I. Einführung
Die umweltpolitischen Grundprinzipien — Verursacherprinzip, Vorsorgeprinzip und Kooperationsprinzip — unterliegen in ihrer Bedeutung für ökologisch relevante Handlungen einer schwankenden Betonung. Zu Beginn der siebziger Jahre, in etwa mit dem weltweiten Beginn offizieller Umweltpolitik zusammenfallend, war das Verursacherprinzip die politische Handlungsmaxime; später, zu Beginn der achtziger Jahre, verschob sich das Schwergewicht deutlich hin zu mehr „Vorsorge“ In der innenpolitischen Auseinandersetzung der Bundesrepublik kann man spezifische Ausprägungen dieses allgemeinen Trends beobachten: Während speziell die CDU/CSU in ihrer Oppositionszeit deutlich Gedanken und Vorschläge aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaft aufnahm, um sich die Allokationseffizienz des Marktes zunutze zu machen und das instrumentelle Repertoire der Umweltpolitik mit marktwirtschaftlichen und marktanalogen Instrumenten effizienter zu gestalten, war die Umweltpolitik der sozialliberalen Koalition eher traditionell und damit command-and-control orientiert, wenn ihr auch mit der Abwasserabgabe ein seltenes Experiment im Bereich marktwirtschaftlicher Anreize gelang.
Bei der Beurteilung der Situation nach immerhin mehr als sieben Jahren konservativ-liberaler Regierung stellt man möglicherweise erstaunt fest, daß sich die Fronten anscheinend verkehrt haben: Der Umweltminister fühlt sich zuerst dem Vorsorge-und erst in zweiter Linie dem Verursacherprinzip verpflichtet, im Bereich der Institutionalisierung marktwirtschaftlicher Instrumente ist, entgegen den Forderungen in der Opposition, so gut wie nichts geschehen; die SPD dagegen betont heute besonders das Verursacherprinzip und vertritt zumindest in der politischen Auseinandersetzung die Einführung marktwirtschaftlicher Anreize, in Teilbereichen gar den ökologischen Umbau des Steuersystems, wie ihn die GRÜNEN fordern.
Sieht man einmal von der Notwendigkeit einer politischen Partei in der Opposition ab. sich vom Regie-rungslager abzusetzen, so kommt man nicht umhin, allen gegenteiligen Äußerungen in den jeweiligen oppositionellen Phasen zum Trotz, allen Parteien einen durchgängig hohen Konservativismus zu konstatieren: Es ist einigermaßen gleichgültig, wie die Regierungen zusammengesetzt sind — ist man an der Regierung, scheint man in der politischen Äußerung ein Faible für das Vorsorgeprinzip zu haben und zeigt offensichtlich wenig Neigung zu einer Verstärkung der marktwirtschaftlichen Methoden im umweltpolitischen Instrumentenarsenal. Falls sich solche seltenen Species doch einmal durchsetzen lassen, so werden sie traditionell durch Regulierungen im command-and-control Stil „eingemauert“
Daß marktwirtschaftliche Instrumente von hohem Nutzen für die Umweltpolitik und ihre Effizienz sein würden, steht dabei außer Frage und ist gebetsmühlenhaft immer wieder von der Wirtschaftswissenschaft und der wissenschaftlichen Politikberatung vorgebracht worden. Dies führte im Grunde aber zu keinen nennenswerten Ergebnissen es bleibt abzuwarten (und ist mehr als fraglich), ob die momentane Öko-Steuer-Euphorie auf allen Seiten mehr ist als wahlkampfbedingtes Strohfeuer. Die Ursachen dafür im einzelnen zu erörtern, würde hier zu weit führen. Es sei insbesondere auf das beachtenswerte neue Gutachten von Hansmeyer/Schneider verwiesen, das die Frage im einzelnen diskutiert
Dieses reale Mißverhältnis in der politischen Bedeutung von Vorsorge und marktwirtschaftlichen Ansätzen ist aber umso erstaunlicher, als der Vorsorgebegriff ja eine bestimmende „humane“ Komponente impliziert — denn wer sollte sonst Vorsorge treffen können, wenn nicht der Mensch für seine und seiner Umwelt Zukunft. Es ist gerade diese „humane“ Komponente, die dem Vorsorge-prinzip eine so große Öffentlichkeitswirksamkeit verleiht. Leider aber werden seine Inhalte, Voraussetzungen und Implikationen nur selten oder nie diskutiert 5), so daß es den großen politischen Vorzug (und analytischen Nachteil) der relativen Beliebigkeit besitzt — jeder kann es nach seinem Gusto interpretieren. Daß diese Betonung des Humanen aber offensichtlich zu Kosten in Form der Ablehnung des „seelenlosen“ Markts (und damit marktwirtschaftlicher Instrumente in der Umweltpolitik) führt, hat eine bedauerliche Konsequenz: Unabhängig vom gewählten Vorsorgeniveau entspricht das, was erreicht wird, bei weitem nicht dem. was erreicht werden könnte — die „Humanität“ der Vorsorge impliziert einen gewissen Grad an „Inhumanität“ gegenüber der Umwelt.
Es wäre notwendig, diese grundlegenden Aspekte einmal im einzelnen zu analysieren und zu diskutieren; da man aber den ersten vor den weiteren Schritten tun sollte, kann dies hier nicht weiter verfolgt werden. Im Sinne der Anatomie des Vorsorgeprinzips als „Zergliederungskunst“ muß im ersten und wichtigsten Schritt der Blick aus diversen Perspektiven auf Strukturen gerichtet sein, die dieses Prinzip erst identifizierbar machen und aus der Beliebigkeit herauslösen. Unterstellt wird dabei. daß es differenzierendere Einschätzungen geben muß (oder zumindest kann) als die, daß das Vorsorgeprinzip entweder eine Banalität oder eine Utopie sei: — eine Banalität, weil ohnehin Vorsorge dafür zu treffen ist, daß umweit-und gesundheitsgefährdende Stoffe nicht in die Umwelt entlassen werden dürfen, wenn irreversible Schäden entstehen könnten und effizienzorientierte, ökonomische Instrumente die ökologische Effizienz nicht hinreichend absichem; — eine Utopie, weil nämlich für alle Produkte/Prozesse weder heute noch in Zukunft jemals hinreichende Informationen über mögliche und wahrscheinliche Effekte bei kleinen oder großen Schadstoffdosierungen (incl. aller denkbaren Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Schadstoffen) vorliegen bzw. vorliegen könnten.
Diese Sichtweise des Vorsorgeprinzips im Spannungsfeld von Banalität und Utopie impliziert deutlich Überlegungen bezüglich des umweltpolitischen Risikopotentials, das eine Gesellschaft unter Berücksichtigung von ökonomischer Wohlfahrt und politisch-sozialer Stabilität zu tragen bereit ist. Eine der Grundfragen, die in diesem Zusammenhang zu beantworten sein werden, ist die, ob das Vorsorgeprinzip bzw. die „präventive“ Umweltpolitik als Begriff und eventuell als konkretisierbare Handlungsmaxime überhaupt eine Existenzberechtigung hat, wenn das Verursacherprinzip im wohlfahrtsbezogenen Kontext richtig angewandt werden sollte.
II. Vorsorgeprinzip und „präventive“ Umweltpolitik: Facetten und Interpretationen
1. Die politische Funktion des Vorsorgebegriffs Viele amtliche Dokumente zeichnen heute Vorsorge-, Verursacher-und Kooperationsprinzip als tragende Säulen der deutschen Umweltpolitik aus. Das war nicht immer so — oder zumindest nicht so eindeutig: Das Umweltprogramm der Bundesregie-rung von 1971 rechnete das Vorsorgeprinzip noch nicht explizit zu den Leitmaximen der Umweltpolitik, wohl aber das Verursacherprinzip und das Kooperationsprinzip. Allerdings wurde auch schon damals unter dem Programmpunkt „Umweltplanung“ darauf hingewiesen, daß diese „auf lange Sicht“ zu erfolgen habe und Schutz und Entwicklung der Naturgrundlagen zu der vorrangigen Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge zu machen seien — dies insbesondere mit den Mitteln des Umweltrechts, das nach dem jeweiligen wissenschaftlichen und technischen Stand ständig fortgeschrieben werden sollte.Zu einer Handlungsmaxime der deutschen Umweltpolitik wurde das Vorsorgeprinzip erst mit der Fortschreibung des Umweltprogramms im Jahre 1976 Es ist von der Formulierung her grundsätzlich identisch mit den Ausführungen „Umweltplanung“ im Jahre 1971, aber differenzierter im Hinblick auf die durch das Vorsorgeprinzip anzustrebenden Ziele: — Sicherung von Gesundheit und Wohlbefinden des Menschen; — Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts; — langfristige Gewährleistung zivilisatorischen Fortschritts und volkswirtschaftlicher Produktivität; — Vermeidung von Schäden an Kultur-und Wirtschaftsgütern; — Bewahrung von Landschaft, Pflanzenr und Tier-welt. Spätestens seit dieser Zeit spielt das Vorsorgeprinzip in politischen Äußerungen eine dominante Rolle und wird stets als erstes der drei Prinzipien genannt. Die Gründe dafür sind offensichtlich: — Das Vorsorgeprinzip hat sehr angenehme Eigenschaften für den Politiker Zum einen wirkt es legitimitätsfördernd, denn ein Politiker, der sich auf Vorsorge beruft, muß als ernsthaft, umsichtig und verantwortungsvoll gelten; er ist gewissermaßen der Staatsmann unter unzähligen mediokren Amtsinhabern. Zum zweiten schwebt das Vorsorgeprinzip oberhalb der Aktivitätsebene und impliziert zunächst keine Verpflichtung zu bestimmtem Handeln; zum dritten ist es überaus anpassungsfähig (d. h. relativ beliebig) — je nach Rahmendaten, Zeithorizont und Geschick kann beinahe jede politische Aktivität als Vorsorgehandlung dargestellt werden. — Das Verursacherprinzip hat weitaus weniger komfortable Eigenschaften: Es ist einfach „zu logisch“ und zu wenig „gestaltend“ in dem Sinne, daß jeder einzelne für seine Taten einzustehen hat (Kostenzurechnung) und so die politische Planung entlastet. Auf der anderen Seite aber hat es die unangenehme Konsequenz, daß selbst der vermeintlich umweltfreundliche Bürger (etwa als Dieselfahrer) plötzlich als Verursacher dastehen kann — eine Rolle, die er eigentlich nicht spielen wollte. Die strenge Logik des Prinzips — die zu vermeintlichen Ungerechtigkeiten führen kann — und der Mangel an Gestaltungscharakter machen es politisch reichlich unattraktiv, abgesehen davon, daß eine effektive Durchsetzung, gewissermaßen die „Verordnung“ von der Eigenverantwortung in demokratischen Gruppenstaaten wie der Bundesrepublik nur beschränkt möglich ist, wie der steigende Anteil der Gemeinlastfinanzierung und der Subventionen im Umweltschutz zeigt Eine Regierung, die sich freiwillig an der Verwirklichung des Verursacherprinzips messen lassen würde, könnte sich a priori ein negatives Ergebnis ausrechnen. — Das Kooperationsprinzip könnte in der politischen Wahrnehmung durchaus Anklang finden: Im Sinne eines „fairen Zusammenwirkens aller gesellschaftlichen Kräfte im Willensbildungsund Entscheidungsprozeß“ ist es letztlich eine Forderung nach Demokratisierung und Transparenz in umweltpolitischen Entscheidungsprozessen — eine Forderung, die naturgemäß an Grenzen stößt, so-bald Kompetenzen des Staates (der Politiker, aber vor allem der Bürokraten) durch den Wunsch nach Bürgerbeteiligung in Frage gestellt werden; auch hier wäre ein Scheitern „überzogener“ politischer Ansprüche systemimmanent eingebaut. Es kommt hinzu, daß dem Kooperationsprinzip in der Interpretation als Zusammenarbeit von Staat und Wirtschaft zum Wohle der Umwelt leicht der Ruch der Komplizenschaft anhängt. Interpretiert man es institutionell, aber auch international, so ist es unweigerlich mit dem „Geleitzugproblem“ verbunden — der Verband kann nicht schneller sein als das langsamste Mitglied. In internationaler Sicht wäre diese Verzögerung umweltpolitisch sogar fatal, da internationale Organisationen — vor allem die EG und ihre Brüsseler Bürokratie — in der Bevölkerung einen denkbar schlechten Ruf genießen und außerdem partiell die Umsetzung dringend notwendiger Vorhaben behindern Nicht umsonst setzen die Bundesregierungen seit Anfang der achtziger Jahre deklamatorisch auf die deutsche „Vorreiterrolle“.
Man darf sich also nicht wundern, daß nach der Phase der Feuerwehraktionen (Verursacher-/Ge-meinlastprinzip) das Vorsorgeprinzip aufgrund seiner hervorragenden politischen Eigenschaften ins Zentrum deklaratorischer Bemühungen rückte — was, wie man aus politischer Erfahrung weiß, ja a priori nichts mit faktischen Aktivitäten zu tun haben muß. 2. Die internationale Politikebene: OECD Diese deklaratorische Dominanz des Vorsorgeprinzips gilt nicht nur für die nationale, sondern ebenso für die internationale Ebene. Es ist zu vermuten, daß Versuche der Konkretisierung auf diesem Niveau — vor allem auf OECD-Ebene, wo sich aufgrund der relativen Unverbindlichkeit und der geringen Rezeption der Ergebnisse in den Ländern 'eher der größte als der kleinste gemeinsame Nenner (wie auf EG-Ebene) einstellt — möglicherweise weiter führen als ähnliche Konkretisierungsansätze auf nationaler Ebene.
Für die OECD als Zusammenschluß der westlichen Industrieländer (mit typischen Umweltproblemen) ist das Vorsorgeprinzip das dominante Prinzip einer modernen Umweltpolitik: Danach bleiben Vermeidung oder Beseitigung von Umweltverschmutzung nach wie vor wichtige Ziele, allerdings spielen Maßnahmen zum Ressourcenschutz und zur Verbesserung der Lebensqualität — ein anderes symbol-trächtiges Schlagwort der OECD aus dem vergangenen Jahrzehnt — eine zunehmende Rolle dementsprechend werden antizipative und präventive Maßnahmen, wobei die Abgrenzung allerdings unklar bleibt, reaktivem und kurativem Stückwerk vorgezogen. Präventive Umweltpolitik aus OECD-Sicht ist dabei auf zwei Kembereiche gerichtet. Zum einen werden Maßnahmen entwickelt, die die Umweltbedingungen den Erwartungen der Gesellschaft gemäß gestalten; hier wird im einzelnen gefordert, Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen zu steigern, Tierarten und natürliche Ökosysteme zu erhalten, die Siedlungspolitik, Energie-wirtschaft und Transportwesen zur Berücksichtigung von Umweltbedingungen anzuhalten und Landschaften sowie Baudenkmäler zu schützen. Ein zweiter Maßnahmenbereich spricht Aktivitäten an, die eine Zerstörung der Umwelt als Ergebnis menschlichen Handelns verhindern sollen; hier geht es speziell um Maßnahmen zur Reduzierung der Produktion, Vermarktung und der daraus folgenden Beseitigung von umweltgefährdenden Materialien, Maßnahmen zur Stimulierung integrierter industrieller Prozesse (umweltfreundliche Innovation des gesamten Produktionsprozesses), des Re-cyclings sowie der ökonomischen Verwertung von Abfallstoffen. Maßnahmen dieser Art sind dabei zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu treffen und zielen eher auf vorausblickendes Gestalten und Planen, auf eine Vermeidung statt auf eine Entsorgung des Abfalls. Diese Art der antizipativen oder präventiven Umweltpolitik soll reaktiv-kurative Umweltpolitik nicht ersetzen, sondern ergänzen: Dann, wenn Umweltqualitätsverbesserungen mit einfachen Maßnahmen und weniger aufwendigen Technologien über kurze Zeithorizonte erreicht werden können, besteht keine Notwendigkeit für präventive Umweltpolitik — und in diesem Fall kann man nach OECD-Ansicht auf marktkonforme Instrumente und den Marktmechanismus vertrauen. Halbherzig klingt es dagegen, wenn die OECD nach einer betont positiven Würdigung regulativer Instrumente im Rahmen präventiver Umweltpolitik die ökonomische Instrumente lediglich als zusätzliche Ansätze dieser „neuen“ Variante der Umweltpolitik erwähnt. Hierbei wird allerdings die Bevorzugung regulativer Maßnahmen durch die Autoren dadurch relativiert, daß sie antizipatori-sehe Maßnahmen oft als schwierig und manchmal gar nicht durchsetzbar einschätzen.
Diese Ausführungen, die von der Grundsatzkonferenz der OECD zu „Environment and Economics“ im Jahre 1984 nur wenig variiert und differenziert wurden legen den Schluß nahe, daß aus OECD-Sicht offensichtlich zwei Aspekte im besonderen Maße mit dem Vorsorgeprinzip und präventiver Umweltpolitik verbunden sind: ihr im Vergleich zu anderen Varianten der Umweltpolitik langfristigerer Charakter und die Förderung und Beeinflussung des technischen Fortschritts im Hinblick auf Umweltfreundlichkeit. Instrumentelle Forderungen zur Realisierung von Vorsorgestrategien werden allerdings weder pauschal noch in Einzelheiten artikuliert: Zwar wird immer wieder auf die positiven langfristigen Anreizwirkungen von ökonomischen Instrumenten hingewiesen doch dabei eine explizite Verbindung zum Vorsorgeprinzip nicht gezogen; ganz im Gegenteil werden ökonomische Instrumente deutlich als zur Domäne des Verursacherprinzips gehörig interpretiert. Es ist bedauerlich, daß gerade die Richtungsgleichheit der Forderungen nach Prävention (Langfristigkeit) und die langfristigen Anreizwirkungen durch ökonomische Instrumente nicht ausreichend gesehen und betont wird, geschweige denn die Komplementarität und Integrationsfähigkeit der Strategien erwähnt werden. Die Folge ist eine zwar rationale und auch ökonomische Abgrenzung der Strategiefelder (Vorsorge dann, wenn die Kosten der Vorsorge niedriger sind als die ansonsten später anfallenden Korrekturkosten), aber eben auch eine sehr einäugige und verzerrte Sicht des sinnvollerweise einzusetzenden Instrumentariums. 3. Die nationale Politikebene Dies ist zumindest auf der nationalen politischen Ebene nicht wesentlich anders und zeigt einmal mehr, wie sehr sich in einem Politikbereich wie der Umweltpolitik Politikstile auf allen Ebenen doch ähneln, wohl vor allem aufgrund der Dominanz der Bürokratien. Die konkreteste Ausformung hat das Vorsorgeprinzip nach der Aufnahme in die Prinzi-pien-Trias im Jahre 1976 mit der Formulierung der „Leitlinien zur Umweltvorsorge“ durch die Bundesregierung gefunden, die für „alle Umweltbereiche gültige politische Maßstäbe, an denen sich stoff-spezifische Aktionsprogramme, Rechts-und Verwaltungsvorschriften und sonstige Maßnahmen zur stufenweisen Verminderung von Stoffeinträgen durch den Menschen ausrichten“ 18), zum Ausdruck bringen sollten. Nach den Ausführungen der Bundesregierung umfaßt Vorsorge alle Aktivitäten, — die die Abwehr konkreter Umweltgefahren zum Ziele habe, — die im Vorfeld der Gefahrenabwehr der Vermeidung oder Verminderung von Umweltrisiken dienen, und — die vorausschauend die zukünftige Umwelt gestalten (insbesondere in bezug auf den Schutz und die Entwicklung unserer natürlichen Lebensgrundlagen). .
Interessant ist auch die Begründung des letztgenannten Elements von Vorsorge, daß nämlich „Freiräume für die Gestaltung zukünftiger Generationen“ erhalten werden sollten Dies sollte nicht nur durch Rückhaltemaßnahmen von Emissionen im Produktionszyklus, sondern auch durch die Entwicklung umweltschonender Produktionsprozesse und Produkte geschehen, die umweltbelastende Emissionen erst gar nicht entstehen lassen oder so weit wie möglich vermeiden. Offensichtlich gehen die Aussagen weiter als die Interpretation des Vorsorgeprinzips („anticipate and prevent“) durch die OECD: Zwar wird auch hier die prozeßund pro-18) dukttechnologische Seite eines konsequenten Umweltschutzes herausgehoben — ohne allerdings direkt einsetzbare Instrumente zu nennen —, aber ein rationales Kalkül — etwa Prävention nur dann vorzuziehen, wenn heutige Vorsorge billiger ist als spätere Korrektur — steht dabei nicht im Vordergrund. Vielmehr wird das Fairneß-Argument aus Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ in intergenerativer Interpretation (Erhaltung von Freiräumen für die Entfaltung zukünftiger Generationen) zur Untermauerung des Vorsorgeprinzips herangezogen. Dieses Argument greift zweifellos weiter als die unbestimmte Langfristigkeit der OECD-Statements, wird doch versucht, ein Konzept der intergenerativen Gerechtigkeit zu formulieren und damit quasi „dynastisches“ Verhalten zu initiieren. Die Problematik der relativ kurzen Wahlzyklen und des typischen Verhaltens von Politikern vor Wahlen wird dabei natürlich ausgeblendet Trotzdem hat Weidner recht, wenn er insgesamt in den Leitlinien eine umweltfreundlichere Interpretation von Vorsorge erkennt -Jedoch sollte man nicht übersehen, daß ein Konzept der intergenerativen Fairneß eminent schwierig zu operationalisieren ist und deshalb genauso schwer als Maßstab oder Bewertungskriterium benutzt werden kann.
Von daher nutzen diese Versuche der Konkretisierung im Hinblick auf den Zielaspekt relativ wenig, wenn die Einigung auf ein Instrumentarium ausbleibt; auch nach der Formulierung der „Leitlinien Umweltvorsorge“ gilt, daß trotz dieser Ansätze „eine zufriedenstellende Systematisierung der vielfältigen Ausprägungen des Vorsorgeprinzips fehlt“ Anspruch und Wirklichkeit klaffen also weit auseinander — das wichtigste Leitziel der Umweltpolitik ist weiterhin das am wenigsten operationalisierte. 4. Vorsorge und Umweltrecht Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß im Vollzug des Umweltrechts, dessen Regelungen sich als rechtlich durchsetzungsfähig erweisen müssen, Probleme auftreten, die von der Rechtsprechung, aber auch von der herrschenden Lehre traditionell eher konservativ gelöst werden Konservativ heißt hier, daß generell das Vorsorgeprinzip hinsichtlich der Vorsorgeanlässe auf einen konkreten Gefahrenverdacht begrenzt wird. Ferner werden solche Maßnahmen gefordert, die proportional zum vermuteten Risiko sind d. h. das Vorsorgeprinzip kommt nur dann zur Anwendung, wenn bereits Schäden eingetreten sind oder unmittelbar bevorstehen (Gefahrenverdacht), wobei allerdings die Ursache-Wirkungs-Beziehung noch nicht hinreichend geklärt sein muß. Quintessenz dieser Sichtweise ist eine reduzierte Anwendung des Vorsorgeprinzips, so daß dessen eigentliches Operationsgebiet — in Größe und Wahrscheinlichkeit unbekannte Risiken — außen vor bleiben Die Begründung dafür ist evident: Ohne einen konkreten Gefahrenverdacht sind aus dieser Sichtweise rationale Entscheidungen bezüglich der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit von Gegenmaßnahmen unmöglich — das Stichwort der „Vorsorge ins Blaue hinein“ (Ossenbühl) fällt.
Es erscheint fraglich, ob diese reduzierte Interpretation des Vorsorgeprinzips bei intensiverem Nachdenken lange Bestand haben kann: Ökonomisch gesehen ist Umweltpolitik nichts anderes als die Verhinderung negativen Realtransfers. Betrachten wir aber einmal ein Gut wie „schulische Bildung“ als positiven Realtransfer: Hier war und ist allgemein anerkannt, daß schulische Ausbildung sinnvoll ist, obwohl immer das Risiko besteht, daß der einzelne sie später nicht nutzt, aus welchem Grunde auch immer. Für den Bereich der positiven Realtransfers reicht also offensichtlich der abstrakte „Nutzenverdacht“ sehr wohl aus, denn es dürfte schwerfallen, eine signifikante Korrelation von schulischer Bildung und gesamtwirtschaftlicher Produktivität zu errechnen, zumindest im Vergleich von Staaten ähnlicher Entwicklungsstufe. Diese Logik sollte aber eigentlich auch für den Bereich negativer Realtransfers gelten: Man kann Rehbinder nur zustimmen, wenn er meint, daß „gesellschaftliche Aktivitäten von einigem Gewicht . . . nach unseren bisherigen Erfahrungen regelmäßig mit Risiken für Mensch und Umwelt verbunden sind“ Auch hier wäre eher eine Gefährlichkeitsvermutung als eine Gefahrlosigkeitsvermutung sinnvoll. Dies müßte bedeuten, daß ein abstraktes Gefährdungspotential (die bloße Eigenschaft der Gefährlichkeit ohne Relevanz des möglichen Schadenumfangs) als Legitimation für Vorsorgemaßnahmen herangezogen werden sollte. Problematisch bleibt jedoch in dieser Interpretation der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, so daß Reh-binder sich insgesamt ziemlich skeptisch bezüglich einer weiteren rechtlichen Materialisierung des Vorsorgeprinzips äußert
In der Praxis hat das Vorsorgeprinzip von der rechtlichen Seite her gesehen bisher wohl weniger erfolgreich bei der Prävention von Umweltschäden gewirkt, dafür aber umso „erfolgreicher“ bei der Verhinderung von befürchteten Überaktivitäten zugunsten eines vorsorgenden Umweltschutzes. Die insbesondere von Rehbinder herausgearbeiteten Schwierigkeiten in der rechtlichen Fassung und in der Umsetzung über die reduzierte Form hinaus zeigen einmal mehr, daß die „Leit“ -Linien der Umweltvorsorge eher Linien sein werden, an denen die Umwelt weiter „leidet“; es ist derzeit nicht zu erwarten, daß von juristischer Seite offensive und der Vorsorgeidee dienliche Konkretisierungen erfolgen werden. 5. Politikwissenschaftliche Interpretationen Wenn also aus der Regierungsprogrammatik und der juristischen Diskussion wenig Fortschritte für eine Konkretisierung des Vorsorgeprinzips zu gewinnen sind, so ist danach zu fragen, inwieweit hier die Sozialwissenschaften in Gestalt der Politikwissenschaft oder der Ökonomie möglicherweise in stärkerem Maße wegweisend sein können. Von Prittwitz stammt ein interessanter Versuch, die Begriffe Vorsorge/Prävention von „Gefahrenabwehr“ und „struktureller Ökologisierung“ abzugrenzen mit Hilfe der Kriterien Legitimationsgrundlage. Träger, Reichweite/Wirkungstiefe sowie optimale Wirkungsbedingungen. „Vorsorge“ nimmt im Hinblick auf Reichweite/Wirkungstiefe eine Mittelstellung ein und weist als Legitimationsgrundlage für Handlungen das vorhandene „Risiko“ auf statt „akuten Schaden“ (Gefahrenabwehr) oder „Wertvorstellung“ (Ökologisierung). Eine solche Kategorisierung der von ihm herausgestellten drei Idealtypen der Umweltpolitik ist zwar für Ordnungszwecke hilfreich; allerdings sagt sie noch nichts aus über die Ausgestaltung und Ausprägung in der Realität. „Risiko“ ist immerhin ein weiter Begriff. der nicht nur „abstrakten Schadensverdacht“ als ausreichende Vorsorgelegitimation bezeichnet, sondern auch gut abschätzbare, sich regelmäßig reproduzierende Risiken, die die traditionelle juristische Interpretation vorsieht.
Im Gegensatz zu Rehbinder meint Prittwitz aber eine Differenzierung der Begriffe Vorsorge und Prävention erkennen zu können: Nach seiner Interpretation ist Prävention vom ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Wortes her nicht ganz so unverbindlich wie Vorsorge, denn „immerhin muß etwas geschehen, um noch vor einem Schaden . angekommen 1 (prä-venire) zu sein“ von daher glaubt er, das Präventionsprinzip im Vergleich zum Vorsorgeprinzip als „handlungsorientierter“ einschätzen zu können.
Von der Systematik her ähnlich argumentiert auch Jänicke wobei in seiner Darstellung allerdings Vorsorge und Prävention als Synonyme den Oberbegriff für „ökologische Modernisierung“ und „Strukturveränderung“ bilden (denen „Nachsorge“ mit den Unterkategorien „Reparatur/Kompensation“ und „Entsorgung“ gegenübergestellt werden).
Solche kleineren Differenzen sind mehr oder weniger unerheblich, dafür aber bietet Jänickes Systematik einen direkten Zugriff zu (beispielhaften) instrumentellen Ansätzen, die für eine technologie-orientierte Interpretation der Vorsorge von Interesse sind: Er hebt nämlich speziell den technologischen Aspekt heraus und ordnet so additive Umwelttechnik (dem eigentlichen Produktionsprozeß nachgeschaltete emissionsreduzierende Anlagen, z. B. Filter) dem Nachsorgebereich, umweltfreundliche Technik (hier: integrierte Prozesse) dem Vorsorgebereich zu.
Interessant aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist weiterhin der Beitrag von Scimeni, der primär auf die Bedingungen antizipativer Umweltpolitik im Rahmen des politischen Lebenszyklus des Umweltproblems (dem Auf und Ab des Themas in der Bewertung durch die Öffentlichkeit und die politischen Institutionen) generell ausgerichtet* ist Nach dieser Analyse müssen drei Aspekte speziell beachtet werden, die die wahrgenommene Gewichtigkeit eines Umweltproblems bestimmen: — „Demonstrierbare Evidenz“ weist darauf hin, daß es ein bestimmtes Ausmaß demonstrierbaren und möglicherweise auch hypothetischen (Laborexperimente) Schadens geben muß, um ein Problem zu identifizieren: Akuter aktueller Schaden wäre also die manifesteste Form von demonstrable evidence. — „Technische Vernunft“ — auf der Basis von demonstrierbarer Evidenz — bedeutet eine bestimmte Quantität und Qualität technisch-naturwissenschaftlicher Informationen zum Verständnis des Problems und zur Entwicklung von Problemlösungen mit ausreichend präziser Wirkung. — „Politische Durchsetzbarkeit“ ist eine notwendige politische Bedingung insoweit, als sichergestellt sein muß, daß Aktionen den Beifall der Öffentlichkeit (besser: der Wähler) finden.
Für die beiden letzten Aspekte existieren nach diesem Ansatz auch kritische Schwellen: Zur Identifizierung und Bewältigung des Problems ist ein gewisses technisches Verständnis und öffentliches Problembewußtsein notwendig. Konsequenterweise wird die wesentliche Barriere für antizipative Politik (Vorsorge/Prävention) darin gesehen, daß die Problembearbeitungsprämissen bei technischer Rationalität und/oder öffentlichem Bewußtsein nicht oder nicht in ausreichendem Maße gegeben sind.
Was sind nun die Anknüpfungspunkte, um die Proportionen von Nachsorge zu Vorsorge zu verschieben, also letztlich Umweltpolitik zu ermöglichen, wenn das Schadensniveau noch niedrig (im Extremfall gleich null) ist? — Eine etwas zweifelhafte Möglichkeit kann darin liegen, den Beginn der Schadenskurve zu verzögern, um auf diese Weise Zeit zur Informationserzeugung/-verarbeitung bezüglich eines Problems zu gewinnen. Problematisch dabei ist, daß dies wohl kaum gelingen dürfte, wenn bereits Aktivitäten zur Verringerung des Schadensausmaßes in die Wege geleitet wurden, und vor allem, daß die Strategie des Zeitgewinns dann erhöhte Kosten erzeugt, wenn die Hoffnung auf die Geringerwertigkeit des Problems sich nicht erfüllt. — Vorteilhaft erscheint dagegen die Strategie, die Forschung zu intensivieren und die Verarbeitung technischen Wissens zu beschleunigen (die Lernkurve anzuheben) oder zeitlich vorzuziehen, ebenso auch die Strategie der Erhöhung des Umweltbewußtseins mit analogen Mitteln. Im Hinblick auf letzteres sind vor allem Verfahren wie Umweltverträglichkeitsprüfung oder generelle Teilhabe betroffener Gruppen in umweltrelevanten Entscheidungsprozessen von Bedeutung. — In ähnliche Richtungen weisen auch Methoden, die auf eine Senkung der „kritischen Schwellen“ zielen: Bei dem Aspekt der kritischen Informationsschwelle (How much information is enough?) geht es darum, „satisficing behavior“ auf Seiten der politischen Akteure zu fördern, also zu einem früheren Zeitpunkt festzustellen, daß genügend Informationen vorhanden sind. Unterschiedliches Regierungsverhalten bezüglich Umweltproblemen ist wohl häufiger ein Ergebnis differierender Antworten auf die Frage, wieviel Information genug ist, als ein Produkt effektiv unterschiedlicher Informationslagen. Auf der anderen Seite bedeutet auch nicht ausreichende Information in bezug auf die jeweiligen Probleme nicht immer dasselbe: Scimeni berichtet von Ländern, die wegen zu geringer Schadensinformation gegen die Reduzierung von Schwefeldioxydausstoß aus Kraftwerken waren, die sich aber ebenfalls aufgrund zu geringer Informationen für Walfangstopp aussprachen. Ähnlich diffizil ist auch das Senken der kritischen Schwelle in der öffentlichen Meinung: Ein gegebenes Unterstützungsniveau mag einem Politiker mit Vertrauensvorschuß (Glaubwürdigkeit/Verantwortung) zur politischen Aktion ausreichen, einem anderen hingegen nicht. Es ist aber unsicher, ob dieses Kalkül wirklich zutrifft: Nach Umfragedaten denken die Bürger viel langfristiger als die Politiker handeln Die von in. relativ kurzen Abständen aufeinander folgenden Wahlen abhängigen Politiker scheinen diesem Präferenzmuster allerdings nicht zu trauen; nicht die Bewußtseinsschwelle der Öffentlichkeit sollte gesenkt werden, sondern die des Politikers bzw.der politischen Institutionen mit Hilfe geeigneter institutioneller Innovationen.
Es gibt also eine ganze Reihe von Versuchen, die hier keinesfalls erschöpfend behandelt wurden, das Vorsorgeprinzip konzeptionell in den Griff zu bekommen. Sie sind aber, wenn man von Jänickes Ansatz absieht, überwiegend zu wenig handhabbar und pragmatisch, um das Vorsorgeprinzip konzeptionell abzusichern. Es verwundert daher nicht, daß man häufiger Maßnahmenkataloge findet, die dem Vorsorgeprinzip zugerechnet werden und Konkretisierungsversuche des Prinzips (und seines Ziel-spektrums) selbst.
Zu diesen Maßnahmen zählen beispielsweise: — Transfer des Vorsorgegedankens in umweltrelevante Politikbereiche (Wirtschafts-, Energie-, Technologie-, Agrarpolitik) via UmweltVerträglichkeitsprüfung, Technikfolgenabschätzung (Technology Assessment) oder Vetorecht des Umweltministers; — Verbesserung der Umweltberichterstattung; — Ausweitung der Umwelthaftung;
— Verbreiterung der Partizipation von Betroffenen (Verbandsklage);
— Vorsorgepflicht mit Individualschutz (analog Gefahrenabwehr);
— Verschärfung des Umweltstrafrechts;
— Dynamisierung des technischen Fortschritts;
— Ausbau der Umweltforschung zu einer gesamt-ökologischen Forschung (Schadstoffinterdependenzen); — Ausbau der Umweltverträglichkeitsprüfung über die EG-Richtlinie hinaus.
Es steht dabei außer Frage, daß diese Maßnahmen entweder direkt vorsorgebezogen sind oder indirekt Basisbedingungen schaffen bzw. modifizieren, aus denen Entscheidungen mit vorsorgendem Charakter folgen könnten. Zur Konkretisierung des Ziel-spektrums allerdings trägt ein solcher Katalog wenig bei; offensichtlich besteht ein zwar weitgehendes Einverständnis über das denkbare Vorsorgeinstrumentarium, aber ein Definitionsmangel bzw. ein Dissens bezüglich des Zielspektrums. Drastisch gesagt: Rationalität kann bei einer solchen Strukturierung nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Von daher ist die restriktive Interpretation von Vorsorge in der herrschenden juristischen Lehrmeinung sehr wohl verständlich. 6. Die ökonomische Sicht von Vorsorge Nach diesen Interpretationen auf der Basis politischer Programmatik sowie der rechts-und politik-wissenschaftlichen Theorie müssen wir nun die Frage stellen, ob die Ökonomie als die Wissenschaft vom Management der Knappheit Wesentliches zur Füllung und Konkretisierung des Begriffs leisten kann. Letztlich ist ja mit dem Vorsorgeprinzip ein Problem dynamisch-effizienter Allokation von Gütern (also auch Umweltgütern) angesprochen, und von daher ist die Ökonomie auch die zuständige Disziplin. Man kann sich dieser Frage dabei aus zwei Richtungen nähern: Zum einen aus der des Zusammenhangs von Risikoallokation und Vorsorge (Umweltschäden als Unsicherheitsproblem) und zum anderen aus einer wohlfahrtstheoretischen Richtung, die ökologische und ökonomische Aspekte zu integrieren versucht. Im folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse dieser Betrachtungsweise skizziert
Bei den Zusammenhängen von Risikoallokation und Vorsorge wäre im Idealfall jede instrumentelle oder institutioneile Regelung differenziert nach den einzelnen Umweltrisiken zu untersuchen; aufjeden Fall aber kann eine plausible vorsorgepolitische Rangfolge variierender institutioneller Arrangements erarbeitet werden, an deren einem Ende (negativ) das Gemeinlastprinzip und an deren anderem Ende (positiv) die Formulierung durchsetzbarer Haftungsregeln steht. Die vorwiegend praktizierte Umweltpolitik mit Auflagen/Genehmigungsverfahren ist zwar vom Typ her dem Verursacherprinzip zuzurechnen, genügt aber offensichtlich nicht den Ansprüchen an eine risikoreduzierende Anreizstruktur — im Gegensatz zum „praktikablen“ Instrumententyp der umweltpolitischen Lenkungsabgabe und — im Extrem — zum haftungsrechtlichen Instrumentarium, das konsequent gehandhabt allerdings zu gravierenden Auswirkungen auf die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft führen könnte. Es ist nämlich in höchstem Maße relevant, welche spezifische Ausprägung die Haftungsregeln in bezug auf erst nachträglich bekanntwerdende Schäden aus Produktion oder Produkten aufweisen: Zwar gehören das Prinzip des Privateigentums an Produktionsmitteln bei Vertragsfreiheit und voller Haftung ebenso wie die staatliche Verhinderung der Ausbeutung von Mensch und Natur zu den konstituierenden und regulierenden Elementen einer marktwirtschaftlichen Ordnung (Eucken); aber auch die Konstanz der Wirtschaftspolitik als konstituierendes Prinzip sollte hier eine neue restriktive Interpretation finden in dem Sinne, daß im voraus nicht absehbare und abschätzbare (Umwelt-) Kosten den Verursachern nicht nachträglich angelastet werden können. Im anderen Fall würde dies das Ende oder zumindest einen hohen Bedeutungsverlust jeder rationalen Wirtschaftlichkeitsrechnung auf der dezentra-len Ebene bedeuten und ordnungspolitisch destabilisierend wirken.
Festzuhalten bleibt abermals, daß mit marktwirtschaftlichen Instrumenten (und Haftungsregeln gehören dazu, mehr noch: Versicherungsprämien wären die individualisierteste Umweltabgabe überhaupt) gleiche Umweltziele zu geringeren Kosten oder zu gleichen Kosten höhere Ziele erreicht werden können. Zudem können vergleichsweise hohe Transaktionskosten (z. B. mangelnde Verwaltungseffektivität) vermieden und Anreizwirkungen im Hinblick auf umweltfreundlichen technischen Fortschritt hervorgerufen werden; aus dieser Sicht wird das Vorsorgeprinzip dann idealiter zu nichts anderem als der konsequenten Durchsetzung des Verursacherprinzips in bezug auf zukünftige Umweltschäden und -risiken. Anders ausgedrückt: Eine von der Semantik des Begriffs herrührende vorsorgepolitische Ausrichtung hin zu planwirtschaftlichem command-and-control reduziert (auch) das in bezug auf Umweltqualität Erreichbare. eine marktwirtschaftliche und verursacherprinzipsgerechte Wahl der Instrumente steigert es. Das Vorsorgeprinzip hätte dann im umweltpolitischen Prozeß nur Leitlinienfunktion und vermittelte bestenfalls eine Orientierungstendenz in bezug auf die Ziel-und Zeitdimensionen bei der Auswahl von (ökonomischen) Instrumenten.
Diese Favorisierung ökonomischer/marktwirt-schaftlicher Instrumente könnte allerdings ebenso Probleme aufwerfen, wenn ökologische und ökonomische (effizienzorientierte) Optima systematisch auseinanderfallen. Man kann diesen Fall in einem integrativen ökologisch-ökonomischen Analyse-rahmen untersuchen. Analytisch gelangt man dabei zu dem Ergebnis, daß vom Emissions-oder Output-niveau her die ökonomischen Optima systematisch höher liegen als ökologisch sichere Optima, solange die Kurve der marginalen externen Kosten (also der Umweltschäden) nicht vertikal verläuft, also weiteres Wachstum Umweltschäden in unendlicher Höhe impliziert. Daran ändert sich auch nichts, wenn man die Effekte technischen Fortschritts im Sinne einer Absenkung der Emissionsfunktion (der Emissionen pro Outputeinheit) in die Analyse einbezieht. Allerdings könnte man, wenn die Gesellschaft dies akzeptiert, mit Hilfe umweltfreundlichen technischen Fortschritts Situationen realisieren, die steigende Umweltqualität und steigende materielle Wohlfahrt simultan gewährleisten und auch zum Abbau akkumulierter Schadstoffe (Altlasten) beitragen. Eine umweltbewußte Gesellschaft müßte also zu früheren Zeitpunkten (und höheren Assimilationskapazitäten resp. Outputniveaus) die Optimierung sowohl ökonomischer als auch ökolo11 gischer gesellschaftlicher Anstrengungen (auf der Basis hypothetisch unendlicher Umweltschäden) „beschließen“.
Alles zusammengenommen läßt sich aber zeigen, daß eine ideale Mehrperioden-Kosten-Nutzen-Analyse immer das ökologische auch als das langfristige ökonomische Optimum identifizieren würde; nur in der ersten Periode (und deren Länge ist offen) ist der Nettonutzen ökonomischer Optimierung höher. Dies aber hat offensichtlich fatale Konsequenzen: Bei kurzfristiger Perspektive — und repräsentative demokratische Systeme tendieren wohl dahin — besteht immer eine Ausrichtung auf ein kurzfristiges ökonomisches Optimum hin und damit immer eine Tendenz zur Nachrangigkeit ökologischen Fragestellungen mit dem langfristigen Risiko des Zusammenbruchs ökologischer Systeme — und im Extremfall der Lebenserhaltungssysteme der Menschheit.
III. Schlußfolgerungen
Offensichtlich kann umweltpolitische Vorsorge oder präventive Umweltpolitik durchaus mehr sein als pure Utopie oder Banalität; es ist aber ebenso offensichtlich, daß der Begriff „Vorsorge“ — obwohl er semantische Vorzüge im politischen Gebrauch aufweist — überaus unscharf ist und sich Abgrenzungs-und Definitionsversuchen leicht entzieht. Von der politischen Programmatik her und auf der Basis der Exegese von OECD-Texten läßt sich ableiten, daß vorsorgende Umweltpolitik durch eine langfristige Ausrichtung und im besonderen durch eine Intensivierung umweltfreundlichen technischen Fortschritts gekennzeichnet ist — zwei Elemente des Vorsorgeprinzips, die in den „Leitlinien Umweltvorsorge“ des Bundesumweltministeriums durch das spezifische intergenerative Argument (Erhaltung von Freiräumen für die Entfaltung zukünftiger Generationen) ergänzt Und akzentuiert werden.
Die juristische Interpretation von Vorsorge in der herrschenden Meinung ist — gewissermaßen als Implementationsschranke politischen Willens — überaus zurückhaltend und konservativ: Einem konkreten Gefahrenverdacht sollte mit risikoproportionalen Maßnahmen begegnet werden. Dabei bleibt festzuhalten, daß die rechtliche Interpretation von Vorsorge offensichtlich den originären Bereich des Prinzips — den (abstrakten) Verdacht in bezug auf Risiken, die nach Größe und Wahrscheinlichkeit unbekannt. sind — aus dem Operationsgebiet hinausdefiniert, und zwar mit dem Argument, daß die Proportionalität der Maßnahmen so nicht nach rationalen Maßstäben gemessen werden kann.
Offener und progressiver, aber auch konkreter, sind die politikwissenschaftlichen Interpretationsversuche des Vorsorgeprinzips: Wenn man von Unterschieden in Nuancen absieht, wird Vorsorge jeweils mit Strukturveränderung und/oder umweltfreundlicher Modernisierung existierender Strukturen in Verbindung gebracht — zum Beispiel mit ökologischer Modernisierung der Produktion durch umweltfreundliche Technik. Daß eine derart vorsorgende Umweltpolitik in demokratischen Staaten an eine Reihe von Bedingungen geknüpft ist, die sich aber ebenso als politische Optionen definieren lassen, wurde besonders herausgestellt. Jedenfalls kann als Zwischenergebnis dieser Analyse von Interpretationsversuchen des Vorsorgeprinzips festgehalten werden, daß mit Ausnahme weniger „Korsettstangen“, die dem Prinzip etwas Halt geben, der Konsens über Einzelmaßnahmen mit vorsorgepolitischem Gehalt weitaus größer ist als über die inhaltliche Abgrenzung und das Zielspektrum des Prinzips selbst. Bei soviel definitorischer Unschärfe (und daraus folgender Beliebigkeit) kann man die restriktive rechtliche Interpretation durchaus nachvollziehen.
Was die ökonomische Analyse letztlich zur Klärung dieses Problems beitragen kann, ist auch eher zwiespältig zu sehen: Ganz eindeutig läßt sich jedenfalls zeigen, daß theoretisch begründet prinzipiell keine Veranlassung besteht, vom „altehrwürdigen“ Verursacherprinzip als Leitlinie zur Internalisierung negativer Effekte abzuweichen; im Extremfall würden die zuvor skizzierten Elemente des Vorsorgeprinzips erfüllt, soweit alle potentiell auftretenden (und relevanten) externen Effekte (und ihre gemeinsame Wirkung) berücksichtigt würden, vollkommene Transparenz über die Systemzusammenhänge existierte, die Analyse dynamisch vollzogen und die „richtigen“ Instrumente gewählt würden. Eine besondere Betonung des Vorsorgeprinzips zu Lasten des Verursacherprinzips ließe sich also nur dadurch rechtfertigen, daß diese Idealbedingungen nicht ausreichend erfüllt sind oder die politischen und gesellschaftlichen Mechanismen, die strukturell auf eine Erfüllung dieser Bedingungen hinwirken, defizitär sind. Solche Mechanismen umfassen dabei primär das gesellschaftliche Bedürfnis nach wissenschaftlicher Information und die Möglichkeiten zur empirischen Schätzung der jeweiligen Optima. Sollte letztere noch Mängel aufweisen, geht es zumindest um eine politisch-institutionelle (Prozeß-) Gestaltung der ökologischen Zukunftjenseits von rational begründbaren Gewißheiten, die im Ergebnis das Gleiche bewirken können, also beide eine Tendenz zur Sicherheit in Umwelt-fragen aufweisen. Das Schwergewicht müßte dabei wohl auf dem zweiten Instrument der Gestaltung anhand vermuteter Risiken liegen, denn selbst falls positive Analysen die beiden Optima (die im Idealfall identisch sind) bestimmen könnten, besteht kaum Gewißheit, daß gegebene politische Prozesse und kollektive Institutionen den ökologisch sicheren Punkt auch faktisch realisieren — Politik in repräsentativen Demokratien ist eben notorisch kurzfristig angelegt und kurzsichtig. Im formal entwik-kelten Kontext würde Vorsorge dann nichts anderes bedeuten, als bei begrenzter und damit unvollkommener Information ein Outputniveau politisch zu realisieren, das eine Senkung der Assimilationskapazität ökologischer Systeme verhindert. Das kann eben auch implizieren, daß Outputniveaus temporär unterhalb des jeweiligen ökologischen Optimums angestrebt werden, um Altlasten entsprechend abbauen zu können.
Auf der anderen Seite aber ist evident, daß das so interpretierte Vorsorgeprinzip bzw. eine präventive Umweltpolitik im Kern eine Entscheidung der Gesellschaft (des politischen Systems) bezüglich der Ressourcenverteilung zwischen den Generationen beinhaltet und damit eine Frage der jeweiligen sozialen Zeitpräferenz ist. Kirsch hat gerade diesen Aspekt auf den Punkt gebracht: „If our fellow men are to live (decently) in the future, we have to love them in the present.“ Das Ausmaß, mit dem wir heute unsere zukünftigen Mitmenschen lieben, ist aber sehr unterschiedlich ausgeprägt — die soziale Zeitpräferenz ist also nichts anderes als der Ausdruck eines intragenerativen Konflikts über intergenerative Verteilung von natürlichen Ressourcen.
In dieser Sichtweise hat das Vorsorgeprinzip durchaus seine Berechtigung — als Korrektiv zugunsten zukünftiger Generationen in diesem heutigen Verteilungskonflikt. Die Frage ist nur, ob die Korrektivfunktion unbedingt in ein umfassendes System von „generic commands“ (also ein umfassendes System von Ge-und Verboten) a la Pearce münden sollte. Bei allem begründeten Pessimismus bezüglich der Fähigkeit repräsentativer demokratischer Systeme, die Umweltkrise zu bewältigen, ist nicht zu übersehen, daß autokratische oder nicht-repräsentative Systeme selbst externe Kosten des Entscheidungsverfahrens in höchstem Ausmaß produzieren. Zieht man also aus guten Gründen Prozesse demokratischer Willensbildung vor, dann findet das Vorsorgeprinzip im Sinne von generic commands dort seinen Anwendungsbereich, wo die Lebenserhaltungsfunktionen der Umwelt durch irreversible Verluste elementar bedroht sind. Für die übrigen Bereiche ist das komplexe Ziel einer optimalen Risikoallokation anzusteuern: Es geht um die Realisierung einer optimal risikoreduzierenden Anreiz-struktur — und um institutionelle Arrangements zur Reduzierung des Informationsdefizits und zur Beseitigung des Schwarzfahrer-Problems (den Nutzen eines öffentlichen Gutes ohne eigenen Kosten-beitrag genießen zu wollen). Diese Ziele aber können durch spezifische commands (Regulierung durch Auflagen) gesetzliche Regelungen nicht erreicht werden, sondern nur durch marktwirtschaftliche Lösungen im Sinne langfristiger Anreize (OECD) zur Intensivierung umweltfreundlichen technischen Fortschritts und — daraus folgend — zur Vermeidung umweltbelastender Handlungen. Auch der technische Fortschritt bzw.seine Förderung können nicht dazu beitragen, das ökologische Defizit gegenüber dem ökonomischen Vorteil aufzuheben; dies kann nur durch bewußte gesellschaftliche Entscheidung geschehen. Man kann es deshalb nicht oft genug betonen: Umweltpolitische ökonomische Instrumente, die technologische Innovationen induzieren — insbesondere im Bereich von prozeßorientierten Technologien —, sind aufgrund der anreizbestimmten Senkung der Emissionsmengen in bezug auf die Assimilationskapazität langfristig weitaus positiver zu beurteilen als Instrumente, die diese Eigenschaft nicht besitzen. Daß diese Instrumente eine starke präventive Komponente besitzen, sie aber im Kontext des Verursacherprinzips entwickelt worden sind, disqualifiziert sie nun keineswegs dazu, auch in das Instrumentarium einer präventiven Umweltpolitik und damit in die Domäne des Vorsorgeprinzips aufgenommen zu werden. Dies ist — ganz im Gegenteil — ausdrücklich erforderlich und notwendig, falls sich hier ein Übergewicht regulativer und planwirtschaftlicher Instrumente finden sollte, die in den semantischen Kontext von Vorsorge ja sehr gut passen.
So gesehen wird die kontinuierliche umweltfreundliche technologische Anpassung mit Hilfe eines entsprechenden verursacherprinzipsgerechten, marktwirtschaftlichen Instrumentariums zu einem Hauptelement eines inkremental interpretierten und da-mit auch technologieorientierten Vorsorgeprinzips. Gleichzeitig wird das Nachdenken über ein ökologisch orientiertes Abgabensystem beispielsweise zu einem wichtigen, wenn auch ziemlich profanen Ausdruck heutiger Liebe zu zukünftigen Generationen. Nur unter diesem zurückgenommenen Anspruch und in inkrementaler Interpretation ist das Vorsorgeprinzip auch der Name einer Lösung und nicht nur die Bezeichnung eines Problems.