Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Politik des mittleren Weges Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 9-10/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 9-10/1990 Der Sozialkonservativismus im deutschen Staats-und Gesellschaftsdenken Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren Die Politik des mittleren Weges Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland Das Verfassungsprinzip der „Staatsfreiheit“ Kommentar und Replik Politisch-moralische Urteilsbildung ohne politische Beteiligung? Zum Beitrag von Bernhard Sutor: „Politikunterricht und moralische Erziehung“ (B 46/89) Artikel 1

Die Politik des mittleren Weges Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland

Manfred G. Schmidt

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Welches sind die Besonderheiten der innenpolitischen Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland — relativ zu anderen westlichen Demokratien? Wie sind diese Besonderheiten entstanden und welche Mechanismen tragen zu ihrer Aufrechterhaltung bei? In der Antwort auf diese Fragestellungen wird gezeigt, daß sich die Bundesrepublik durch die „Politik eines mittleren Weges“ zwischen skandinavischem „Wohlfahrtskapitalismus“ und nordamerikanischem marktorientiertem auszeichnet. Die Besonderheiten der Staatstätigkeit der Bundesrepublik liegen in einer einzigartigen Kombination von konservativ-reformerischen, wirtschaftsliberalen und sozialdemokratischen Traditionen der Regierungspraxis und der Regierungsphilosophie. Diese Besonderheiten manifestieren sich u. a. in spezifischen Reaktionen auf bestimmte „Politikdilemmas“. Beispielsweise wird der Preisstabilität Vorrang vor Vollbeschäftigung gewährt, aber zugleich wird der Zielkonflikt zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Effizienz zugunsten eines sozialstaatlichen Mittelweges mit moderatem Wirtschaftswachstum bewältigt. Ferner wird gezeigt, daß für die Politik des mittleren Weges historische Weichenstellungen sowie politisch-institutionelle und machtpolitische Bedingungen der Bundesrepublik verantwortlich sind.

I. Problemstellung: Die Politik des mittleren Weges

Besonderheiten der Staatstätigkeit der Bundesrepublik im internationalen Vergleich

In Deutschland hat man vielfältige Erfahrungen mit politischen Kontinuitätsbrüchen: Zwischen 1918 und 1949 fanden nicht weniger als fünf drastische Regimewechsel statt. Die Transformation vom autoritären Regime des Wilhelminischen Kaiserreiches zur demokratischen Ordnung wurde noch während des Ersten Weltkrieges durch die faktische Anerkennung der Gewerkschaften in Gang gesetzt und mit der Gründung der Weimarer Republik abgeschlossen. Jedoch war der neuen politischen Ordnung nur eine kurze Lebensdauer beschieden. 1930 läuteten die Präsidialregime auf Notverordnungsbasis den Übergang von der Demokratie zum autoritären Staat ein. Der Machtwechsel von 1933 und der Aufstieg der NSDAP sowie die Entwicklung des „Führerstaates“ markierten den Übergang zu einem totalitären Regime. Doch kaum zwölf Jahre später brach das „Dritte Reich“ unter dem Ansturm der Armeen der Alliierten zusammen. Seine Verwaltung wurde zunächst von den Besatzungsmächten übernommen, die in den Westzonen Deutschlands alsbald eine „Liberalisierungs-Diktatur“ praktizierten. Diese schuf den Unterbau für die 1949 erfolgende Gründung der Bundesrepublik, der kurze Zeit später in Mitteldeutschland unter sowjetischer Oberherrschaft die Gründung der DDR folgte.

Die Regimewechsel gingen mit jeweils einem mehr oder minder drastischen Kurswechsel bei den Staatstätigkeiten einher. Der Übergang vom Wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Demokratie beinhaltete nicht nur die Demokratisierung Deutschlands, sondern auch die Anerkennung der Gewerkschaften, die Institutionalisierung des Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital und den Ausbau der Sozialpolitik Mit dem Übergang zu den Präsidialregimes der Weimarer Republik Anfang der dreißiger Jahre war eine Austeritätspolitik in der Sozial-und Wirtschaftspolitik verbunden. Noch krasser spiegelten sich Aufstieg und Niedergang des Nationalsozialismus in den Staatstätigkeiten wider: Hier kam es zu einer apokalyptischen Mischung aus Wohlfahrt, Vollbeschäftigung und Arbeitsplatzsicherheit für die „schaffenden Deutschen“ — so der nationalsozialistische Jargon —, von Integration einerseits und Exklusion von Gegnern andererseits, zu Reform und Repression, zur Rhetorik des Friedens und einer Realität der Kriegsvorbereitung, schließlich zur Verfolgung und Vernichtung derjenigen, die zu Feinden der neuen Ordnung erklärt wurden.

Ebenso fundamental waren dann auch die Differenzen zwischen der Staatstätigkeit im Nationalsozialismus und den Politiken nach 1945: Der Übergang vom Nationalsozialismus über die „Liberalisierungs-Diktatur“ -Phase zur Bundesrepublik führte auch bei den Staatstätigkeiten zu mehr Normalität als je zuvor — relativ zu den anderen westlichen Industrieländern. An die Stelle des kriegerischen Expansionskurses in der Außenpolitik trat eine zurückhaltende. durch Integration in die militärischen und wirtschaftlichen Ordnungssysteme der westlichen Welt gezügelte und aller Großmachtsallüren abholde Politik. In außenwirtschaftlicher Hinsicht nahm man teil an der Herstellung und Entwicklung eines Weltmarktes. Innenpolitisch kümmerte man sich vor allem um die Wohlfahrt der Bürger und um die Förderung des Wirtschaftsaufbaus. Im Vergleich zur Zeit vor 1945 kam der zivile Teil der Staatstätigkeit sehr viel stärker zum Zuge. Führende Persönlichkeiten der NSDAP hatten sich noch damit gebrüstet, daß der Nationalsozialismus Kanonen statt Butter wählte In der Bundesrepublik wurde anders entschieden: Hier finanzierte man zwar auch Kanonen und Butter, von letzterer /aber zunehmend mehr Überragende Bedeutung haben die Unterschiede zwischen den politischen Ordnungen vor 1945 und denen nach 1945 bzw. 1949 in der Rechts-und Verfassungspolitik. Die Bundesrepublik ist ein liberal-demokratisch verfaßter Rechtsstaat mit ausgebauten Netzen der sozialen Sicherung; sie ist damit das Gegenstück zu dem totalitären Staat des Nationalsozialismus.

Der historische Vergleich verdeutlicht, wie gewaltig die Differenzen zwischen dem sind, was der Staat hier und heute tut, und dem, was er in Deutschland früher getan oder unterlassen hat. Und im internationalen Vergleich? Gibt es beim internationalen Vergleich auch nach 1945 bzw. nach 1949 bemerkenswerte Differenzen zwischen dem Tätigkeitsprofil des (bundes-) deutschen Staates und der Staatstätigkeit anderer westlicher Länder? Wenn ja, welcher Art sind die Besonderheiten der Staats-tätigkeit der Bundesrepublik? Wie sind sie entstanden und welche Mechanismen trugen zu ihrer Aufrechterhaltung bei? Diese Fragen sollen im folgenden erörtert werden

Man muß bei der Beantwortung dieser Fragen berücksichtigen, daß der fundamentale Kontinuitätsbruch von 1945 die Fortsetzung eines deutschen Sonderweges — im Sinne einer radikalen Abweichung von Durchschnittswerten oder anerkannten Normgrößen — verunmöglichte. Damit war auch der Handlungsspielraum für die Staatstätigkeiten umrissen: Sie konnten sich nach 1945 bzw. nach 1949 nicht mehr so dramatisch von den Staatstätigkeiten anderer westlicher Länder unterscheiden wie zuvor. An die Stelle grundsätzlicher Unterschiede beispielsweise zwischen dem nationalsozialistischen „Behemoth“ und den angloamerikanischen Demokratien traten nunmehr graduelle Differenzen — und zwar innerhalb des Rahmens der „bürgerlichen Lebensform des Westens“ die jetzt auch in der Bundesrepublik eingezogen war, und nicht außerhalb desselben.

Welches sind die Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik — innerhalb dieser Lebensform und im Vergleich zu allen anderen westlichen Demokratien? Die Antwort lautet: Kennzeichnend für die Staatstätigkeit in der Bundesrepublik ist eine besondere Mischung aus drei unterschiedlichen Traditionen von Regierungspraxis und Regierungsphilosophie — bei ihr laufen wirtschaftsliberale, konservativ-reformerische und demokratisch-sozialistische Traditionen zusammen. Man kann diese Mischung aus Politiktraditionen und Regierungsphilosophien abkürzend als die Politik des mittleren Weges bezeichnen. Es ist ein mittlerer Weg, ein dritter Weg zwischen dem skandinavischen Wohlfahrtskapitalismus (der auf der politischen Grundlage einer dominanten Sozialdemokratie gebaut ist) und dem amerikanischen marktorientierten Kapitalismus (der politisch auf der Vorherrschäft von nichtsozialistischen Kräften errichtet ist).

Die Politik des mittleren Weges der Bundesrepublik manifestiert sich in einer eigentümlichen Kombination von Reaktionsweisen auf klassische Politik-Dilemmas, wie z. B. das Vollbeschäftigungs-ln-flations-Dilemma und der Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Effizienz; sie beinhaltet ferner eine besondere Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt, bei dem das Modell eines transferintensiven Interventionsstaates gewählt wird (vgl. die Über-sicht). Bei der Konfrontation mit dem Vollbeschäf-tigungs-Inflations-Zielkonflikt läuft die Politik des mittleren Weges auf den Primat der Preisstabilitätspolitik hinaus. Das unterscheidet die Bundesrepublik markant von dem Vollbeschäftigungsmodell schwedischer Art, und ebenso groß ist die Differenz zu den Volkswirtschaften, die sich auf dem Stagflationspfad (Stagnation und Inflation) bewegen (vgl. Übersicht über die Besonderheiten der Staatstätigkeit der Bundesrepublik im internationalen Vergleich, S. 25).

Die Bundesrepublik verfolgt in der Wirtschaftspolitik eine ausgeprägte Preisstabilitätsorientierung; sie hat damit eine Wahl getroffen, die man normalerweise eher politisch rechts als links stehenden Regierungsparteien zuschreiben würde. Interessanterweise wurde die Wahl der Preisstabilitätspolitik jedoch kombiniert mit einer — für Rechtsparteien untypischen — wohlfahrtsstaatlichen Regierungspraxis und Regierungsphilosophie: Man verknüpfte die liberale Linie mit einem sehr hohen Maß an sozialer Protektion. Ferner nimmt die Bundesrepublik auch beim Zielkonflikt zwischen gesamtwirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gleichheit eine eigentümliche Position ein: Sie verbindet Effizienz-und Gleichheitsgesichtspunkte auf einem sozial-B staatlichen Mittelweg Damit unterscheidet sie sich markant von Ländern wie z. B. Japan und den sich neu industrialisierenden Staaten, in denen Wachstum um jeden Preis gefördert wird. Ebenso markant sind die Unterschiede gegenüber Ländern, in denen Umverteilung um jeden Preis praktiziert wird, wie z. B. in Kuba nach der Revolution von 1960, in der DDR vor allem in den fünfziger Jahren und in der Sowjetunion der zwanziger und dreißiger Jahre.

Schließlich sind die liberale und die wohlfahrtsstaatliche Linie in der Bundesrepublik mit einer speziellen Arbeitsteilung von Staat und Markt verknüpft: Der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt ist in der Bundesrepublik hoch, die Staatsdienerquote (der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst an der Gesamtzahl aller Beschäftigten) ist jedoch vergleichsweise niedrig Die Bundesrepublik ist durch einen transferintensiven Staatssektor gekennzeichnet. Der Konsum — so könnte man vergröbernd sagen — ist zu einem erheblichen Grad sozialisiert, der Arbeitsmarkt und die Produktion jedoch sind in hohem Maße marktwirtschaftlich organisiert, wenngleich durch vielfältige sozialpolitische Polster gefedert.

Die Politik des mittleren Weges kennzeichnet also die Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik. Kein anderes Land auf der Welt hat eine ähnlich markante Kombination aus wirtschaftsliberalen Elementen (für die die preisstabilitätsorientierte Politik steht) und wohlfahrtsstaatlichen Komponenten (für sie steht die Balance zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gleichheit sowie die Transferintensität des Staatssektors). Wie ist diese Politik des mittleren Weges entstanden und welche Faktoren haben zu ihrer Aufrechterhaltung beigetragen?

II. Historische Grundlagen der Politik des mittleren Weges

Die Politik des mittleren Weges hat drei historische Wurzeln: Ihre wohlfahrtsstaatlichc Komponente reicht weit in die Geschichte des Industrialisierungsprozesses Deutschlands zurück; sie ist ohne die konservativ-fürsorgliche Wohlfahrtspolitik des Absolutismus und ohne den christlichen Erziehungs-und Wohlfahrtsgedanken des lutherischen Protestantismus nicht zu denken Die wohlfahrtsstaatliche Komponente wurde im Wilhelminischen Kaiserreich weiter gepflegt — nicht zufällig war Deutschland in dieser Periode die Pioniemation der modernen Sozialpolitik —, in der Weimarer Republik ausgebaut und im Nationalsozialismus zu einer Mischung aus Erziehungs-und Wohlfahrtsdiktatur, Kriegführung gegen die „äußeren Feinde“ und Vernichtungspolitik gegen zum „inneren Feind“ erklärte Gruppen verdichtet.

Die liberale Komponente der Politik des mittleren Weges und ihre Preisstabilitätsorientierung im besonderen ist jüngeren Datums. Ihre Wurzeln liegen in den traumatischen Erfahrungen mit der Hyperinflation von 1923 und mit der Währungsreform von 1948, die man im wesentlichen als Bewältigung der vom Nationalsozialismus überlieferten zurückgestauten Inflation interpretieren muß. Beide Inflationen produzierten ein riesiges Quantum an Unsicherheit, an nichtvorhersehbarer Umverteilung und an nicht-antizipierter Vernichtung von Geld-Vermögensbeständen vor allem bei Kleinsparern und Gläubigern. Hyperinflationen produzieren ein gewaltiges Maß an Unsicherheit, an Nicht-Vorhersehbarkeit und damit auch ein großes Maß an tatsächlicher oder befürchteter Bedrohung von Existenzsicherheit; sie schädigen die Planbarkeit der Zukunft sowohl für die private Lebensführung als auch für gesamtwirtschaftliche Belange. Aus diesem Grunde gelten sie bei den meisten Bürgern als sozial-ökonomische Katastrophen, deren Wiederholung unbedingt zu verhindern ist.

Die Politik des mittleren Weges speist sich nicht nur aus der Reaktion auf sozial-ökonomische Katastrophen, sondern auch aus Lehren, die deutsche Politiker und die westlichen Besatzungsmächte aus politischen Katastrophen — wie dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und der Praxis des Nationalsozialismus — zogen. Diese Lernprozesse sowie die mit dem „Kalten Krieg“ einhergehende Teilung Deutschlands resultierten in einem folgenreichen Umbau der politisch-institutionellen Bedingungen im Westen Deutschlands. Zu den für unser Thema relevantesten Veränderungen zählen: die Zähmung des Zentralstaates durch den Föderalismus und die Einrichtung von zwei „Kontra-Regierungen“ nämlich die Deutsche Bundesbank — ihr ist die Rolle des Hüters der Währung zugedacht — und das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung. Hinzu kam die Prägung des Parteiensystems mittels der Lizenzierung der Parteien der Christdemokraten, der Liberalen, der Sozialdemokraten und der Kommunisten. Zu erwähnen ist ferner die Strukturierung des Systems der Arbeitsbeziehungen, das nunmehr durch Einheitsgewerkschaften und Industrieverbandsprinzip und nicht durch Richtungsgewerkschaften gekennzeichnet ist.

• Die dominante Regierungsphilosophie in Deutschland trug immer schon etatistische Züge. Dem klassischen Wirtschaftsliberalismus gab sie wenig Raum; Fürsorge und Sozialprotektion jedoch zählten viel. In der Weimarer Republik und insbesondere in der Bundesrepublik wurde diese Politik unter dem Beifall des Wählerpublikums zum entwik-kelten Wohlfahrtsstaat ausgebaut. Diese Politik traf sich mit der großen Nachfrage der Wähler nach Sicherheit, die ihrerseits als eine Reaktion auf die Hyperinflationen und auf die millionenfachen Schicksalsschläge während und nach dem Zweiten Weltkrieg gedeutet werden kann. Anfang der fünfziger Jahre war mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Bundesrepublik von mindestens einem der großen Schicksalsschläge betroffen: Flucht, Vertreibung, Verlust der Wohnung, Ausbombung, lange Kriegsgefangenschaft, Tod oder Schwerversehrtheit des Familienvorstandes. Auf diesem Bo-den der Erfahrungen mit existentieller Unsicherheit basiert die Politik des mittleren Weges

III. Politik des mittleren Weges und der „Hüter der Währung“

Eine zentrale Agentur für die Politik des mittleren Weges ist die Bundesbank. Ihre Philosophie und Praxis sind auf die Sicherung der Währung zugeschnitten. Die Bundesbank definiert dieses Ziel konkret als Wahrung der Preisstabilität, notfalls unter Inkaufnahme von Wachstumsverlangsamung und Arbeitslosigkeit Institutionell ermöglicht wird dieser Kurs durch die weitreichende Autonomie der Bundesbank gegenüber Parlament und Regierung; die Bundesbank ist zur Unterstützung der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung nur in dem Maße verpflichtet, in dem dies nicht ihrem ureigenen Ziel zuwiderläuft. Politisch wird dieser Kurs dadurch erleichtert, daß die Bundesbank bei der preisstabilitätsorientierten Politik auf die Zustimmung der Wählermehrheit insgesamt wie auch jeweils der Mehrheit der CDU/CSU-, der FDP-und der SPD-Wähler setzen kann. Man kann deshalb sagen: Die Preisstabilitäts-Komponente der Politik des mittleren Weges besitzt eine Massenbasis bei den Wählern, die über die Parteigrenzen und über die Grenzen zwischen sozialen Schichten hinausreicht. Es bestätigt sich auch hier der Lehrsatz, daß ein Land in der Regel die Zentralbank bekommt, die es verdient!

Der mögliche Zielkonflikt zwischen Preisstabilität und Arbeitslosigkeit wird von der Wählermehrheit zwar nicht gern gesehen, aber letztendlich akzeptiert. Für sie ist Preisstabilität Sicherheit. Vom hiermit verbundenen Arbeitslosigkeitsrisiko ist man in der Regel nicht direkt tangiert: Das Arbeitslosigkeitsrisiko betrifft bekanntlich nur etwa 20 bis 25 Prozent der Erwerbsbevölkerung

Die Deutsche Bundesbank gilt auch im internationalen Vergleich zurecht als erfolgreiche Hüterin der Währung Allerdings hat sie bei dieser Politik in zweifacher Weise leichteres Spiel gehabt als andere Notenbanken: Die Finanzpolitik der Bundesregierung war in der Regel eher zurückhaltend denn expansiv; entsprechend schwach waren die von der Finanzpolitik ausgehenden inflationstreibenden Impulse. Ähnliches muß man — Nuancen und Details ebenfalls beiseite gelassen — hinsichtlich der Verteilungskonflikte zwischen Arbeit und Kapital sagen. In der Regel beeinträchtigten die gewerkschaftliche Lohnpolitik und die von den Gewerkschaften mitgetragene Produktivitätssteigerung die Preisstabilitätspolitik nicht

IV.

Vom Siebe-Effekt der föderalistischen Institutionen

Mit der Bundesbank und ihrer Geldpolitik kann man zu einem erheblichen Teil die relative Preisstabilität der Bundesrepublik erklären. Wie ist aber die spezifische Kombination von preisstabilitätsorientierter Politik einerseits und hochentwickelter sozialer Sicherung plausibel zu machen, die charakteristisch für die Bundesrepublik Deutschland ist? An dieser Stelle wird der Rückgriff auf den eigentümlichen Siebe-Effekt erforderlich, den der bundesdeutsche Föderalismus für die Staatstätigkeit hat, und ferner muß — was im nächsten Kapitel geschieht — der Parteienwettbewerb und die Machtverteilung in der Bundesrepublik zur Sprache kommen. Wie man aus den bahnbrechenden Analysen von Fritz Scharpf und Gerhard Lehmbruch weiß ist dem bundesdeutschen Föderalismus ein spezifischer Siebe-Effekt eigen. Mit Umverteilungspolitiken tun sich die bundesstaatlichen Institutionen schwer. Durchlässig sind sie jedoch für Maßnahmen, die nur ein Mehr oder Weniger einer gegebenen Größe, wie z. B. die Finanzierung einer staatlichen Aufgabe, beinhalten. Der Föderalismus der Bundesrepublik hat somit eine spezielle Steuerungsleistung hinsichtlich der Politik des mittleren Weges: Er ermöglicht die großzügige Finanzierung staatlicher Maßnahmen, insbesondere für sozialpolitische Zwecke — günstige wirtschaftliche Bedingungen und politischer Wille vorausgesetzt.

Zur Finanzierung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen eignet sich der bundesrepublikanische Föderalismus bestens. Somit stützt er den wohlfahrtsstaatlichen Pfeiler der Politik des mittleren Weges. Er stützt aber auch die Preisstabilitätspolitik — und zwar indirekt, indem er sich als Hemmschuh für den Weg von der Massenarbeitslosigkeit, insbesondere von einer Arbeitslosigkeit konjunktureller und struktureller Art, zurück zur Vollbeschäftigung erweist. Hierfür sind asymmetrische Siebe-Effekte des Bundestaates verantwortlich: Eine beschäftigungsorientierte Finanz-und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung wird durch ihn erschwert, aber andererseits legt der Bundesstaat der preisstabilitätsorientierten Geldpolitik nichts in den Weg. Der Föderalismus begünstigt folglich eine eindeutige Lösung des Zielkonfliktes zwischen Vollbeschäftigung und Inflation — zu Lasten der Beschäftigung.

Der tiefere Grund hierfür ist folgender: In der Finanzpolitik und mithin auch in der Beschäftigungspolitik legt der Föderalismus dem Zentralstaat Zügel an; in der Bundesrepublik sind sie besonders kräftig. Der Prozentsatz, den das Defizit im Haus-halt des Zentralstaates ausmachen müßte, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage um einen Prozentpunkt zu erhöhen, ist in der Bundesrepublik mit rund sieben Prozent (1983) sehr hoch, und demnach mit viel mehr Konsensbildungskosten verbunden als in Ländern mit stärker zentralistischer Finanzpolitik

Aber nicht nur volumenmäßige Hemmnisse stehen dem Zentralstaat bei einer vollbeschäftigungsorientierten Politik im Wege. Hinzu treten die Faktoren Zeit und Umverteilungsfähigkeit. Die Konsensbildung im Bundesstaat erfordert viel Zeit und sie setzt die weitgehende Ausklammerung von umverteilungshaltigen, in Besitzstände massiv eingreifenden Politiken voraus. Auch das verzögert die Reaktionsfähigkeit der von Bonn aus steuerbaren Konjunkturpolitik. Somit mangelt es an einer weiteren Voraussetzung für eine effektive beschäftigungsorientierte Finanzpolitik. Dies wiederum erleichtert die Einhaltung des Preisstabilitätszieles.

Darüber hinaus spielen auseinanderstrebende Eigeninteressen der öffentlichen Haushalte zum Vorteil der Politik des mittleren Weges eine Rolle Der Versuch, aus der Arbeitslosigkeit rasch zur Vollbeschäftigung zurückzukehren, würde die beteiligten öffentlichen Haushalte mit unterschiedlichen Kosten-Nutzen-Kombinationen konfrontieren. Die Kosten einer defizitfinanzierten Vollbeschäftigungspolitik beispielsweise hätte vor allem der Bund (und teilweise die Länder) zu tragen, während die Gemeinden und die Sozialversicherungskassen Nutznießer wären. Umgekehrt hat die Massenarbeitslosigkeit gewisse „Vorteile“ für man-che öffentlichen Haushalte: Ein Teil der Kosten der Arbeitslosigkeit — beispielsweise die zunehmende Zahl von Sozialhilfefällen — kann vom Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit und vom Budget der Bundesregierung auf die Haushalte der Gemeinden abgewälzt werden.

Der systematische Punkt ist dabei folgender: Die Kosten-Nutzen-Verteilungen der öffentlichen Haushalte unterscheiden sich bei Veränderungen der Beschäftigungspolitik in erheblichem Ausmaß voneinander. Oftmals kommt es bei den einzelnen Haushalten zur Inkongruenz zwischen Kosten und Nutzen und deshalb auch zu Passivität gegenüber der hohen Arbeitslosigkeit, obwohl dies für das Staatsbudget insgesamt eine ungünstige Situation ist. Hier macht sich das Fehlen eines integrierten Arbeitsmarktbudgets — mit dem man die gesamten haushaltspolitischen Kosten und Nutzen alternativer Beschäftigungspolitiken berechnen könnte — als Sperre gegen eine effiziente Vollbeschäftigungspolitik bemerkbar. Aber genau dies stützt seinerseits die Politik des mittleren Weges.

Mit anderen Worten: In den Institutionen und im politischen Prozeß der Bundesrepublik gibt es viel Unterstützung für eine rigorose Preisstabilitätspolitik. aber wenig Chancen für eine rigorose Vollbeschäftigungspolitik. Das führt zu weitreichenden Implikationen: Die Preisstabilitätspolitik der Bundesbank hat in der Finanzpolitik des Staates keinen ebenbürtigen Gegenspieler, der die Beschäftigungspolitik überzeugend vertreten könnte; da-mit besitzt auch die Lohnpolitik der Gewerkschaften keinen verläßlichen Partner für eine vollbeschäftigungsorientierte konzertierte Einkommens-, Geld-, und Finanzpolitik!

Der kleinste gemeinsame Nenner einer zwischen den Verbänden, der Regierung und der Notenbank abgestimmten Politik ist demnach die Preisstabilitätspolitik. Die Folge hiervon liegt auf der Hand: In Situationen, die durch Störungen der Nachfrage-und der Angebotsseite der Wirtschaft gekennzeichnet sind, wie z. B. in den siebziger Jahren, wird das Vollbeschäftigungs-Preisstabilitäts-Dilemma zu Gunsten der Preisstabilität und zu Lasten der Vollbeschäftigung gelöst -Die politischen Institutionen präjudizieren dieses Ergebnis — weitgehend unabhängig von den jeweiligen parteipolitischen Machtverhältnissen.

V. Die parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen, die Machtverteilung zwischen den Parteien und die Politik des mittleren Weges

In gewisser Weise ist die Politik des mittleren Weges überdeterminiert. Zusätzlich zu ihren historisch-ideologischen und institutioneilen Bestimmungsfaktoren kommen die Machtverteilung zwischen den Parteien und die parteipolitische Färbung der Bundesregierungen ins Spiel. In beiden Dimensionen behalten die Parteien zur Rechten der SPD in der Regel die Oberhand. Die bundesdeutsche Sozialdemokratie ist — im internationalen Vergleich betrachtet — von erheblichem Gewicht: Sie gewinnt im Schnitt aller Bundestagswahlen rund 38 Prozent der Stimmen und Sitze; jedoch entfallen mehr als 55 Prozent der Stimmen und der Mandate auf die beiden wichtigsten Parteiformationen zur Rechten der SPD: die CDU/CSU und die FDP. Eine besondere Rolle kommt dabei der zahlenmäßig kleinen — aber strategisch ungewöhnlich gut plazierten — FDP zu: Bei der Regierungsbildung hatte sie häufig die Funktion des Züngleins an der Waage. Hier liegt einer der wichtigsten Gründe für die außerordentlich lange Regierungsbeteiligung der FDP.

Die häufige Regierungsbeteiligung der Liberalen hat ihrerseits direkte Folgen für das Tun oder Lassen der Bundesregierungen. Die Präsenz der FDP in der Regierung zähmt den Populismus und die Sozialstaatlichkeit der beiden großen Parteien; sie zwingt zu einer gemäßigteren Politik bei der Ausgaben-wie bei der Beschäftigungspolitik als sonst zu erwarten wäre. Auch hiermit sind die Weichen für politische Maßnahmen gestellt, die mit dem Ziel der Preisstabilität kompatibel sind und die sich nicht für ein Primat der Vollbeschäftigungspolitik eignen.

Andererseits haben die Koalitionen aus FDP und CDU/CSU oder SPD ein charakteristisches Profil gemeinsam: Sie kommen als Koalitionen dem Ty-pus der „Allerweltsorganisationen“ relativ nahe Deshalb sind sie für den Anreiz empfänglich, im Hinblick auf Wohlstandssicherung und Wachstumsvorsorge eine nicht-partikularistische Politik mitzutragen und diese mittels umfangreicher sozialpolitischer Maßnahmen zu flankieren. Folglich stärken der Parteienwettbewerb und die Konsensbildung in den Koalitionsregierungen der Bundesrepublik die Politik des mittleren Weges: Die beschäftigungspolitische Komponente wird am kurzen Zügel geführt. Das trägt zu einer eindeutigen Lösung des Zielkonfliktes zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität bei — im Zweifelsfall gewinnt die Preisstabilität. Andererseits läßt die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung Handlungsräume für Staats-ausgaben zum Zweck der sozialen Sicherung offen: Namentlich in Perioden längeranhaltenden Wirtschaftswachstums hat die FDP sich mit einer Sozialpolitik arrangiert, die größere und engmaschigere Sicherungsnetze knüpfte, als es einer liberalen Partei lieb sein konnte. Hierdurch sicherte man jedoch letztlich eine tragende Säule der Politik des mittleren Weges: die der Balancierung von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gleichheit.

Geschäftsgrundlage für die Einwilligung der Liberalen zum Staatsinterventionismus der großen Parteien ist freilich ein besonderer Wohlfahrtsstaats-Typus: einer, der seine Leistungen eher auf privater Basis betreibt und „nur“ die Finanzierung dem Staat überläßt. Im Ergebnis entsteht ein transferintensiver Sozialstaat, bei dem ein Großteil der sozialen Sicherung nicht durch staatliches Personal und ihre Güter-und Dienstleistungen (wie zum Beispiel im Rahmen eines staatlichen Gesundheitsdienstes), sondern aufder Basis von Übertragungen („Transfers“) an die Empfänger erbracht wird. Hiermit sind wir bei der — neben Preisstabilität und sozialer Protektion — dritten Spezialität der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik angelangt.

VI. Leistungsvermögen und Defizite der Politik des mittleren Weges

Die Analyse der Politik des mittleren Weges in der Bundesrepublik gibt zu zwei Schlußfolgerungen hinsichtlich ihrer Verankerung und ihres Leistungsvermögens Anlaß Die Politik des mittleren Weges ist fest verankert in den politisch-institutionellen Bedingungen der Bundesrepublik. Ferner kann sie sich auf eine bemerkenswert breite Anhängerschaft stützen. Im Unterschied zu den meisten anderen westlichen Ländern hat die Preisstabilität Vorrang nicht nur bei Unternehmen und den Besitzern mittlerer oder großer Vermögen, sondern auch bei der Masse der Wähler mit geringem Vermögen und bescheidenem Einkommen Selbstverständlich gehören zu den Anhängern der Politik des mittleren Weges die „Gewinner“, die Nutznießer dieses Kurses. Zur Kerngruppe der „Gewinner“ zählen die große Mehrheit der Unternehmer und anderer Vermögensbesitzer; ferner ein ansehnlicher Teil der Beschäftigten, insbesondere der Arbeitnehmer aus dem primären Arbeitsmarkt; sodann Rentner, die auf ein Arbeitsleben von 35 bis 45 Jahren mit geringer oder fehlender Arbeitslosigkeit und mit überdurchschnittlich hohem Lohn-oder Gehalts-einkommen zurückblicken können. Besonders hervorzuheben ist, daß die Kerngruppe der „Ge-winner“ jeweils zu den Kernbereichen der Wählerschaft der beiden großen Parteien und der FDP gehören. Auch von dieser Seite her ist die Politik des mittleren Weges abgesichert. Sie gerät nicht zwischen die Mühlen des Parteienwettbewerbs!

Wo es „Gewinner“ gibt, gibt es „Verlierer“. Auch die Politik des mittleren Weges kommt nicht ohne „Verlierer“ aus. Zu ihnen zählen vor allem die Arbeitslosen. insbesondere Personen mit häufiger Arbeitslosigkeit bzw. Langzeitarbeitslose; ferner Gruppen mit relativ kurzen Berufskarrieren und mit geringem oder unterdurchschnittlichem Lohn-und Gehaltseinkommen. Nicht zu vergessen sind die „Post-Materialisten“, der Teil der Wählerschaft, der Werte wie Selbstverwirklichung, Teilhabe und Umweltschutz wesentlich höher einstuft als traditionelle Pflicht-und Akzeptanzwerte. Doch ist zum Verständnis der politischen Geschichte der Bundesrepublik wichtig, daß auch die „Verlierer“ in der Regel die Chance haben, von den sozialen Sicherungsnetzen zumindest zeitweise aufgefangen zu werden.

Was die Problemlösungsfähigkeit der Politik des mittleren Weges angeht, so fällt zunächst dies auf: Viele Probleme, die im Urteil der Wählermehrheit von fundamentaler Bedeutung sind — nämlich Sicherheitsprobleme — werden recht erfolgreich bewältigt. Die Stillung des Sicherheitsbedarfs schafft die entscheidende Legitimation. Zweifellos werden hierfür auch Grundlagen für vieles andere gelegt: namentlich Grundlagen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung — abzüglich der Unterbeschäftigungsproblematik der siebziger und achtziger Jahre.

Andererseits hat die Poütik des mittleren Weges auch Mängel. Sie ist insbesondere nicht eingestellt auf Probleme, die zügiges Handeln und große Kurs-wechsel erfordern. Schwer tut sie sich bei der Bewältigung komplexer Probleme mit hohem Umverteilungsgehalt. Die Priorität der Preisstabilität und die institutioneilen Fesseln der Finanzpolitik des Bundes verengen darüber hinaus den kurzfristigen Manövrierraum der Bundesregierung beträchtlich. Überdies geht von der Prämierung der Preisstabilitäts-Politik ein — nicht selten suboptimaler — dämpfender Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik und in den wichtigen Handelspartnernationen aus. Die hierdurch verursachten Wohlstandsverluste erschweren ihrerseits die Konsensbildung in der Innenpolitik und in außenpolitischen Verhandlungen mit den westlichen Partnerstaaten.

Für große Veränderungen und kühne Kurswechsel eignet sich die Politik des mittleren Weges in der Bundesrepublik nicht. Sie vermindert sogar die Wahrscheinlichkeit solcher Wenden. Das hat Folgen: Größere politische Wenden sind hierzulande die Ausnahme und nicht die Regel. Grundlegende Reformen nach links oder nach rechts laufen alsbald an großen Hindernissen auf. Das mußten zu ihrem Leidwesen nicht nur die SPD nach 1969, sondern auch die christdemokratischen Parteien und die FDP nach 1982 erfahren.

Kurzfristig machbar sind jedoch kleinere Kursänderungen. Auch das sollte angemessen gewürdigt werden. Kleine Kursänderungen machen sich zunächst kaum bemerkbar; auf lange Frist sieht das jedoch anders aus. (Da kann schon eine Kursänderung um drei Grad bei längerer Seefahrt zu einer drastischen Abweichung von der alten Fahrtroute führen!) Behält man solche Kursänderungen bei — was in der Bundesrepublik häufig der Fall ist — dann kann die langfristige Fähigkeit zur Politikänderung weit größer sein als die anderer Länder, bei denen kurzfristig große Wenden der einen Regierung durch ebenso abrupte Kehrtwendungen der Nachfolgeregierung neutralisiert werden.

Insoweit kann man sagen: Um die kurz-oder mittelfristige „Wendefähigkeit“ der Bundesrepublik ist es nicht gut bestellt. Die Zeiger der Politik des mittleren Weges stehen auf längerfristige Stabilität und Vorhersehbarkeit. Diese Stabilität kann Probleme bei der Konsensbildung und bei der politischen Einbindung von stark abweichenden politischen Gruppen erzeugen, aber auch bei gesellschaftlichen Fragen, die schnelles, zupackendes und koordiniertes Eingreifen erfordern. Andererseits hat die Bundesrepublik eine beachtliche Fähigkeit zum langfristigen, allmählich voranschreitenden „stillen Politik-wandel“ und auf dieser Basis auch eine beträchtliche Fähigkeit zur Berücksichtigung neuer Forderungen, Themen und Lösungsmöglichkeiten. Das ist von erheblichem Vorteil für die Wahrung langfristiger politischer Stabilität, aber auch für die Bewältigung derjenigen gesellschaftlichen Probleme, deren Lösung besonders beharrliches Bohren dikker Bretter verlangt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Norbert Frei. Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987.

  2. Vgl. Lutz Niethammer. Zum Verhältnis von Reform und Rekonstruktion in der US-Zone am Beispiel der Neuordnung des Öffentlichen Dienstes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 21 (1973), S. 177-188. Zur Frage der Kontinuität und Diskontinuität instruktiv: Rainer M. Lepsius, Bundesrepublik Deutschland, in: Nachkriegsgesellschaften im historischen Vergleich, München-Wien 1982, S. 33— 40; Werner Conze/Rainer M. Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1983.

  3. Vgl. Werner Abeishauser (Hrsg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden-Stuttgart 1987.

  4. Vgl. Richard J. Overy, Hermann Göring. Machtgier und Eitelkeit, München 1986, S. 12.

  5. Vgl. Hans Keman, Welfare and Warfare, in: Francis G. Castles/Franz Lehner/Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Managing Mixed Economies, Berlin-New York 1987, S. 97— 141.

  6. Dies war auch die gemeinsame Fragestellung für ein international besetztes Forschungsprojekt, bei dem die Frage der länderspezifischen Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Innenpolitik in sieben Teilprojekten von Länderexperten untersucht wurden. Die untersuchten Länder sind: Australien (Projektbearbeiter: F. G. Castles), Großbritannien (P. Dunleavy), Japan (T. J. Pempel), Israel (M. Shalev), Niederlande und Schweden (G. Therborn), die USA (T. Skocpol und E. Amenta) sowie die Bundesrepublik Deutschland (hierfür war der Verfasser dieses Artikels zuständig). Der Abschlußbericht dieses Projektes ist mittlerweile zugänglich in Francis G. Castles (Hrsg.), The Comparative History of Public Policy. Cambridge 1989.

  7. Mit dem Namen dieses biblischen Ungeheuers wurde eine einflußreiche Studie über den Nationalsozialismus betitelt: Franz Neumann. Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Frankfurt 1977.

  8. Richard Löwenthal, Bonn und Weimar — Zwei deutsche Demokratien. Zum 30. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Gesellschaftswandel und Kulturkrise. Zukunftsprobleme der westlichen Demokratien, Frankfurt 1977, S. 274.

  9. Vgl. Manfred G. Schmidt. Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Leverkusen 1988; Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München-Wien 1989.

  10. Vgl. OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development), OECD Economic Outlook, Historical Statistics 1960-1987. Paris 1989, S. 38.

  11. Vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats-und Verwaltungslehre, München 1986 (Erstveröffentlichung 1966).

  12. Vgl. Rudolf Wildenmann, Die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes und der Deutschen Bundesbank in der politischen Willensbildung, Stuttgart 1969.

  13. Vgl. Hans Braun, Das Streben nach „Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale und politische Ursachen und Erscheinungsweisen, in: Archiv für Sozialgeschichte, 18 (1978), S. 279— 306. Den großen Bedarf an Sicherheit betont — ne-ben vielen anderen — ein vorzüglicher amerikanischer Kenner der bundesdeutschen Politik: Lewis J. Edinger, West German Politics, New York 1986, insbes. S. 318, 320, 322323.

  14. Auf Preisstabilität kommt es letztlich an. Das bedeutet nicht notwendigerweise die frontale Kollision der Bundesbankpolitik mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung. Lange Zeit, insbesondere in den fünfziger und sechziger Iahten, erwies sich sogar die von der Bundesbank mitgetragene stabilitätsorientierte Unterbewertung der D-Mark als ein Politikinstrument, das den Zielkonflikt zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität milderte, Vgl. hierzu neuerdings Heinz-Peter Spahn, Bundesbank und Wirtschaftskrise, Regensburg 1988. In Zeiten angebotsund nachfrageseitig bedingter Wirtschaftskrisen kommt es jedoch zum vollen Konflikt zwischen Preisstabilitätspolitik und Vollbeschäftigungs

  15. Vgl. Christoph F. Büchtemann. Der Arbeitslosigkeitsprozeß, in: Wolfgang Bonß/Rolf G. Heinze (Hrsg.), Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt 1984, S. 53— 105.

  16. Vgl. Rolf Caesar, Der Handlungsspielraum von Notenbanken, Baden-Baden 1981. In keinem anderen Land der Welt sind die jahresdurchschnittlichen Inflationsraten in der Periode zwischen 1950 und Ende der achtziger Jahre so niedrig wie in der Bundesrepublik Deutschland. Knapp hinter der Bundesrepublik folgt freilich die Schweiz und mit etwas größerem Abstand die USA. Aber diese beiden Preisstabilitäts-Länder haben — anders als die Bundesrepublik — nicht zugleich einen so hochentwickelten Wohlfahrtsstaat. Vgl. dazu ausführlicher Manfred G. Schmidt. Leaming from Catastro-phes. West Germany’s Public Policy, in: F. G. Castles (Anm. 6), S. 56-99.

  17. Gewichtige Ausnahmen von der Regel gab es Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre.

  18. Vgl. Fritz W. Scharpf/Bemd Reissert/Fritz Schnabel. Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus. Kronberg 1976; Gerhard Lehmbruch. Parteienwettbewerb im Bundesstaat, Stuttgart u. a. 1976.

  19. Vgl. Fritz W. Scharpf, Vom Fug und Unfug institutioneller Erklärung, in: Politische Vierteljahresschrift, 29 (1988). S. 275.

  20. Vgl. Günther Schmid/Bernd Reissert/Gert Buche, Arbeitslosenversicherung und aktive Arbeitsmarktpolitik. Finanzierungssysteme im internationalen Vergleich. Berlin 1987.

  21. Vgl. F. W. Scharpf (Anm. 14).

  22. Vgl.deren Charakterisierung bei Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift. 6(1965), S. 20— 41, wo es auf die Volksparteien der rechten und der Unken Mitte bezogen wurde („Allerweltsparteien“ im Sinne von Parteien, die — im Unterschied zu den älteren Massenintegrationsparteien mit ihrer weltanschaulichen oder rehgiösen Basis — annähernd deckungsgleich, primär am Wahlerfolg orientiert und ideologisch eher konturlos sind). Kirchheimers Analyse ist umstritten und ich habe an anderer Stelle einige Mängel und Korrekturmöglichkeiten diskutiert: Manfred G. Schmidt, Allerweltsparteien in Westeuropa?, in: Leviathan, 13 (1985), S. 376— 397. Im Text wird das Konzept der „Allerweltsorganisation“ wohlgemerkt nicht für Parteien, sondern für die bundesdeutschen Koalitionsregierungen verwendet.

  23. Ausführlicher zu den hier vorgetragenen Aussagen: PeterJ. Katzenstein, Policy and Politics in West Germany. The Growth of a Semisovereign State, Philadelphia 1987; Manfred G. Schmidt. Regierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Formierung. Zusammensetzung und Praxis der Bundesregierungen. Fernuniversität Hagen 1989.

  24. Politisch-ökonomische Analysen zum Zusammenhang von Regierungspopularität. Wahlausgaben und Wirtschaftslage weisen auf einen beachtlichen negativen Effekt von Inflationsraten hin: je höher die Inflationsrate, desto niedriger die Popularität und desto geringer die Wiederwahlchancen — unter sonst gleichen Bedingungen. Vgl. hierzu u. a. Paul Whiteley. Inflation, Unemployment and Government Popularity — Dynamic Models for the United States, Britain and West Germany, in: Electoral Studies, 3 (1984), S. 3— 24, sowie neuerdings Helmut Norpoth/Christian Goergen, Economic Performance. Government Turnover and Political Support in the Federal Republic, Beitrag für die Konferenz „Election Outcomes and Policy Choices“, Universität zu Köln. 28. — 30. September 1989.

Weitere Inhalte

Manfred G. Schmidt, Dr. rer. soc., geb. 1948; Professor am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg; seit 1985 geschäftsführender Redakteur der Politischen Vierteljahresschrift. Veröffentlichungen u. a.: Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt-New York 1982; Der Schweizerische Weg zur Vollbeschäftigung, Frankfurt-New York 1985; Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Leverkusen 1988; (Hrsg. zus. mit K. von Beyme) Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen (i. E. 1990).