I. Einleitung
Die Unterzeichnung der Friedensabkommen über das südwestliche Afrika am 22. Dezember 1988 in New York hat im südlichen Afrika eine neue Ära der Beziehungen eingeleitet Verhandlungen, genauer gesagt die Suche nach Verhandlungslösungen, beginnen in der Politik der Region eine wichtige Rolle zu spielen. Die Hoffnungen auf friedliche Formen der Konfliktaustragung und -beilegung wachsen.
In Gbadolite (Zaire) trafen sich am 22. Juni 1989 auf Einladung Präsident Mobutus 18 afrikanische Staats-und Regierungschefs, um einen Waffenstillstand zwischen der MPLA-Regierung Angolas und der UNITA feierlich zu besiegeln. Präsident dos Santos und Jonas Savimbi reichten sich zur Überraschung der Weltöffentlichkeit die Hand. Zwar brach der Waffenstillstand nach kurzer Zeit wieder zusammen, und die Kämpfe wurden heftiger als in der Zeit zuvor, immerhin wurde aber ein Anfang gemacht, sich ernsthaft um eine Beendigung dieses nun schon mehrere Jahrzehnte andauernden Krieges zu bemühen.
Einen solchen Anfang gibt es auch in Mosambik. Die Führung des Landes gab der katholischen Kirche schon vor einiger Zeit grünes Licht, Kontakt zur RENAMO aufzunehmen und die Möglichkeiten einer politischen Lösung zu erkunden. Als erster Erfolg dieser Kontakte der als Vermittler berufenen Präsidenten Arap Moi von Kenia und Robert Mugabe von Simbabwe kam es vom 10. bis 14. August in Nairobi zu einem Treffen zwischen Führern der RENAMO und den als Beauftragten der mosambikanischen Regierung handelnden Kirchen-führern. Weitere Treffen folgten. Ein Durchbruch zum Frieden konnte aber auch in diesem Falle nicht erreicht werden.
In der Republik Südafrika ist die widersprüchliche und durch den Ausnahmezustand im Lande sowie die Destabilisierungspolitik gegenüber den Nachbarstaaten geprägte Ära Botha zu Ende gegangen. Er verabschiedete sich jedoch mit einem Paukenschlag: Am 5. Juli 1989 traf er sich mit Nelson Mandela — eine Zusammenkunft, die in die Geschichte eingehen wird.
Sein Nachfolger F. W.de Klerk knüpfte trotz des Zerwürfnisses mit Botha erst als Vorsitzender der Nationalen Partei (NP) und dann als Präsident des „weißen“ Südafrika an dieses Gespräch direkt an. Er zeigte sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit gegenüber der Anti-Apartheid-Opposition sehr gesprächsbereit. „Dialog“ und „Verhandlungen“ sind zu Grundbegriffen seines politischen Vokabulars geworden. Am 13. Dezember 1989 traf auch er mit Mandela zusammen und führte mit ihm einen Gedankenaustausch über die Frage, wie der Rassenkonflikt beendet werden könne. Mandela ist, trotz seiner Gefangenschaft, die in Kürze beendet sein dürfte, zur zentralen Figur bei der Suche nach einer politischen Lösung geworden. Die südafrikanische Regierung betrachtet ihn nicht mehr als . Terroristen“, sondern als Verhandlungspartner.
Dialog und Verhandlung bzw. Verhandlungen über Verhandlungen haben also einen neuen Stellenwert in den politischen Beziehungen des südlichen Afrika gewonnen. Das ist einmal auf die veränderte Haltung Moskaus und Washingtons im Umgang mit regionalen Konflikten zurückzuführen. Dieser Tatsache können sich die regionalen Akteure nicht entziehen. Die erfolgreichen Verhandlungen über Namibia waren dafür ein erster Beweis. Zum anderen nimmt bei den Konfliktparteien in der Region aber auch die Einsicht zu, daß letztlich keine von ihnen die Chance hat, aus der Konfrontation als klarer Sieger hervorzugehen, sei es in Südafrika, Angola oder Mosambik. Die Alternativen sind nicht Kampf bis zum Sieg oder zur Niederlage, sondern ernsthaftes Bemühen um eine politische Lösung oder Zerstörung der Lebensgrundlagen aller Beteiligten.
In Angola und Mosambik hat der Krieg Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet und Millionen von ihnen zu Flüchtlingen gemacht, von der ungeheuren Zerstörung der Infrastruktur und Wirtschaft einmal abgesehen. In Südafrika wird den Führern der verfeindeten Parteien zunehmend bewußt, daß ihrem Land Ähnliches drohen könnte, wenn sie keinen Weg zur Verständigung finden. Im Hinblick auf den Erhalt der wirtschaftlichen Substanz des Landes haben die Regierung, die Führung des Widerstandes und die Bevölkerung, unabhängig von der Hautfarbe, letztlich die gleichen Interessen
Ein Durchbruch zu einer politischen Lösung konnte bisher jedoch in keinem der drei Fälle erreicht werden. Der Krieg in Angola und Mosambik geht, wie angedeutet wurde, mit unverminderter Härte weiter. Und in Südafrika ist die Apartheid nicht abgeschafft. Die Politik im südlichen Afrika geht vielmehr in eine Phase, die vergleichbar ist dem Über-gang vom Kalten Krieg zu Schritten der Entspannung in den Ost-West-Beziehungen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Die Intensivierung von Dialog und Verhandlungen bedeutet nicht das Ende der Konflikte, sondern sie nehmen lediglich eine neue, in ihrer Austragung modifizierte Form an.
Diese Veränderung hat zu einer komplizierten Mischung von Konfrontation und Entspannung, von Konflikt und Kooperation geführt. Das ist, wie nachstehend am Beispiel Südafrikas gezeigt werden soll, eine sehr ambivalente und keineswegs ungefährliche Phase. Der Durchbruch zu einer friedlichen politischen Lösung ist ebenso möglich wie das Abgleiten in eine erneute Eskalation der Gewalt und des Blutvergießens. Die internationale Gemeinschaft könnte, so die abschließende These dieses Beitrages, das Zünglein an der Waage sein, das ein Abrutschen des Prozesses der Annäherung in Südafrika in eine Eskalation der Gewalt und des Blutvergießens verhindert.
II. Die Auswirkungen des südafrikanischen Rückzugs aus Namibia
1. Die Schlacht von Cuito Cuanavale und die regionale militärische Kräfteverteilung in den neunziger Jahren Die „Schlacht von Cuito Cuanavale“, bei der es sich eigentlich um mindestens drei Schlachten und ein Dauerbombardement zwischen November 1988 und Frühjahr 1989 handelte, hat in Schwarzafrika eine verständliche Euphorie ausgelöst. Zum ersten Mal gelang es seit Mitte der siebziger Jahre wieder, die Erfolgsserie der südafrikanischen Streitkräfte zu unterbrechen und ihnen empfindliche Verluste zuzufügen. Aufgrund des Einsatzes einer angolanisch-kubanischen Streitmacht verlor die südafrikanische Armee den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Cuito Cuanavale im Süden Angolas konnte, anders als von den Südafrikanern erwartet, nicht mit leichter Hand eingenommen werden.
Eine Niederlage im eigentlichen Sinn des Wortes erlitten die Südafrikaner in dieser Schlacht jedoch nicht. Sie konnten lediglich ihr Ziel, die Einnahme von Cuito Cuanavale, nicht erreichen. Sie mußten auch hinnehmen, daß eine zweite kubanisch-angolanische Streitmacht, verstärkt durch Einheiten der South West African People’s Organization (SWAPO), ihre Stellungen umging und sich an der Grenze Namibias festsetzte. Diese Streitmacht nahm den für Militär und Zivilbevölkerung im Norden Namibias strategisch so wichtigen Cunene-Staudamm als „Geisel“ und stellte Pretoria vor die Wahl, entweder die Eroberung von Cuito Cuanavale aufzugeben und an den Verhandlungstisch zurückzukehren oder die Zerstörung des Dammes zu riskieren. Pretoria wählte die erste Lösung.
Die militärischen Auswirkungen dieses Rückschlags sind für die South African Defense Forces (SADF) jedoch zeitlich begrenzt. Denn in der Euphorie über Cuito Cuanavale wird häufig vergessen, daß am 1. Juli 1991 alle kubanischen Truppen Angola verlassen haben werden. Sie haben nicht die Absicht zurückzukehren. Kubanische Gesprächspartner lassen keinen Zweifel daran, daß die Zeit, in der man in anderen Ländern und in anderen Kontinenten aus revolutionären oder anderen Gründen intervenieren könne, auch für sie vorbei sei. In Havanna ist man froh, daß die afrikanische Phase so erfolgreich abgeschlossen werden kann. Die territoriale Integrität Angolas wurde verteidigt und Namibia befreit. Zwar ist der Bürgerkrieg in Angola nicht beendet. Die Auseinandersetzung zwischen der vom Movimento Populär de Libertaao de Angola (MPLA) gestellten Regierung und der Uniäo Nacional para a Independencia Total de Angola (UNITA) wird von den Kubanern aber schon länger als eine interne Angelegenheit der Angolaner betrachtet. Selbst im Extremfall eines erneuten Einmarsches südafrikanischer Truppen in ein unabhängiges Namibia werden die Kubaner sich kaum zu einem erneuten Eingreifen entschließen. Im Hinblick auf das mit sowjetischer und kubani-scher (und wohl ostdeutscher) Hilfe in Angola aufgebaute Luftverteidigungssystem verlassen sich die südafrikanischen Militärs darauf, daß es dem angolanischen Militär ohne die Präsenz der Kubaner nur schwerlich gelingen dürfte, seine Schlagkraft über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Die Anforderungen, die ein derartiges System technisch und ausbildungsmäßig an die sogenannten drei C’s (command, control, communication) stellt, sind zu hoch. Die südafrikanischen Militärs sind sich dieser Lage bewußt. In einem Interview im Mai 1989 sagte der Chef der SADF, General Jannie Geldenhuys: „Fünfzigtausend kubanische Soldaten, ausgerüstet mit modernen Waffen, werden gegangen sein. Das ist sehr wichtig.“
Das ist in der Tat sehr wichtig. Denn damit entsteht in der Region eine neue militärische Lage, d. h. die unangefochtene militärische Vormachtstellung Südafrikas wird wiederhergestellt werden. Bisher denken die südafrikanischen Militärs nur wenig an Abrüstung. Im Haushalt 1989 wurde das Budget für das Militär und den Sicherheitsapparat erst einmal um 22 Prozent angehoben. 5, 8 Mio. Rand sind für den special defence account bereitgestellt worden, aus dem die Kosten für besondere Verteidigungsaktivitäten und Waffeneinkäufe bezahlt werden. Seit Ende 1989 nehmen die Gerüchte über eine Kürzung desVerteidigungshaushaltes allerdings zu. Die Verkürzung des Wehrdienstes auf ein Jahr ab 1990 wurde von de Klerk im Dezember 1989 angeordnet. 2. Namibia und das Scheitern der „Totalen Nationalen Strategie“ zur Verteidigung der weißen Vorherrschaft Über den spektakulären militärischen Ereignissen im südlichen Angola ist vielfach ein Aspekt des südafrikanischen Rückzugs aus Namibia übersehen worden, der längerfristig für den Fortbestand bzw. Nicht-Fortbestand der weißen Vorherrschaft in Südafrika von größerer Bedeutung sein wird: Die „Totale Nationale Strategie“, mit der Pretoria seit Ende der siebziger Jahre die weiße Vorherrschaft in Südafrika und in der Region sichern wollte, ist in Namibia kläglich gescheitert.
Seit Anfang der achtziger Jahre war Namibia zum Prüfstein für die Wirksamkeit dieser Strategie geworden. Der Schock über den Ausgang der Wahlen in Rhodesien/Simbabwe im Jahre 1980 (überwältigender Wahlsieg Mugabes und eine vernichtende unterstützten Niederlage für den von Südafrika
Kandidaten, Bischof Muzorewa) sowie die erfolgreiche Versöhnungspolitik des zuvor noch als Terrorist verschrienen Robert Mugabe zwangen die Führung in Pretoria zu einer strategischen Grundsatzentscheidung: entweder dem Drängen der internationalen Gemeinschaft und nicht zuletzt der westlichen Mächte folgend, in Namibia und in Südafrika selbst einen Weg wie den mit der Lancaster-House-Vereinbarung in_ Rhodesien beschrittenen einzuschlagen oder bei der Verteidigung der weißen Vorherrschaft in die Offensive zu gehen.
Pretoria entschied sich für die zweite Möglichkeit. Die Phase der Destabilisierungspolitik begann, und Botha und die Militärs ließen keinen Zweifel daran, daß man in Namibia kein zweites Simbabwe zulassen werde, weder durch den bewaffneten Kampf noch durch einen Sieg der SWAPO an der Wahl-urne. Vielmehr würde man mit Hilfe der vor allem von P. W. Botha, Verteidigungsminister Malan und dem früheren Chef der SADF. General Lloyd, entwickelten Totalen Strategie der Welt und der eigenen Bevölkerung beweisen, daß es kein historisches Gesetz der Zwangsläufigkeit von Siegen nationaler Befreiungsbewegungen gebe. Namibia sollte der Platz werden, an dem die Welle der erfolgreichen nationalen schwarzen Befreiungsbewegungen gestoppt würde. Militärs und zivile Sicherheitskräfte (securocrats) rückten in das Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses vor Die wichtigen Entscheidungen fielen von nun an nicht mehr im Kabinett, sondern im State Security Council (SSC) und dem ihm untergeordneten National Security Management System (NSMS). Namibia war mit einem eigenen regionalen Joint Management Center (JMC) direkt in dieses System eingeordnet.
Diese strategische Entscheidung erklärt zu einem beträchtlichen Teil, warum die Implementierung von Resolution 435 des UN-Sicherheitsrates in den achtziger Jahren blockiert war. Die SADF intensivierten nicht nur ihren militärischen Kampf gegen die SWAPO, sondern zogen auch umfassende Programme des social engineering und der sozialen Wohlfahrt in Namibia auf, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Dieser Teil der Strategie wurde „win the hearts and minds of the people" (WHAM) genannt und zielte darauf ab, den „Revolutionä-ren“, d. h.der SWAPO, die soziale Basis in der Bevölkerung zu entziehen
Militärisch gesehen, war diese Strategie relativ erfolgreich. Die SWAPO erlitt große Verluste und wurde immer weiter nach Angola abgedrängt. Das erklärte Ziel, die Guerilla-Armee der SWAPO, die People’s Liberation Army of Namibia (PLAN), zu vernichten, blieb jedoch aufgrund des ständigen Zustroms von Kampfwilligen aus Namibia unerreichbar.
Als ein völliger Fehlschlag erwies sich WHAM. Trotz des Einsatzes vieler Millionen Rand gelang es nicht, im Lande eine der SWAPO an Popularität auch nur annähernd gleichwertige politische Alternative aufzubauen. Die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung haben mit dem Sieg der SWAPO (57 Prozent) insoweit nur bewiesen, was vorher schon bekannt war.
Die Erfolglosigkeit der Totalen Strategie war — zusammen mit der Annäherung Washingtons und Moskaus, der durch die Kubaner 1988 herbeigeführten veränderten militärischen Lage und der seit Frühjahr 1988 durch den amerikanischen Kongreß drohenden verschärften Wirtschaftssanktionen — ein Grund für die von Präsident Botha 1988 angeordnete Rückkehr an den Verhandlungstisch. Die zunehmenden Verluste unter den weißen Wehrpflichtigen und die Kosten von mindestens einer Mio. Rand pro Tag für den Krieg in Namibia ließen sich ohne Aussicht auf Erfolg nicht mehr rechtfertigen. Bothas Entscheidung im Frühjahr 1988, keine weiteren, möglicherweise sehr verlustreichen Angriffe auf Cuito Cuanavale zuzulassen (die Militärs rechneten bei einem auf breiter Front vorgetragenen Angriff selbst mit mindestens 600 toten weißen Wehrpflichtigen, von der Zahl der schwarzen Gefallenen ganz zu schweigen), wäre wahrscheinlich anders ausgefallen, wenn er noch an einen Erfolg der Totalen Strategie in Namibia geglaubt hätte. Er hätte dann vielleicht sogar eine Entscheidungsschlacht großen Maßstabs gegen die Kubaner gewagt.
Am Schluß seiner Amtszeit soll Botha von der Totalen Strategie und den Militärs enttäuscht gewesen sein. Wie Vietnam für die Amerikaner wurde Namibia für die weißen Südafrikaner zu einer Lektion über die Grenzen einer technokratisch-militärischen Strategie als Mittel der Konfliktlösung. Einige führende südafrikanische Militärs scheinen bereit zu sein, diese Lektion zur Kenntnis zu nehmen. Denn es gibt keinen Anlaß zu glauben, daß die Totale Strategie in den südafrikanischen Townships erfolgreicher sein wird als in Namibia. Im Gegenteil: Das Maß der Mobilisierung, Politisierung und Organisation ist bei den städtischen Schwarzen in Südafrika weit größer als bei der überwiegend ländlichen Bevölkerung in Namibia. Seit Anfang 1989 zeichnet sich ab, daß der Ausnahmezustand seine lähmende Wirkung auf die Oppositionsbewegungen und die Gewerkschaften verliert. Seit Ende 1989 gilt er als de facto weitgehend außer Kraft. Seit Anfang Februar 1990 sind sämtliche politischen Parteien und Gruppierungen legalisiert.
Für die weiße Bevölkerung war die Drohung mit der kommunistischen Gefahr und dem sowjetischen Expansionismus lange Zeit ein psychologischer Eckpfeiler, um sich hinter der Totalen Strategie als einer Art moderner Wagenburg zu vereinen. Nun steht diese Bedrohung angesichts von Perestroika, Glasnost und einem „Neuen Realismus“ auch in der sowjetischen Afrikapolitik nicht mehr als Mittel der Mobilisierung zur Verfügung. Selbst Verteidigungsminister Malan, in der Vergangenheit einer der wohl überzeugtesten Verfechter dieser Strategie, konnte nicht anders, als die konstruktive Rolle Moskaus bei der Lösung des Konfliktes im südwestlichen Afrika zu loben.
Diese Erosion und das Versagen der Strategie in Namibia hat die Politik in Südafrika nicht unberührt gelassen. In der Botha-Ära basierten innen-politische und außenpolitische Entscheidungen der weißen Politik auf dem Glauben bzw.der Gewißheit, einen grand design für die Verteidigung der weißen Vorherrschaft zu besitzen. Das gab Stärke und Entschiedenheit im Handeln. Jetzt und in Zukunft werden sowohl die militärischen als auch die politischen Führer in Pretoria ohne einen derartigen Plan und ohne eine derartige Gewißheit handeln müssen.
Die Zukunft Südafrikas ist durch diese Entwicklung zweifellos offener geworden. Es wäre jedoch naiv zu glauben, daß die Weißen bzw. die Regierung in Pretoria nun einfach die weiße Flagge hissen und die Macht an die schwarze Mehrheit übergeben werden. Dagegen spricht unter anderem der Five-Year Action Plan, den die National Party (NP) im Juni 1989 als Plattform für die Wahlen zur weißen Kammer des Parlaments in Kapstadt am 6. September 1989 verabschiedete.
III. Pretoria und der African National Congress (ANC): Versuch der Annäherung
1. De Klerk und der Five-Year Action Plan der National Party (NP)
F. W.de Klerk gilt dem früheren Präsidenten Botha in seiner philosophisch-politischen Grundeinstellung als verwandt, trotz seiner eingangs erwähnten größeren Bereitschaft zum Dialog mit der Anti-Apartheid-Opposition. Wie dieser ist er davon überzeugt, daß Gruppen und Gruppenrechte, nicht aber das Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“, der Grundbaustein des Zusammenlebens von Weiß und Schwarz in Südafrika sein müssen. Im Juni 1989 setzte er auf einem Parteitag der NP die Verabschiedung eines Five-Year Action Plan durch, der genau dieser Philosophie folgt. Des weiteren ist der neue Minister für Constitutional Development and Planning und frühere Chef des Bruderbundes, Gerrit Viljoen, ebenfalls als überzeugter, um nicht zu sagen gläubiger Vertreter des Gruppenkonzeptes bekannt. Die politische Karriere beider ist durch ihr Eintreten für Afrikaner-Belange gekennzeichnet 1983 soll de Klerk sogar daran gedacht haben, sich wegen der von Botha betriebenen Verfassungsreform zusammen mit A. Treumicht von der NP abzuspalten und an der Gründung der Conser-vative Party (CP) mitzuwirken.
Im Unterschied zu Botha ist de Klerk jedoch kein Mann der Militärs und der sogenannten securocrats. Er ist ein Mann der NP und der Parteipolitik. Der Fraktion der im Parlament vertretenen NP-Mitglieder hat er zugesagt, daß unter ihm Kabinett und Parlament ihre führende politische Rolle im Verhältnis zum Staatssicherheitsrat zurückerhielten. Dieses Versprechen brachte ihm eine breite Front der Unterstützung bei dem überraschend schnellen und unrühmlichen „Sturz“ Bothas im Sommer 1989 ein.
Der Fünf-Jahres-Plan der NP ist mehr als nur eine Wahlplattform, die de Klerk nach den Wahlen ohne Umstände beiseitelegen wird oder kann. Dieser Plan beschreibt die Zugeständnisse, die in der NP zugunsten eines Dialogs mit der schwarzen Bevölkerung gegenwärtig konsensfähig sind. Als solche neuen Elemente sind die Absicht zu nennen, Verstöße gegen das Group Areas Act zu entkriminalisieren, eine Bill of Rights in die Verfassung aufzunehmen und eine „offene Gruppe“ zuzulassen, d. h. eine Gruppe, der sich alle diejenigen Südafrikaner anschließen können, die nicht nach rassischen oder ethnischen Merkmalen klassifiziert werden wollen.
Diese neuen Elemente beschreiben möglicherweise aber auch die Grenze der Zugeständnisse, auf die sich die NP gegenwärtig mehrheitlich verständigen kann. Denn der Plan ist insgesamt eine konsequente Fortschreibung des schon von der Regierung Botha begonnenen Umbaus der weißen Vorherrschaft von einer direkten in eine indirekte Form. In der Präambel des Fünf-Jahres-Plans wird die Kontinuität zu früheren Vorstellungen der NP sogar ausdrücklich betont. Dort heißt es, daß alle Versprechungen des „Programme of Principles and of our Manifesto of 1987“ der NP beibehalten worden seien.
Im Zusammenhang mit der in Südafrika üblichen Unterscheidung zwischen own und general affairs und der absoluten Anwendung des Konsensprinzips auf höchster Ebene ist der Fünf-Jahres-Plan eine zwar geschickte, letztlich aber durchsichtige Konstruktion zur Festschreibung der weißen Vorherrschaft auf indirektem Wege. Bothas Berater hatten dafür schon einen griffigen Slogan gefunden: power sharing without loosing control. Der Bevölkerungsteil, der ökonomisch, sozial und politisch bereits dominiert, also die Weißen, wäre auch in Zukunft in der Lage, durch sein aus dem Konsensprinzip resultierendes Vetorecht alle Veränderungen abzublocken. David Welsh polemisierte deswegen zu Recht gegen die Vorstellungen des Fünf-Jahres-Plans: „Some years ago I described the Tricameral System as a collector’s item for Students of bizarre constitutions. What appears to be in prospect now could make even the Tricameral System look simple.“
Es überrascht daher nicht, daß kein maßgeblicher schwarzer Politiker in Südafrika bereit ist, sich an dem schon unter Botha für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung eingerichteten National Council zu beteiligen. Selbst aus der Sicht sogenannter gemäßigter Politiker wie G. Buthelezi, des Führers der vor allem von Zulus unterstützten INKATHA-Organisation, stellt er im Hinblick auf das entscheidende Apartheid-Problem, den Wandel im sozioökonomischen Bereich, allzu offensichtlich eine „Scheinbeteiligung“ der schwarzen Bevölkerung dar. Buthelezi hat der Regierung in Pretoria zwar kürzlich Verhandlungen angeboten, dabei aber be-tont, daß diese von seiner Seite, ebenso wie von der des ANC und anderer Organisationen, nur auf der Basis „ein Mensch, eine Stimme" geführt würden. 2. Die Constitutional Guidelines des ANC Im Frühjahr 1988 legte der ANC mit der Veröffentlichung von Leitlinien für eine neue Verfassung die Basis für eine eigene diplomatische Offensive und Verhandlungslösung. Im Juni 1989 intensivierte er diese Offensive durch eine Konsultation auf höchster Ebene über die Frage, ob Verhandlungen zwischen dem National Executive Committee (NEC) des ANC, Führern des sogenannten Mass Democratic Movement (MDM) — bestehend aus United Democratic Front (UDF), Congress of South Afri-can Trade Unions (COSATU) — und anderen Oppositionsgruppen stattfinden sollten. Diese Konsultationen endeten mit der Veröffentlichung eines gemeinsamen Study Document on Negotiations. Als nächster Schritt wurde am 10. August den sechs Frontstaatenpräsidenten und am 21. August dem von Präsident Mubarak, Ägypten, geleiteten Ad-Hoc-Komitee der Organization of African Unity (OAU) ein detaillierter Friedensplan vorgelegt.
Der Plan wurde von der OAU mit nur geringfügigen Änderungen des Wortlautes übernommen. Sprachlich und inhaltlich sind in diesem Plan, wie zuvor schon in den Leitlinien, Vorstellungen berücksichtigt worden, die amerikanische, deutsche und britische Diplomaten im Sommer 1987 erarbeitet hatten. Zu einer gemeinsamen Veröffentlichung dieser Vorstellungen kam es zwar nicht. Sie gingen aber in eine Rede des amerikanischen Außenministers Shultz am 29. September 1987 in New York ein.
Die aktive Diplomatie des ANC und Mandelas zur Vorbereitung von Verhandlungen hat ihre Früchte getragen Die Führung des ANC hat verhindert, daß der Anti-Apartheid-Widerstand von Pretoria auf dem internationalen diplomatischen Parkett ausmanövriert wurde, mehr noch, er hat heute in dem Wettlauf, wer zuerst der internationalen Gemeinschaft das überzeugendere Verhandlungskonzept anbietet, die bessere Ausgangsposition. Und Mandelas Rolle wurde von einem Kommentator als die bemerkenswerteste beschrieben, die von einem zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe Verurteilten bei einem derartigen Prozeß jemals gespielt worden ist. Sein „Gefängnis“ außerhalb Kapstadts habe sich in eine Art Hauptquartier verwandelt, angeblich ausgestattet mit Telefon und Telefax, von dem aus er mit den Führern der verschiedensten Gruppen in Kontakt steht.
Die ANC-Leitlinien haben einen anderen Ausgangspunkt als der Fünf-Jahres-Aktionsplan der NP: Nicht die gesetzlich festgelegte Unterscheidung nach rassischen und ethnischen Gruppen, sondern ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, also das Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ soll der Grund-baustein für ein neues Südafrika sein. Dieses Prinzip schließt nicht aus, auch wenn das in den Leitlinien des ANC nicht ausdrücklich erwähnt ist, Mechanismen und Rechte zum Schutz von Minderheiten einzubauen. Ohne eine angemessene Berücksichtigung der Ängste der Weißen wird es eine politische Lösung nicht geben. Die Schwierigkeit besteht darin, daß in der Praxis der Grat zwischen einer Verankerung von Minderheitsrechten und einer indirekten Fortsetzung der weißen Vorherrschaft schmal ist. Gruppenrechte als Grundbaustein einer Verfassung sind etwas anderes als die Garantie von Minderheitsrechten in einem System des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Diesen Schluß zog in ihrem Bericht auch die noch von der Regierung Botha eingesetzte Law Commission: „In unserer Gesellschaft sollten kulturelle, religiöse und sprachliche Werte nicht als , Gruppenrechte'geschützt werden, denn eine Gruppe hat keine eigene Rechtspersönlichkeit. Diese Werte sollten vielmehr in einer Bill of Rights als individuelle Rechte garantiert werden.“
Es bestehen wenig Zweifel, daß die ANC-Führung weiß, daß sie in dieser Richtung Konzessionen machen muß, wenn das Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ von der Regierung in Pretoria einmal als Basis für eine neue Verfassung akzeptiert worden ist. Das gilt einmal mehr, seitdem sich nicht nur westliche, sondern auch die Mehrzahl der sowjetischen Publizisten und Politiker in diesem Sinne äußern. Der früher für Afrika zuständige stellvertretende sowjetische Außenminister, Adamishin, hat das in einem Interview kürzlich diplomatisch so ausgedrückt: „Eine Lösung muß für alle in Südafrika akzeptabel sein, sowohl für die Schwarzen als auch für die Weißen.“ Seine Aussage läßt erkennen, daß sich die sowjetische Politik nicht auf ein bestimmtes Modell des Minderheitenschutzes festlegen will, auch nicht auf das im Westen und Südafrika viel zitierte von Starushenko, einem der stellvertretenden Direktoren des Moskauer Afrika-Instituts. Er trat für ein Vetorecht der Weißen in allen wesentlichen Fragen ein.
Die Kluft zwischen dem Gruppenkonzept der NP und den auf „ein Mensch, eine Stimme“ basierenden Leitlinien des ANC hat einen weiteren Streitpunkt zur Folge: die Forderung Pretorias, daß der ANC und andere Organisationen nur dann als Partner für Verhandlungen anerkannt werden könnten, wenn sie grundsätzlich auf die Anwendung von Gewalt, d. h.den „bewaffneten Kampf“, verzichten.
Diese Forderung ist natürlich bei den meisten Weißen in Südafrika populär, ebenso wie bei vielen Menschen im Westen. Sie geht jedoch an dem eigentlichen Problem vorbei. Denn bereits im Jahre 1986 hat die ANC-Führung gegenüber der Eminent Persons Group (EPG), die damals im Auftrag des Commonwealth die Chancen einer politischen Lösung erkundete, ihre Bereitschaft zu einem Waffenstillstand erklärt, sobald sich Pretoria ernsthaft zu Verhandlungen bereit erkläre. Die, wie man heute weiß, für Botha überraschende und damals auch im ANC keineswegs unumstrittene Kompromißbereitschaft in der Frage des Waffenstillstandes brachte Pretoria in Verlegenheit. Der nächste Schritt wäre gewesen, Farbe im Hinblick auf ein allgemeines gleiches Wahlrecht zu bekennen. Botha und der State Security Council zogen jedoch militärische Maßnahmen vor und brachten die EPG-Mission im Mai 1986 durch Angriffe auf Ziele in Botswana, Simbabwe und Sambia zum Scheitern. Die EPG beendete ihre Mission mit der Feststellung, daß „Südafrika gegenwärtig nicht bereit sei und auch keine Absicht habe, in ehrlicher Absicht zu verhandeln“.
Auch heute ist es nicht der bewaffnete Kampf, der Pretoria in erster Linie beunruhigt. Der im Vergleich zu den Kapazitäten des ANC gewaltige Militär-und Sicherheitsapparat des Staates ist noch über viele Jahre in der Lage, diesen Kampf in engen, die weiße Bevölkerung nur marginal berührenden Grenzen zu halten. Die militärische Option des Widerstandes ist eher symbolisch als real. Bei Pretorias Forderung nach einem prinzipiellen Verzicht geht es um etwas anderes: Sie ist eine Aufforderung zur Kapitulation und zur Unterwerfung unter das von Pretoria verfolgte verhandlungspolitische Konzept. (Die Hoffnung, den ANC in einen internen und externen beziehungsweise einen sogenannten gemäßigten und einen radikalen Flügel spalten zu können, spielte mitunter ebenfalls eine Rolle.)
Einen Fortschritt wird es nur geben, wenn in der Frage der Gewalt beide Seiten zu einem Kompromiß bereit sind. Seitens des ANC und der OAU sind die Bedingungen dafür konkretisiert worden. In der erwähnten Political Declaration des Ad-hoc-Komiteesder OAU wird die Vereinbarung eines bindenden Waffenstillstandes vorgeschlagen, sobald durch Freilassung aller politischen Gefangenen, Aufhebung des Verbots und der Beschränkungen aller politischen Organisationen, Rückzug der Truppen aus den Townships. Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller die politische Betätigung behindernden Gesetze etc. ein für die Aufnahme von Verhandlungen „angemessenes Klima" geschaffen worden sei.
Pretoria hat diesen Vorschlag bisher strikt abgelehnt. Dennoch deutet sich seit Mitte Oktober 1989 eine gewisse Auflockerung der Haltung in der Frage des Gewaltverzichts an. Walter Sisulu und sechs weitere führende ANC-Mitglieder wurden am 15. Oktober aus der Haft entlassen, ohne daß sie, wie es Botha noch kompromißlos zur Bedingung gemacht hatte, dem bewaffneten Kampf abschwören mußten. Auffällig ist, daß parallel dazu der ANC in der letzten Zeit die Zahl seiner Anschläge vermindert haben soll, obwohl Sisulu und die anderen nach ihrer Freilassung sogleich für die Fortführung des bewaffneten Kampfes eintraten
De Klerk seinerseits verkündete auf einem Provinz-parteitag der NP am 22. Oktober seine Bereitschaft, mit dem ANC zu verhandeln, ohne die alte Bedingung eines absoluten Verzichts auf den bewaffneten Kampf zu wiederholen. Er forderte nur noch ein „Bekenntnis zum Frieden“. Des weiteren sei er bereit, den Ausnahmezustand aufzuheben, falls die Gruppen, die hinter der Gewalt stehen, „durch Wort und Tat“ zeigten, daß die Aufhebung nicht zu neuen Gewaltausbrüchen führe. Die zuvor benutzte Formel „der Gewalt abschwören“ nannte de Klerk bei einer anderen Gelegenheit „übervereinfachend“. Genau sie hatte Viljoen am 17. Oktober im südafrikanischen Fernsehen aber noch vertreten. 3. Zur Haltung des PAC gegenüber Verhandlungen Der Pan Africanist Congress (PAC) lehnt Verhandlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt als einen „Ausverkauf an die Weißen ab. Der PAC ist nur bereit, aus einer Position der Stärke über die technischen Modalitäten der Machtübergabe zu verhandeln. Wie er diese Position in absehbarer Zeit erreichen will, bleibt unklar. Mandela hat am 9. November mit einem führenden PAC-Mitglied, Jafta Ma-semola, ein dreistündiges Gespräch geführt, um die Differenzen zwischen ANC und PAC auszuräumen. Das scheint ihm nicht gelungen zu sein. Auf einer Konferenz des PAC mit ihm nahestehenden Gruppen aus Südafrika in Harare am 29. November wurde die relativ harte Linie bestätigt. Verhandlungen kämen erst in Frage, wenn die „fünf Säulen“ der Apartheid (Population Registration Act. Land Acts von 1913 und 1916, Homeland System, Bantu Education Act und Dreikammerparlament) beseitigt worden seien. Allerdings gab es insoweit eine Annäherung an den ANC, als in der anschließenden Erklärung des PAC die ANC-For-mel von einem „Klima“, das die Regierung in Pretoria durch die Freilassung der politischen Gefangenen etc. für Verhandlungen schaffen müsse, übernommen wurde.
Am 2. Dezember 1989 wurde in Johannesburg das dem PAC nahestehende Pan-Africanist Movement (PAM) gegründet. Durch diese Gründung wurde die schon seit einiger Zeit zu erkennende Unterscheidung zwischen BCM (Black Consciousness Mouve-ment) -Organisationen wie AZAPO und den soge-nannten „Afrikanisten“, die sich mit dem PAC und seiner Philosophie eng verbunden fühlen, verstärkt. Der größere Teil der BCM scheint sich dem ANC anzunähern, der sich ja seinerseits seit Ende der siebziger Jahre durch den Zufluß vieler Jugendlicher aus dieser Bewegung mit dem Black Consciousness-Den-ken auseinanderzusetzen hat. Der kleinere Teil dagegen schließt sich den „Afrikanisten“ unter der Führung des PAC immer enger an.
Zum Präsidenten von PAM wurde Clarence Makwethe aus der Transkei gewählt. Er war in den vierziger Jahren Mitglied der ANC-Jugendliga, verließ den ANC jedoch, als sich der PAC Ende der fünfziger Jahre unter der Führung von Robert Sobukwe abspaltete. Nach dem Sharpeville-Massaker wurde er zu acht Jahren Zuchthaus auf Robben Islands verurteilt. Generalsekretär und der organisatorische Motor der Bewegung ist Benny Alexander. PAM verlangt die Rückgabe des Landes und die Errichtung einer sozialistischen Demokratie.
Die Hoffnungen des ANC und des MDM, durch eine weit über die eigene Anhängerschaft hinausgehende „Konferenz über die demokratische Zukunft“ Südafrikas vom 9. bis Dezember in Johannesburg den Anti-Apartheid-Widerstand in Sachen Verhandlungen auf eine gemeinsame Linie einzuschwören, erfüllten sich nicht. Zwar kamen zu der Konferenz über 4 000 Delegierte von über 2 000 Organisationen aus allen Teilen des Landes, darunter auch die verschiedener BCM-Organisationen unter der Führung der Azanian People’s Organisation (AZAPO). PAM und der ihr nahestehende zweitgrößte südafrikanische Gewerkschaftsdachverband National Conference of Trade Unions (NACTU) blieben ihr jedoch fern. Und Jerry Mosala von der AZAPO-Führung äußerte sich nach der Konferenz kritisch über das Vorgehen der MDM, den Friedensplan des ANC auf der Konferenz einseitig und ohne ausreichende Diskussion als gemeinsames Dokument zu verabschieden.
IV. Was will, was kann de Klerk tun? Szenarien möglicher Entwicklungen
Den oben analysierten Prozeß beschrieb der südafrikanische Journalist Phil van Niekerk kürzlich folgendermaßen: „Die südafrikanische Regierung und der ANC scheinen zu versuchen, sich wie zwei Seiltänzer von den beiden Enden des Drahtseiles aus über den politischen Graben aufeinander zuzubewegen.“ 10)
Der ANC ist bei diesem Balanceakt wohl in der besseren Position. Denn es ist einfacher, auf der Basis des von ihm vertretenen und international allgemein anerkannten Prinzips „ein Mensch, eine Stimme“ Konzessionen zugunsten von Minderheiten zu machen, als von Gruppenrechten auf „ein Mensch, eine Stimme“ umzuschwenken.
Außerdem sind sich die führenden internationalen Mächte, die USA, die UdSSR, Westeuropa und Japan sowie die Großbanken etc. darin einig, daß die Basis für Verhandlungen nur das Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ und nicht das von Pretoria vertretene Gruppenkonzept sein kann. Selbst die britische Premierministerin Thatcher ließ in einem Interview keinen Zweifel daran, daß sie diesen Grundsatz für unverzichtbar halte. Die gleichzeitige Sicherung von Minderheitsrechten sei allerdings ein wichtiger Punkt. Auch darüber sind sich die oben genannten Akteure einig.
Was also wird de Klerk in den nächsten Monaten tun? Spektakuläre Voraussagen über angeblich unmittelbar bevorstehende Durchbrüche zu Verhandlungen. zur Freilassung Mandelas und zur Rück-B kehr der ANC-Führer aus Lusaka schon Anfang 1990, zu Treffen aller Frontstaatenführer mit de Klerk noch im selben Jahr stehen gegenwärtig hoch im Kurs. Diese Voraussagen mögen eintreten oder auch nicht. Es gibt jedoch keinen zwangsläufigen Ablaufder Ereignisse in den nächsten Monaten und Jahren. Politologische Studien sollten sich hinsichtlich der Möglichkeit, diesen Ablauf vorherzusagen, vor allem was den Zeitfaktor betrifft, nicht festlegen. Auch die Regierung in Pretoria und die ANC-Führer in Lusaka wissen nicht sicher, wohin die Reise geht. Der ambivalente Prozeß von Vor-Verhandlungen und Konfrontation, von Dialog und Konfrontation hat seine eigene Dynamik. Die Chance zu einem Durchbruch und die Gefahr eines Rückfalls in eine neue, blutige Spirale der Gewalt liegen nahe beieinander. In der Grundtendenz sind die folgenden Szenarien denkbar. 1. Optimistisches Szenario: Durchbruch zu Verhandlungen In der ersten Hälfte des Jahres 1990 gelingt ein Durchbruch zu Verhandlungen in der Substanz. Mandela wird freigelassen, das Verbot des ANC, des PAC und anderer politischer Organisationen wird aufgehoben und der Ausnahmezustand auch de jure beendet.
Die Freilassung Sisulus und anderer ANC-Führer am 15. Oktober 1989 und die de-facto-Tolerierung einer offenen ANC-Präsenz bei den Feiern aus diesem Anlaß am 29. Oktober können als ein erfolgreicher „Probelauf“ interpretiert werden. Auf dem bereits erwähnten Parteikongreß der Transvaaler NP hatte de Klerk seine Absicht verkündet, sobald wie möglich den Ausnahmezustand aufzuheben, alle politischen Gefangenen zu entlassen, Organisationen wie den ANC zu legalisieren und alle noch bestehenden diskriminierenden Gesetze abzuschaffen, wenn dies nicht zu einem Anstieg der Gewalttätigkeit führe. Verfassungsminister Viljoen stellte nach der Freilassung Sisulus und seiner Mitstreiter ausdrücklich fest, daß er durch ihre anschließenden Äußerungen ermutigt sei. Mitte November hob die Regierung das Gesetz zur Rassentrennung in Freizeitgebieten auf, ebenfalls ein positiver Schritt. Im Januar 1990 stellte sie Walter Sisuln und den anderen, im Oktober freigelassenen ANC-Mitgliedern Reisepässe aus, damit sie nach Lusaka zu Gesprächen mit den dortigen ANC-Führern reisen konnten. Diese Gespräche drehten sich um die Frage, wie der ANC auf ein möglicherweise in den nächsten Wochen erfolgendes Verhandlungsgebot der Regierung reagieren solle.
Alle diese Schritte rücken das von ANC, Mandela, dem MDM, der OAU und anderen geforderte „Klima“ für Verhandlungen in greifbare Nähe. Willem de Klerk, der Bruder des Präsidenten, deutete in einem Interview im Sommer 1989 an, er rechne damit, daß der Präsident noch vor Ende des Jahres einen führenden Mann des Außenministeriums für Vorgespräche mit dem ANC benennen würde, vermutlich den verhandlungserfahrenen Generaldirektor des Außenministeriums, Neil van Heer-den.
Eine solche Entwicklung der Ereignisse würde bedeuten, daß de Klerk, im Gegensatz zu seinen früheren politischen Überzeugungen, die sogenannte De-Gaulle-Option gewählt hätte, also in enger Tuchfühlung mit Mandela aber im Gegensatz zu großen Teilen der eigenen weißen Wählerschaft den Sprung nach vorne riskiert. Macht er diesen Sprung, dann steht das „weiße“ Südafrika 1990 am Scheideweg. Die NP würde sich möglicherweise spalten und einen Teil ihrer Mitglieder an die CP verlieren. Wichtiger aber noch ist die Frage, ob die „Ultra-Rechten“, also die CP und die Afrikaner Weerstandsbeweging (AWB) sowie deren Entsprechungen in Militär und Polizei, de Klerk erlauben werden, einen ernsthaften Dialog mit dem ANC und anderen Oppositionsgruppen zu führen.
Das Verhalten der Militärs wird in einem solchen Szenario von entscheidender Bedeutung sein. Denn trotz ihres Bedeutungsverlustes kann de Klerk nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß sie mit dem unter Botha aufgebauten Sicherheitssystem ein mächtiges Instrument zur Ausübung politischer Macht in die Hand bekommen.
Raison d’tre dieses Systems war es in den letzten Jahren, den ANC und die „Revolutionäre“, mit denen nun verhandelt werden soll, allesamt zu vernichten. Werden die Militärs dieses Feindbild so schnell hinter sich lassen und de Klerks Sprung nach vorne mitmachen? Seit November 1989 ist de Klerk bemüht, den Sicherheitsapparat durch einen Um-und Abbau des State Security Management System institutionell eindeutig seiner Herrschaft und der des Kabinetts zu unterstellen. Werden die Militärs sich das uneingeschränkt gefallen lassen?
Im südafrikanischen Militär gibt es auf diese Frage mit einiger Sicherheit keine einheitliche Antwort. Differenzen und politische Trends im südafrikanischen Militär sind leider ein von der politikwissenschaftlichen Forschung vernachlässigtes Thema. Generäle wie Jannie Geldenhuys, Chef der SADF, der 1988/89 mit dem Außenministerium in Pretoria bei der Lösung des Konfliktes in Namibia eng zusammengearbeitet hat, werden einen Durchbruch nach vorne möglicherweise sogar für die einzige realistische Alternative zu einer auf die Dauer mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnenden Kon41 frontation halten. Einen Sinneswandel scheint in dieser Hinsicht auch der Chef des in der Vergangenheit so einflußreichen Sekretariats des SSC, General Charles Lloyd, vollzogen zu haben. Im Juni 1989 verkündete er in einem Interview, daß das Wort security aus dem Namen des National Security Management System gestrichen werde. In der Vergangenheit sei auf den Militärund Sicherheitsaspekt des Systems zu großes Gewicht gelegt worden. Das solle sich nun ändern. (Die Äußerung Lloyds ist deswegen so interessant, weil er lange Zeit Chef der Streitkräfte in Namibia war und politisch eher als konservativ gilt. Hat er dennoch die Lektion hinsichtlich des Scheiterns der Totalen Strategie gelernt und zieht daraus die oben genannten Konsequenzen für Südafrika? Er soll auch gesagt haben, daß die Guerilla des ANC für eine „ehrenvolle Sache“ kämpfe.) Noch beeindruckender ist der Sinneswandel bei einigen anderen Militärs wie General Wally Black, dem im Ruhestand befindlichen, früheren Director General of Operati-ons of the SADF. Er ist einer der drei pensionierten höheren Offiziere, die sich der liberalen, gegen die Apartheid ausgerichteten Democratic Party (DP) als Kandidaten für das Kapstädter Parlament angeschlossen haben.
Diese und andere Militärs mögen die Hoffnung he-gen, mit dem ANC eine Verständigung darüber zu finden, daß die Abschaffung der Apartheid nicht notwendigerweise identisch sein muß mit der Zerstörung des südafrikanischen Staates und seiner Armee. Der Erhalt einer funktionierenden, in Sachen Rassismus weniger „verkrampft“ als die meisten Weißen denkenden Armee mag auch aus der Sicht des ANC überlegenswert sein.
Im Zusammenhang mit den hier nur angedeuteten Gedanken haben dem ANC und der MDM nahestehende südafrikanische Akademiker ein starkes Interesse an den Ereignissen in Osteuropa entwik-kelt. Auch dort gehe es um die Überwindung undemokratischer, autoritärer Regime. Sie erfolge jedoch, mit der Ausnahme Rumäniens, nicht durch einen gewaltsamen revolutionären Umsturz im klassischen Sinne, sondern durch eine die Kräfte des alten Regimes entmachtende und zugleich integrierende Transformation. Das könne auch für Südafrika der richtige Weg sein, um einen zerstörerischen Kampf zu vermeiden und wichtige Funktionen des Staates für die Post-Apartheid-Zeit zu erhalten.
Im Anti-Apartheid-Widerstand beginnt man also zu verstehen, daß der südafrikanische Staat nicht durchweg identisch mit dem Apartheidsystem ist und daß deswegen die völlige Zerstörung dieses Systems nicht notwendigerweise die völlige Zerstörung des Staates zur Vorbedingung hat. In den Townships ist die Unterscheidung zwischen „normalen“ Funktionen des Staates und seinen aus dem Apartheidsystem resultierenden Funktionen allerdings nicht populär.
Es gibt jedoch auch südafrikanische Militärs wie C. J. van Tonder, denen diese auf Verständigung zielende Richtung nicht passen dürfte. Van Tonder war und ist einer der Hauptarchitekten der Destabilisierungspolitik gegenüber den Nachbarstaaten, insbesondere gegenüber Mosambik. Noch unter P. W. Botha wurde er zum Chef des Department of Military Intelligence (DMI) befördert. Werden er und andere im Zusammengehen mit der CP oder dem AWB de Klerk gegebenenfalls durch Störman-növer an einer Verständigung mit dem ANC hindern? (Ein mit van Tonder beruflich gut vertrauter amerikanischer Gesprächspartner des Autors bezeichnete Tonder einmal als „prince of darkness“.)
Störfeuer können van Tonder und andere ohne große Schwierigkeiten legen, z. B. indem sie Namibia destabilisieren oder führende Kräfte des Widerstandes im Lande und Mitglieder der ANC-Führung im Exil umbringen lassen. Sobald die United Nations Transistance Assistance Group (UNTAG) das Land verlassen hat, wird Namibia verwundbar sein, auch wenn der Ausgang der Wahlen im November 1989 und die positive Reaktion der SWAPO auf dieses Ergebnis erst einmal optimistisch stimmen
Als ein noch weniger kalkulierbares Element als die Militärs könnte'sich die South African Policy (SAP) erweisen. De Klerks Wiederherstellung des Führungsanspruches der NP hat sie im Verhältnis zum Militär als Garant für Südafrikas interne Sicherheit wieder aufgewertet. Zwischen SADF und SAPOL besteht seit jeher eine gewisse Konkurrenz, nicht zuletzt im Hinblick auf die Verteilung der Haus* haltsmittel für den Sicherheitsbereich. Nachdem das Militär die Townships besetzt hatte, ist es vereinzelt zu Schießereien mit Angehörigen der Polizei gekommen, angeblich versehentlich. SAP hat den Aufstieg der Militärs in den letzten Jahren und dessen zunehmend dominierende Rolle auch in Fragen der internen Sicherheit mit Mißtrauen verfolgt. 1990 jedoch werden ca. 4 000 Wehrpflichtige ihren Dienst nicht in der SADF, sondern bei SAP ableisten.
SAP ist für seinen brutalen, rücksichtlosen (und aus der Sicht der securocrats häufig einfallslosen) Umgang mit dem Widerstand in den Townships bekannt. Die Subtilitäten eines modernen counterinsurgency warfare sind ihren Angehörigen zumeist fremd. Politisch soll der überwiegende Teil von SAP mit der CP, ein beträchtlicher Teil sogar mit dem semi-faschistischen AWB sympathisieren. Der AWB hat sich damit hervorgetan, daß gerade Polizisten in seiner Mitgliederkartei besonders häufig zu finden seien.
Werden Angehörige der Polizei sich also von der CP oder dem AWB gegebenenfalls dafür benutzen lassen, Verhandlungen zu torpedieren? Der AWB hat in der Vergangenheit mit dieser Möglichkeit bereits gedroht. Nach Aussagen von Beobachtern sitzen viele der südafrikanischen Polizisten wegen der Ereignisse im Oktober 1989 „vor Wut dampfend“ in ihren Kasernen. Die Gefahr von Todes-kommandos nach lateinamerikanischem Vorbild in Südafrika sollte nicht unterschätzt werden. Es gibt sie schon jetzt, wenn man Enthüllungen ehemaliger Angehöriger einer entsprechenden Sondereinheit der Polizei trauen darf. Am 8. Dezember wurde des weiteren bekannt, daß auf der „Todesliste“ einer Splittergruppe des AWB angeblich die Namen von Präsident de Klerk, Außenminister Botha und Verteidigungsminister Malan gefunden worden seien.
Resümierend kann festgestellt werden, daß das optimistische Szenario nicht so realistisch ist, wie es auf den ersten Blick aussieht, jedenfalls nicht in seinen möglichen kurz-und mittelfristigen Rückwirkungen. Am 4. November, wenige Tage nach der trotz des Ausnahmezustandes sowie der De facto-Präsenz des ANC und der SACP zugelassenen Massenveranstaltung in Soweto zu Ehren der freigelassenen ANC-Führer, sah de Klerk sich das erste Mal veranlaßt, angebliche Differenzen zwischen der Regierung und den Sicherheitskräften über die Behandlung des ANC zu dementieren. Er bestritt auch, wie erwähnt, daß man im Hinblick auf bestimmte Ausgabenkürzungen speziell die Armee im Auge habe. Die Tatsache, daß wenig später auch Verteidigungsminister Malan sich zu einem Dementi im Hinblick auf angebliche Differenzen zwischen der Armee und der Regierung veranlaßt sah, wird Spekulationen in dieser Richtung eher bestärken als abbauen. 2. Das mittlere, auf Zeitgewinn gerichtete Szenario De Klerk und seine Berater dürften sich der im ersten Szenario geschilderten Gefahren bewußt sein und versuchen, sie zu vermeiden. Deswegen, und auch weil dies mehr der Suche de Klerks nach einer Lösung auf der Basis von Gruppenrechten entspricht, ist das folgende zweite Szenario wahrscheinlicher. Der Prozeß des diplomatischen Abtastens und Vorverhandelns läuft weiter. Er kann im äußersten Fall sogar so weit gehen, daß Mandela im Frühjahr 1990 freigelassen, der ANC und die anderen politischen Organisationen entbannt (bereits realisiert) und der Ausnahmezustand aufgehoben wird. Diese Schritte werden aus Gründen des Zeitgewinns und der Gewöhnung allerdings nicht auf einmal, sondern nach und nach vollzogen. Ein Durchbruch zu Verhandlungen bleibt jedoch aus, weil de Klerk den schmerzhaften Schritt vom Gruppenkonzept zu „ein Mensch, eine Stimme“ nicht vollzieht. Jedes-mal, wenn der Prozeß sich in diese Richtung zu bewegen droht, wird Pretoria ihn zu torpedieren versuchen.
Südafrikanische Diplomaten und Militärs haben hierin bei den über ein Jahrzehnt andauernden Verhandlungen über Resolution 435 eine große Kunst-fertigkeit erworben. „Südafrika erfand im wesentlichen einen Grund nach dem anderen, um den Prozeß zu verzögern“, sagte der ehemalige Afrikabeauftragte des State Department, Chester A. Crok-ker, in einem Interview, nachdem er sein Amt aufgegeben hatte.
Südafrikanische Kommentatoren wie Steve Friedmann und Mark Phillips vermuten, daß der Vorschlag der Regierung, 1990 die schwarzen, nicht in Homelands lebenden Südafrikaner ihre Vertreter für ein Verhandlungsforum wählen zu lassen, diesem Zweck dienen könnte. Der sachlich nicht gerechtfertigte Ausschluß der schwarzen Bevölkerung in den Homelands von solchen Wahlen ist ein Indiz für diese Absicht. Außerdem ist in Südafrika die Durchführung „freier, geheimer und fairer“ Wahlen ohne die Einschaltung eines überparteilichen, gemeinsam vereinbarten Gremiums ebenso wenig vorstellbar wie in Namibia. Von ihm ist in dem Vorschlag der Regierung nicht die Rede. Mark Phillips rät dem ANC daher, dem Vorschlag mit der Bereitschaft zu begegnen, über die Durchführung der Wahlen zu verhandeln. Pretoria müsse dann die Karten auf den Tisch legen. Eine kategorische Ablehnung des Vorschlags dagegen könnte den ANC international in Schwierigkeiten bringen, denn im Prinzip ist die Forderung, die Vertreter für Verhandlungen zu wählen, ja sinnvoll.
Eine andere Variante dieses auf Zeitgewinn gerichteten Vorgehens wäre, daß de Klerk, Viljoen, P. W. Botha und Neil van Heerden eine Strategie verfolgen, die darauf abzielt, alle Parteien, einschließlich des ANC, möglichst schnell an den Verhandlungstisch zu bekommen. Dadurch würde eine Verhängung weiterer Wirtschaftssanktionen durch den amerikanischen Kongreß in den nächsten Jahren de facto blockiert. Verhandlungen bedeuten jedoch noch keine Einigung und könnten sich dann lange hinziehen. Der ANC könnte sogar in eine Lage kommen, in der ihn das Ausbleiben von Fortschritten am Verhandlungstisch zwingen würde, diesen Tisch wieder zu verlassen — ein Schritt, der international sicher nicht populär wäre und ihm die Verantwortung für das Scheitern zuschöbe. Diese Variante hat gegenwärtig eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
Insgesamt würde dieses Vorgehen zu einem sehr gemischten und labilen Szenario führen. Destabilisierung bliebe, wenn auch wohl nicht in dem Umfange wie in der Vergangenheit, ein Instrument Pretorias, um die Nachbarstaaten unter Druck zu setzen, damit sie ihrerseits den ANC bezüglich Konzessionen unter Druck setzen. Gegenwärtig versucht das Außenministerium in Pretoria, die Nachbarstaaten vor allem mit wirtschaftlichen Argumenten und Anreizen zu einer engeren politischen Kooperation zu bewegen. Die Idee eines Marshall-Planes, der die Region wieder auf die Beine bringen soll, hat bei dieser diplomatischen Offensive eine prominente Stellung. Finanziert werden soll ein solcher Plan von den westlichen Industriestaaten, insbesondere den Westeuropäern. Seine technische Durchführung läge jedoch weitgehend bei den Südafrikanern. „Wir haben die Sachmittel ... sie (die Europäer) haben das Geld“, sagte Außenminister Botha kürzlich. Mit anderen Worten: Die Europäer zahlen und die Süd-afrikaner bekommen die Aufträge. Chester A. Crocker nannte die Idee eines Marshall-Planes bei einem Vortrag in Südafrika einen „political nonstarter“, zumindest gegenwärtig. (Die Frage, ob die Idee eines Marshall-Planes angesichts der zu erwartenden wirtschaftlichen Probleme in Mittel-und Osteuropa überhaupt noch eine realistische Vorstellung ist, soll hier nicht erörtert werden.)
Der ANC-Führung in Lusaka ist dieses Vorgehen klar, und sie hat ihm mit der schnellen Annahme des ANC-Friedensplanes durch die Frontstaaten und die OAU Grenzen gesetzt. Pretoria bemüht sich aber auch über Moskau, den ANC in die gewünschte Verhandlungsposition zu bringen. Angesichts der Realitäten in der Sowjetunion hofft man sicher nicht ganz zu Unrecht, in Moskau mehr Verständnis für das Gruppenkonzept zu finden als in Washington. Die Kontakte aufden verschiedensten Ebenen sind vielfältig. Adamishin und andere führende sowjetische Diplomaten haben bei verschiedenen Gelegenheiten jedoch keinen Zweifel daran gelassen, daß aus ihrer Sicht das Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ die Basis von Verhandlungen sein muß. Moskau hat sich voll hinter die vom ANC ergriffene Initiative gestellt.
Die gegenwärtige Betonung der wirtschaftlichen Vorteile einer engeren Kooperation mit den Nachbarstaaten besagt jedoch nicht, daß die Phase der Destabilisierung in der Politik Pretorias notwendigerweise vorbei ist.
Eine mehr oder weniger große Dosis von Destabilisierung und militärischem Druck wird möglicherweise dann wieder im Sinne einer robust diplomacy, wie der frühere südafrikanische Diplomat Glenn Babb sie einmal genannt hat, eingesetzt werden, wenn Pretoria zu der Auffassung kommt, daß die Nachbarstaaten trotz der wirtschaftlichen Offerten nicht genug Verständnis für das von ihm verfolgte Verhandlungskonzept haben Der Tag des endgültigen Abzugs der Kubaner aus Angola, also der 1. Juli 1991, ist bei einem solchen Vorgehen natürlich von großer Bedeutung. Die SADF hat dann in der Region keinen ernsthaften militärischen Gegenspieler mehr. Es läßt sich schwer beurteilen, wie sehr de Klerk, die Diplomaten und die Militärs bei ihren gegenwärtigen Schritten diesen Termin im „Hinterkopf 1 haben und deswegen bei allen ihren Schritten in Wirklichkeit auf Zeitgewinn und nicht auf echten Fortschritt spielen. 3. Das pessimistische, in einem Blutbad endende Szenario Das auf Zeitgewinn gerichtete Szenario ist in sich so instabil, daß es mit einiger Sicherheit in ein drittes, von Instabilität, Blutvergießen und eskalierender Gewalt gekennzeichnetes Szenario umschlagen könnte. Diese Labilität liegt in der eingangs schon erwähnten ambivalenten Natur des gegenwärtigen Prozesses. Der ANC und das MDM werden die von Mandela empfohlene und in den letzten Monaten praktizierte Strategie disziplinierter Massenaktionen als Teil einer zugleich die Chancen für einen konstruktiven Dialog auslotenden Politik nur zeitlich begrenzt durchhalten können. Denn diese Disziplin beruht nicht zuletzt auf der Erwartung, daß ein Durchbruch nahe ist. Wird diese Erwartung enttäuscht, d. h. bietet die Regierung nicht genügend Schritte an, die auf Fortschritt in der Substanz hindeuten, dann wird sie mit einiger Sicherheit zusammenbrechen. Der ANC läuft zudem Gefahr, daß der Vorwurf von PAC, PAM und AZAPO, er sei zu moderat und betreibe mit seiner Verhandlungsstrategie einen Ausverkauf an die Weißen, in den Townships weites Gehör findet und er die Kontrolle verliert. Die Organisatoren der gegenwärtigen Massenaktionen in Südafrika leben schon jetzt in der ständigen Angst, daß ihnen die Kontrolle entgleitet. Aus diesem Grund werde die Situation ab spätestens Frühjahr oder Sommer 1990 wieder angespannter, d. h. die Aktionen werden voraussichtlich ungeduldiger und hitziger werden, wenn es keine signifikanten Fortschritte wie die Freilassung Mandelas und anderer politischer Gefangener gibt. Zusammenstöße mit der Polizei, die sich dann schnell über das ganze Land ausweiten (siehe 1976 und 1985/86), werden fast unvermeidlich sein, falls sie nicht schon vorher von Polizisten selbst provoziert werden. Die Gefahr eines Blutbades ist groß. Wenn die Polizei einmal anfängt zu schießen, dann wird sie nicht so schnell wieder aufhören oder aufhören können. Der ANC wird gezwungen sein, mit einer Intensivierung des bewaffneten Kampfes zu antworten, um in den Township» glaubwürdig zu bleiben. Die Eskalation der Gewalt bliebe möglicherweise nicht auf Südafrika beschränkt, sondern könnte sich auf Namibia ausweiten. Diejenigen, die in Südafrika einen Zwischenfall provozieren, mögen es für ihre Sache als vorteilhaft betrachten, in Namibia gleiches zu tun, um damit die Hoffnungen auf eine erfolgreiche und stabile Entwicklung Namibias, die gegenwärtig so groß sind, zu zerstören.
V. Schlußfolgerungen
Es sind die in dem dritten Szenario beschriebenen Gefahren, die Erzbischof Tutu, Allan Boesak, Präsident des Reformierten Weltbundes, und Frank Chikane, Generalsekretär des SACC, am 11. Oktober 1989 veranlaßten, die Notwendigkeit eines Zeitplanes in den Mittelpunkt eines dreistündigen Gesprächs mit Präsident de Klerk zu stellen. Mit großem Nachdruck forderten sie ihn auf: „Geben Sie uns Ihren Zeitplan, Ihr Programm. Ohne Zeitplan können wir den Menschen nicht sagen . wartet 1, denn sie wollen wissen, wie lange und worauf sie warten sollen.“
In einem Interview in der Washington Post wenige Tage vor dem Abschluß des vorliegenden Beitrages gab de Klerk zu verstehen, daß er dieser Aufforderung nicht folgen wird Zwar erkannte er stärker als in früheren Aussagen die Dringlichkeit von Fortschritten an und sagte zu, daß es bis zum Som12) mer 1990 weitere Maßnahmen zum Abbau der Apartheid geben werde. Der vom amerikanischen Afrikabeauftragten Hank Cohen im November 1989 überbrachten Aufforderung, bis zum Juni 1990 über substantielle Fragen zu verhandeln, erteilte er jedoch eine klare Absage, ebenso wie dem Vorschlag des ANC und der OAU, den Übergangsprozeß mit der Errichtung einer Interimsregierung einzuleiten. Statt dessen verlangte er vom ANC als Vorbedingung für dessen Teilnahme an Verhandlungen erneut einen einseitigen Gewaltverzicht.
Beides zusammen bedeutet im Klartext, daß die Regierung in Pretoria die oberste und alleinige Kontrolle über den Ablauf des verfassungspolitischen Umbaus durch Verhandlungen behalten will. Denn auch jede internationale Beteiligung an einem solchen Prozeß lehnt de Klerk strikt ab. Denn das Ergebnis der geplanten Verhandlungen könne nur, so betonte er, eine gesetzlich nach rassischen und ethnischen Gruppen unterscheidende Verfassung sein. Das Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ sei unakzeptabel. Diese Aussage relativierte er jedoch wenige Tage später in einem Inter45 view mit dem amerikanischen Magazin Newsweek: „Wir sind, anders als in der Vergangenheit, nicht ideologisch gebunden an eine rigide Definition von Gruppen entlang rassischen oder ethnischen Linie.“ Deutet dies auf eine veränderte Haltung hin?
Der ANC ist seinerseits bemüht, die Reihen der Anti-Apartheid-Opposition zu schließen und sie auf eine gemeinsame, das Angebot zu Verhandlungen und die Fortsetzung von Massenaktionen gleichermaßen beinhaltende Strategie einzustimmen. Die „Konferenz für eine demokratische Zukunft“ in Johannesburg am 9. /10. Dezember und das sechstägige „Indaba“ zwischen dem ANC sowie schwarzen und weißen Oppositionsgruppen, das kurz danach in Paris stattfand, sind in diesem Zusammenhang besonders zu nennen. In Paris stellte eine 25köpfige Delegation des ANC unter Führung von Thabo Mbeki seine, die 1988 vorgelegten Leitlinien fortentwickelnde Version einer demokratischen Verfassung für Südafrika zur Diskussion.
Der Konflikt um die Verteilung der Macht und die verfassungsrechtliche und gesellschaftspolitische Gestaltung eines Südafrika ohne Apartheid geht also weiter. Zwar zeigt de Klerk in seinen Äußerungen und Taten, wie das Treffen mit Mandela am 13. Dezember, weiterhin Ansätze, die in Richtung auf das optimistische Szenario und einen baldigen Durchbruch zu Verhandlungen weisen. Sicher ist dasjedoch nicht. Denn das in dem Interview mit der Washington Post angekündigte Vorgehen entspricht im wesentlichen dem zweiten, auf Zeitgewinn gerichteten Szenario mit der Gefahr, daß dieses in das dritte, durch eine Eskalation der Gewalt gekennzeichnete abrutscht. Das Tragische dieser Situation liegt darin, daß de Klerks Vorgehen für die meisten Weißen, seine politische Basis also, atemberaubend schnell, für die Anhängerschaft des ANC und der MDM hingegen unerträglich langsam ist.
Die Lage ist Anfang 1990 also ambivalent. Ein flankierendes diplomatisches Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der USA, der UdSSR, Westeuropas (und Japans) könnte das Zünglein an der Waage sein, das ein derartiges Abgleiten verhindert. Die Voraussetzungen für ein solches Zusammengehen sind durch ein Ende des Kalten Krieges in Afrika eigentlich so gut wie nie zuvor, und erste Anstrengungen in diese Richtung sind in der Generalversammlung der VN im Dezember 1989 gemacht worden. Einstimmig, also mit Zustimmung der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, wurde am 15. Dezember eine Resolution zu Südafrika verabschiedet Ihr Inhalt ist vom Friedensplan des ANC und der OAE stark beeinflußt. Die Forderung nach einer Interimsregierung wurde jedoch fallengelassen. Die Regierung in Pretoria wird jedoch aufgefordert, bis zum Juni 1990 mit dem Abbau der Rassentrennung zu beginnen. Im Austausch gegen deren schrittweise, irreversible Aufhebung wird die Aufhebung von Sanktionen in Aussicht gestellt. VN-Generalsekretär Javier Perez de Cuellar wurde beauftragt, bis zum 1. Juli 1990 einen Bericht über die Fortschritte bei der Abschaffung der Rassentrennung in Südafrika vorzulegen. Gibt es keine Fortschritte, wird der amerikanische Kongreß auf eine Verschärfung der Sanktionen drängen.
Diese Resolution allein wird eine Wende in Südafrika nicht herbeiführen können. Sie ist aber immerhin ein Einstieg in eine bessere multilaterale Abstimmung der Politik der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der VN und anderer Mächte wie die Bundesrepublik Deutschland, um echte Verhandlungen in Südafrika durchzusetzen. Ob seitens der USA, der UdSSR. Westeuropas (und eventuell Japans) das dafür notwendige Engagement und Interesse allerdings vorhanden ist, mag man bezweifeln. Die Welt schaut gegenwärtig nicht auf das südliche Afrika, sondern nach Mittel-und Osteuropa.