I. Die Frage nach dem Wesen des Staates
Die Frage, wozu der Staat da ist, was er soll, muß oder darf, was besser nicht seines Amtes sei — sie bewegt seit alters her die politische Diskussion. Vor rund 200 Jahren verfaßte der junge Wilhelm von Humboldt seine „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, und sie können getrost als Vorläufer der „Perestroika“ gelten. 1984 sagte der mexikanische Nobelpreisträger Octavio Paz, als er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt: „Der Staat ist die große Realität des 20. Jahrhunderts. Sein Schatten bedeckt den ganzen Planeten . . . Gleich, wie wir die moderne Bürokratie definieren, ist die Frage nach dem Wesen des Staates die Hauptfrage unserer Zeit.“
Die Frage nach dem Wesen des Staates ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Sie war. ist und wird immer eine Kernfrage der Politik sein. Trotzdem ist es der politischen Theorie in über zweitausendjährigem Bemühen nicht gelungen, eine allgemein anerkannte Abgrenzung der Rechte und Pflichten von Bürger und Staat zu finden. Sie kann auch nicht in einer allgemeinen Theorie gefunden werden. Zu verschieden sind die Ansprüche, die der Bürger seinem jeweiligen Staat gegenüber stellt, und zu sehr hängen die Möglichkeiten des Staates, Ansprüche zu erfüllen, von zeit-bedingten Umständen ab. Eine zeit-und grenzenlose Definition staatlicher Aufgaben ist aber vor allem deshalb unmöglich, weil es hierbei letztlich nicht um reale Dinge geht, für die sich sachliche Kriterien finden ließen, sondern schlichtweg um Macht und Einfluß.
Weil Machtstreben und von partikularen Interessen geleitete Einflußnahmen Elemente staatlichen Handelns sind, bedeutet auch ein Kompetenzkatalog, wie ihn das Grundgesetz vor allem in den Artikeln 71 bis 76 enthält, keinen Schutz des Bürgers vor überbordender Staatstätigkeit. Das Problem sind ja nicht die Zuständigkeiten, wie sie auf dem Papier stehen. Entscheidend sind vielmehr der Geist und die Praxis, die die Wahrnehmung der beiderseitigen Rechte und Pflichten bestimmen. Die Verfassung schützt weder vor Bürokratie, noch vor „Verrechtlichung“ und ebensowenig vor dem Gebrauch der Amtsgewalt für unvorhergesehene Zwecke. Deshalb verdient eine verfassungsrechtliche Entwicklung Beachtung, die den Bürger der Bundesrepublik vor dem unziemlichen Gebrauch von Amtsgewalt in bestimmten Bereichen seines privaten wie des öffentlichen Lebens wirksam schützt, und das in einer Weise, die historisch ebenso wie international ohne Vorbild ist. Gemeint ist das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 5 Abs. GG 1) abgeleitete Prinzip der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung.
Die diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts fanden in der Fachwelt anfangs teilweise euphorisch klingende Zustimmung. Da war vom „Schlußstein“ im Gebäude einer „konsequent durchdachten Staatstheorie“ die Rede oder von einem „Markstein in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“ Inzwischen ist es um das „Staatsfreiheits“ -Prinzip jedoch ruhig geworden, obwohl es seit nunmehr bald 30 Jahren im Verfassungsrecht der Bundesrepublik eine nicht unerhebliche, in bestimmten Fällen sogar eine entscheidende Rolle spielt. In der breiteren Öffentlichkeit ist es weithin unbekannt geblieben; aber auch in keines der gängigen Lexika und Handbücher der Politik-und Sozialwissenschaften hat der Begriff „Staatsfreiheit“ bisher Eingang gefunden. Ebensowenig findet er sich in den Indexen der staats-und verfassungsrechtlichen Literatur.
Das Prinzip der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungs-und Willensbildung, wie es vom Bundesverfassungsgericht entwickelt und zur Rechtswirksamkeit gebracht worden ist, setzt der staatlichen Tätigkeit in einem weiten Bereich des gesellschaftlichen Lebens eine unüberwindbare verfassungsrechtliche Grenze. Seine grundsätzliche staats-und verfassungspolitische Bedeutung geht über die vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Einzelfälle weit hinaus. Daß hierüber keine breite wissenschaftliche Diskus-sion stattgefunden hat, ist nur mit der „etatistisehen“ Tradition der deutschen Staatsrechtslehre zu erklären. Sie neigt dazu, den staatlichen Organen eher zusätzliche Befugnisse zuzuschreiben, als ihnen solche zu verwehren.
Damit ist die politische Fragestellung markiert, die nicht nur Rechtswissenschaftler, sondern jeden Bürger und Politiker angeht: Welche Befugnisse soll der Staat haben? Wie ist die Frage nach dem Wesen des Staates hier bei uns in der Bundesrepublik und heute aktuell zu beantworten? Das Bundesverfassungsgericht hat mit der „konsequent durchdachten Staatstheorie“, auf der das „Staatsfreiheits“ -Prinzip beruht, eine Richtung vorgegeben. Sie ist für das politische Selbstver-ständnis der Bundesrepublik von größter Bedeutung. Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die das Verhältnis zwischen Bürger und Staat zur Zeit in Mittel-und Osteuropa erfährt, verdient sie größere Beachtung in einer breiteren Öffentlichkeit.
II. Der Begriff der „Staatsfreiheit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Begriffliche Substanz und rechtliche Wirksamkeit erhielt das „Staatsfreiheits“ -Prinzip durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die dem traditionellen Begriff der Meinungsfreiheit in Art. Abs. 1 GG einen erweiterten Sinn gaben. Seine Geburtsstunde erlebte es im sogenannten „ersten Fernseh-Urteil“ 5). Eine ausführliche staats-, verfassungsund demokratietheoretische Begründung erhielt es im „ersten Parteienfinanzierungsurteil“ -Durch wiederholte Anwendung und verfeinerte Begründung in späteren Entscheidungen ist „Staatsfreiheit“ als Verfassungsprinzip für den Be-reich der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung zum festen Bestandteil der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik geworden. 1. Die „Staatsfreiheit“ des Rundfunks Am ausführlichsten und prägnantesten hat das Bundesverfassungsgericht das Prinzip der „Staatsfreiheit“ in seinen Urteilen zur Rundfunkordnung entwickelt. Art. 5 GG schließt danach definitiv aus, „daß der Staat unmittelbar oder mittelbar eine Anstalt oder Gesellschaft beherrscht, die Rundfunksendungen veranstaltet“ Mit dieser Entscheidung durchkreuzte das Gericht die Absicht des seinerzeitigen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, einen maßgeblich von der Regierung beeinflußten Fernsehsender zu errichten.
Die „Staatsfreiheit“ des Rundfunks soll die Bundesrepublik jedoch nicht nur vor direkter Regierungspropaganda bewahren. Sie soll den Rundfunk im demokratischen Staat vielmehr generell vor Einflüssen staatlicher Organe auf Auswahl, Inhalt und Gestaltung seiner Sendungen schützen, und zwar nicht nur vor unmittelbaren Einflüssen, sondern „ebenso vor einer Einflußnahme, welche die Programmfreiheit mittelbar beeinträchtigen könnte“ Darunter versteht das Gericht „Handlungsund Wertungsspielräume“, die dazu führen könnten, „daß sachfremde, insbesondere die Meinungsvielfalt beeinträchtigende Erwägungen Einfluß auf die Entscheidung“ einer staatlichen Behörde gewinnen könnten. In diesem Falle bestehe die Gefahr, daß „sich derartige Wertungsfreiräume . . . bereits im Vorfeld als Druckmittel oder gar als . Selbstzensur* auf Interessenten oder Veranstalter auswirken“ 2. „Staatsfreiheit“ bei der Parteienfinanzierung Als sich die Parteien des Bundestags zur Finanzierung ihrer allgemeinen Parteiarbeit selber staatliche Haushaltsmittel genehmigten, untersagte das Bundesverfassungsgericht diese Praxis unter Hinweis auf das Prinzip der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung ebenfalls als verfassungswidrig Um die Unabhängigkeit der Parteien, die eine Voraussetzung ihrer Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG sei, sowie die Chancengleichheit aller politischen Gruppierungen zu gewährleisten, dürften staatliche Mit-tel, vor allem Finanzmittel, die den Staatsorganen für staatliche Aufgaben zur Verfügung stehen, nicht zur Alimentierung von Parteiarbeit abgezweigt werden. Es ist „den Staatsorganen grundsätzlich verwehrt . . ., sich in bezug auf den Prozeß der Meinungsund Willensbildung des Volkes zu betätigen“. Dieser Prozeß müsse vielmehr auch hinsichtlich seiner Finanzierung „staatsfrei“ bleiben Von diesem Grundsatz nahm das Gericht die Erstattung von Wahlkampfkosten aus. Die von den Parteien organisierten Wahlkämpfe seien eine Dienstleistung im Interesse der Konstituierung staatlicher Organe. Deshalb könnten die in diesem Zusammenhang von den Parteien verauslagten Kosten ohne verfassungsrechtliche Bedenken erstattet werden. Das Gericht unterschied zwischen erlaubter Kostenerstattung und unerlaubter allgemeiner Finanzierung. 3. Das Verfassungsprinzip der „Staatsfreiheit“ von Wahlkämpfen Besonderen Wert legte das Bundesverfassungsgericht auf die genaue Abgrenzung von staatlicher und parteilicher Tätigkeit im allgemeinen Prozeß der öffentlichen Meinungs-und Willensbildung in zwei Entscheidungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung in Wahlkampfzeiten Auch hierfür zog es das „Staatsfreiheits“ -Prinzip heran. Im Vorfeld von Wahlen verwehre es „den Staatsorganen in amtlicher Funktion“ — über die mit der allgemeinen Staatstätigkeit unvermeidbar verbundenen Wirkungen hinaus — „durch besondere Maßnahmen . . . auf die Willensbildung des Volkes bei Wahlen einzuwirken“ mit dem Ziel, „Herrschaftsmacht in Staatsorganen zu erhalten oder zu verändern“
Der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung sind durch das Prinzip der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungs-und Willensbildung in Wahlkampfzeiten dort Grenzen gesetzt, „wo die Wahlwerbung beginnt“ Sachliche Information des Bürgers durch die Regierung ist im demokratischen Staat unbedingt nötig. Es ist eine der wichtigsten Pflichten einer demokratischen Regierung, über ihr Tun und Lassen öffentlich Rechenschaft zu geben. Die Grenze der notwendigen Öffentlichkeitsarbeit der Regierung werde jedoch überschritten, so das Bundesverfassungsgericht, wenn „der informative Gehalt einer Druckschrift oder Anzeige eindeutig hinter die reklamehafte Aufmachung“ zurücktritt oder wenn die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung „in Wahlkampfnähe“ in ungewöhnlicher Weise anwächst, was „sowohl in der größeren Zahl von Einzelmaßnahmen ohne akuten Anlaß, wie in deren Ausmaß und dem gesteigerten Einsatz öffentlicher Mittel für derartige Maßnahmen zum Ausdruck kommen kann“
Die erste Entscheidung dieser Art erging im April 1974 im Zusammenhang mit dem Volksentscheid über den Fortbestand des Landes Baden-Württemberg. Das Bundesverfassungsgericht billigte der Landesregierung in Stuttgart zwar „ein legitimes Interesse“ zu, „in angemessener Weise ihre Auffassung über die Vor-und Nachteile der einen oder anderen Lösung zu äußern, ihre Politik darzustellen und die bisherigen Leistungen des Landes zu würdigen“. Aber, so schränkte das Gericht ein, „die Grenze, die den Aktivitäten der Landesregierung durch das Verfassungsgebot der grundsätzlich staatsfreien Meinungs-und Willensbildung des Volkes bei Abstimmungen gezogen ist, wurde überschritten, wenn sie gleichsam neben den beteiligten Gruppen wie eine von ihnen in den Abstimmungskampf eingriff“
Anlaß zur zweiten Entscheidung im März 1977 waren Anzeigenserien und Druckschriften, die die seinerzeitige Bundesregierung im Vorfeld der Bundestagswahl vom 3. Oktober 1976 als eine Art Rechenschaftsbericht veröffentlicht hatte. Die Aktion hatte ein beträchtliches Volumen und war aus Haushaltsmitteln des Bundes finanziert worden. Darin sah das Gericht einen „von Verfassungs wegen“ unzulässigen Versuch eines Staatsorgans, „als solches parteiergreifend zugunsten . . . einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einzuwirken“ und auf diese Weise „die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen“ Eine solche Einflußnahme sei allen Staatsorganen und damit auch der amtierenden Regierung verwehrt. 4. Die Ordnungsaufgabe des Gesetzgebers „Staatsfreiheit“, wie das Bundesverfassungsgericht sie definiert, bedeutet allerdings keineswegs die bedingungslose Abstinenz aller staatlichen Organe in den für die politische Meinungs-und Willensbildung sensiblen Bereichen — im Gegenteil. So soll der Rundfunk keineswegs „dem freien Spiel der Kräfte“ oder „den Kräften des Marktes“ überlassen bleiben. Das Prinzip der „Staatsfreiheit“ schließe deshalb „staatliche Maßnahmen nicht aus, welche der Herstellung oder Erhaltung der Rundfunkfreiheit dienen; diese können sogar verfassungsrechtlich geboten sein“ Diese Notwendigkeit sieht das Bundesverfassungsgericht, weil „bloße Staatsfreiheit“ noch nicht bedeute, „daß freie und umfassende Meinungsbildung durch den Rundfunk möglich wird ... Es bedarf dazu vielmehr einer positiven Ordnung . . ,“
Diese „positive Ordnung“ zu schaffen, ist jedoch nicht Aufgabe der staatlichen Exekutivorgane, also der Regierung und der Verwaltungsbehörden, sondern allein die der Legislative, des Parlaments. Die-ses hat als Gesetzgeber das Recht und die Pflicht, die Rahmenbedingungen zu setzen, in denen sich der individuelle und öffentliche Meinungs-und Willensbildungsprozeß frei entfalten kann. Das Gericht gibt hierfür eine detaillierte Richtlinie vor: „Aufgabe des Gesetzgebers ist es,. . . durch materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen“ einen „Grundstandard“ der Rundfunkversorgung sicherzustellen, der Meinungsvielfalt als Voraussetzung für die Möglichkeit der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung und „ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung“ gewährleistet Darüber hinaus hat der Gesetzgeber aber auch „wirksame gesetzliche Vorkehrungen gegen eine Konzentration von Meinungsmacht“ zu treffen. Ebenso sind „die Zuständigkeiten, das Verfahren, die Voraussetzungen der Erteilung, der Rücknahme und des Widerrufs der Erlaubnis“ für die Veranstaltung von Rundfunksendungen gesetzlich zu regeln 5. Wiederbelebung der klassischen Gewaltenteilung Das Besondere an dieser Auslegung der Verfassung ist, daß sie dem Gesetzgeber ausdrücklich ein Verfassungsgebot zur Ordnung des Rundfunkwesens auferlegt, die Regierung und andere staatliche Behörden jedoch von der praktischen Betätigung im Rahmen der gesetzlichen Ordnung ebenso ausdrücklich ausschließt. Durch die Zuweisung einer „staatlichen Ordnungsaufgabe“ allein an den Gesetzgeber unterscheidet sich das Staatsfreiheitsprinzip fundamental von der in der altliberalen Staatstheorie enthaltenen Trennung von Staat und Gesellschaft. Es darf deshalb auch nicht damit verwechselt werden. Das „Staatsfreiheits“ -Prinzip schließt nicht „den“ Staat von der Betätigung in „gesellschaftlichen“ Lebensbereichen aus, sondern bezieht sich ausschließlich auf das exekutive Handeln. Gesetzgeberisches Handeln wird dagegen ausdrücklich gefordert. Hierbei hat das zuständige staatliche Organ, das Parlament, im Rahmen der geltenden Verfassung die übliche politische Handlungsfreiheit. Entscheidend aber ist, daß nach der gesetzlichen Regelung den staatlichen Organen jede Einwirkung darauf, was auf der Basis der rechtlichen Bestimmungen praktisch geschieht, als Konsequenz des Prinzips der „Staatsfreiheit“ verwehrt ist.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist als Reaktion auf die Entwicklung des modernen Parteienstaats zu verstehen In ihm ist die Grenze zwischen den gesetzgebenden und den exekutiven Organen verwischt. Beide Bereiche werden von der gleichen Parteienkonstellation beherrscht, die ihrerseits von einer im wesentlichen identischen Führungsgruppe geleitet wird. In der Praxis bedeutet dies eine von der Öffentlichkeit schwer kontrollierbare Verflechtung von Legislative und Exekutive. Die Legislative beschränkt und kontrolliert nicht mehr die Macht der Exekutive, wie es das klassische Modell der Gewaltenteilung vorsah. Die für den „Parteienstaat“ typische Konzentration von Macht in der Hand des Regierungschefs ist der demokratischen Grundidee, die die Begrenzung und Verteilung von Macht vorsieht, an sich fremd. Ihr soll wenigstens teilweise begegnet werden, indem die notwendige gesetzliche Ordnungsfunktion des Staates im grundrechtlich geschützten Bereich der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung von exekutiven Handlungsfunktionen abgekoppelt wird.
Diese verfassungsrechtliche Konstruktion kann als moderne, auf die Gegebenheiten des „Parteienstaats“ bezogene Form der klassischen Gewaltenteilungslehre angesehen werden. Für den Bereich des Rundfunks bedeutet sie konkret, daß die parlamentarische Mehrheit den gesetzlichen Rahmen für den Betrieb von Rundfunksendern bestimmen kann und soll. Hierbei kann auch die Regierung über die ihr zur Verfügung stehenden Parteikanäle sowie über die von den Regierungsmitgliedern gehaltenen Abgeordnetenmandate mitreden. Sie soll aber nicht die Möglichkeit haben, sich über die exekutive Handhabung der Rundfunkhoheit ein Propagandainstrument zu verschaffen. Der alleinige Zweck der gesetzlichen Rahmenordnung ist, daß sich in ihr „staatsfreie“ gesellschaftliche Aktivitäten entfalten können. Auch die Aufsicht darüber, daß diese Aktivitäten im gesetzlich vorgegebenen Rah-men bleiben, ist keine Regierungsaufgabe, sondern einem „externen, vom Staat unabhängigen, unter dem Einfluß der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte und Richtungen stehenden Organ“ zu übertragen. Die Bedeutung dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht über die Regelung einer rundfunkspezifischen Frage weit hinaus. Sie fixiert den Grundsatz, daß exekutives Handeln staatlicher Organe keineswegs schon dadurch gerechtfertigt ist, daß es auf gesetzlicher Grundlage beruht. Warum das — „von Verfassungs wegen“ — so sein muß, hatten die 201 Bundestagsabgeordneten der SPD, die das „vierte“ Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts auslösten, in Einschätzung der politischen Praxis schon in ihrer Antragsbegründung vermerkt: Auch wenn der Ministerpräsident als staatliche Erlaubnisbehörde nur auf der Grundlage gesetzlicher Ermächtigung handele, „entstehe die Gefahr der mißbräuchlichen Bevorzugung regierungsfreundlicher Veranstalter, zumindest aber das Risiko mittelbarer Vorwirkungen der Entscheidungsbefugnisse auf das Programmverhalten“ 6. Die Adressaten der „Staatsfreiheit“
Zum „Staat“, der sich den Entscheidungen des Verfassungsgerichts zufolge jeder aktiven Beeinflussung der öffentlichen Meinungs-und Willensbildung zu enthalten hat, zählen grundsätzlich alle „Träger öffentlicher Gewalt“ Der Begriff „Träger“ ist hierbei sowohl institutionell wie persönlich zu verstehen. Die Legislative zählt dazu, nachdem sie den gesetzlichen Ordnungsrahmen geschaffen hat. Ansonsten gehören neben den Exekutiv-Orga-nen des Bundes und der Länder auch die Gemeinden dazu, weil sie „selbst ein Stück , Staat'sind“ schließlich aber auch die politischen Parteien und die von ihnen abhängigen Unternehmen, Personen und Vereinigungen. Das ist nicht nur die Kehrseite der den Parteien in Art. 21 GG eingeräumten Position eines Verfassungsorgans, wodurch auch sie zu „einem Stück Staat“ geworden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat hier vielmehr vor allem die tatsächlichen Machtverhältnisse im „Parteienstaat“ im Auge. Die Regierungsparteien gewönnen durch einen „als staatlicher in Erscheinung tretenden Einfluß“ einen ungerechtfertigten Vorteil. Der „Amtsbonus“, wie dieser Vorteil zumeist genannt wird, ist im Hinblick auf die gebotene Chancengleichheit aller Parteien verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen und muß deshalb, wenn er schon nicht ganz verhindert werden kann, so klein wie möglich gehalten werden.
Das Gericht billigte ausdrücklich den im niedersächsischen Landesrundfunkgesetz vom 23. Mai 1984 vorgesehenen generellen Ausschluß der Parteien und der von ihnen abhängigen Unternehmen, Personen und Vereinigungen von der Erteilung einer Sendeerlaubnis. Für die Rundfunkfreiheit seien „Staatsfeme und Überparteilichkeit“ von entscheidender Bedeutung. Personell zählen zu den „Trägem öffentlicher Gewalt“ neben den Angehörigen des öffentlichen Dienstes auch alle von den Parteien abhängigen Personen. Ihr Ausschluß von leitenden Tätigkeiten im Rundfunkbetrieb sei ebenfalls „durch den Grundsatz der Staatsfreiheit gerechtfertigt“
III. Die demokratietheoretische Begründung des „Staatsfreiheits“ -Prinzips
1. Willensbildung von unten nach oben Der Kerngedanke des Prinzips der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungs-und Willensbildung, wie es vom Bundesverfassungsgericht formuliert wurde und in ständiger Rechtsprechung angewendet wird, findet sich im ersten Urteil über die Parteienfinanzierung Dessen Leitsatz 2 lautet: „Der Grundgesetzgeber hat sich, indem er die freiheitliche demokratische Grundordnung geschaffen hat, für einen freien und offenen Prozeß der Meinungs-und Willensbildung des Volkes entschieden. Dieser Prozeß muß sich vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin, vollziehen. Den Staatsorganen ist es grundsätzlich verwehrt, sich in bezug auf diesen Prozeß zu betätigen (Art. 20 Abs. 2, 21 GG).“
Entscheidend für das Staatsverständnis der Bundesrepublik ist, daß sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nicht auf eine spezielle Limitierung staatlichen Handelns beschränkt. Es macht vielmehr eine grundsätzliche Aussage zum Verhältnis von Bürger und Staat: „Die Staatsorgane werden durch den Prozeß der politischen Willensbildung des Volkes, der in die Wahlen einmündet, erst hervorgebracht (Art. 20 Abs. 2 GG).“ 37) Dies bedeutet, daß die staatlichen Organe als die Folge eines konstitutiven Aktes anzusehen sind, den das Volk in jeder Wahl erneuert, daß es sie also vorher — theoretisch — nicht gibt.
Diese Argumentation ist von erheblicher staats-theoretischer Bedeutung. Der Staat und seine Organe haben keine vorkonstitutionelle Existenz und damit keine eigenen, vorgegebenen, übergeordneten Rechte. Hält man sich diese Prämisse vor Augen. dann ist die Schlußfolgerung des Gerichts, die zum „Staatsfreiheits" -Prinzip führt, ohne weiteres einsichtig: Die vom Volk durch Wahlen hervorgebrachten staatlichen Organe dürfen in den Prozeß der individuellen und öffentlichen Meinungs-und Willensbildung, der zu ihrer Re-Konstituierung in den folgenden Wahlen führt, selbst nicht eingreifen. Art. 20 Abs. 2 GG ist wörtlich zu nehmen: Die Staatsgewalt wird „vom Volk“ „durch besondere Organe“ ausgeübt. Das heißt, daß das Volk zuerst da ist. Die „besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ sind vom Volk beauftragte Sachwalter. Sie handeln als solche nicht aus eigenem Recht. Hiermit ist für die Bundesrepublik staatsund demokratietheoretisch fixiert, was im letzten Herbst auf Leipzigs Straßen spontanen Ausdruck fand: „Wir sind das Volk!“
Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts folgt der „Lehre von der , staatsfreien 1 politischen Willensbildung des Volkes“ Danach vollzieht sich „demokratische Rechtserzeugung“ in folgenden Stufen: freie Meinungsäußerung — freie öffentliche Meinungsbildung — freie politische Willensbildung der Aktivbürgerschaft — Organerzeugung im freien Wahlverfahren — kompetenzförmige Staatswillensbildung — Setzung von Rechtsakten durch spezifische Organtätigkeit
Kempen bezeichnet dieses Schema als „konstitutionellen Entscheidungsablauf“ und als „Ausformung des Verfassungsprinzips der Demokratie“ das in Art. 20 Abs. 1 GG fixiert ist und nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht geändert werden kann. Es gilt unverändert bis zu „dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ 2. Die demokratische „Legitimationskette“
Das entscheidende Charakteristikum dieses staatstheoretischen Gedankengangs ist das Prozeßhafte des „konstitutionellen Entscheidungsablaufs“. Im Leitsatz 2 der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1978 kommt dies sehr gut zum Ausdruck: „Die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation erfordert eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern.“ Gemäß Art. 20 Abs. 2 GG erhält die staatliche „Hoheitsmacht“ für die von ihr gesetzten Rechtsakte ihre demokratische Legitimation durch Wahlen. Die „Legitimationskette“ beginnt jedoch nicht erst mit den Wahlen. Für diese gibt es vielmehr schon eine unabdingbare legitimatorische Voraussetzung: „Wahlen vermögen demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG nur zu verleihen, wenn . . . die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozeß der Meinungsbildung gewinnen und fällen können . . ."
Die „Legitimationskette“, die die Voraussetzung für alles rechtmäßige staatliche Handeln im Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist, beginnt mit der Freiheit und Offenheit des den Wahlakten vorausgehenden Prozesses der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung. Dessen Legitimationskraft zu gewährleisten, ist der (organisationsrechtliche) Sinn der Garantien des Art. 5 Abs. 1 GG Diese Gewährleistung wiederum ist „für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend“ — eine Feststellung, die das Bundesverfassungsgericht in einschlägigen Urteilen immer wieder erneuert hat
Um den zur Legitimation demokratischer Staatstätigkeit erforderlichen freien und offenen Prozeß der politischen Meinungsund Willensbildung des Volkes zu gewährleisten, ist ein „Meinungsmarkt“ erforderlich, „auf dem die Vielfalt der Meinungsrichtungen unverkürzt zum Ausdruck gelangt“ Der Staatsbürger kann und soll sich seine politische Meinung nicht im stillen Kämmerlein bilden. Es kommt für die demokratische Legitimität entscheidend darauf an, daß Meinungen und Möglichkeiten politischen Handelns in breiter Öffentlichkeit diskutiert werden können — auf dem öffentlichen, jedem Staatsbürger in gleicher Weise zugänglichen, freien und nicht durch Machtstrukturen verengten „Meinungsmarkt“. 3. Die Notwendigkeit eines staatsfreien „Meinungsmarktes“
Auf dem „Meinungsmarkt“, der der Vorbereitung der Konstituierung der Staatsorgane durch Wahlen dient, haben jene sich — nach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts „von Verfassungs we-gen“ — jeglicher aktiven Betätigung zu enthalten, die zu einer Präjudizierung oder Beeinflussung der vom demokratischen Grundprinzip gebotenen freien und offenen Meinungs-und Willensbildung des Volkes führen könnte. Diese Notwendigkeit ergibt sich nicht nur aus der theoretischen Vorstellung. daß die Staatsorgane ihre Existenz erst dem Ergebnis des dort ablaufenden Meinungs-und Willensbildungsprozesses verdanken. Das Bundesverfassungsgericht ergänzt diese theoretische Argumentation vielmehr noch durch eine praktische Begründung: Die Freiheit des auf dem „Meinungsmarkt“ ablaufenden Prozesses der politischen Meinungs-und Willensbildung des Volkes würde durch das Auftreten staatlicher Organe in besonderem Maße beeinträchtigt, weil ihnen die überkommene Reputation staatlicher Autorität anhaftet. „Staatsmeinung“ präjudiziert nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die individuelle „Bürgermeinung“ besonders stark und gefährdet somit die Unabhängigkeit und Offenheit des öffentlichen Meinungs-und Willensbildungsprozesses. Sie muß deshalb bewußt limitiert werden. Die staatlichen Organe haben abzuwarten, was der politische Meinungs-und Willensbildungsprozeß des Volkes ergibt, auch wenn es ihnen noch so sehr auf den Nägeln brennt, dem Volk „vernünftige“ Meinungen und „sachgerechte“ Willensentscheidungen anzuempfehlen.
Unter den „Mitteln“, die dem Staat besondere Einflußmöglichkeiten eröffnen, versteht das Bundesverfassungsgericht vor allem — aber nicht nur — finanzielle Mittel. In diesem Zusammenhang begründet es die von der Verfassung gebotene Zurückhaltung des Staates auf dem „Meinungsmarkt“ mit einem weiteren, ungemein logischen Argument: „Die finanziellen Mittel und Lasten, mit denen dieser Staat erhalten wird, werden grundsätzlich von allen Staatsbürgern ohne Ansehen ihrer politischen Anschauungen oder Zugehörigkeiten erbracht.“ Deshalb sei es unzulässig, „die von der Allgemeinheit erbrachten und getragenen finanziellen Mittel und Möglichkeiten des Staates ... in parteiergreifender Weise“ einzusetzen 4. Das Grundrecht der freien Meinungsbildung Die Gewährleistung eines vielfältigen, freien und offenen „Meinungsmarktes“, die Art. 5 Abs. 1 GG in der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht enthält, geht über die klassischen liberalen Freiheitsrechte weit hinaus. In ihnen war immer nur von der Freiheit der Meinungsäußerung die Rede. Damit war ein Abwehrrecht des einzelnen Bürgers gegen Versuche des Staates gemeint, ihm den Mund zu verbieten. Im „konstitutionellen Entscheidungsablauf“, wie er oben dargestellt wurde, ist die freie individuelle Meinungsäußerung aber nur die erste Stufe. Bis zur „Organerzeugung im freien Wahlverfahren“ gibt es zwei wichtige Zwischenstufen: die „öffentliche Meinungsbildung“ und die „politische Willensbildung der Aktivbürgerschaft“. Die diesem Schema zugrundeliegende Vorstellung ist, daß aus individuellen Meinungsäußerungen die öffentliche Meinung entsteht, in der sich dann der politische Willen des Staatsvolkes herausbildet. Diese beiden Phasen des „konstitutionellen Entscheidungsablaufs“ erfordern ebenfalls wirksame Freiheitsgarantien, weil sonst die Meinungsäußerungsfreiheit davor und die Wahlfreiheit danach nur einen formalen, substanzlosen Charakter hätten und damit ihrer für die freiheitliche demokratische Grundordnung „schlechthin konstituierenden“ Bedeutung entkleidet wären.
Das im Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 GG „jedem“ garantiert Recht, „seine Meinung . . .frei zu äußern“, hätte wenig praktischen Sinn, hätte jeder nicht auch das Recht, sich seine eigene Meinung frei zu bilden. Ohne das Recht der freien Meinungsbildüng könnte das Recht der freien Meinungsäuße-rung lediglich darin bestehen, fremde, indoktrinierte Meinungen frei nachplappern zu dürfen. Ein solches Recht wäre kein Grundrecht im Sinne unserer Verfassung. Diesen Sachverhalt, der im Wortlaut des Grundgesetzes nicht explizit berücksichtigt ist, hat das Bundesverfassungsgericht schon in einem seiner frühen Urteile eindeutig klargestellt Der Freiheit der Bildung der öffentlichen Meinung, so heißt es dort, „kommt eine so große Bedeutung zu, daß sie mit Fug als durch Art. 5 GG mitgarantiert angesehen wird“. 5. „Informationsfreiheit“ als Voraussetzung freier Meinungsbildung Der Parlamentarische Rat hatte seinerzeit bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes die Notwendigkeit der Erweiterung des „klassischen“ Grundrechts der freien Meinungsäußerung sehr wohl erkannt. In folgerichtiger Anwendung der „Erfahrungen mit den zur nationalsozialistischen Regierungs-praxis gehörenden Informationsbeschränkungen“ und der „staatlichen Meinungslenkung“ nahm er als Voraussetzung der freien Meinungsäußerung und der ihr vorausgehenden freien Meinungsbildung mit dem Recht, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“, in Art. 5 Absatz 1 zusätzlich zum klassischen Recht der freien Meinungsäußerung ein neues „Grundrecht der Informationsfreiheit“ in das Grundgesetz auf. Es steht nunmehr, so das Bundesverfassungsgericht, „in der grundgesetzlichen Ordnung gleichwertig neben der Meinungs-und Pressefreiheit“ und ist damit „kein bloßer Bestandteil des Rechts der freien Meinungsäußerung und -Verbreitung, sondern zusammen mit den anderen Freiheitsrechten „eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie“ „Informationsfreiheit“ allein reicht jedoch immer noch nicht aus, damit die freie Meinungsbildung tatsächlich gewährleistet ist. Hierfür kommt es nicht nur darauf an, daß die Quellen, wie es in Art. 5 Abs. 1 GG heißt, „allgemein zugänglich“ sind und „ungehindert“ genutzt werden können. Es kommt vielmehr entscheidend auch darauf an, daß keine Quelle anderen gegenüber Privilegien hat, die ihr die Möglichkeit geben, zur vorherrschenden Meinungsmacht zu werden und auf diese Weise die individuelle und öffentliche Meinungsbildung zu präjudizieren Auch das im letzten Satz des Art. 5 Abs. 1 GG ausgesprochene Zensurverbot umfaßt die Garantie der freien Meinungsbildung nicht vollständig. Es schließt die Möglichkeit, daß privilegierte Quellen andere Meinungsquellen verdrängen und dadurch „vorherrschende Meinungsmacht“ erlangen, die sie dann für eigene Zwecke nutzen, nicht aus. Hier setzen die organisatorischen Regelungen an, die das Bundesverfassungsgericht zur Verhinderung des Entstehens „vorherrschender Meinungsmacht“ als „von Verfassungs wegen geboten“ herausgearbeitet hat und — soweit sie staatliche Organe betreffen — im Prinzip der „Staatsfreiheit“ zusammengefaßt sind.
Das Bundesverfassungsgericht sieht allerdings mit Recht auch, daß die Gefahr des Mißbrauchs von Machtmitteln zur einseitigen Beeinflussung des individuellen und politischen Meinungs-und Willensbildungsprozesses keineswegs nur bei Staatsorganen vorhanden ist. Solche Machtmittel können sich genausogut in privater Hand befinden oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen zur Verfügung stehen. Deshalb sägt das Gericht im Hinblick auf den Rundfunk, „daß dieses moderne Instru-ment der Meinungsbildung weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert“ werden darf
In der sogenannten „Blinkfüer“ -Entscheidung hat es die „Ausübung wirtschaftlichen Druckes, der . . . das Ziel verfolgt, die verfassungsrechtlich gewährleistete Verbreitung von Meinungen und Nachrichten zu verhindern“, ebenfalls für verfassungswidrig erklärt. Ein solches Verhalten, sagte das Gericht, widerspricht „dem Sinn und dem Wesen des Grundrechts der freien Meinungsäußerung, das den geistigen Kampf der Meinungen gewährleisten soll“ In der Bundesrepublik wacht das Bundeskartellamt über die Einhaltung der allgemeinen Wettbewerbsordnung auch mit dem Ziel, das Entstehen „vorherrschender Meinungsmacht“ im privaten Medienbereich zu verhindern. Sollte dies einmal nicht gelingen, so besteht auf Grund der zitierten Spruchpraxis Gewißheit, daß das Bundesverfassungsgericht — auf Antrag — verhindernd eingreifen würde. 6. Die Grundrechte des Art. 5 GG als Maßstäbe objektiver Ordnung Schon in einer frühen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß das „Recht auf Teilhabe an der politischen Willensbildung . . . sich in der lebendigen Demokratie nicht nur in der Stimmabgabe bei den Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung“ äußere Im demokratischen Staat der Gegenwart darf man nicht nur eine eigene Meinung haben, man kann und soll sie auch aktiv vertreten, um sie im allgemeinen Meinungs-und Willensbildungsprozeß zur Geltung zu bringen. „Öffentliche Meinung“ ist heute „nicht länger personalisierend als formulierte, empirisch abfragbare, verbreitete politische Auffassung, sondern als kommunikativer Vorgang“ zu verstehen
Dieser „kommunikative Vorgang“ ist für die Demokratie des Grundgesetzes, wie es das Bundesverfassungsgericht formulierte, „schlechthin konstituierend“ und muß deshalb gegen präjudizierende und verfälschende Einflüsse geschützt werden. Aus diesem Grunde haben die Garantien des Art. 5 GG über ihren traditionellen individualrechtlichen Charakter hinaus heute auch eine ordnungspolitische Funktion. Sie werden zu einem „objektiven Prinzip der Gesamtrechtsordnung“ mit der Aufgabe, die organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, die notwendig sind, um die Freiheit des individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildungsprozesses zu gewährleisten. Die staatliche Ordnung ist „von Verfassungs we-gen“ so zu gestalten, daß die Ausübung der in Art. 5 GG niedergelegten verfassungsmäßigen Freiheitsrechte durch jeden einzelnen Staatsbürger nicht nur möglich ist, sondern gefördert wird. Die staatlichen Organe sind verpflichtet, institutioneile Vorkehrungen zu treffen, die die Möglichkeiten zur Wahrnehmung dieser Grundrechte verbessern, und sie müssen institutioneile Strukturen vermeiden oder beseitigen, die die Wahrnehmung der individuellen Grundrechte behindern könnten. 7. Der individualrechtliche Aspekt der „Staatsfreiheit“
Das Prinzip der „Staatsfreiheit“ in dem vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Sinne ist nicht nur ein Organisationsprinzip für den institutioneilen Bereich des öffentlichen Meinungsund Willensbildungsprozesses. Es hat vielmehr die für Art. 5 GG, aus dem es abgeleitet ist, typische Dop-pelbedeutung. Als Ordnungsprinzip institutionelles garantiert es den am Meinungs-und Willensbildungsprozeß beteiligten „Medien und Faktoren“ die Freiheit von staatlicher Einflußnahme. Es gewährleistet den freien „Meinungsmarkt“ als Institution. die keiner Bevormundung durch staatliche Mächte ausgesetzt ist.
Neben dieser staatspolitischen Bedeutung, die auf dem Demokratieprinzip des Art. 20 GG gründet, steht die „klassische“ individualrechtliche Komponente. Die Freiheit der individuellen Meinungsund Willensbildung ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Würde des Menschen, die „zu achten und zu schützen“ nach Art. 1 Abs. 1 GG die „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ ist. Sie ist zudem eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Rechts auffreie Entfaltung der Persönlichkeit, die das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 garantiert -Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit bedingen, daß der Mensch nicht zum Objekt staatlicher Bevormundung gemacht wird, daß der Prozeß seiner individuellen Meinungsund Willensbildung „staatsfrei“ bleibt.
Das persönliche Recht eines jeden Bürgers, sich seine Meinung frei zu bilden, besteht unabhängig von der für das Funktionieren des demokratischen Systems notwendigen Freiheit des allgemeinen Meinungs-und Willensbildungsprozesses. „Es gehört zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlichkeit zu entfalten“, urteilt das Bundesverfassungsgericht und zitiert in diesem Zusammenhang Art. 10 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950: „Jeder hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein.“
IV. Vom Parteienstaat zur Bürgerdemokratie
Die Formulierung des Prinzips der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung markiert eine bedeutsame Entwicklung im Staatsverständnis der Bundesrepublik. Der noch von den Traditionen des monarchischen Obrigkeitsstaates geprägte „Parteienstaat“ der Weimarer Republik war das strukturelle Erbe, das die Bundesrepublik übernahm. Ihm lag der Gedanke einer „repräsentativen“ Demokratie zugrunde, in der das Volk in freien Wahlen je nach Erfahrungen und Programmen eine Führungselite auswählt, die die öffentlichen Angelegenheiten nach bestem Wis-sen und Gewissen wahrnimmt und sich am Ende der Wahlperiode wiederum dem Urteil der Wähler stellt.
Im „Parteienstaat“ hat der Bürger durch sein Votum zwar das letzte Wort darüber, wer nach welchen allgemeinen Grundsätzen regiert, doch im politischen Alltag bleibt er auf die Rolle des Zuschauers beschränkt. Diese Rolle genügt vielen Bürgern heute nicht mehr. Sie erheben den Anspruch auf Mitwirkung im politischen Alltag, zumal immer häufiger im Verlauf der Wahlperioden wichtige Entscheidungen zu treffen sind, die zum Zeitpunkt der Wahl noch gar nicht absehbar waren und demzufolge auch nicht durch das vom Wähler erteilte Mandat gedeckt sein können. Die verstärkte Beteiligung des einzelnen ist in der Praxis aber nur über die öffentliche Meinung möglich, der deshalb in der modernen Demokratie eine hervorgehobene Bedeutung zukommt.
Dieser Entwicklung hat das Bundesverfassungsgericht mit den hier behandelten Urteilen Rechnung getragen. Das darin entwickelte Prinzip der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungs-und Willensbildung berücksichtigt die Notwendigkeit, daß der Bürger kontinuierlich — nicht nur zu Wahltagen — seine Meinung frei bilden und über die Medien als Richtlinie für die laufende Poli-tik kundtun kann. Peter Häberle hatte deshalb recht, als er das Urteil zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung in Wahlkampfzeiten als „Markstein in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“ und als „Stärkung der Idee der Bürgerdemokratie" bezeichnete Und Klaus Stern erkannte in diesem Urteil einen „neuen staatstheoretischen, die Parteiendominanz korrigierenden, ihre Mittler-Funktion hervorhebenden und das Gemeinwohl stärker betonenden“ Ansatz
Häberle warnte jedoch auch zu Recht davor, daß „der vom BVerfG festgestellte Mißbrauch der Staatsmacht für Parteizwecke“ nicht zu einer „Antiparteienhaltung“ oder gar „Staatsverdrossenheit“ führen dürfe. Die Verfassungstheorie müsse sich nun „neu“ um „ein demokratisches Amts-und Staatsorganverständnis“ bemühen, „um ein Bild von ideologiefreier staatlicher Neutralität, eine kompetenz-und funktionell-rechtliche Gemeinwohlkonzeption und eine Theorie der Parteien, die ihre öffentlichen Aufgaben sichtbar macht, ohne zum , Parteienstaat‘ zu führen“
Diese Arbeit ist bisher noch nicht geleistet. Auch der Geltungsbereich des „Staatsfreiheits“ -Prinzif>s über die Bereiche hinaus, in denen das Bundesverfassungsgericht es bisher angewehdet hat, ist noch nicht erforscht. Der langjährige Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Hans Bausch, kam durch die Fernseh-Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu einer Erkenntnis, die beunruhigen muß: „Es gehört zu den bemerkenswertesten Kennzeichen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, daß die Weichen der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung mehr als einmal nicht von Parlaments-mehrheiten, sondern von den Richtern des Bundes-Verfassungsgerichts zu Karlsruhe gestellt worden sind.“
Was Bausch hier hinsichtlich der Parlamentsmehrheiten feststellt, gilt weitgehend auch für die Wissenschaften. Das Wesen des Staates von heute ist nicht klar definiert. Der Ausschluß staatlicher Einflußnahme auf den Meinungs-und Willensbildungsprozeß des Volkes bedeutet ja keineswegs eine minimalisierende Beschränkung staatlicher Tätigkeit etwa im Sinne des bekannten „Nachtwächterstaates“. „Staatsfreiheit“ bedeutet nicht die liberalisti-sehe Hervorhebung von Individualrechten, nicht die Kastration staatlicher Autorität. Im Gegenteil. Auch wenn es auf den ersten Blick kurios erscheint, gilt: Weil das Prinzip der „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung zum Selbstverständnis des „Staates des Grundgesetzes“ gehört, ist es der Hege und Pflege durch die staatlichen Organe ausdrücklich anheim-gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat diesem Gedanken in einer Weise Ausdruck gegeben, wie er besser und kürzer kaum formuliert werden kann: „Weil er der freien Selbstbestimmung aller unter Gewährleistung von Frieden und Ordnung einen institutioneilen Rahmen verbürgt, kommt dem Staat Hoheitsgewalt, d. h. die Macht zu, Akte zu setzen, die für alle verbindlich sind.“
Damit erklärt das Bundesverfassungsgericht die freie Selbstbestimmung eines jeden zum obersten Staatsziel der Bundesrepublik. Der Staat des Grundgesetzes ist kein Selbstzweck. Er dient keinem Machtstreben und keinem nationalen Pathos. Er ist vor allem anderen, was man ihm auftragen mag, ein Instrument zur Gewährleistung der freien Selbstbestimmung seiner Bürger. Eine unverzichtbare Voraussetzung für die Erfüllung dieser obersten Staatsaufgabe ist die „Staatsfreiheit“ der individuellen und öffentlichen Meinungsund Willensbildung. Sie zu gewährleisten, gehört zu den Verfassungspflichten eines jeden Staatsorgans.