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Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren | APuZ 9-10/1990 | bpb.de

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APuZ 9-10/1990 Der Sozialkonservativismus im deutschen Staats-und Gesellschaftsdenken Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren Die Politik des mittleren Weges Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland Das Verfassungsprinzip der „Staatsfreiheit“ Kommentar und Replik Politisch-moralische Urteilsbildung ohne politische Beteiligung? Zum Beitrag von Bernhard Sutor: „Politikunterricht und moralische Erziehung“ (B 46/89) Artikel 1

Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren

Ulrich Jürgens

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Aufsatz untersucht den Themenwandel in der staatstheoretischen Diskussion primär in der Bundesrepublik Deutschland für den Zeitraum vom Beginn der siebziger Jahre bis heute. Welche innerwissenschaftlichen Lernprozesse und welche externen Anstöße gab es, die diese Diskussion prägten? Die Fragen zielen zum einen auf die Bedingungen für den Themenwandel und die Theorieentwicklung in der Staatsdiskussion und zum anderen auf die Veränderungen in der Staatswirklichkeit, die sich in der Theorieentwicklung widerspiegelt. Im Kem der Betrachtung steht die für jede Staatstheorie zentrale Frage nach der Souveränität, nach der Beziehung zwischen Staatshandeln und gesellschaftlichen Interessen bzw. Funktionsimperativen. Die Untersuchung setzt ein bei der neomarxistischen Diskussion über den Staat Anfang der siebziger Jahre, von der wichtige Impulse ausgingen, die aber schon bald aus vielfältigen Gründen in sich zusammenbrach. Skizziert werden sodann die verschiedenen Richtungen von Theorien des „schwachen Staats“, die sich Ende der siebziger Jahre herausbildeten. Diese werden gesehen im Zusammenhang mit der Unregierbarkeitsdiskussion, im Rahmen der Luhmannschen Theorie der Autopoiesis (Selbstregulierung) gesellschaftlicher Teilsysteme und der These der „Entzauberung des Staates“ in der Nachfolge Luhmanns sowie der verwaltungswissenschaftlichen und implementationstheoretischen Untersuchungen zu den Handlungsbedingungen und der Handlungseffizienz staatlicher Politik. Der Aufsatz schließt mit der Feststellung, daß Fortschritt in der staatstheoretischen Diskussion vor allem im methodenkritischeren Herangehen und im Vermeiden eines funktionalistischen Reduktionismus besteht. daß aber zugleich zentrale Fragen der Debatte Anfang der siebziger Jahre nach dem Verhältnis von Staat und Ökonomie zu Unrecht in den Hintergrund gerückt wurden.

I. Einleitung

Kaum ein Gegenstand ist in der Politikwissenschaft so umstritten wie ausgerechnet der „Staat“. Hier sind es vor allem zwei zentrale Problemstellungen, an denen sich die Kontroversen immer wieder entzünden: die Frage der Gestaltungsmacht des Staates gegenüber der Gesellschaft und den in ihr „herrschenden“ Interessenlagen sowie die Frage der Unabhängigkeit des Staates von der Gesellschaft und ihren Interessenlagen. Daß es sich hier um kritische Systemfragen handelt, haben uns die jüngsten Entwicklungen in den bis vor kurzem realsozialistischen Ländern deutlich vor Augen geführt: Der Anspruch weitreichender Gestaltungsmacht gegenüber gesellschaftlichen Prozessen, vor allem der Ökonomie, und die Bindung des Staatshandelns an die von den kommunistischen Parteien repräsentierten (vermeintlichen) Interessen der Arbeiterfund Bauern-) Klasse haben gleichermaßen dazu geführt, daß die staatliche Ordnung sich in diesen Ländern zunehmend diskreditierte und demontierte. Die Fragen nach der Gestaltungsmacht des Staates gegenüber der Gesellschaft und seiner Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Interessenlagen verändern sich natürlich im historischen Verlauf im Hinblick auf sich wandelnde Handlungskonstellationen und Bezugsprobleme. Die staatstheoretische Diskussion bezieht sich auf diesen Wandel und ist selbst Ausdruck davon. Dessen ist sie sich häufig nicht bewußt. Hinter vielen „Schulenstreitigkeiten“ stecken daher gewandelte oder unterschiedlich gewichtete Bezugsprobleme in der Realität. So scheint die Einschätzung der Gestaltungsmacht des Staates gegenüber der Gesellschaft fast einem zyklischen Muster zwischen Über-und Unterschätzung zu folgen.

Inwiefern spiegelt die staatstheoretische Diskussion daher nur den Wechsel von Bezugsproblemen und Handlungskonstellationen und inwiefern ist sie Ausdruck eines kumulativen Lernprozesses? Dieser Frage soll im folgenden anhand der Entwicklung der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren nachgegangen werden. Hierbei wird die Debatte innerhalb der Bundesrepublik im Vordergrund stehen. Welche innerwissenschaftlichen Lernprozesse und welche externen Anstöße gab es, welchen Fortschritt, Perspektivenwechsel, welche Abbrüche und Neuanfänge lassen sich feststellen? Diese Fragen zielen zum einen aufdie Bedingungen für Themenwandel und Theorieentwicklung und zum anderen auf Veränderungen in der Rolle des Staates im Betrachtungszeitraum. Ich beginne mit der neomarxistischen Diskussion seit Anfang der siebziger Jahre, um mich dann den anderen Theoriesträngen der ab Mitte der siebziger Jahre breiter und neu geführten Staatsdiskussion zuzuwenden und schließlich im letzten Schritt auf die neuere amerikanische Staatsdiskussion einzugehen. Am Schluß stehen einige zusammenfassende und ausblickende Thesen.

II.Die neomarxistische Diskussion Anfang der siebziger Jahre

Die neomarxistische Diskussion entfachte sich an Vorstellungen eines gestaltungsfähigen und steuerungsmächtigen Staates, die sowohl von den Repräsentanten der sozialdemokratischen Reformpolitik Ende der sechziger Jahre als auch von den Theoretikern des staatsmonopolistischen Kapitalismus entwickelt worden waren und Ende der sechziger Jahre weithin Akzeptanz gefunden hatten. Die zwei zentralen Themen dieser Diskussion waren:

— Die Frage des Formwandels der Krisen: Gilt im gegenwärtigen Kapitalismus noch die von Marx analysierte Krisendynamik, oder ist sie durch staatliche Regulierung weitgehend stillgelegt? Mit der Folge allerdings, daß der Staat die steigenden Erwartungen und Erfordernisse im sozialstaatlichen Politikbereich vernachlässigen muß und daraus Le-B gitimationskrisen als die neue systemtypische Krisenform resultieren;

— Fragen des Formwandels politischer Herrschaft und des Zusammenhanges von politischer Demokratie und ökonomischer Klassenherrschaft: Sind Recht und Demokratie und mit ihnen die Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit Verschleierungsformen von Klassenherrschaft oder Ausdruck einer relativen Autonomie des Politischen?

Es standen sich in dieser Diskussion zwei Orientierungen gegenüber — die eine in Gestalt eines weberianisch interpretierten Marxismus (vor allem bei Offe und Habermas), die andere beinhaltete das Vorhaben einer Rekonstruktion der „Kritik der politischen Ökonomie“. Ein Vorhaben, dem sich verschiedene Gruppen frischgebackener Marxisten Anfang der siebziger Jahre verschrieben, mit dem Ziel, sich die Marxschen Methoden und Ergebnisse des „Kapital“ anzueignen, um sie selbständig zum Beispiel auf staatstheoretische Fragestellungen anwenden zu können.

Dabei konnte es nicht darum gehen, aus dem Marxschen Theorie-Berg eine Staatstheorie herauszudestillieren, die etwa konkrete Formen und Funktionen der bundesrepublikanischen Staatswirklichkeit erklären würde. Dies war den meisten der Beteiligten klar. Es konnte nur darum gehen, allgemeine „Formbestimmungen“ des Staates zu benennen, wie sie sich aus der Art und Weise der ökonomischen Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsformationen ergeben. Vor einer konkreten, auf bestimmte historische Staaten bezogenen Analyse stand nach diesem Verständnis eine solche „Ableitung“ allgemeiner Formbestimmungen. Dabei versuchte man sich zu orientieren an der Marxschen Methode der Verknüpfung von logischer und historischer Analyse und des „Aufsteigens“ von einfach-abstrakten zu komplex-konkreten Bestimmungen.

Die wichtigste Frontlinie in der „Ableitungsdiskussion“ war die, ob der Staat aus dem allgemeinen Warenverhältnis oder aus dem Kapital-bzw. Klassenverhältnis bürgerlicher Gesellschaften erklärt werden solle. Dies erscheint Außenstehenden als eine absonderliche Frage, aber ihre Antwort hatte in der Esoterik der neomarxistischen Diskussion tiefgreifende Konsequenzen. Es geht um die Frage, ob der Staat unmittelbar herrschaftssichernde Funktion zur Aufrechterhaltung der Klassenverhältnisse besitzt oder nur eine mittelbare Funktion — indem er Recht garantiert und durchsetzt —, um auf diese Weise den Verkehr zwischen den Gesellschaftsangehörigen als gleichen und freien Waren-besitzem zu ermöglichen. Natürlich war klar, daß sich über das Warenverhältnis auch das Kapitalverhältnis reproduziert. Die Ableitung der Möglichkeit und Notwendigkeit einer außerökonomischen Instanz aus dem Warenverhältnis, die als Garant der ökonomischen „Ordnung“ fungiert, machte aber darauf aufmerksam, daß das Handeln einer solchen Instanz an bestimmte Formprinzipien gebunden ist, die sich ihnen an den Eingriffs„medien“ Recht und Geld zeigen. Diese haben, wie Luhmann formuliert, eingebaute „Autonomiesicherungen“ für die Adressaten, auf die sie verhaltenssteuemd angesetzt sind. Sie wirken klassenspezifisch, nicht weil der Staat sich in seinem Handeln von Klassen-motivationen leiten läßt, sondern weil die Autonomieräume, die Handlungsmöglichkeiten der Adressaten, klassenspezifisch differieren Die dominanten gesellschaftlichen Klasseninteressen waren also nicht auf beherrschende Repräsentanz im Apparat des Staates angewiesen. Eine Ableitung des Staates aus den Klassenverhältnissen aber stand vor dem Problem, entweder staatliches Handeln einfluß-bzw. „verschwörungstheoretisch“ zu erklären oder aber den Klassenbezug staatlichen Handelns im Nebel funktionalistischer Rückkopplungsschleifen des „im objektiven Interesse", „letztlich“ usw. zu belassen

Was hat die „Ableitungsdiskussion“ erbracht? Zunächst: Ihre Entwicklungsthesen und Restriktionsanalysen lagen — aus heutiger Sicht — gar nicht so schlecht. Viele Schlußfolgerungen wurden von den damaligen Reformern später selbst gezogen. Im Gegensatz zur Zeitströmung wurde Anfang der siebziger Jahre auf die Schranken für die Planbarkeit von Politik und die politische Steuerbarkeit sozialer Prozesse hingewiesen. Diese Restriktionen wurden von den „Staatsableitern“ aus den Funktionsbedingungen der Ökonomie bestimmt und nicht aus fehlender Massenloyalität. Massenloyalität war, wie sich Ende der siebziger Jahre zeigte, nicht die kritische Ressource bei einem konservativen „Umbau“ des Sozialstaates. Schließlich kritisierten die Neomarxisten mit guten Argumenten die der Reformdiskussion zugrundeliegende Erwartung linear prognostizierbarer Entwicklungsverläufe — Vorstellungen, die sich angesichts der Entwicklungsbrüche und Krisen der siebziger Jahre (Ölschock) in der Tat als höchst illusorisch herausstellten.

Zusammenfassend läßt sich jedoch feststellen, daß es nicht gelungen ist, die Marxsche Methode aus ihrer „Versenkung“ im Marxschen Werk zu lösen und als methodisches Programm anzuwenden. Die „Vermittlung von logischer und historischer“ Analyse blieb ein ungelöstes Problem. Die Folge war, daß eine für neue Entwicklungen offene Theoriebildung nirgends wirklich entstehen konnte. Ökonomischer und funktionalistischer Reduktionismus holten auch diese Versuche in der Regel ein. Das „Rekonstruktionsprojekt“ war meiner Ansicht nach bereits Mitte der siebziger Jahre an sein Ende gelangt, wenn es auch immer noch einzelne Anstrengungen danach gegeben hat

Seit Mitte der siebziger Jahre erfolgte eine deutliche Themenund Problemverschiebung der neomarxistischen Diskussion. Von Offe und Habermas wird das Paradigma der Legitimationskrisen beiseitegelegt (wozu auch beigetragen haben mag, daß nun, wie Offe formulierte, das „gleiche analytische Grundschema“ der konservativen Diskussion über Staatsversagen und Unregierbarkeit zugrundelag); der dünn gewordene Faden des „Rekonstruktionsprojekts“ reißt ab mit der Rezeption der französischen und italienischen Staatsdiskussion; vor allem bricht der methodenkritische Diskurs ab, der eine wesentliche Unterströmung des „Rekonstruktionsprojekts“ gebildet hatte.

Die neomarxistischen Positionen nehmen von nun an kaum noch Bezug aufeinander, dennoch haben sie ein gemeinsames Thema: die „Erweiterung des Staates“. Von Habermas wird diese im Zusammenhang mit seiner Theorie der „Kolonialisierung der Lebenswelten“ vor allem unter dem Aspekt des Vordringens formalen Rechts in lebensweltliche Strukturen untersucht; Offe betrachtet die Verbindungszonen von Staat und Gesellschaft demgegenüber eher unter dem Interesse ihrer Nutzung für reformpolitische Zielsetzungen und schlägt die Herausbildung reflexiver Formen staatlicher Steuerung vor. Durch die Errichtung und Förderung von Verbundsystemen zwischen staatlichen Organen und privaten Organisationen sowie zwischen privaten Organisationen untereinander könnten die Selbstregulierungspotentiale der Gesellschaft in den Dienst staatlicher Zielsetzungen gestellt werden. Die Politikadressaten würden an den Entscheidungen beteiligt und damit auch an der Verantwortung nicht nur für die Nutzen-, sondern auch für die Kostenverteilung der sie betreffenden Maßnahmen. Die konzertierte Aktion, aber auch die Gruppenuniversität oder die staatliche Technologiepolitik werden als Beispiele genannt

Der erweiterte Staatsbegriff von Poulantzas (aufbauend auf Althusser und Gramsci) bildete für J. Hirsch die Grundlage, um einen „Formwandel des Staates“ zu beschreiben, den er seit Mitte der siebziger Jahre beobachtet und, ebenso wie Poulantzas, als Heraufkunft eines „autoritären Etatis-mus“, als „Durchstaatlichung der Gesellschaft“ bezeichnet. Hirsch unterscheidet einen Kernbereich des Staates mit den sogenannten repressiven Staatsapparaten (Parlament, Regierung, Verwaltung, Justiz) von den massenintegrativen sowie den ideologischen Staatsapparaten. Diese gestaffelte und verschachtelte Apparatestruktur hat den funktionalen Sinn der Herrschaftssicherung: Sie soll gewährleisten, daß die von repressiven Staatsapparaten zu erfüllende Kernfunktion, nämlich die ungestörte Kapitalakkumulation zu gewährleisten, erfüllt werden kann. Die Angehörigen der repressiven Apparate, so Hirsch, stehen in dieser Hinsicht unter harten funktionalen Restriktionen: Sie müssen, angetrieben durch die Weltmarktkonkurrenz, das Wertgesetz „nach innen“ gegenüber der Gesellschaft durchsetzen: durch staatlich regulierte Kapitalentwicklung, Strukturanpassungen, Korrekturen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Demgegenüber haben die Apparate des erweiterten Staats die Funktion, den Klassenkompromiß zu organisieren, politischen Konsens zu gewährleisten. Angesichts der Krisenfolgen und des wachsenden Protest-potentials gelinge dies, so Hirsch, seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend weniger, daher die Tendenz zu einer „Autonomisierung" des Staates und des verstärkten Rückgriffs auf repressive Handlungsformen.

Mit dieser Analyse weist Hirsch dem Staat die Rolle des letzten und eigentlichen Stabilitätsgaranten kapitalistischer Gesellschaften zu. Um diese Aufgabe zu erfüllen, vermag der Sicherheitsstaat sich von den Bindungen an das System politischer Willensbildung zu entkoppeln. Zugleich aber ist die Korrespondenz seiner Handlungen mit dem, was die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse gebieten, gegeben; diese bleiben „maßgebend für die jeweilige Struktur der Staatsapparate und den Verlauf der politischen Prozesse“. Wie diese Korrespondenz gewährleistet wird, bleibt jedoch eine offene Frage. Offen ist auch, aufgrund welcher Voraussetzungen der Staat in der Lage sein könnte, die ihm von Hirsch zugewiesene zentrale Funktion, das Wertgesetz zu „exekutieren“ zu erfüllen. Woher weiß der Staat um die Handlungserfordernisse, die sich aus dieser Funktion ergeben, und mit welchen Mitteln vermag er sie zur Geltung zu bringen? Nur durch eine funktionalistische Reduktion — daß der Staat eben das kann und das tut, was seiner Funktionsbestimmung entspricht — lassen sich diese Fragen offenbar überbrücken. Hirsch verweist mit dem „Sicherheitsstaat“ auf Entwicklungen in der Organisation des staatlichen Gewaltmonopols und damit auf einen Formwandel politischer Herrschaft, der in der britischen Staatsdiskussion gegenwärtig ein zentrales Thema bildet: Die klassische Problematik der Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols und der Begründung individueller Grundrechte wird angesichts der informationstechnischen und organisatorischen „Modernisierung“ der Polizei-funktionen und angesichts der traditions-und stilverletzenden Politik der Thatcher-Regierung gerade in Großbritannien ein hochaktuelles Problem, da hier formelle Rechtsschranken für politisches Handeln und föderale Politikverflechtungen, die in der Bundesrepublik in dieser Hinsicht Pufferfunktionen besitzen, bisher nicht existieren

III. Die Entwicklung nichtmarxistischer Staatstheorien seit Mitte der siebziger Jahre

1. Konservative Reaktionen auf die reformpolitische „Aktivierung“ des Staates Mitte der siebziger Jahre gab es eine tiefgreifende Umbruchsituation. Ihr auslösendes Moment war ohne Zweifel der erste Ölpreisschock 1973/74. Die damit zusammenhängenden Krisenfolgen und Krisenängste wurden überwiegend nicht als Probleme der Ökonomie, sondern als Probleme des Staatsversagens und der Unregierbarkeit westlicher Demokratien interpretiert. Die Hegemonie dieser Problemdefinition verdankt sich nicht zuletzt der Initiative der aus Vertretern Nordamerikas, Japans und Westeuropas zusammengesetzten Trilateralen Kommission und der von ihr in Auftrag gegebenen einflußreichen Studien von Crozier, Huntington und Watanuki Ein Zentralthema der deutschen Diskussion über „Unregierbarkeit“ bildete die Souveränitätsproblematik. Die nichtmarxistische Staatsableitung aus natur-und vertragsrechtlichen bzw. vernunftrechtlichen Begründungen gibt dem Staat als souveräner Instanz über der Gesellschaft im Prinzip eine Allzuständigkeit, eine Generalvollmacht zum Handeln. In den Demokratien des 20. Jahrhunderts beginnt der Staat nun — so eine Kritik, welche sich wie ein roter Faden durch die konservativen Beiträge zur „Unregierbarkeitsdebatte“ in der Bundesrepublik zieht — „seine universale Potenz“ zu nutzen. Die Allzuständigkeit führe jedoch zur Überforderung mit entsprechenden Effizienzeinbußen, was wiederum die Legitimationsbasis des Staates untergrabe. Wenn er nicht imstande sei, eine stärkere Aufgabenselektion vor-zunehmen, riskiere er, „seine Souveränität auch im unaufgebbaren Kem zu zerreiben“

Die Schlußfolgerung aus dieser Analyse ist, daß Erwartungen an staatliches Handeln zurückgestutzt und im politischen System Mechanismen der stärkeren Selektion für staatliche Handlungsaufträge entwickelt werden müssen, um eben diese Kernsou-veränität wiederherzustellen und zu schützen, die in der Rolle des Staates als Rechts-und Friedensgarant gesehen wird. Das Motiv des schwachen und überlasteten Staates wurde — jenseits der Theorie des „Sicherheitsstaates“ — erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre weithin akzeptiert und zum Ausgangspunkt staatstheoretischer Überlegungen. In dieser Situation ging die Theorie Luhmanns noch einen entscheidenden Schritt weiter und konstatierte, daß in modernen Gesellschaften der Souveränitätsgedanke überhaupt obsolet geworden sei. 2. Funktionale Systemtheorie und reflexive Steuerungstheorie Die klassische Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft sowie die Vorstellung des Staates als letzter und höchster Problemlösungsinstanz entbehre ohnehin, so Luhmann, der realen Grundlage Sie widerspreche dem zentralen Entwicklungsgesetz moderner Gesellschaften — dem der funktionalen Differenzierung. Der Staat steht demnach nicht außerhalb der Gesellschaft; das politische System ist ein gesellschaftliches Teilsystem unter vielen anderen, wie Wissenschaft, Wirtschaft, Bildungssystem usw. Eine solche Gesellschaft ist „ohne Spitze und Zentrum“, schärfer noch formu-liert: „Man kann eine funktional differenzierte Gesellschaft nicht auf Politik zentrieren, ohne sie zu zerstören.“ Die Begrenzung der Politik kommt darin zum Ausdruck, daß Politik — um zu gewährleisten, daß die getroffenen, „kollektiv verbindlichen“ Entscheidungen auch bei den Adressaten Wirkung zeitigen — sich der Kommunikationsmedien Recht und Geld bedienen muß, die aber den eigentlichen Wirkungszusammenhängen, auf die sie sich beziehen, nur äußerlich bleiben Insbesondere durch seine wohlfahrtsstaatliche Aufgabenerweiterung gerate der Staat in Bereiche, „in denen bindendes Entscheiden über Recht und Geld nur in völlig ungesicherten Kausalzusammenhängen wirkt“ Die Grenzen des politischen und bürokratischen Zugriffs vermittels Recht und Geld liegen vor allem dort, wo die Aufgabenerfüllung eine Kooperation der betroffenen Personen voraussetzt: im Bildungswesen, im medizinischen System usw. Diese Aufgabenbereiche erfordern Verhaltensweisen wie Engagement und Interaktionsfähigkeit, die sich nicht durch Recht und Geld allein verläßlich herstellen lassen.

Diese Überlegungen Luhmanns sind nicht, wie die der neomarxistischen Diskussion, auf das Verhältnis von Politik und Ökonomie beschränkt. Das ist ein analytischer Vorteil. An die Stelle der ökono-mistischen Reduktion von Politik oder der Vorstellung ihrer Allfähigkeit tritt aber nunmehr eine Null-Lösung von Politik; die Gesellschaft wird als Ensemble teilautonomer Systeme aufgefaßt, die von keinen übergreifenden Funktionsimperativen mehr koordiniert sind und nunmehr an der Perfektionierung ihrer je spezifischen Systemfunktion arbeiten. Das Konzept funktionaler Dominanzen, das Luhmann selbst in früheren Werken noch einzelnen Teilsystemen — wie Religion, Wirtschaft und Politik — für bestimmte historische Epochen beimaß, ist aufgegeben. Der Problembezug, an dem diese Theorie zuerst entwickelt wurde, ist die „Wohlfahrtspolitik“ Später wurde sie im Hinblick auf Umweltpolitik weitergeführt Luhmann verweist jedoch darauf, daß die Ausdifferenzierung eines politischen Teilsystems und damit die „Entzauberung des Staates“ bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ihren Anfang nahm.

Die Theorie vom „Absterben des Staates“ in der Moderne ist das deduktiv gewonnene Resultat aus systemtheoretischen Annahmen, insbesondere der Theorie der Autopoiesis Luhmanns über die zunehmend selbstreferenzielle Entwicklung der gesellschaftlichen Teilsysteme. Gegen diese Theorie lassen sich gravierende Einwände vorbringen: a) Empirisch bleibt unklar, welchen Grad an Autopoiesis — das heißt, welchen Grad der Befähigung zur Selbstregulierung, zum Handeln nach nur noch systemintern bestimmten Normen und Relevanzgesichtspunkten — die einzelnen Teilsysteme erreicht haben und wie sie jeweils abgegrenzt sind; das letztere bezieht sich auf die — von Luhmann gesehene — zunehmende Disjunktion zwischen „Gesellschaft“ und „Nationalstaat“. b) Die gegebenen Strukturen der Ausdifferenzierung werden normativ überhöht mit einem Modernisierungsbegriff.der „Entdifferenzierung“ pauschal als Rückschritt ansieht. Ich verweise demgegenüber auf Überlegungen Becks in der „Risikogesellschaft“ der in der Entdifferenzierung von Politik gerade eine Lösung der von ihm beschriebenen Problematik sieht. c) Die Dynamik ökonomischer Prozesse wird in der Luhmannschen Systembeschreibung von „Wirtschaft“ systematisch verkannt d) Die unterstellte Hierarchielosigkeit im Verhältnis der Teilsysteme blendet Probleme gesellschaftlicher Macht aus, obgleich Luhmann sie an anderer Stelle durchaus sieht und damit auch Probleme struktureller Privilegierung ökonomischer Funktionserfordernisse

Diese Kritik trifft auch die Versuche, die von Luhmann-Schülern unternommen wurden, auf der Basis seiner Theorie doch zu Lösungen zu kommen, um dem gestiegenen gesellschaftlichen Steuerungsbedarf — z. B. im Bereich der Umweltpolitik — gerecht zu werden. Diese Versuche zielen auf eine Steigerung der „Reflexivität“ der Teilsysteme, die von Staatsseite durch dezentrale Kontextsteuerung vermittels reflexiven Rechts unterstützt werden kann. Im Kern handelt es sich um die Idee der Verankerung eines Kant’schen Imperativs im Bewußtsein der Teilsysteme. Die Teilsysteme sollten in der Umwelt anderer Teilsysteme so agieren, daß sie für diese selbst „eine brauchbare Umwelt darstellen müssen“ Die Teilsysteme sollen im Bewußtsein der Rückwirkung ihres Handelns auf andere Teilsysteme und insofern „reflexiv“ entscheiden. Die Leistungssteigerung der Teilsysteme durch Spezialisierung darf nicht voll ausgefahren, nicht maximiert werden, weil „diese . Rücksichtslosigkeit* jedes einzelne Teil zur bedrohlichen Umwelt jedes anderen Teils machte“ Dezentrale Kontextsteuerung soll die Autonomie der Teilsysteme nicht verletzen und zugleich die Intelligenz autonomer Selbststeuerung nutzen. Reflexives Recht stellt auf eine „regulierte Autonomie“ der Teilsystemprozesse ab; es fördert selbstregulierende, lernende Sozialsysteme, stellt integrative Mechanismen für Verfahren und Organisation innerhalb der betroffenen Teilsysteme bereit und reguliert Verhandlungssysteme zur dezentralen Bewältigung von Interdependenz-problemen zwischen Teilsystemen

Die Luhmannsche Theorie des „Absterbens des Staates“ hatte in den achtziger Jahren breite Wirkung; sie zeigte sich in der Deregulierungsdebatte der Ökosozialisten ebenso wie in staats-und verwaltungsrechtlichen Diskussionszusammenhängen 3. Grenzerfahrungen und Auswege der institutioneilen Reformen Die deduktiv gewonnenen Begründungen dieser funktionalen Systemtheorie hätten wohl kaum Gehör gefunden, wären sie nicht unterfüttert mit induktiv gewonnenen Argumenten der empirischen Verwaltungswissenschaft und der Implementationsforschung zu den institutionellen Voraussetzungen für eine Rationalisierung und Leistungsverstärkung staatlicher Politik. Das Scheitern der politischen Planungsdiskussion, die Entdeckung des „Interesses des Staates an sich selbst“ sowie der „Politikverflechtung“ bilden hier wichtige Mark-steine eines Lernprozesses: a) Die „Planungseuphorie“, so Scharpf resümierend, sei gescheitert an der Überschätzung der Einsatzmöglichkeiten mikroökonomischer Analyse-und Bewertungsverfahren, an der Unterschätzung von Entwicklungsbrüchen und Tendenzänderungen sowie an der Problematik der Konsensbeschaffung. Koordination und Steuerung unter den politischen Bedingungen der Bundesrepublik seien hier „grundsätzlich nur mit der Zustimmung oderwenigstens der stillschweigenden Duldung der Institutionen und Gruppen zu erlangen, deren Verhalten gesteuert werden soll“ b) Die Entdeckung des „Interesses des Staates an sich selbst“ verweist auf den Produktionsprozeß von Politik als Arbeitsprozeß mit abhängig Beschäftigten: Mitgliederinteressen und Organisationsziele können auseinanderfallen, Reformziele können durch gegenläufige Normen und informelle Strategien in den ausführenden Institutionen konterkariert werden. c) Die „Politikverflechtungsfalle“ ist der Verweis auf die institutioneile Selbstblockierung von Politik in einer zwei oder mehr Politikebenen verbindenden Entscheidungsstruktur (etwa im Bund-Länder-Verhältnis). Unter diesen Bedingungen ergeben sich, so Scharpf, ineffiziente und problemunangemessene Entscheidungen und zugleich die Unfähigkeit aller Akteure, die institutionellen Bedingungen ihrer Entscheidungslogik zu verändern, zumal diese den unmittelbaren Interessen der beteiligten Fach-politiker und ihnen nahestehender Interessenvertreter entgegenkommen. 4. Korporatismus als Lösung der Unregierbarkeitsproblematik Angesichts der Probleme der Binnenrationalisierung von Politik richtete sich die Suche nach Spielräumen für die Reformpolitik auch hier auf die Möglichkeiten des erweiterten Staates. Mitte der siebziger Jahre gab es einen Paradigmenwechsel in der Untersuchung von Verbänden und Interessen-organisationen im politischen System: Anstelle der bis dahin dominierenden pluralismustheoretischen Perspektiven, die sich auf die Einflußrichtung von der Interessengruppe auf staatliches Handeln richtete, wurde von der aufkommenden Theorie des Neokorporatismus nun die umgekehrte Einflußrichtung hervorgehoben. Interessenorganisationen können danach durchaus ihre kurzfristigen, begrenzten Sonderinteressen zurückstellen, übergreifende langfristige Interessen aufnehmen und damit eine Rolle bei der Überwindung der Unregierbarkeit übernehmen Korporatistische Strukturen bilden so eine Form gesellschaftlicher Steuerung neben anderen Während Schmitter vor allem die intraorganisatorischen Aspekte (Repräsentationsmonopol, faktischer Mitgliedszwang usw.) betont, die als Organisationsleistung von den korporatistischen Strukturen eingebracht werden können, betont Lehmbruch den interorganisatorischen Koordinationsaspekt. Neokorporatismus wird von ihm daher als Netzwerk für gesamtwirtschaftliche Interessenabstimmung gesehen, „die auf konsensuelle Internalisierung der Kosten von Interessenpolitik gerichtet sein müßte“ -Nach Lehmbruch müßten sich die Politikergebnisse korporatistischer Systeme von denen pluralistischer Systeme darin unterscheiden, daß sie die Interessen Dritter signifikant weniger verletzen. Der intensive Netzwerkcharakter der bundesdeutschen Politik hat, so stellt Katzenstein in seinen vergleichenden Untersuchungen fest, in der Bundesrepublik eine überdurchschnittlich erfolgreiche Bewältigung der Anpassungsprobleme seit Mitte der siebziger Jahre zur Folge gehabt

IV, „Bringing the State back in“ und „Bringing People Back into the State“

Diese beiden programmatischen Titelformulierungen entstammen der gegenwärtigen amerikanischen Staatsdiskussion. Die erste ist ein Buchtitel der „Return to the State“ -Bewegung. Die ihr anhängenden Autoren erheben gegen die Neomarxisten. aber vor allem auch gegen den Mainstream der amerikanischen Politikwissenschaft von Pluralismus-und Neopluralismussowie Systemtheoreti-kern den Vorwurf, sie hätten allesamt den Staat als analytische Kategorie und unabhängige Erklärungsvariable für Politikprozesse vernachlässigt Die Position des „Return to the State“ läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: a) Staatliches Handeln ist keine abgeleitete Einflußgröße aus gesellschaftlichen Einflußfaktoren; in vielen Erklärungszusammenhängen bilden Struktur-und Prozeßkategorien staatlichen Handelns die wichtigste erklärende Variable. b) Eigenständigkeit staatlichen Handelns bedeutet nicht automatisch auch höhere Rationalität; aber der Verweis auf übergreifende Interessen und Gemeinwohl seitens staatlicher Handlungsträger kann auch nicht nur als Ideologie und Verschleierungstaktik angesehen werden, wie es von pluralistischer Seite in der Regel geschieht. c) Metatheorien, aus denen sich ein a priori-Vor-rang bestimmter Erklärungsfaktoren, etwa der Industrialisierung oder der Klassenbeziehungen ergeben, führen — so Skocpol — notwendig in die Sackgasse

Der Versuch einer Revitalisierung des Staatsbegriffs muß vor dem Hintergrund der besonderen amerikanischen Situation, vor allem in den achtziger Jahren, gesehen werden. In Amerika hat sich ein Staats-oder Gemeinwohlbegriff nicht herausbilden können. Reagans Programm des — in seinen eigenen Worten — „getting government off the back of the people" hat zu einer weiteren Schwächung der Position und des Selbstbewußtseins staatlicher Akteure geführt. Das Interesse von Skocpol und anderen bezieht sich daher auf die Bedingungen der Möglichkeit von „state building“, der Ausbildung von Staatlichkeit, des staatlichen Verant-wortungs-und Gemeinwohlbewußtseins. Sie versuchen in ihren Studien zu zeigen, daß dieses in anderen Ländern existiert und auch phasenweise im eigenen Lande. In diesem Sinne ist ihr Theorieprogramm auch ein Stück normatives Programm: die Herausbildung einer autonomen, weberianisch-ra-tional handelnden Staatsorganisation in den USA. um den drängenden Problemen der amerikanischen Gesellschaft gerecht zu werden

V. Einige Schlußfolgerungen

Im Hinblick auf die eingangs genannten zwei zentralen Fragestellungen jeder Staatstheorie — der Gestaltungskraft des Staates gegenüber der Gesellschaft und der Unabhängigkeit des Staates von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen _ hat es in der staatstheoretischen Diskussion der Bundesrepublik im Betrachtungszeitraum eine bemerkenswerte Entwicklung gegeben. Die kritische Stoßrichtung, die in diesen Fragen lag, wurde selbst infragegestellt und umgewendet. Staatliche Gestaltungsmacht über die Gesellschaft? Eine unmoderne Vorstellung und gegen die historische Tendenz zunehmender Selbstregulierung gesellschaftlich gleichberechtigter Teilsysteme gerichtet. Unabhängigkeit des Staates gegenüber gesellschaftlichen Interessen? Dies wäre ineffizient, da nur im Rahmen korporatistischer Netzwerke politische Zielsetzungen in Handlungsverpflichtungen vor Ort umgesetzt werden können.

Gibt es einen Fortschritt in der staatstheoretischen Diskussion und inwieweit spiegeln sich in ihr reale Veränderungsprozesse der Gesellschaftsund Staatswirklichkeit? Mitte der siebziger Jahre gab es, wie wirgesehen haben, eine Umbruchsituation, die Fronten und Themen vertauscht hat. Im Anschluß kam es zu einer gespenstischen Parallelität einerseits der Theorie des Sicherheitsstaates, andererseits der Theorie des Absterbens des Staates. Diese undiskutierte Parallelität beider sich widersprechender Theoriestränge verweist für mich auf einen schlechten Zustand der bundesdeutschen Staats-theorie. Von isolierten Positionen aus wird monologisiert. Die marxistische Staatstheorie befindet sich in einem Zustand der Stagnation; es fehlt hier eine kritische Bestandsaufnahme und Rechenschaftsablegung für die eigenen Abbrüche und weiterhin offenen Fragestellungen. Im Bereich institutionalistischer Theorien gibt es zwar diese Rechenschaftsablegung, aber es eröffnen sich noch wenig Perspektiven für einen neuen Ansatz. Der Systemfunktionalismus läuft mit seinen unrealistischen Annahmen zur Ökonomie und seiner formalen Evolutionstheorie weitgehend ins Leere, besitzt aber dennoch große Anziehungskraft. Durch die Netzwerke der Neokorporatismustheorie scheinen klassische Einfluß-und Erklärungsmuster durch.

Die Theorien der achtziger Jahre bieten fruchtbare Erklärungen für den Bereich der „kleinen Politik“, des sich Durchwurstelns im Alltag (muddling through), der institutionellen Selbstblockaden, Reformsperren, der gesellschaftlichen Widerspenstigkeit gegenüber staatlichen Maßnahmen. Diese Phänomene und ihre Erklärung wurden von einer noch ganz im Zeichen der Metagroßtheorien in der Tradition eines Karl Marx oder eines Talcott Parsons stehenden Herangehensweise häufig übersehen und vernachlässigt. Handlungstheorien — sei es mit institutionalistischer, sei es mit utilitaristischer Orientierung — erhalten in der Staatstheorie mit Recht einen größeren Raum. In den damit begründeten Ansätzen der Institutionentheorie und der Theorie strategischen Handelns, also auf der methodischen Ebene, ist wohl letztlich der wichtigste Lerneffekt und Fortschritt in der Entwicklung der Staatstheorie zu sehen.

Der „Staat“ als einheitlicher Adressat für Politik-prozesse in einem gegebenen territorialen Raum und für ein klar definiertes Staatsvolk wird zunehmend fragwürdiger: Ausländerwahlrecht und die Verschiebung der Staatsfunktionen auf die EG-Ebene sind dafür aktuelle Beispiele. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung der EG stellen sich Fragen der Institutionengestaltung und der demokratischen Legitimation von Politik mit besonderer Dringlichkeit. Die Perspektive des „Absterbens des Staates“ könnte normativ in dieser Hinsicht sogar einen spezifischen Sinn erhalten: Als Legitimation einer zunehmenden Diffusität staatlicher Verantwortung und vielfältiger Strategien der Problemverschiebung zwischen den Politikebenen.

Sind die eingangs angeführten zwei zentralen Problemstellungen einer Staatstheorie mit der Neudefinition und methodischen Orientierung damit überholt und überwunden? Ich denke, dies ist nicht der Fall. Von Ulrich Beck — also von außerhalb der politikwissenschaftlichen Staatsdiskussion — ist neuerdings noch einmal sehr nachdrücklich die Souveränitätsproblematik formuliert worden. Die Gestaltungsmacht über die Gesellschaft wandert, wie Beck in der „Risikogesellschaft“ feststellt, zunehmend aus dem Bereich der Politik in den der „Subpolitik“ — in Forschung, Technologie und Wirtschaft Hier finden, „entscheidungs-ver-

schlossen", tiefgreifende gesellschaftsverändernde Entwicklungen ihren Ursprung. Die Politik wird in die Rolle der legitimatorischen Schirmherrschaft für Fremdentscheidungen gedrängt, die die Gesellschaft von Grund auf verändern. Die Wirtschaft, so Beck, ist für etwas unzuständig, das sie auslöst und die Politik für etwas zuständig, über das sie keine Kontrolle besitzt. Eben dies ist aber nichts Neues. Genau dies ist die Souveränitätsdefinition der liberalen Gesellschaft, und wenn auch die Risikogesellschaft andere Formen der Risiken hervorgebracht hat, die Beck untersucht, so steht sie doch vor dem gleichen Problem wie viele Reformbewegungen in der Vergangenheit: vor dem Problem der „property rights“ (um es neoklassisch auszudrücken) und der autonomen Handlungsmöglichkeiten der Politik.

Aus deutscher Perspektive laufen die Argumente der „Return to the State“ -Bewegung häufig offene Türen ein, ist doch hier das Denken in der Staat-Gesellschaft-Dichotomie noch weitgehend ungebrochen. Eine Herausforderung bietet diese Theorie vor allem den Vertretern struktur-funktionalistischer und marxistischer Positionen. Skocpol hat ihnen mit ihrem Hinweis auf die „dead end of meta-theory" den Fehdehandschuh hingeworfen, und er ist auch bereits aufgegriffen worden Aber auch der eigene weberianische Ansatz steht unter Kritik, und dies fuhrt mich zu der Forderung „bringing people back into the state“. Diese programmatische Überschrift bei M. Levi signalisiert die wohl breiteste und wichtigste „Bewegung“ (nicht nur) in der neueren Staatstheorie. Die Plausibilität funktionalistischer Theorien — sei es in der Tradition eines Talcott Parsons oder Karl Marx — zerbrök-kelte im Verlauf der achtziger Jahre. Handlungstheorien — sei es mit institutionalistischer, sei es mit utilitaristischer Orientierung — befinden sich auf dem Vormarsch, auch in die Staatstheorie. Diese Verschiebung der methodologischen Grund-orientierung dürfte die wichtigste Erkenntnis aus der Betrachtung der Entwicklungslinien der neueren Staatstheorien sein. Hier sehe ich am ehesten einen wissenschaftsimmanenten Lernprozeß, der, wie ich vermute, vor allem aus der Erfahrung mit empirischen Projekten resultiert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In der Überblicksdarstellung der staatstheoretischen Diskussion von H. -H. Hartwich wird diese neomarxistische Diskussion nicht einmal erwähnt. Angesichts der Tatsache, daß diese Diskussion das Thema „Staat" überhaupt erst wieder in das Zentrum der politikwissenschaftlichen Betrachtung gerückt hat und viele Anstöße von ihr ausgegangen sind, erscheint dies als unberechtigte Verdrängung eines wichtigen Stücks Theoriegeschichte. Vgl. H. -H. Hartwich. Die Suche nach einer wirklichkeitsnahen Lehre vom Staat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 46— 47/87, S. 4 ff.

  2. Vgl. B. Blanke/U. Jürgens/H. Kastendiek, Zur neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates, in: Politische Vierteljahresschrift. Sonderheft 6/1975: Politik und Ökonomie — Autonome Handlungsmöglichkeiten des politischen Systems, hrsg. von W. -D. Narr, Opladen 1975, S. 19— 60.

  3. J. Elster, Making Sense of Marx, Cambridge 1987.

  4. Daß eine relative Autonomie staatlichen Handelns auch auf der Grundlage einer rein klassentheoretischen Bestimmung des Staates möglich ist, zeigt J. Elster im Rahmen seiner spieltheoretischen Interpretation der Marxschen Theorie. So der Versuch einer „erweiterten Staatsableitung“ durch M. Jäger, Von der Staatsableitung zur Theorie der Parteien. Ein Terrainwcchsel im Geiste Antonio Gramscis, in: Das Argument. Sonderband AS 44: Eurokommunismus und marxistische Theorie der Politik, Berlin 1977, S. 45— 64.

  5. Vgl. J. Habermas. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973.

  6. Vgl. C. Offe. Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt 1975.

  7. Vgl. J. Hirsch, Kapitalreproduktion, Klassenauseinandersetzungen und Widersprüche im Staatsapparat, in: V. Brandes/J. Hoffmann/U. Jürgens/W. Semmler (Hrsg.). Staat (Handbuch 5), Frankfurt-Köln 1977, S. 161.

  8. Die damit verbundenen staatstheoretischen Probleme werden in Großbritannien gegenwärtig breit diskutiert und haben mittlerweile selbst Eingang in die Einführungsbücher zur Politischen Wissenschaft gefunden; vgl. z. B. M. Beloff/G. Peele, The Government of the United Kingdom. Political authority in 8 Changing Society, New York 1980,

  9. Vgl. M. J. Crozier/S. P. Huntington/J. Watanuki, The Crisis of Democracy. Report on the Govemability of Demo-sracies to the Trilateral Commission, New York 1975.

  10. Vgl. K. Eichenberger, Der geforderte Staat: Zur Problematik der Staatsaufgaben, in: W. Hennis/P. Graf Kielmans-e 88/U. Matz (Hrsg.), Regierbarkeit: Studien zu ihrer Problematisierung, Band 1, Stuttgart 1977, S. 104.

  11. K. Eichenberger, ebd., S. 108; vgl. auch U. Matz, Der überforderte Staat: Zur Problematik der heute wirksamen Staatszielvorstellungen, in: ebd., S. 82ff.

  12. Vgl. N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München-Wien 1981; ders., Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Politische Vierteljahresschrift. Sonderheft 15/1984: Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft. S. 99- 125; ders.. Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1988.

  13. Ebd.. S. 23.

  14. Ähnlich lautete das Argument bei B. Blanke/U. Jürgens/H. Kastendiek (Anm. 2).

  15. N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat (Anm. 11), S. 100.

  16. Vgl. ebd.

  17. Vgl. N. Luhmann, Ökologische Kommunikation (Änm. 11).

  18. Vgl. H. Willke. Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozictalen Steuerungstheorie. Königstein/Ts.

  19. Vgl. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986.

  20. Vgl. P. Nahamowitz, Autopoiesis oder ökonomischer Staatsinterventionismus?, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 9 (1988) 1, S. 36-73.

  21. Vgl. N. Luhmann, Macht. Stuttgart 19882.

  22. Vgl. I. Maus, Verrechtlichung, Entrechtlichung und der Funktionswechsel von Institutionen, in: G. Göhler (Hrsg.), Grundfragen der Theorie politischer Institutionen: Forschungsstand — Probleme — Perspektiven, Opladen 1987, S. 132-172.

  23. G. Teubner/H. Willke. Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 5 (1984) 1, S. 14.

  24. Ebd.

  25. Görlitz und Voigt verweisen darauf, daß das „Berliner Modell“ der Verhandlungen zwischen „Staat“ und Hausbesetzern unter den Reg. Bürgermeistern Vogel/Weizsäcker als Erfahrungshintergrund für die Entwicklung dieser Theorie reflexiven Rechts gedient hat; vgl. A. Görlitz/R. Voigt, Rechtspolitologie. Opladen 1985.

  26. Vgl. G. Kirsch. Die Deregulierungsdebatte. Anmerkungen zu einem bornierten Streit, in: Th. Schmid (Hrsg.). Entstaatlichung: Neue Perspektiven auf das Gemeinwesen, Berlin 1988, S. 38-50.

  27. Vgl. Th. Ellwein/J. J. Hesse/R. Mayntz/F. W. Scharpf (Hrsg.), Jahrbuch zur Staatsund Verwaltungswissenschaft, Bd. 1, Baden-Baden 1987.

  28. F. W. Scharpf, Politische Planung zwischen Anspruch und Realität, Wissenschaftszentrum Berlin (IIMV/dp 79-4), Berlin 1979, S. 3.

  29. C. Offe, Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik. Frankfurt 1975.

  30. Vgl. P. C. Schmitter, Neokorporatismus: Überlegungen zur bisherigen Theorie und zur weiteren Praxis, in: U. von Alemann (Hrsg.), Neokorporatismus, Frankfurt 1981.

  31. Vgl. W. Streeck/P. C. Schmitter, Gemeinschaft, Markt und Staat — und die Verbände? Der mögliche Beitrag von Interessenregulierungen zur sozialen Ordnung, in: Journal für Sozialforschung, 25 (1985) 2.

  32. G. Lehmbruch, Der Neokorporatismus der Bundesrepublik im internationalen Vergleich und die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“, in: G. Gäfgen (Hrsg.), Neokorporatismus und Gesundheitswesen, Baden-Baden 1988, S. 17.

  33. Vgl. P. J. Katzenstein, Small States in World Markets. Industrial Policy in Europe, Ithaca-London 1985.

  34. Gegen diesen Vorwurf setzt sich G. A. Almond im September-Heft 1988 der American Political Science Review heftig zur Wehr.

  35. Vgl. T. Skocpol, Bringing the State Back In: Strategies of Analysis in Current Research, in: P. B. Evans/D. Ruesche-meyer/T. Skocpol (Eds.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 10-12.

  36. Vgl. A. Etzioni, An Immodest Agenda. Rebuilding America Before the Twenty-First Century, New York 1983.

  37. Vgl. U. Beck (Anm. 18).

  38. Vgl. E. W. Lehmann, The Theory of the State Versus the State of Theory, in: American Sociological Review, 53 (1988) 6, S. 807-823.

  39. Vgl. M. Levi, Of Rule and Revenue, Berkely 1988.

Weitere Inhalte

Ulrich Jürgens, Dr. rer. pol., geb. 1943; Studium der Politologie und der Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin; wissenschaftlicher Angestellter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Forschungsbereich Technik-Arbeit-Umwelt; Habilitation 1989 am Fachbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit B. Blanke und H. Kastendiek) Kritik der Politischen Wissenschaft. Analysen von Politik und Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt 1975; (Hrsg, zus. mit F. Naschold) Arbeitspolitik — Materialien zum Zusammenhang von politischer Macht, Kontrolle und betrieblicher Organisation der Arbeit, Leviathan-Sonderheft 1983; (Hrsg. zus. mit B. Dankbaar und Th. Malsch) Die Zukunft der Arbeit in der Automobilindustrie, Berlin 1988; (zus. mit Th. Malsch und K. Dohse) Moderne Zeiten in der Automobilfabrik. Strategien der Produktionsmodernisierung im Länder- und Konzemvergleich, Berlin 1989.