I.
Eine neue Heilslehre?
Zweifellos ist die Menschheit mit der globalen Umweltkrise in eine neue historische Dimension eingetreten. Neu — und bislang noch nicht dagewesen — ist die Gefahr einer nuklearen Selbstauslöschung. Ebenso einzigartig ist die Gefahr einer Vergiftung der Natur, der Böden, der Wälder, der Gewässer und der Luft. Der sich in den letzten Jahrzehnten „explosionsartig“ ausbreitende Mensch, der die ganze Erde auf Kosten der übrigen Natur kolonisiert und damit letztendlich die eigenen Lebensgrundlagen zerstört, ist sich selbst zum größten Hindernis geworden.
Auf die Rangliste der am dringlichsten zu lösenden politischen Probleme kam der Umweltschutz erst im Laufe der letzten fünfzehn Jahre. Die traditionellen politischen Parteien und die dahinter stehenden weltanschaulichen Ideenkreise haben darauf zunächst träge, später dann opportunistisch reagiert, indem sie die Forderung nach mehr Umweltschutz und „sanfter Technologie“ in ihre Pro-gramme aufnahmen. Zum zentralen ideologischen Kernbestand, nach welchem die Gesellschaft völlig neu umzugestalten sei — ähnlich wie historisch nach republikanisch-demokratischen oder nach sozialistischen Prinzipien —, ist die Ökologie jedoch lediglich beim fundamentalistischen Flügel der GRÜNEN geworden. Dies vor allem deshalb, weil noch weitgehend unklar ist, wie ein radikaler ökologischer Umbau der Industriegesellschaft zu gestalten sei, wie denn die nach dem Wertewandel umso höher angesehenen emanzipatorischen Selbstentfaltungswerte mit den asketischen Forderungen nach einer „frugalen Lebensweise“ (Hans Jonas) und einem „Frieden mit der Natur“ (Klaus Michael Meyer-Abich) in Einklang zu bringen seien. So aktuell stellen sich die Umweltprobleme doch wieder nicht, als daß die Stillegung diverser umweltverschmutzender Industriezweige oder die völlige Umschichtung der Haushaltsetats nach ökologischen Gesichtspunkten auf breiteres Verständnis träfen. Im Gegenteil, mit dem in dieser Höhe und Kontinuität unerwarteten Wirtschaftswachstum der achtziger Jahre sind die vorwiegend „neokonservativ“ regierten westlichen Industriestaaten den „High-Tech-Pfad“ weiter vorangeschritten. Dies läßt sich auch an der Zunahme des Auto-, Flug-und Reiseverkehrs insgesamt sowie am gestiegenen Konsumund Wohlstandsniveau ablesen. Mehr noch: Die technologisch-ökonomische Revolution des Westens hat den planwirtschaftlichen, sozialistischen Staaten den selbstverschuldeten Bankrott nur umso deutlicher vor Augen geführt; und dies nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht.
Man könnte sogar soweit gehen, im Triumph des westlichen Liberalismus ein Ende der Ideologien, ein Ende der Geschichte zu sehen. Faschismus und Kommunismus sind tot. eine Wiederauferstehung ist wenig wahrscheinlich. Der stellvertretende Planungschef im State Department, Francis Fukuyama, konstatiert mit leicht bedauerndem Tonfall, daß gegenwärtig nirgendwo neue oder alte ausstrahlungsstarke Ideologien sichtbar seien: „Das Verschwinden des Marxismus-Leninismus erst in China und dann in der Sowjetunion wird sein Tod als lebendige Ideologie von welthistorischer Bedeutung sein. Eine Zeitlang mögen noch einige echte Gläubige übrigbleiben in Örtlichkeiten wie Managua, Pjöngjang, Cambridge/Massachusetts, aber das Faktum, daß es keinen einzigen großen Staat mehr gibt, in dem diese Ideologie funktionieren würde, untergräbt völlig ihren Anspruch, die Vorhut der Menschheit zu sein.“
Die These vom Ende der Ideologien blieb nicht unwidersprochen. Ihr steht die vielerorts geäußerte Ansicht entgegen, daß die postmoderne Beliebigkeit und die prinzipielle Offenheit der pluralistischen Demokratie die Wahrheitsund Sinnbedürfnisse vieler nicht befriedige und insbesondere Jugendlichen zu wenig Orientierung biete. Hier entstehen Ansatzpunkte für neue Heilslehren. Eine dieser Gefahren wird im weltweiten Anwachsen des Fundamentalismus unterschiedlichster Spielarten, vom islamischen, christlichen bis zum grünen, gesehen. Er ist ein Beleg dafür, daß Arnold Gehlens leicht resignativer technokratischer Vision der Post-Historie — die den Endzustand entwickelter Industriestaaten bezeichnet, wo Politik durch die Verwaltung immer komplexerer Sachzwänge ersetzt wird — doch nicht die Zukunft gehören wird. Die traditionelle Sozialdemokratie sieht gerade in der Bekämpfung des Fundamentalismus aller Schattierungen ein neues Motivationsfeld für die eigenen Anhänger
Für den amerikanischen Neokonservativen Irving Kristol ist der Wettstreit der Ideologien zugunsten des Westens noch nicht entschieden. Die Problematik der modernen Welt, schreibt er, umfaßt „auch die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Spiritualität, wachsendes Mißtrauen gegenüber der Technologie, die Verwechslung von Freiheit mit Zügellosigkeit, und noch vieles mehr. Wir mögen den Kalten Krieg gewonnen haben, was sehr nett ist, es ist mehr als nett, es ist wunderbar. Aber das bedeutet, daß jetzt wir selbst der Feind sind, nicht die anderen.“
Könnte der Westen als strahlender Sieger verstärkt in die Schußlinie neuer totalitärer Ideologien gelangen? Er ist es schon. Ein neuer Totalitarismus aus Liebe zur Natur hat sich längst den Kapitalismus als Hauptfeind auserkoren. „Man braucht gar nicht besonders weit zu suchen“, schreibt Auberon Waugh, „um in der grünen Bewegung die autoritären Anfänge zu entdecken . . . Eine Gruppe monomanischer Eiferer wird im Bewußtsein ihrer höchsten Einsicht immer unpopulärere Maßnahmen durchdrücken, bis zu guter Letzt zynische Machtpolitiker das Ganze an sich reißen.“ Der Ökologis-mus, der in den USA mit der New Age-Bewegung eng verbunden ist, ist in der Lage, zu einer messianischen, alles erklärenden Weltanschauung mit religiösen Zügen zu werden: „Ein Parteiführer sagte vor kurzem“, schreibt James Bowman in der Zeitschrift „The Spectator“, „wer für die Grünen stimme, lege gewissermaßen ein Gelübde ab . .. Wie bei den Fundamentalisten bedeutet das Bekenntnis zur Natur, daß wir nach dem Sündenfall des industriellen Materialismus wiedergeboren werden.“ Droht mit dem Ökologismus sich eine neue Heilslehre auszubreiten, die sich zum Retter von Mensch und Natur erklärt und die Führung zur alleinseligmachenden Erlösung vor dem ökologischen Untergang beansprucht?
II. Ende des Fortschrittsglaubens
Eine intensivere Berücksichtigung des Umweltschutzes muß keineswegs im Bewußtsein einer neuen Heilslehre stattfinden. Mehr Umweltschutz ist lediglich die vernünftige Reaktion auf Umwelt-schäden, die von der ungebrochenen Dynamik des weltweiten Bevölkerungs-und Wirtschaftswachstums verursacht werden; er ist zugleich eine Korrektur des im Rückblick naiven Entwicklungsoptimismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Erst Anfang der siebziger Jahre gestand man sich ein, daß die „Grenzen des Wachstums“ in vielleicht gar nicht so ferner Zukunft erreicht sein würden, wenn dies auch bezeichnenderweise nur widerwillig von den Weltentwicklungsorganisationen und den politischen Parteien aufgenommen wurde. Die Einsicht in die Grenzen des Wachstums markierte den entscheidenden und nachhaltigen Zusammenbruch des in Ost und West dominanten ideologischen Ideen-kreises: den Fortschrittsglauben. Die gewaltigen Ökologieprobleme verdunkeln seither die utopischen Hoffnungen auf eine Überflußgesellschaft und besiegeln das Ende des Traums von der unbeschränkten Herrschaft des Menschen über die Natur. Diese ideengeschichtliche Wende wurde sowohl von Progressiven als auch von Konservativen wahrgenommen. Hans Magnus Enzensberger mußte 1973 eingestehen: „Was einst Befreiung versprach, der Sozialismus, ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Das Reich der Freiheit aber ist, wenn die Gleichungen der Ökologie aufgehen, ferner gerückt denn je.“ Und Robert Spaemann: „Modernität ist ein Gegenstand geworden, über den wir nachdenken, sie ist nicht mehr die Form, in welcher wir darüber nachdenken.“
Bedeutsam ist weiterhin, daß das Ende des Fortschrittsglaubens von einer zunehmenden Technik-kritik eingeleitet worden war und die Neueinschätzung der Risiken des technologischen Fortschritts nach sich zog. Sie ist also keine ideologische Kopf-geburt, sondern hat reale Ursachen. Die Folge war ein radikaler Perspektivenwechsel: Während früher die Chancen des technischen Fortschritts im Vordergrund standen, werden heute vorwiegend seine Risiken in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Hans Mathias Kepplinger und Rainer Mathes haben in einer aufwendig angelegten Untersuchung den Wandel von der Technikfreundlichkeit der sechziger Jahre zur Technikfeindlichkeit von heute eindrucksvoll belegt Die Technikberichterstattung hat sich im untersuchten Zeitraum von 1965 bis 1986 verdreifacht. Die Tendenz der Berichterstattung über Technik erlebte dabei teilweise dramatische Veränderungen. In der ersten Phase (1965 bis 1969) war die Berichterstattung — im Zusammenhang mit der Mondlandung der US-Astronauten — sehr positiv. Seither wurde sie, von einzelnen Schwankungen abgesehen, kontinuierlich schlechter. Die Analyse widerlegt die weitverbreitete Vorstellung, die Technikkritik sei erst Mitte der siebziger Jahre durch die negativen Ereignisse um das geplante Kernkraftwerk Wyhl oder das Chemieunglück in Seveso ausgelöst worden. Die Kritik begann lange vorher. Die erwähnten Ereignisse waren nicht die Ursachen der anwachsenden Technik-feindlichkeit, sondern Auslöser einer umfangreicheren publizistischen Zuwendung zu großtechnischen und umweltrelevanten Projekten, wobei sich die bereits vorhandene Technikskepsis niederschlug und verstärkte. In der dritten Phase (1975 bis 1986) erfolgte dann die Politisierung der wachsenden Technikkritik und des Umweltschutzes. „Damit hatte innerhalb der untersuchten 22 Jahre ein grundlegender Strukturwandel der Berichterstattung stattgefunden. Während die Blätter in den 60er Jahren vor allem die Zweckbestimmung und den Nutzen von Technik betonten, stellten sie in den 80er Jahren vor allem die Begleiterscheinungen und den tatsächlichen möglichen Schaden in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Die publizistische Technik-Euphorie der 60er Jahre wandelte sich zu einer publizistischen Technik-Phobie der 80er Jahre.“
III. Risikogesellschaft: ein strategisches Konzept
Mit der Bezeichnung „Risikogesellschaft“ soll nun diese perspektivische Wende auf den Begriff gebracht werden. Demnach ist mit dem Übergang von der Wohlstandsgesellschaft in die Risikogesellschaft weltweit eine historische Schwelle überschritten worden, jenseits der die Klassenkonflikte in ökologische Gefährdungskonflikte übergehen bzw. von diesen überlagert werden. Damit geraten Poli-tik und Wirtschaft in eine Glaubwürdigkeitskrise, denn obwohl sie die Sicherheit allerorts zu erhöhen versuchen, nimmt die Unsicherheit global zu. Es bleibt offen, ob Wissenschaft und Technik in der Spirale von Risikoerzeugung und Risikobewältigung Sieger bleiben. Die technische Kompetenz, den Planeten zu zerstören, muß nicht einhergehen mit der Kompetenz, sie zu erhalten.
In der Perspektive der Risikogesellschaft wird die Technik zu einem Sündenbock und Feindbild, das auf die Industriegesellschaft als ganze erweitert wird. „Die Industriegesellschaft hat eine halbierte Demokratie hervorgebracht, in der die Fragen der technischen Gesellschaftsveränderung der politisch-parlamentarischen Entscheidung entzogen bleiben. Wie die Dinge stehen, kann man zum technisch-ökonomischen Fortschritt zwar nein sagen, das ändert aber nichts an seinem Vollzug. Er ist der Blankoscheck auf Durchsetzung — jenseits von Zustimmung oder Ablehnung.“
Indem der Technik und der Industrie eine Omnipotenz als Gestalterin von Gesellschaft und-Kultur zugeschrieben wird, bekommt die soziale Marktwirtschaft westlichen Typs das Etikett antidemokratisch angeheftet. Als „Gegengift“ gegen dieses „industrielle Mittelalter“ werden dann „mehr Demokratie — Herstellung von Zurechenbarkeit, Umverteilung der Beweislasten, Gewaltenteilung zwischen Produzenten und Begutachtung der Gefahren, öffentliche Dispute über technologische Alternativen“ empfohlen In ökorevolutionärer Sicht bietet die Ökologie dann auch „Chancen des Schreckens“, nämlich die revolutionäre Chance, die Utopie eines „neuen Gesellschaftsprojekts“, einer „europäischen Weltinnenpolitik“ zu verwirklichen. Die Ökosozialisten erblicken im Aufbrechen des Ost-West-Gegensatzes und in der Ökokrise die Möglichkeit, das entstandene ideologische „Vakuum“ durch das Projekt einer weltweiten ökosozialistischen Planwirtschaft ausfüllen zu können.
Doch auch von konservativer Seite wird die Denkfigur der „Risikogesellschaft“ aufgenommen. Dort wird sie allerdings als die spezifisch moderne Hybris des neuzeitlichen „Machbarkeitsdenkens des Menschen über sich selbst und über die Natur“ interpretiert. „Da die ethischen und kulturellen Lebensdeutungen der Moderne mit der ökonomischen und technischen Machtausdehnung nicht Schritt halten, wird die Risikogesellschaft zu einer Grenzerfahrung der expansionistischen Moderne in den Bereichen Wirtschaftswachstum, Naturbeherrschung und Kultur.“ Davon ausgehend wird die Forderung nach einem „organischen Wirtschaftswachstum“ und „einer vom Markt und vom Parlament unabhängigen Institution“, einer „Bundesumweltbank“, erhoben. Durch eine „Reethisierung" der Industriegesellschaft soll diese besser gesteuert werden können.
Das Konzept der Risikogesellschaft bestimmt mittlerweile die öffentliche Meinung. Es ist allerdings keineswegs unbestritten und wird besonders von maßgeblichen Wirtschafts-und Wissenschaftskreisen angegriffen. Diese bestreiten, daß die Umweltzerstörung primär von Technik und industrieller Produktion verursacht wird, sondern sehen die Hauptursache der Umweltprobleme in der Überbevölkerung und den wachsenden Komfortansprüchen. Deshalb könne der Umweltkrise nicht durch weniger Technik, mehr Bürokratie oder gar vorindustrielle Lebensformen begegnet werden, sondern nur durch mehr und bessere Technik. Bezweifelt wird auch der Wert einer regulativen Umweltethik, denn wo — wie bei den globalen Problemen der Überbevölkerung, der Energie-und Rohstoffversorgung.der Umweltverschmutzung und Nahrungsmittelversorgung — zwar die Fakten bekannt, aber längst keine technischen und politischen Lösungen zur Hand sind, nützt auch eine Ethik wenig. die ja lediglich eine moralische Anleitung zu richtigem Handeln sein kann. Der Appell zu mehr Sparsamkeit ist sinnvoll, aber dazu bedarf es keiner neuen Ethik, erst recht nicht in der Marktwirtschaft, wo das ökonomische Prinzip der Knappheit für äußerste Sparsamkeit sorgt.
Das Konzept der Risikogesellschaft ist die Antwort auf die Technikskepsis, die in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der siebziger Jahre virulent wurde, als der wirtschaftliche Wiederaufbau abgeschlossen war. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung der Bundesrepublik zu einem führenden Industrie-und Dienstleistungsstaat war erreicht worden. Die 68er Studentenbewegung schickte sich an, auch auf dem sozialpsychologischen Gebiet des Lebensstil-und Wertewandels den Anschluß zur amerikanischen Konsumgesellschaft zu halten. Sie vollführte das Kunststück, mit marxistischen Parolen und Denkschemata die kulturelle und politische Modernisierung des Kapitalismus fortzusetzen Die Umweltfrage stieß damals auf ein grundsätzlich fortschritts-und wachstums-freundliches Klima. Konservative Umweltschützer wie Herbert Gruhl wurden zwar in der Öffentlichkeit bekannt, politisch konnten sie jedoch nichts bewegen. Die Bürgerinitiativen beschränkten sich auf den Protest gegen sie unmittelbar betreffende lokale Großprojekte. Die Studentenbewegung reagierte auf den Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ mißtrauisch, da er ihre Fortschrittsutopien in Frage stellte. Wie konnte unter diesen Umständen die Ökologie überhaupt weltanschaulich aufgenommen und integriert werden und ihren heutigen ideologieprägenden Status erobern?
V. Programmatische Ratlosigkeit
Die ideologische Ausgangsbasis war grob zusammengefaßt folgende: „Die konservative Utopie, die Agrarromantik, die Rede von Heimat und Volkstum, von Nation, Ehre und Innerlichkeit — das alles war nach dem Ende des Dritten Reiches keine* Position mehr, von der aus eine Kritik am Industrie-system hätte artikuliert werden können. Auch wenn die Intentionen Hitlers ganz andere gewesen waren und in den dreißiger Jahren nicht weniger hart industrialisiert worden war, bestand doch eine so große symbolische Affinität zwischen konservativer Zivilisationskritik und Nationalsozialismus, daß jede Kritik an Industrie und Technik, die den älteren Topoi der Heimat-Utopie folgte, automatisch unter den Verdacht einer mangelhaften Bewältigung der Vergangenheit geriet ... Es sollte fast 30 Jahre dauern, bis sich die Kräfte soweit umgruppiert hatten, daß dieses Problemfeld, das traditionell Domäne der Konservativen war, von neuen Blickwinkeln aus gesehen werden konnte. Voraussetzung dazu war jedoch eine ebenso gründliche Zerstörung des Fortschrittsmythos wie zuvor der Heimat-Utopie,“
Am Ende dieser Umgruppierung stand die Anpassung der ehemals konservativen Technikkritiker wie Arnold Gehlen oder Hans Freyer an den fortschrittlichen, liberal-kapitalistischen Grundkonsens der Bundesrepublik, der in der Parole „Sicherheit durch Wohlstand“ den Garanten für die soziale und politische Integration erblickte. Die wenigen konservativen Versuche, den aufkommenden Hedonismus mit dem Verweis auf die naturzerstörerischen Konsequenzen eines voll entwickelten Industrialismus zu kritisieren, um ihm eine platonisch-christliche Askesemoral entgegenzustellen, verhallten weitgehend ungehört, nicht zuletzt auch deshalb, weil das konservative Milieu, in dem dieses Denken wurzelte, weitgehend sozial absorbiert worden war. Jede bürgerliche Partei — dies gilt bis heute — hätte sich marginalisiert, wenn sie nicht auf Wohlfahrtssicherung und Selbstentfaltung gesetzt hätte. Konservative Kulturkritik galt als so reaktionär, daß sie paradoxerweise nur in der neomarxistischen Gestalt der „Dialektik der Aufklärung“ von Seiten der Frankfurter Schule vorgebracht werden konnte. Die antiautoritäre Kulturrevolution war freilich ihrerseits alles andere als. die Wiederauferstehung eines „romantischen“ Deutschtums, wie dies nachträglich gerne behauptet wird
Die Konsumkritik der Antiautoritären speiste sich keinesfalls aus umweltschützerischen oder naturromantischen Motiven, sondern war Ausdruck eines Antikapitalismus, der die Warenvielfalt des marktwirtschaftlichen Systems als Betrug an den „wahren“ Bedürfnissen der Menschen und die Verbürgerlichung des Proletariats als Anschlag auf die revolutionäre Arbeiterbewegung begriff. Die Antiautoritären orientierten sich am Vorbild amerikanischer Bürgerrechtsbewegungen und forderten die Radikalisierung emanzipativer Befreiungs-, Friedens-und Wohlstandssehnsüchte, artikulierten dies allerdings in sozialistischem Vokabular und marxistischer Geschichtsphilosophie
Die Linke tat sich anfangs schwer, die Umweltproblematik in ihr ideologisches Schema einzuordnen. Dies wird an dem Aufsatz „Zur Kritik der politischen Ökologie“ deutlich, den Hans Magnus Enzensberger 1973 im Kursbuch veröffentlichte. Enzensberger grenzt darin die Bürgerinitiativen („Die Borniertheit dieser Initiativen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß in ihnen der Keim einer möglichen Massenbewegung steckt.“) und die eskapistischen Aussteiger von der klassischen Linken ab und gelangt zu dem Schluß: „Der . Reichtum'der über-entwickelten Konsumgesellschaft des Westens verdankt sich, soweit er nicht, wie für den Großteil der Bevölkerung, bloße Chimäre ist, einem Rausch der Plünderung und des Raubes, der in der Geschichte ohne Beispiel ist und dessen Opfer einerseits die Völker der Dritten Welt und andererseits die Menschen der Zukunft sind.“
Die Umweltkrise wird zum Thema der Linken, indem sich der Kapitalismus damit trefflich denunzieren läßt. Das linke Feindbild ist gerettet: Der Kapitalismus produziert die Krise und repräsentiert das schlechthin Böse, er vergiftet die Natur und beutet die Menschen aus. Aus polemischen Gründen wird das Rechts-Links-Schema, das sich jahrzehntelang so gut bewährt hat, aufrecht erhalten, jedoch bleibt der Bruch mit dem Fortschrittsglauben, der untrennbar mit dem Sozialismus verbunden ist, nicht ohne Wirkung.
Die Linke ist orientierungslos geworden. Zu einer inhaltlichen Definition des Sozialismus, der einmal eine welthistorische Erlösungslehre war, ist sie kaum noch fähig. Das mag vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Fortschrittsdenkens nicht verwundern. „Plötzlich befinden sich alle Kontra-henten in der Gegenwart und streiten darüber, wie es weitergehen soll und nicht, ob die Entwicklung beschleunigt oder gebremst werden soll“ beschreibt Sieferle den weitgehend ratlosen Streit um die Alternativen des Industriesystems. Es hat sogar den Anschein, daß sich zunächst alle ideologischen Ideenkreise auf ihre Traditionen besinnen: Die amerikanischen Neokonservativen wollen noch mehr Marktwirtschaft und Technologie, die Ökosozialisten erweitern ihre Kapitalismuskritik auf Technik und Wissenschaft, die Konservativen versuchen es mit einer asketischen Moral.
V. Ökologismus
Die allgemeinen Unsicherheiten bei der weltanschaulichen Einordnung und praktischen Lösung der Umweltkrise lassen sich auch als Dilemma der beiden dominanten „modernen“ Weltbilder beschreiben. Liberalismus und Sozialismus sind gleichermaßen fortschrittsorientiert und daher von der Ökokrise herausgefordert. Der Liberalismus geht idealiter davon aus, daß das freie Spiel der Kräfte einen sich selbst organisierenden sozialen Prozeß in Gang hält, der zu einem sinnvollen Ergebnis führt, solange er nicht von einem Übermaß an staatlicher Bevormundung daran gehindert wird. Der Sozialismus hält dagegen, daßjede Gesellschaft nach einem vernünftigen Plan politisch gesteuert werden müsse, um eine sinnvolle und gerechte Ordnung zu schaffen. „Beide politisch-weltanschaulichen Programme stehen daher angesichts der Umweltkrise vor je besonderen Schwierigkeiten“, schreibt Sieferle. „Für den Liberalismus liegt das Problem darin, daß die Handlungsreichweite im Industriesystem eben doch so groß ist, daß natürliche Ökosysteme gestört werden. Der Sozialismus steht dagegen vor dem Problem, daß die Handlungsreichweite gerade nicht groß genug ist. um die natürlichen Ökosysteme einer bewußten Planung und Kontrolle zu unterwerfen. Beide Programme scheitern also daran, daß die Reichweite menschlichen Handelns einerseits zu groß, andererseits aber zu klein ist. Genau darin aber liegt das Wesen des Umwelt-problems.“
Zwei Alternativen sind denkbar: Die eine schraubt das Industriesystem auf ein Niveau „natürlicher“ Selbstregulierung zurück. Dies wäre die Position des klassischen Liberalismus, wie sie etwa von Alexander Rüstow noch vertreten wurde, der sich gegen den Ausbau der Kernenergie aussprach, weil dies den staatlichen, sozialistischen Zentralismus stärken würde Die andere Alternative reagiert auf die Umweltkrise durch noch mehr technische Planung und „Weltinnenpolitik“ und entspricht so eher dem sozialistischen Programm. Ein Blick auf die politische Praxis zeigt, daß beide Positionen auch im jeweils entgegengesetzten politischen Spektrum anzutreffen sind.
Gegenwärtig ist der Sozialismus durch den Bankrott der kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaften im Osten völlig diskreditiert. Ob dies von Dauer ist, bleibt abzuwarten, da zu erwarten ist, daß die Industriegesellschaften in der „ökologischen Achsenzeit“ nach Orientierung in einer neuen Natur-und Geschichtsinterpretation suchen und dabei auf vertraute, traditionelle Erklärungsschemata zurückgreifen.
Die Neuinterpretation von Natur und Geschichte ist längst im Gange. Dabei ist bemerkenswert, daß ein bunter Wechsel der ideologischen Versatzstücke stattfindet, wobei an der traditionellen Unterscheidung von links und rechts insbesondere aus polemischen Gründen festgehalten wird. Dies wird besonders deutlich in der Bewertung der neuen sozialen Bewegungen, die mit allen möglichen Etiketten versehen wurden — vom Vorwurf des Antimodemismus bis zum Linksradikalismus oder zum „konservativen Aufbruch im bunten Gewand“ bzw. zum „Faschismus“, der auch heute noch nirgends fehlen darf. Dies ist nicht verwunderlich, mischen sich doch in den neuen sozialen Bewegungen sowohl soziographisch wie auch ideologisch die unterschiedlichsten Strömungen: Ehemals technik-fixierte Sozialisten werden technikfeindlich, ehemals technikskeptische Konservative werden technikgläubig; das Subsidiaritätprinzip findet sich neben sozialtechnologischen Großprojekten; feministische Prüderie berührt sich mit klerikalem Puritanismus; Ethnopluralismus steht neben emanzipati-vem Universalismus, Konzepte der Naturbewahrung neben Weltentwicklungsphantasien, antibürgerlicher Protest neben dem Wunsch nach Resozialisierung und Integration von Randgruppen usw. Diese neuen, noch schwankenden und unausgegorenen Amalgamierungen sind die Folge des Verlustes der Überzeugungskraft des Fortschrittsglaubens. Es ist daher nur folgerichtig, daß nach neuen Orientierungen und Wegen aus der Ökokrise gesucht wird. Der ökologische Gedanke, der seinen Ursprung in der Biologie und Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts hat, wird nun grundlegend für das philosophische Weltbild des Westens. Neben den traditionellen Weltanschauungen, die ökologische Elemente zu den bisherigen Schwerpunkten ihrer Werte-und Programminhalte hinzufügen, gewinnt ein neues Ideologen! an Gewicht, das man Ökologismus nennen könnte.
Der Ökologismus ist eine als Gegenmodell zur Industriegesellschaft und zum neuzeitlichen Rationalismus entwickelte politische Lehre, die aus Angst vor der ökologischen Apokalypse das Ziel verfolgt, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch Frieden und Harmonie mit der Natur zu ersetzen. Der Ökologismus ist eine neue Interpretation von Natur, Geschichte und Bestimmung des Menschen. Er ist Ideologie, und das heißt, daß er vor allem davon ausgeht, daß Denken die Welt verändert und daher das Umdenken die Umweltkrise abwenden könnte. Dahinter steht der Gedanke, daß die Evolution des Menschen und der Kulturen grundsätzlich einer ideologisch-normativen Steuerung zugänglich sei. Der Wunsch, die Macht über diese normative Steuerung zu gewinnen, zieht die Notwendigkeit nach sich, das bisherige ideologische Selbstverständnis der Moderne in Frage zu stellen bzw. zu denunzieren. Denn je mehr sich zeigen läßt, daß die gesamte Denkgrundlage des Gegners falsch ist, desto angreifbarer wird er. Der Ökologismus bewertet die ideengeschichtlichen Traditionsbestände neu. Er tut dies in erster Linie aus polemischen Gründen, nicht der historischen Wahrheit wegen.
Sowohl das Christentum als auch der neuzeitliche Rationalismus, die Aufklärung und die Moderne geraten dabei unter völlig neuen Rechtfertigungsdruck. Dem Christentum wird dabei der Vorwurf gemacht, es habe mit dem Auftrag „. . . füllt die Erde und macht sie euch untertan . . .“ die Voraussetzungen für die Ausbeutung der Natur geschaffen. Dies gehöre zu den „gnadenlosen Folgen des Christentums“ Die neuzeitlichen Naturwissenschaften hätten dann die Geringschätzung der Natur und die Sonderstellung des Menschen lediglich zur totalen technischen und ökonomischen Natur-beherrschung fortgeführt. Dem Christentum wird vorgehalten, es habe die Natur entsakralisiert und den heidnischen Animismus beseitigt. Allein auf dem Boden des christlichen Abendlandes habe sich die moderne Naturwissenschaft und der Kapitalismus entwickeln können, wobei Protestantismus und Calvinismus noch zusätzlich für die Herausbildung des „Geistes des Kapitalismus“ (Max Weber) verantwortlich seien. Die feministische Variante dieser Vorwürfe gibt dem Christentum zusätzlich die Schuld an der Herausbildung des Patriarchats und der damit verbundenen Unterdrückung der Frau. Das männliche Denken sei die Grundlage für Macht, Herrschaft und Naturzerstörung auf dieser Welt.
Natürlich fanden sich sogleich genügend Theologen, die exegetisch nachwiesen, daß Gott den Menschen nicht als Herrscher, sondern als Haushälter über die Natur eingesetzt habe. Bezeichnend für die ideologischen Grabenkämpfe ist die Replik Günter Altners auf Carl Amerys Kritik des Christentums, die er „für eine faule Parole jener Aufklärer (hält), die heute, da sich die Doppelbödigkeit neuzeitlicher Fortschrittshoffnungen zeigt, zu der von ihnen so eifrig verfochtenen Linie der Vernunft nicht mehr zu stehen wagen“ Das Paradoxe an dieser Debatte ist, daß plötzlich die Kirchen, die jahrhundertelang als Inbegriff der Fortschritts-und Wissenschaftsfeindlichkeit und als traditionsbestimmte Modernisierungsbremser galten, nun wieder in neuem Licht gesehen werden, während die großen Denker des neuzeitlichen Rationalismus und der Aufklärung zu engstirnigen Reduktionisten und Vordenkern der globalen Umweltzerstörung umgedeutet werden. Solche Schuldzuweisungen sind nicht haltbar, weil die beinahe 2000jährige Geschichte des Christentums zeigt, daß nahezu beliebig viele soziale, politische und naturphilosophische Positionen theologisch begründet und über die Bibel gerechtfertigt werden konnten.
Dasselbe gilt für die Angriffe der Ökologisten gegen den neuzeitlichen Rationalismus. „Die imperialistische wissenschaftliche Rationalität hat uns in die schreckliche Krise gestürzt!“, schreibt Joseph Weizenbaum Auch der Öko-Theologe Günter Altner sieht im Erkenntnisideal der Naturwissenschaften die Ursache für die Ökokrise: „Die Ursachen für den Kollisionskurs zwischen Mensch und Natur sind von langer Hand angebahnt. Sie wurzeln im europäischen Menschenbild, im Selbstverständnis von Wissenschaft und Technik und einer daraus abgeleiteten Herrschaftspraxis.“ Besonders Ren Descartes wird vorgeworfen, er habe den naturwissenschaftlichen Reduktionismus propagiert und die Einheit der Natur in zähl-und meßbare Elemente aufgespalten. Dergleichen Schuldzuweisungen sind jedoch nicht begründbar — ist doch das, was wissenschaftlicher Rationalismus genannt wird, keineswegs auf die Neuzeit oder auf Europa beschränkt. Der zweifellos bemerkenswerte wissenschaftliche und technische Fortschritt der letzten zwei-bis dreihundert Jahre ist außerdem nicht auf das philosophische Programm eines einzelnen Denkers wie Descartes zurückzuführen. Darüber hinaus ist es vollkommen verfehlt, den Hauptimpuls für die naturwissenschaftliche Forschung im diktatorischen Willen zur totalen Beherrschung der Naturkräfte zu sehen.
Die beiden Kulturkritiker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben dagegen gerade das Tragische in der „Dialektik der Aufklärung“ darin gesehen: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Vorrangiges Motiv der Aufklärung war demnach der Wunsch nach Emanzipation, nach Menschenrechten und sozialem Fortschritt. Dabei kam es zu einer Säkularisierung der Erlösungsvision des Christentums, die ihren Gipfel in der marxistischen Geschichtsphilosophie erreichte. Bekannt sind die strukturellen Gemeinsamkeiten von christlicher Erlösungsvision und marxistischem Atheismus: „ 1. die Einheit Mensch-Natur als Entsprechung zur Einheit von Mensch und Gott im menschgewordenen Gott; 2. Die Ursünde des Privateigentums; 3. und schließlich die erlösende Sendung des Proletariats“
Lediglich der Marxismus/Leninismus sieht in der totalen Naturbeherrschung und Überflußgesellschaft die Voraussetzung für die Befreiung und das Heil der Menschheit. Dies ist jedoch reine Ideologie und nicht etwa die Denkkonsequenz der Wissenschaft. Die moderne Naturwissenschaft besitzt dagegen in der Evolutionstheorie ein wissenschaftlich stringentes, ganzheitliches Naturverständnis. Wenn man nach einer einheitlichen Intention von Neuzeit und Aufklärung sucht, dann ist diese nicht in der verschwörungstheoretischen Absicht der Zerstörung der Natur zu suchen, sondern eher „in der Rehabilitation der Sinnlichkeit“, die „eine ihrer wichtigsten weltanschaulichen Waffen im Kampf gegen die theologische Ontologie und Moral“ war Wenn der Ökologismus Wissenschaft und Technik derart denunziert, dann verfolgt er keine analytischen, sondern polemisch-ideologische Absichten.
VI. Anthropozentrismus und Ökozentrismus
Den Hintergrund für diese meist müßigen Debatten um Schuld oder Unschuld des Christentums oder des neuzeitlichen Rationalismus an der Umwelt-krise stellt ein politisches Problem dar. vor dem jede neue Ideologie steht, welche die bestehenden politischen Verhältnisse in ihrem Sinne verändern will: Sie bedarf eines konkreten Freund-Feind-Schemas, um sich profilieren zu können. Jede neue politische Bewegung formiert sich innerhalb bestehender politisch-historischer Strukturen, sie versucht die Interessen eines bestimmten sozialen Milieus zu bündeln und entwickelt ihre Begriffe gegen die geistige Welt eines oder mehrerer konkreter Gegner. Vor dieser Herausforderung steht auch der Ökologismus. Ob er die Kraft zu einer eigenständigen, dauerhaften Position haben wird, ist noch ungewiß, denn weder das Milieu, aus dem er hervorgeht, noch die weltanschaulichen Strukturen, die er aufnimmt und weiterentwickelt, sind homogen. Trotz dieser inkonsistenten Ausgangslage hat sich inzwischen ein neues Freund-Feind-Schema herauskristallisiert, das sich der Unterscheidung von Anthropozentrismus gegen Ökozentrismus bedient. Dies erfolgt nach dem Motto: Wer nicht für die Natur ist, ist gegen die Menschen — und was gut für die Natur ist, bestimmt die jeweils grüne Bewegung. Es geht dabei um die für den Ökologismus entscheidende Frage, ob es eine moralische Verantwortung des Menschen für die Natur gibt, die unabhängig von der Verantwortung für die lebende und zukünftige Menschheit besteht. Der Anthropozentrismus verneint diese Frage im wesentlichen, der Ökozentrismus bejaht sie. Der anthroprozentrische Standpunkt spricht dem Menschen einen Verfügungsanspruch über die Natur zu, der ökozentrische Ansatz zielt dagegen darauf ab, „daß das Verhalten der Menschen gegenüber der natürlichen Mitwelt in einer über die Menschheit hinausgehenden, natürlichen Rechtsgemeinschaft verfassungsmäßig geregelt wird“ -Meyer-Abich beschreibt den Unterschied folgendermaßen: „Im anthroprozentrischen Weltbild ist allein der Mensch ethisch von Bedeutung, d. h. nur für den Umgang von Menschen mit Menschen gelten ethische Regeln, wie und wie nicht man sich verhalten soll. Für den Umgang mit der übrigen Mitwelt gelten keine solche Regeln, jedoch fällt das Licht der mitmenschlichen Ethik in gewissen Grenzen auch auf die Dinge und Lebewesen, mit denen wir umgehen, insoweit dieser Umgang nämlich die Mitmenschen betrifft. Auf einige Lebewesen, die Menschen, ist danach direkt und um ihrer selbst Willen ethisch Rücksicht zu nehmen. Auf andere Lebewesen und die übrige Welt hingegen nur indirekt und nicht um ihrer selbst Willen, sondern um des Menschen Willen.“
Dagegen verlangt die ökozentrisch begründete Rechtsgemeinschaft mit der Natur vom Menschen besondere Rücksichtnahme. In Meyer-Abichs Acht-Stufen-Modell der Verantwortung bedeutet dies dann auf Stufe sechs: „Jeder nimmt auf die Menschheit insgesamt und alle bewußt empfindenden Lebewesen (Individuen und Arten) Rücksicht. Stufe 7. Jeder nimmt auf alles Lebendige (Individuen und Arten) Rücksicht. Stufe 8. Jeder nimmt auf alles Rücksicht.“ Der ökologische Imperativ lautet: „Handle so, daß das gleiche Recht auf Erhaltung und Entfaltung aller hinreichend einmaligen heutigen und zukünftigen Lebenssysteme und Akteure gewährleistet bleibt.“
Eine wirklich radikale ökozentrische Position gibt es jedoch nicht, sieht man von der Position Ulrich Horstmanns ab, der mit Bezug auf die philosophischen Positionen von Schopenhauer und Emil Cioran zu dem Schluß kommt, daß sich der Mensch zu der „heroischen und jedes andere Wesen in den Irrsinn treibenden Einsicht (emporringen sollte), daß er im Kosmos durchaus fehl am Platze ist, sich auf Grund seines eigenen evidenten Räsonnements, das Existenzrecht absprechen muß“
Derartige Positionen sind die Ausnahmen, die keine tatsächliche politische Relevanz beanspruchen. Im Grunde ist es fraglich, ob es überhaupt möglich ist, eine nicht-anthropozentrische Position einzunehmen, da alle das Überleben der Menschheit in den Vordergrund stellen. Von Seiten der seriösen Wissenschaft wird niemand die Art Mensch gegen beliebige Tier-oder Pflanzenarten ausspielen, wenn es um handfeste Überlebensfragen geht — etwa AIDS-Erreger gegen Menschen. Selbst Meyer-Abich sichert sich da ab: „Eigene Rechte der natürlichen Mitwelt anzuerkennen, kann selbstverständlich nicht bedeuten, allen Wesen alle erdenkbaren Rechte oder auch nur dieselben Rechte zuzuerkennen, die ein Mensch hat. Ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit z. B. können wir jedenfalls denjenigen Lebewesen nicht zuerkennen, auf deren Verzehr wir Menschen angewiesen sind, und dasselbe gilt für die verschiedenen Nahrungsketten in der übrigen Biosphäre.“
Hauptziel des Ökologismus ist aber eben nicht philosophische Stringenz, um die sich so umstrittene Philosophen wie Peter Singer bemühen, sondern die Eroberung einer höheren moralischen Legitimation als jene, welche die Industriegesellschaft besitzt. Hier bietet der Ökozentrismus die Chance, von der höheren Warte des Retters und Fürsprechers der ganzen Schöpfung, die „das Interesse des Ganzen stellvertretend wahrt“ aus normative Vorgaben durchzusetzen. Hier vermag der Ökologismus anzuschließen.
VII. Idealtypische Positionen
Es gibt nun mehrere ideologische Erklärungsansätze. die aufdie ökologische Herausforderung antworten. Die fünf Positionen, die im folgenden idealtypisch herausgearbeitet werden, übernehmen verschiedentlich Elemente des Ökologismus oder grenzen sich scharf gegenüber ihm ab. Die Positionen überschneiden sich in der Praxis zum Teil so sehr, daß fraglich ist, welchen Wert eine derartige Idealtypisierung überhaupt hat. Auch die Zuordnung einzelner Denker zu einzelnen Idealtypen ist problematisch und soll hier allein schon aus Platzgründen unterbleiben. Die Notwendigkeit weltanschaulicher Neugruppierungen ergibt sich jedoch 1. aus dem Bruch mit dem bislang bestimmenden Fortschrittsdenken und 2. aus der Fragwürdigkeit des traditionellen Rechts-Links-Gegensatzes, der seine polemische Funktion in der aktuellen politischen Auseinandersetzung (etwa als Lagertheorie) nur noch notdürftig ausfüllt. Folgende Positionen konkurrieren miteinander: 1. Der esoterische Naturalismus Seine Grundintention ist die Angst vor der Apokalypse. Hier finden sich radikale Tierschützer, New-Age-Anhänger, religiös Inspirierte, die den Kern der Umweltkrise in der vom Mensch verursachten Störung der Harmonie der Natur erblicken und Hoffnung allein aus dem neuen Bewußtsein einer Versöhnung mit der Natur schöpfen, das sich aus einer wechselnden Mischung aus östlicher Mystik, Naturbeschwörungen sowie anthroposophischen und christlichen Denkfiguren zusammensetzt. Sie warten auf die ökologische Erweckung, halten Tier-Gottesdienste ab, sprechen der Natur ein Recht auf Erhaltung und Pflege zu und träumen von einer Altemativ-Zivilisation. 2. Der Ökosozialismus Der Ökosozialismus lehnt sich eng an marxistische Denkschemata an. An die Stelle des Proletariats, das es zu erlösen galt, tritt die Natur. Die Kapitalismuskritik wird radikalisiert: „Die kapitalistische Industrieproduktion kann nur um den Preis der Zerstörung biologischer Ressourcen weiter existieren . . . Die Zerstörung der fortdauernden Lebensquellen der Menschen wird aber unter ihrer Herrschaft immer einhergehen mit der Schaffung von Armut. Krankheit und psychischer Verelendung der Massen, die ihren Unterhalt aus der Lohnarbeit beziehen sowie mit kriegerischen Raubzü-B gen . . .“ Erwogen wird auch eine Generalpause für die Wirtschaft, wie sie etwa Rudolf Bahro vorschwebt: „Was die deutsche Wirtschaft in jedem Fall erst mal braucht, ist eine erzwungene General-pause in Forschung. Entwicklung und Produktion. Zu machen ist diese Pause durch eine neue Art von Generalstreik.“ Erwogen wird auch eine Ökodiktatur, die mit dem überlegenen Wissen der Ökosozialisten gerechtfertigt wird. 3. Der Ökokonservatismus Der Ökokonservatismus sieht das emanzipatorische Projekt der Moderne für gescheitert an, über die Naturbeherrschung zu einer Überflußgesellschaft zu gelangen, in der sich alle Probleme in Wohlgefallen auflösen. Er betrachtet den Pro-Kopf-Verbrauch der Industrieländer an Energie und Rohstoffen als parasitär und möchte zu einfachen Lebens-und Askeseformen, die aus der christ-lichen Lehre abgeleitet werden, zurückkehren. Die Ökokrise ist auch ein religiöses Problem, das durch eine Stärkung der Staatsautorität und durch eine neue Ethik, dem „Prinzip Verantwortung“ (Hans Jonas) zu regeln sei. 4. Die evolutionistische Perspektive Die evolutionistische Perspektive sieht den Menschen im Darwinschen Sinne als einen Teil der Natur, der, wie andere Lebewesen auch, um überleben zu können, sich auf Kosten anderer Organismen ernähren muß. Wie alle anderen Lebewesen versucht er, Beeinträchtigungen von sich fern zu halten, sich Gefährdungen zu entziehen und die Lebensrisiken klein zu halten. Er möchte sich optimal ernähren, in optimaler Sicherheit und Unversehrtheit leben. Dazu nutzt er die Natur im umfassenden Sinn: Er baut Häuser, Städte, Autobahnen, Schiffe, Flugzeuge. Tunnel, Parks, Monokulturen, Massentierzuchtanstalten usw. Erst die kulturelle Evolution hat den Menschen in die Lage versetzt, durch den technischen Fortschritt seine Macht über die Natur so zu steigern, daß eine Bevölkerungsexplosion möglich wurde, die nun ihrerseits das globale Ökosystem bedroht. Die ökologischen Probleme erwachsen daher nicht aus mangelndem gu-ten Willen oder bösen Absichten, sondern sind Resultat einer kulturellen Evolution, wobei deren Dynamik weder durch eine neue Ethik noch durch zentralistische Ordnungskonzepte zu stoppen sein dürfte. Gleichwohl wird der Mensch um dergleichen Eingriffe nicht herumkommen, da es keine dauerhaften, sich selbst stabilisierenden ökologischen Gleichgewichte gibt. 5. Der technokratische Pragmatismus Der technokratische Pragmatismus ist im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Establishment beheimatet. In dieser Sichtweise haben Technik und Wissenschaft die Freiheit und die ökonomische Sicherheit des heutigen Menschen erst möglich gemacht. Dies ist an der gesteigerten Lebenserwartung ablesbar, auf die der Mensch nicht verzichten will. Die Ökokatastrophen werden nur mittelbar durch die Technik, in erster Linie jedoch durch die existentiellen Bedürfnisse der Menschen und die Überbevölkerung ausgelöst. Der Erhalt von Ökosystemen kann nur durch Einsatz von noch besserer Technik garantiert werden. Dabei sind negative Auswirkungen für die Umwelt und negative Nebenwirkungen nicht auszuschließen. Ein Leben ohne Risiko gibt es nicht. Im ganzen beklagt der technokratische Pragmatismus die Hysterie und die Ängste, die durch das Aufschaukeln von Umweltproblemen verursacht werden.
Welche dieser fünf idealtypischen Positionen nun in Zukunft die Oberhand gewinnen wird, hängt natürlich nicht allein vom Einfluß des Ökologismus ab, sondern ganz wesentlich von anderen politischen, sozialökonomischen und kulturellen Faktoren. Das ökologische Denken ist jedenfalls im Begriff, zur zentralen ideologischen Denkfigur aufzusteigen.