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Kommentar und Replik Politisch-moralische Urteilsbildung ohne politische Beteiligung? Zum Beitrag von Bernhard Sutor: „Politikunterricht und moralische Erziehung“ (B 46/89) | APuZ 9-10/1990 | bpb.de

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Kommentar und Replik Politisch-moralische Urteilsbildung ohne politische Beteiligung? Zum Beitrag von Bernhard Sutor: „Politikunterricht und moralische Erziehung“ (B 46/89)

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Zusammenfassung

Kommentar und Replik: Politikunterricht und politische Beteiligung Aus Politik und Zeitgeschichte. B 9— 10/90, S. 42— 46

Bei dem Versuch, aus dem Aufsatz von Bernhard Sutor zum Verhältnis von politischer Bildung und politischer Ethik Schlußfolgerungen für die politische Urteilsbildung im Politikunterricht zu ziehen, traten Fragen auf: Wie soll nach Sutor eine gewissenhafte politische Urteilsbildung aussehen? Fordert er dazu auf, bei der moralischen Urteilsbildung universale formale Regeln anzuwenden? Soll das moralische Urteil handlungsleitend sein? Im folgenden sollen die dazu aus dem Aufsatz gewonnenen Antworten aufgezeigt und zur Diskussion gestellt werden.

In dem Aufsatz gewinnt man an mehreren Stellen (S. 7, S. 10, S. 12) den Eindruck, Sutor befürwortet die Anwendung universaler formaler Regeln zur Bildung eines politisch-moralischen Urteils. Die universalen formalen Regeln wandelt er aber jedesmal nach ihrer Einführung in materielle Werte um (S. 7— 9, S. 10f., S. 12f.). Auf diesen Transformationsprozeß kann hier nicht näher eingegangen werden. Von Kant, Rawls bzw. Kohlberg ausgehend, führt er den Leser zu der Setzung von Ordnung bzw. Gemeinwohl als dem Kern der von ihm vertretenen politischen Ethik. „Unter ethischem Aspekt lautet die Aufgabe der Politik Sicherung und Gestaltung einer Rechts-und Friedensordnung, die ihre Legitimation aus unseren Vorstellungen von Menschenrechten, Freiheit und Gerechtigkeit bezieht. Eine solche politische Ordnung macht den Kern dessen aus, was in der Sprache der überlieferten politischen Ethik Gemeinwohl heißt.“ (S. 9)

Um die Begründung Sutors für diese Wertsetzung offenzulegen, muß zu dem Menschenbild Sutors als dem Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurückgegangen werden. Sutors Bild vom Menschen ist skeptisch-pessimistisch: „Die Menschen haben als Individuen und in ihren Gruppen Interessen und verfolgen ihre Interessen; sie sind insofern egozentrisch, was nicht egoistisch heißt, was aber zum Egoismus ausschlagen kann angesichts prinzipieller moralischer Anfälligkeit. Einerseits sind die Menschen durchaus fähig zu vernünftigem Ausgleich nach Regeln der Gegenseitigkeit, aber andererseits sind sie auch dazu geneigt, ihren Vorteil mit unlauteren Mitteln zu suchen.“ (S. 8)

Damit die schlechten Anlagen des Menschen — wie vor allem die Fähigkeit, „physische Gewalt gegen seine Mitmenschen anzuwenden“ (S. 6) -nicht zum Durchbruch kommen, ist es wichtig, ihn in eine bestimmte Ordnung einzufügen. Diese Ordnung soll bewirken, daß die Menschen und Menschengruppen trotz ihrer konkurrierenden Interessen und den daraus entstehenden Konflikten gewaltfrei miteinander auskommen. Diese Ordnung ist nur funktionsfähig, wenn in ihr Repräsentation und repräsentatives Handeln möglich sind (S. 8). Aufgabe der Politik und damit der Politiker ist es, „gute Gesetze und angemessene Ordnungen für den . alten Adam'(zu) gestalten" (S. 9) und Konflikte einvernehmlich im Kompromiß zu regeln (S. 14). „Dies tut sie (gemeint ist die Politik, G. B.), indem sie ein erträgliches, ein vereinbartes, ein rechtlich geordnetes Miteinander der Menschen ermöglicht und sichert, wobei sie die Menschen realistisch und nüchtern nehmen muß, wie sie sind.“ (S. 8) Diese Aufgabe wird für die Politik erschwert oder sogar unmöglich gemacht, wenn politische Streitfragen zu Gewissensfragen erhoben werden (S. 14). Die Aufrechterhaltung der Ordnung ist dann gefährdet.

Sutor geht bei der politisch-moralischen Urteilsbildung von der Gemeinwohlordnung aus. Die Konsequenzen dieses Vorgehens werden in seinen Hinweisen zur Behandlung der Frage des Ausländerwahlrechts sichtbar: „So scheint mir... die Frage nach dem Ausländerwahlrecht moralisch nicht entscheidbar. Meines Erachtens ist sie nur zu entscheiden im Blick auf die eigene Institutionen-ordnung und im Kontext der Ausländerpolitik, die ein Staat sich insgesamt zum Ziel setzt. Daß diese ihrerseits den Belangen der Ausländer gerecht werden muß und damit auch moralisch zu qualifizieren ist, ist dabei selbstverständlich.“ (S. 11) Das politisch-moralische Urteil soll also von der Ordnung her und im Kontext der Politik getroffen werden; das Urteilskriterium bildet dabei die Vereinbarkeit mit der bestehenden Ordnung und der Politik. Dieser Prüfung gegenüber wird die moralische Urteilsbildung nachgeordnet. Dabei bleibt offen, wer prüft, ob die Ausländerpolitik, „die ein Staat sich insgesamt zum Ziel setzt“, den Belangen der Ausländer gerecht wird. Prüfen allein die politischen Repräsentanten? Wer ist der, Staat

In dem Aufsatz finden sich weitere Forderungen, die Sutor an eine politisch-moralische Urteilsbildung stellt. will die Folgen und So „Frage er nach Verantwortbarkeit bestimmter Handlungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen“ (S. 5) ernst genommen sehen. Zum anderen sieht er die Gefahr, daß „die Unentbehrlichkeit von Macht, ihr positiver Sinn, fast ganz vergessen wird“ (S. 8). Zum politischen Urteil gehört für ihn auch Verständnis „für die Pragmatik des Machthandelns“ (S. 8). Schließlich setzt er sich für „die politischkategoriale und diskursiv-argumentative Durchdringung der Sachverhalte, der Situationen und der in ihnen gegebenen Möglichkeiten“ (S. 10) ein und stellt zur Analyse politische Schlüsselfragen vor (S. 10). Daneben warnt er wiederholt in dem Aufsatz vor einer Überbetonung oder einer Verkürzung des politischen Urteils auf ein moralisches Urteil (S. 7, S. 8, S. 13, S. 14). Fürchtet er, daß die Bürger aufgrund einer solchen Urteilsbildung dem Aushandeln von Kompromissen durch die Mandatsträger nicht teilnahmslos zusehen und ihre Beteiligung Ordnung und Politik gefährden? Wie sieht bei Sutor politische Beteiligung der Menschen aus?

Auch zu dieser Frage finden sich in dem Aufsatz aufschlußreiche Antworten. Wenn die Menschen nicht politisch-moralisch urteilen und handeln, sondern lediglich egoistisch ihre Interessen vertreten, so ist dies für ihn durchaus nicht unerwünscht. Eine gute Gemeinwohlordnung vermag „die unüberwindbare Spannung zwischen den vielfältigen Interessen in einer Gesellschaft und dem in der gemeinsamen Ordnung zum Ausdruck kommenden Allgemeininteresse angemessen zu bewältigen“ (S. 9). Dank einer von der Politik funktionsfähig gehaltenen Rechtsordnung und einer politisch gesetzten Wirtschaftsordnung werden „die Menschen bis zu einem gewissen Grad von der ständigen moralischen Anstrengung, miteinander auszukommen“, entlastet (S. 9). An einer anderen Stelle heißt es über den Beitrag der Menschen zur politischen Problemlösung: „Je mehr andererseits die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Kooperation und in ihren sozialen Institutionen aus eigenen Kräften Positives leisten, um so leichter sind auch die politischen Probleme zu lösen.“ (S. 9)

Die Bürger also beteiligen sich an der Politik durch positive Leistungen: Die Politik selbst bleibt Sache der politischen Amtsträger. Diese Art der politischen Beteiligung erinnert doch sehr an das Preußen des 17. und 18. Jahrhunderts („Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, wozu mich dein Befehl, in meinem Stande führet.“) Ist es dann noch notwendig, im politischen Unterricht die Fähigkeit und Bereitschaft zur politisch-moralischen Urteilsbildung zu fördern? Sieht so die von Sutor geforderte „Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen“ (S. 14) aus? Läßt sich diese Loyalität mit der politischen Beteiligung etwa von Bürgerinitiativen oder von Friedens-, der Frauen-, AKWund Umweltschutzbewegung in der Bundesrepublik oder mit dem gewaltfreien Aufbegehren der Menschen in der DDR im November 1989 vereinbaren? Wenn Sutor durch politische Bildung nicht in erster Linie die Bereitschaft und die Fähigkeit der Lernenden zum politisch-moralischen Urteilen und Handeln fördern, sondern zur Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen erziehen will, so erscheint dies von seinem Menschenbild her durchaus verständlich.

Um Mißverständnisse auszuschließen: Hier soll nicht einer Verkürzung politischer Urteilsbildung auf moralische Urteilsbildung das Wort geredet werden 1). Die Prüfung, ob die Entscheidung unter den gegebenen politischen Verhältnissen auch durchgesetzt werden kann, ob die Kosten in einem annehmbaren Verhältnis zum angestrebten Nutzen stehen bzw. die Mittel mit dem Ziel in Einklang gebracht werden und die vorhersehbaren Folgen verantwortet werden können, sollte zu einer Urteilsbildung ebenso gehören wie die Anerkennung von Macht als Mittel der Politik Gleichrangig daneben sollte aber auch das moralische Urteil stehen, das sich am Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit orientiert. Für den Unterricht empfiehlt sich dabei eine Konkretisierung dieses Kriteriums, dessen Anwendung dann der Stufe drei menschlicher Moralentwicklung nach Kohlberg entspricht Das konkretisierte Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit kann von Schülern ab dem Alter von zwölf Jahren verstanden und zur moralischen Urteilsbildung benutzt werden.

Die kategoriale Analyse wird ebenso wie bei Sutor gefordert. Eine Systematisierung der Schlüsselfragen — etwa nach den Dimensionen des Politischen: „Inhalt, Prozeß, Form (policy, politics, po-lity)" — erleichtert ihr Verständnis. Schließlich kann und soll das aus dem politischen Sehen und Beurteilen erwachsende politische Handeln gewaltfrei innerhalb des vom Grundgesetz gesetzten politischen Handlungsrahmens erfolgen.

Die Zukunft einer demokratischen und human gestalteten Gesellschaftsordnung hängt wesentlich von dem — auch durch politische Bildung geförderten — selbständigen und eigenverantwortlichen politisch-moralischen Urteilen und Handeln mündiger Bürger ab. Darin und nicht in positiven Leistungen ohne politische Beteiligung wird die Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen gesehen.

Dr. Gotthard Breit, Braunschweig

Politikunterricht und moralische Erziehung

Eine Antwort auf Gotthard Breits Kritik Es hat mir einige Mühe gemacht, Gotthard Breits Kritik zu verstehen. Die beiden Fragen, die er einleitend stellt, sind nämlich aus meinem Text eindeutig mit Ja zu beantworten: Universale formale Regeln sollen bei der politisch-moralischen Urteilsbildung selbstverständlich angewandt werden. Sie werden von mir als notwendig und als unersetzbar gekennzeichnet (S. 10), freilich zugleich als nicht hinreichend für das politische Urteil. Ebenso selbstverständlich soll das moralische Urteil handlungsleitend sein. Wozu denn sonst meine Überlegungen insgesamt; wozu mein einleitender Bezug auf den Kontext der Diskussion über Moralerziehung; wozu die Skizze der didaktischen Prinzipien in Teil II, die erkennbar unter derVoraussetzung stehen; tua res agitur?

Im weiteren reichert Breit seine Fragen mit Interpretationen meines Aufsatzes an, die, wenn ich recht sehe, auf zwei Haupteinwände hinauslaufen.

meint er, ich wandelte die universalen Regeln moralischen Urteils in „materielle Werte“ um — materiale Werte sind wohl gemeint. Zweitens behauptet er, bei mir würden die Kategorien Ordnung und Gemeinwohl zum Kern politischer Ethik; es gehe mir also nicht um demokratische Beteiligung der Bürger, sondern um deren Loyalität. Die Erklärung für beides glaubt er in meinem „Menschenbild“ zu finden. Der erste Einwand nötigt zur Präzisierung des Verhältnisses von formaler Regel und materialen Werten. Der zweite läßt sich aus meinem Text leicht als Fehlinterpretation erweisen. Formale Regeln und ethische Werte Es trifft nicht zu, daß bei mir universale formale Regeln in inhaltliche Werte umgewandelt würden. Das ist auf S. 6 und noch einmal auf S. 12 meines Aufsatzes leicht nachlesbar. Ich spreche dort vielmehr ein Problem an, daß Breit gar nicht zu sehen scheint. Es wird in der gegenwärtigen Ethik-Diskussion unter der Kategorie der Letztbegründung erörtert.

Der Gesellschaftsvertrag, wie ich ihn auf S. 6f. kurz skizziere, scheint vordergründig hinlänglich begründbar im Sinne des Utilitarismus: Es liegt im Interesse eines jeden, seine Regeln einzuhalten.

Unter Bezugnahme auf einschlägige Literatur mache ich dann darauf aufmerksam, daß das formale Vertragsprinzip nur evident ist aus einem materialen Grund: Weil man nämlich normativ das Recht des Individuums voraussetzt, seine Interessen wahrzunehmen. Darüber mag man streiten, nur ist etwas anderes gemeint als das, was Breit bei mir zu lesen glaubt.

Dasselbe gilt für meinen Bezug auf den kategorischen Imperativ von Kant (S. 6, S. 12). Kant hat im Unterschied zu den Utilitaristen klar erkannt, daß ein allgemeines Interesse an Interessenwahrnehmung als Prinzip der Moral nicht genügt. Das liefe auf einen kollektiven Egoismus hinaus. Sein Prinzip der Verallgemeinerbarkeit ist unlösbar gebunden an die Idee sittlicher Selbstbestimmung der Person, ausgedrückt in der Autonomie des sittlichen Willens. Dieser erweist sich als ein sittlicher, indem er seine Handlungsmaximen dem Maßstab der Verallgemeinerbarkeit unterwirft. Eine sittliche Idee vom Menschsein und das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit sind also hier untrennbar miteinander verbunden. Die bekannte zweite Version des kategorischen Imperativs macht das noch deutlicher, indem sie die „Menschheit“ in der Person des Handelnden wie in jeder anderen als Selbstzweck setzt. Wir nennen das heute Menschenwürde und dürfen uns auch dabei auf Kant berufen, bei dem es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ 1) Was Kant in der Begründung der Ethik „formal“ nennt, ist also keineswegs inhaltsleer. Nur unterscheidet er es streng vom Materialen, das er der sinnlichen Erfahrung zuordnet, und begründet es nicht mehr wie die Tradition metaphysisch, sondern transzendental.

Es scheint mir deshalb eine Oberflächlichkeit, wenigstens wenn man sich an Kant orientiert, die Verallgemeinerbarkeit als rein formale Regel aus dem Kontext ihrer Begründung zu lösen und gleichsam nur noch handwerklich mit ihr umzugehen. Dann bleibt eben die von mir gestellte Frage: Warum soll sie denn gelten? Man kann die Antwort natürlich offen lassen. Nur muß man sehen, daß dann etwas offen geblieben ist, das man in der Praxis schließlich doch mit Setzungen, Optionen oder Begründungen ausfüllt. Auch politische Ethik kommt nicht mit rein formalen Regeln aus. Sie braucht in Begründung und Anwendung zugleich Orientierung an materialen Werten.

Auch für die Anwendung setzt das der kategorische Imperativ selbstverständlich voraus, indem er nämlich voraussetzt, daß der Handelnde Maximen habe. Ethische Reflexion setzt immer schon sittliche Praxis und damit die Erfahrung eines Sollens voraus. Ohne sie als ihr gleichsam empirisches Substrat käme sie gar nicht in Gang. Für unsere Bemühungen um politische Ethik in politischer Bildung heißt dies, daß wir unterhalb der komplementär zu denkenden Prinzipien der Menschenwürde und der Verallgemeinerbarkeit auch die konkreteren Maximen der Menschenrechte und die Gemeinwohlwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zur Orientierung politischen Urteilens brauchen.

Andererseits muß man sich aber auch der Grenzen der allgemeinen Prinzipien für das konkrete Urteil bewußt sein. Der Verallgemeinerung unterliegt, jedenfalls nach Kant, die Handlungsmaxime, nicht die konkrete Entscheidung und Handlung in ihrer unausweichlichen Bedingtheit durch die subjektiven und objektiven Faktoren der Situation. Ebensowenig unterliegen ihr die konkreteren Normen oder Handlungsregeln, wie sie das positive Gesetz des Staates und die Konventionen politischer Verbände darstellen. Das würde zu ganz absurden Konsequenzen führen, u. a. zu dem Anspruch, in ihnen sei absolute sittliche Wahrheit gefaßt, während es doch immer nur um vorläufige und veränderbare Regelung sozialer, geschichtlich wandelbarer Verhältnisse geht. Deshalb meine ich, man müsse in politischer Bildung den politischen Kategorien viel mehr Raum geben, als dies Breit zu wollen scheint.

Breit sagt ganz richtig, das konkretisierte Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit könne von Schülern ab dem 12. Lebensjahr verstanden werden. Liest man in dem Unterrichtsbeispiel, auf das er selbst verweist, nach, dann findet man, daß er damit nichts anderes meint als das sogenannte Empathie-Lernen, die Vermittlung der Fähigkeit, sich in die Lage des anderen zu versetzen Das ist als Stufe der Hinführung zum universalen Prinzip unentbehrlich und unumstritten. Aber die lernpsychologische Notwendigkeit dieser Vorstufe darf nicht zu solcher Vergröberung des Prinzips führen, wie sie in Breits Fallanalyse anzutreffen ist.

Es ist bereits ungenau, wenn Breit dort einleitend schreibt, eine Entscheidung erscheine moralisch vertretbar, wenn sie auch von anderen anerkannt und akzeptiert werden könne (S. 486). Ganz falsch und politisch geradezu fatal scheint mir dann die als Lemziel formulierte These: „Eine Entscheidung ist nur dann moralisch vertretbar, wenn sie auch von anderen und den Betroffenen (einschließlich von einem selbst) für richtig angesehen wird.“ (S. 487) Hier werden nicht nur „sittlich gut“ und „richtig“ gleichgesetzt, womit jede Sach-und Situationsanalyse kurzschlüssig moralisiert wird. Es wird zugleich die Moralität einer Entscheidung vom Konsens abhängig und damit Politik als Kompromißsuche und Mehrheitsentscheid unmöglich gemacht. Der Fehler liegt darin, statt der Maximen die einzelnen Entscheidungen selbst dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit zu unterwerfen.

Maximen sind Grundorientierungen, die einer Vielzahl von Absichten und Handlungen eine gemeinsame Richtung geben sollen, aber diese nicht determinieren. Deshalb scheint es mir aber ethisch wie didaktisch zugleich mißlich, wenn Breit in seiner Fallanalyse die moralische Urteilsfindung der politischen voranstellt. Er bringt sich damit in die Verlegenheit, ein rigides moralisches Urteil gegen die Zurückweisung von Asylbewerbern und gegen die Änderung des Asylrechts (S. 487) hinterher aus „verantwortungsethischen“ und politischen Gründen modifizieren zu müssen.

Breits Unterscheidung von moralischen und verantwortungsethischen Komponenten des Urteils leuchtet nicht ein. Auch letztere sind moralische Urteile und erweisen sich als unentbehrlich angesichts des Phänomens, das ich in meinem Aufsatz als Zielkonflikt beschrieben habe und das Breit in seiner Fallanalyse zunächst ganz übersieht. Schließlich bestätigt seine Reduktion der politischen Komponenten des Urteils auf die Kategorie der Macht meine Warnung davor, die politischen Aspekte einer Problematik zugunsten moralischer allzusehr in den Hintergrund zu drängen. Daß die vergröberte Verhältnisbestimmung von Politik und Moral bei Breit auch zu einer Reihe sehr einseitiger politischer Urteile führt, sei nur am Rande erwähnt. 2. Gemeinwohl und demokratische Beteiligung Meine Stellungnahme zu Breits zweitem Einwand kann ich kürzer fassen, weil dieser offensichtlich auf einer Fehlinterpretation meines Textes beruht. Es ist bereits ungenau, wenn Breit behauptet, ich setzte Ordnung bzw. Gemeinwohl als den Kem politischer Ethik. Der Satz, den er dazu aus meinem Aufsatz zitiert, sagt dazu viel Genaueres, und an anderer Stelle formuliere ich ausdrücklich, die zentralen Kategorien politischer Ethik seien Gemeinwohl, Klugheit und Gerechtigkeit (S. 13). Mit den beiden letzteren kann Breit offenbar nichts anfangen; denn in seiner Kritik kommen sie nicht vor. Offenbar vermag er sich aber auch Gemeinwohl, interpretiert als die politisch zu gestaltende Friedens-und Rechtsordnung einer Gesellschaft, nicht demokratisch vorzustellen.

Das Verständnis davon, das er mir unterstellt, glaubt er aus meinem „Menschenbild“ herauslesen zu können. Er nennt es pessimistisch, ich dagegen realistisch. Darüber kann man streiten. Wichtiger ist etwas anderes, nämlich daß ich gerade mit den zugegeben sehr knappen Andeutungen darüber eine Begründung für Demokratie gegeben habe. Der von mir dazu herangezogene Satz von Reinhold Niebuhr ist eindeutig, und ich finde ihn auch hilfreich: Des Menschen Fähigkeit zur Gerechtigkeit mache Demokratie möglich, des Menschen Neigung zur Ungerechtigkeit mache Demokratie nötig (S. 8). Demokratie ist möglich, weil wir fähig sind zur Verständigung nach Regeln der Gerechtigkeit (Gegenseitigkeit) — das ist die positive Seite der Sache. Demokratie ist nötig, weil unsere Neigung zur Ungerechtigkeit Beteiligungsmöglichkeiten für alle und gegenseitige Kontrolle erforderlich macht — das ist die negative Seite der Sache.

Wir dürfen also die Gemeinwohlfindung gerade nicht einer sogenannten Obrigkeit überlassen, und wir dürfen diese Aufgabe auch nicht, gleichsam in Arbeitsteilung, ganz an gewählte Amtsträger abtreten, wenngleich es ohne solche nicht geht. Die Loyalität des Bürgers, die ich in der Tat fordere, ist die Loyalität gegenüber seinem eigenen Gemeinwesen, an dem er nicht nur passiv teilhat, sondern auch aktiv teilhaben kann und soll. Ich kann nicht finden, daß es an meinem Text liegt, wenn Breit sich an das alte Preußen erinnert fühlt. Er möge seine Perzeption überprüfen.

Von meiner prinzipiell demokratisch zu verstehenden Beschreibung der Gemeinwohlaufgabe her sind dann einige Einzelurteile meines Kritikers richtigzustellen. Damit die schlechten Anlagen des Menschen nicht zum kommen, sei es Durchbruch wichtig, „ihn in eine bestimmte Ordnung einzufügen“, interpretiert Breit meinen Text. Das steht so bei mir nirgends, aber daß die vertraglich gedachte Konstitution einer gemeinsamen Ordnung ein Sich-Einfügen auf Gegenseitigkeit bedeutet, ist eine Binsenweisheit neuzeitlicher politischer Philosophie. Sämtliche Vorstellungen von einem passiv die Amtsträger gewährenlassenden Bürger, die Breit bei mir herausliest, beruhen auf der Vorstellung, Loyalität und eine aus Veränderungswillen entspringende kritische Aktivität schlössen einander aus. Sie gehörenjedoch nach demokratischem Ethos zusammen.

Aus Breits einseitig negativer Interpretation meines „Menschenbildes“ scheint eine Bemerkung zu resultieren, die, wenn ich sie recht verstehe, mir unterstellt, es sei mir „durchaus nicht unerwünscht“, wenn die Menschen, statt politisch-moralisch zu urteilen und zu handeln, „lediglich egoistisch ihre Interessen vertreten“. Auch das steht so bei mir nicht. Ich unterscheide ausdrücklich zwischen Egozentrik und Egoismus (S. 8f.). Breit hat aber offenbar in diesem Zusammenhang den Gedanken der Entlastung von ständiger moralischer Anstrengung, welche die gemeinsamen Institutionen einer Gesellschaft ermöglichen, nicht aufgenommen. Es handelt sich um einen Grundgedanken der soziologischen Institutionentheorie von sozialethischer Relevanz. Wirtschaftliche, politische und rechtliche Institutionen einer Gesellschaft haben danach den Sinn, in das immer bedrohte Miteinander der Individuen und Gruppen ein gewisses Maß an gegenseitiger Sicherheit und Berechenbarkeit zu bringen, so daß wir in einem geregelten Prozeß unseren Interessen nachgehen können, ohne uns Schritt für Schritt moralisch entscheiden und verantworten zu müssen.

Natürlich hat dieser Gedanke seine Grenze. Gerade weil individuelles Verhalten und Institutionen sich gegenseitig tragen und stützen, können sie sich auch gegenseitig gefährden. Deshalb dürfen wir nicht nur individualethisch, sondern müssen auch sozialethisch denken, und eben deshalb sind wir als demokratische Staatsbürger gemeinsam verantwortlich für die menschen-und zeitgemäße Institutionenordnung, für ihre Gestaltung, ihre Sicherung und ihre Weiterentwicklung.

Die politische Didaktik leidet seit langem an einer Vernachlässigung der sozialethischen und institutionellen Seite des Politischen und an einer Über-schätzung der individuellen Moral in ihrer Bedeutung für Politik. Dies u. a. sollte mein Aufsatz zum Ausdruck bringen. Daß Gotthard Breit ihn so kraß mißverstehen konnte, bestätigt meine eben formulierte These vom Defizit in der politischen Didaktik. Wir sollten darüber gemeinsam weiter nachdenken und miteinander reden. Aber ich kann abschließend den vielleicht unbescheiden klingenden Hinweis nicht unterdrücken, daß ich über diese Zusammenhänge sehr viel mehr und Ausführlicheres veröffentlicht habe, als in dem kritisierten Aufsatz entfaltet werden konnte

Prof. Dr. Bernhard Sutor, Eichstätt

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gotthard Breit, Das politisch-moralische Urteil am Unterrichtsbeispiel: Asylrecht für politisch Verfolgte?, in: Gegenwartskunde, (1986) 4, S. 481 — 492.

  2. Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: ders.. Gesammelte Schriften, Tübingen 19713, S. 547.

  3. Vgl. Robert L Selman, Sozial-kognitives Verständnis. Ein Weg zu pädagogischer und klinischer Praxis, in: D. Geulen (Hrsg.), Perspektivenübernahme und Soziales Handeln, Frankfurt 1982, S. 235.

  4. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Wei-Schedel, Bd. 6, Darmstadt 1986, S. 69.

  5. Vgl. Gotthard Breit, Das politisch-moralische Urteil am Unterrichtsbeispiel: Asylrecht für politisch Verfolgte?; in: Gegenwartskunde, (1986) 4, S. 481 ff.

  6. Vgl. Bernhard Sutor, Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bde., Paderborn 1984.

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