub und im Gesamt-polnischen Bürgerkomitee eher schwach repräsentierten Gruppierungen; das sind jene Gruppen, die deutlich rechts oder links von den gegenwärtigen Führungskreisen stehen.
Die Abneigung gegen eine Institutionalisierung der Bürgerkomitees hängt ferner mit konkurrierenden Bestrebungen zusammen, besondere Interessenvertretungen zu schaffen. Dies gilt besonders für Initiativen aus dem bäuerlichen Milieu. Zwar behaupten etliche Vertreter der „Solidarität der privaten Bauern“ weiterhin ihren Platz in verschiedenen Gliederungen der „Solidarität“ und vor allem im Parlamentarischen Bürgerklub. Doch gewinnt allmählich die Tendenz die Oberhand, eine selbständige Organisation anzustreben und den Kontakt zu anderen Bauernorganisationen zu suchen.
Einen Versuch, die Pattsituation bei der Organisierung des politischen Lebens zu überwinden, stellt die Entscheidung dar. im Mai 1990 Wahlen zu den territorialen Selbstverwaltungsorganen abzuhalten und damit erneut eine wirkliche Selbstverwaltung zu reaktivieren. Dabei geht es zum einen darum, eine der beiden Grundformen moderner Demokratieneu zu beleben. Zum andern aber sollen im Zuge des Wahlkampfs auch die Bürgerkomitees erneut mobilisiert werden, um diejenigen Fronten, welche auf der zentralen Ebene bereits zerschlagen sind, auch auf der lokalen Ebene aufzubrechen: die Fronten zwischen der aus dem kommunistischen System hinübergeretteten Nomenklatura und der Solidarität" als Ganzes
Neben den sich kapitalistisch anpassenden Kommunisten und der vielgestaltigen „Solidarität“ gibt es noch viele weitere Akteure in der politischen Szenerie Polens. Sie machen nicht selten durch markige Losungen und spektakuläre Auftritte von sich reden, repräsentieren jedoch nur Randgruppen der Bevölkerung. Dazu gehören nicht zuletzt die ehemaligen Bündnisparteien der Kommunisten, die Bauernpartei (jetzt: Polnische Volkspartei — Wiedergeburt), die Demokratische Partei und die drei katholischen Gruppierungen. Sie alle verfügen über einen mehr oder weniger umfangreichen Apparat, eine technische Infrastruktur und ein Parteivermögen. Die gegenwärtigen Bestrebungen, das von den Parteien illegal mit Beschlag belegte Staatseigentum zurückzuerstatten, sowie die Wahlen zur regionalen Selbstverwaltung dürften die ehemaligen Bündnispartner der Kommunisten künftig erheblich schwächen.
Eine zweite Gruppe von potentiell bedeutsamen politischen Akteuren bilden die verschiedenen neuen Gruppierungen und Parteien, die als Gegen-pole zum kommunistischen System und dessen Relikten jetzt entstanden sind. Dazu gehören auch solche Gruppen, die sich weiterhin als Teil der „Solidarität“ betrachten, gleichzeitig aber ihre Unabhängigkeit herausstellen. Dies gilt zum Beispiel für die Polnische Sozialistische Partei von Jan Jozef Lipski, die Partei der Arbeit von Wladyslaw Sila-Nowicki, die Christlich-Nationale Union von Wiesiaw Chrzanowski, in gewisser Hinsicht aber auch für die stärkste, einige tausend Mitglieder zählende Formation der Konföderation für ein Unabhängiges Polen. Weitere Gruppen berufen sich zwar auch auf die Tradition der „Solidarität“, verdammen jedoch kategorisch ihre gegenwärtige, vermeintlich kompromißlerische und undemokratische Politik. Zu nennen wäre hier die „Kämpfende Solidarität“ um Krzysztof Morawiecki sowie die inzwischen in Auflösung befindliche Arbeitsgruppe der Solidarität um Andrzej Gwiazda. Wiederum eine eigene Gruppe bilden die scharfen Kritiker der „Solidarität“, zu denen etliche extremistisch nationale Parteiungen sowie die trotzkistische Polnische Sozialistische Partei — Demokratische Revolution gehören. Die geringe Bedeutung der politischen Parteien und Gruppierungen im engeren Sinn ist ein Reflex der posttotalitären Wirklichkeit im heutigen Polen. Es ist nicht etwa die „Solidarität“, die jene künstliche Einheit erzwingt; denn es gibt weder Beschränkungen für die Gründung politischer Parteien, noch ist die „Solidarität“ aufgrund ihrer organisatorischen Strukturen in der Lage, potentielle Konkurrenten zu vereinnahmen. Man mag ferner darüber streiten, wie stark die Relikte des Kommunismus in Polen noch immer nachwirken, aber gewiß vermögen weder sie noch ihre Schatten die große Mehrheit der Gesellschaft gegen deren gemeinsame Symbole, anerkannte Führungsper sönlichkeiten und allgemeingültige Werte zu integrieren.
V. Die polnische Politik von morgen
Polens politische Zukunft hängt weitgehend vom Erfolg der derzeitigen Wirtschaftsreformen ab. Deren grundlegende Zielsetzungen — zunächst Eindämmung der Inflation, dann Auflösung der Monopole, Schaffung von Marktverhältnissen und Privatisierung — sind allgemein akzeptiert. Sollte diese Reform gelingen, stellt sich für die Zukunft die Frage nach der Option für eine langfristige Wirtschaftspolitik. Denn bekanntlich konkurrieren hierbei die Verfechter verschiedener konträrer Konzepte — vom Thatcherismus bis zum schwedischen Modell. So wird es früher oder später zwangsläufig zur Ausbildung eines modernen pluralistischen Parteiensystems kommen, das sich weder einfach auf Klassenkategorien noch auf geschlossene Ideologien beziehen kann. Die Zeit der sozialistischen wie der nationalistischen Doktrinen ist vorbei.
Was aber wird kommen, wenn die Wirtschaftsreform gelingt? Und was würde es bedeuten, wenn sie nicht gelänge? Daraufzu antworten, ist wesentlich schwieriger. In der Weltgeschichte gibt es bisher keine Vorbilder für den Weg aus dem Kommunismus, und Vergleiche mit Prozessen der Überwindung anderer diktatorischer Systeme helfen nicht weiter. Eine „Solidaritäts“ -Regierung wäre in der Lage, den Reformprozeß anzuhalten, wenn sich erweisen sollte, daß er keine Chancen auf Erfolg hat. Dies würde bedeuten, sich auf Dauer mit der Situation der Rückständigkeit und einem dritt-oder viertrangigen Platz in der Weltordnung abzufinden. Daß es dazu kommen könnte, ist wenig wahrscheinlich. Doch wenn sich eine Entwicklung abzeichnen sollte, die eher zum Selbstmord als zur Erholung tendiert, ist auch diese Variante nicht auszuschließen.
Die Reform wird auch dann nicht gelingen, wenn eine Welle der Unzufriedenheit über die Reform-regierung hereinbrechen sollte. Diese könnte sich in spontanen Ausbrüchen äußern, aber auch in organisierten Bewegungen, unter dem Zwang bestimmter Umstände von den Gewerkschaften angeführt — sei es von den alten post-kommunistischen Gewerkschaften, sei es von der „Solidarität“. Die möglichen Auswirkungen einer solchen Welle der Unzufriedenheit lassen sich kaum abschätzen. Sie könnten zu lange anhaltendem Chaos oder auch nur zu einem Regierungswechsel unter der Ägide der „Solidarität“ führen.
Mit Sicherheit aber würde ein Mißerfolg der Wirtschaftsreform und damit eine Fortschreibung der Krise die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie gefährden und statt dessen entweder direkt oder nach einer Phase des Chaos abermals autoritäre Lösungen durchzusetzen. Es gibt verschiedene Abstufungen von autoritärer Macht; sie kann sich sowohl auf die anerkannte Geltung einer Person als auch auf militärische oder polizeiliche Macht stützen. Auch kann sie sich unter Umständen rechtfertigen als eine (freilich immer riskante) Übergangslösung zur Ermöglichung — und freilich auch zur Verhinderung — wirtschaftlicherReformen. Mit solchen Überlegungen bewegt man sich auf unsicherem Grund. Die optimale Lösung wäre zweifellos eine erfolgreiche Wirtschaftsreform und in der Folge eine moderne politische Demokratie. Einstweilen scheint den Reformbestrebungen auch tatsächlich Erfolg beschieden zu sein, und die durch das allgemeine politische Vertrauen motivierte Geduld der Gesellschaft ist geradezu erstaunlich. So scheinen die Chancen zur Zeit auf Seiten jener Werte zu liegen, welche von der „Solidarität“ repräsentiert werden, in allen ihren organisatorischen Gliederungen, von allen ihren profilierten Führern: Verbannung von Gewalt aus dem politischen Leben, Garantie der Bürgerrechte und Entwicklung der parlamentarischen Demokratie auf der Grundlage des Pluralismus.
(Übersetzung: Michael G. Müller)