Das Jahr 1989 brachte für Europa eine dramatische politische Wende: Der Ost-West-Konflikt, der in verschiedenen Ausprägungen (Kalter Krieg, Entspannung, erneuter Kalter Krieg, erneute Entspannung) die Entwicklung Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestimmte, ist zu Ende gegangen. Welche Struktur an seine Stelle treten wird, läßt sich derzeit mit Bestimmtheit noch nicht absehen, aber es wird nicht die Struktur einer die internationale Politik beherrschenden Bipolarität sein.
Mit den tiefgreifenden Veränderungen ist auch den bisherigen Analysen der Boden entzogen worden. Der politische Diskurs über die Ost-West-Beziehungen, der vor allem auf Europa und nur zwischenzeitlich auch auf regionale Konflikte in der Dritten Welt zentriert war, wird ganz neu beginnen müssen: Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes steht nunmehr eine neue politische Architektur Europas zur Diskussion.
I. Lagebeurteilung
1. Das Ende des Ost-West-Konfliktes Wie tiefgreifend die im Jahre 1989 kulminierenden Veränderungen sind, läßt schon ein kursorischer Rückblick auf die in den vergangenen 15 Jahren vorherrschende, von vielen in Wissenschaft und Politik geteilte Argumentation erkennen: Der Kern des Ost-West-Konfliktes wurde dort in den ordnungspolitischen und ideologischen Unterschieden zwischen den demokratischen Rechtsstaaten der westlichen Gesellschaften einerseits und der „Diktatur des Proletariats“ in den Gesellschaften des real existierenden Sozialismus andererseits gesehen. Zwar wurden in differenzierten Analysen viele unterschiedliche Nuancen innerhalb der Systeme im einzelnen beobachtet, doch galten die strukturellen Unterschiede zwischen den beiden politischen Ordnungen als so gravierend, daß praktisch niemand ihre Überwindung in naher Zukunft für wahrscheinlich hielt. Auch die Konvergenz beider Systeme, die noch in den fünfziger und sechziger Jahren diskutiert wurde, galt als eine äußerst unwahrscheinliche Entwicklung. Aus dieser Prämisse wurde gefolgert, daß angesichts eines anhaltenden Grundkonfliktes eine Verbesserung der Beziehungen im Sinne einer breitgefächerten Vertragspolitik, kleiner Schritte im Hinblick auf kooperative Zusammenarbeit in einzelnen Bereichen und menschlicher Erleichterungen anzustreben sei. Man folgte damit der Einsicht, daß der Konflikt die eine Sache sei, seine Bearbeitung aber eine ganz andere: Der Entspannungsund Kooperationspolitik ging es um eine veränderte Konfliktbearbeitung unter der Bedingung eines anhaltenden Konfliktes. Insbesondere sollten die Androhung von Gewalt sowie militärische Gewaltanwendung als Mittel der Politik prinzipiell ausgeschlossen und durch Kooperation auf allen Ebenen ersetzt werden, die eine Vielzahl von neuen Verstrebungen innerhalb der Ost-West-Beziehungen bewirken sollte. Beide Vorgänge hatten eine Zivilisierung des Konfliktes zum Ziel. An die Stelle einer im wesentlichen in Macht-projektionen begründeten Politik wechselseitiger Abschreckung, in der es nur begrenzt zu Kooperation kam, sollte eine Politik kooperativer Friedens-gestaltung trotz anhaltender ordnungspolitischer Differenzen treten.
Im Sinne dieser Politikziele gab es vor allem während des KSZE-Prozesses eine jahrelange Diskussion über zustimmungsfähige gemeinsame Verhaltensprinzipien zwischen Ost und West: Die östlichen Staaten betonten dabei Grundsätze wie die souveräne Gleichheit aller Länder und die Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte sowie die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, während der Westen mit Nachdruck die Achtung der Menschenrechte und die Gewährung von Grundfreiheiten einforderte. Auf der diplomatischen Ebene waren die Auseinandersetzungen um Solche prinzipiellen Forderungen langwierig, doch kam es schließlich in der Folge der außenpolitischen Neuorientierung der Sowjetunion nach 1985 zu bemerkenswerten Übereinstimmungen. Natürlich blieb offen, inwieweit der aufdiplomatischer Ebene gefundene Kompromiß-Konsens über den Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten im Alltag der sozialistischen Gesellschaften verwirklicht werden würde.
Angesichts des Übergangs von Polen und Ungarn zu pluralistischen Systemen, der dynamischen demokratischen Entwicklungen in der DDR und der Tschechoslowakei (evtl, sogar in Bulgarien) sowie der Beendigung der Diktatur in Rumänien sind diese Prämissen, die auf der herkömmlichen Analyse des Ost-West-Konfliktes beruhen, und eine ihr entsprechende friedenspolitische Argumentation nur noch von historischem Interesse. Denn was niemand erwartete: Der Ost-West-Konflikt hat sich in seinem Kem aufgelöst. Treten in der Folge der im wörtlichsten Sinne revolutionären politischen Umwälzungen in den Ländern Osteuropas an die Stelle der kommunistischen Einparteien-Diktaturen pluralistische politische Systeme, in denen Meinungsvielfalt, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit zu den tragenden Prinzipien einer neuen politischen Ordnung gehören, ist der Konflikt zwischen Ost und West beseitigt, der in den späten vierziger Jahren mit der Sowjetisierung Osteuropas nach stalinistischem Modell einsetzte. Gibt es den ordnungspolitischen Konflikt als anhaltende Rahmenbedingung der Ost-West-Beziehungen nicht mehr, dann stellt sich auch nicht die Frage einer anderen Bearbeitung des Konfliktes im Sinne seiner Zivilisie-rung. Dies alles heißt nicht, daß nicht andere und neue Konflikte auftreten werden: Sie sind sogar äußerst wahrscheinlich. Doch werden sie nicht mehr in den grundlegenden Positionsdifferenzen zweier politischer Ordnungen begründet sein. Auch wird es auf gesamteuropäischer Ebene weiterhin Auseinandersetzungen über den angemessenen Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten geben, nunmehr allerdings nicht mehr im Rahmen einer fundamentalistischen Kontroverse, sondern fallweise und unter pragmatischen Gesichtspunkten, analog zu Vorgängen im westeuropäischen Zusammenhang, z. B. zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit entsprechenden Institutionen und Prozeduren. 2. Rückkehr zur Normalität Der Aufbau von demokratischen Rechtsstaaten und Strukturen des politischen Pluralismus in Osteuropa wird menschliche Kontakte und politische Kommunikation zwischen Ost-und Westeuropa erheblich erleichtern, so daß es allmählich zu einer Normalisierung der Beziehungen kommen wird. Jahrzehntelang bestand die von den östlichen Staaten verfolgte Politik der Abgrenzung gegenüber dem Westen in der Unterbindung von Kontakten, der Erschwerung von Kommunikation und einer überwachten Kulturdiplomatie. Extreme Formen dieser Politik waren in der zweiten Hälfte der achtzigerJahre nur noch in Ausnahmefällen wie der DDR.der Tschechoslowakei und vor allem in Rumänien zu beobachten. Doch waren die entsprechenden Defizite bei der Beseitigung überlebter Verhaltensmuster auch andernorts immer noch so erheblich, daß im Abschließenden Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens vom Januar 1989 erneut umfangreiche Vorschläge zur weiteren Normalisierung menschlicher Beziehungen sowie zur Verbesserung von Information und Kommunikation aufgelistet werden mußten. Hätten Anfang 1989 schon alle Reiseerleichterungen bestanden, die am Ende desselben Jahres fast schon zur Selbstverständlichkeit wurden und wären die Verbreitung und der Austausch von sowie der freie Zugang zu Informationen, vor allem die ungehinderte Arbeit von Journalisten, seinerzeit schon so gesichert gewesen wie ein knappes Jahr später, hätte es der in vielen Monaten ausgehandelten KSZE-Vereinbarung gar nicht bedurft. Noch im Januar 1989 betrafen die in dem genannten Dokument bemängelten Defizite ganz naheliegende Sachverhalte: die Familienzusammenführung, Verwandtenbesuche, den Sportaustausch, die Städtepartnerschaft, Jugend-reisen, die Erleichterung der Arbeit von Journalisten, die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Forschungsinstituten. Filmwochen usf. Es ist schwer vorstellbar, daß sich eine weitere KSZE-Folgekonferenz noch einmal mit solchen Angelegenheiten wird beschäftigen müssen, denn die Emanzipation der osteuropäischen Gesellschaften wird eigendynamisch zu einem breitgefächerten Austausch zwischen den gesellschaftlichen Gruppen Ost-und Westeuropas führen. Damit wird jene Kooperation Zustandekommen, die bisher nur in friedenspolitischen Strategien abstrakt als überfällige „Entspannung von unten“ gefordert wurde.
Wenn es also den Ost-West-Konflikt nicht mehr gibt, dann ist auch die durch ihn seinerzeit erzeugte Spannung beseitigt — und damit wird auch das friedenspolitische Programm einer „Entspannung von unten“ gegenstandslos. Tatsächlich wird es zu einer Normalisierung von zwischenmenschlichen Kontakten und von grenzüberschreitender Kommunikation kommen, deren Gepflogenheiten und Ausmaß sich nicht wesentlich von Vorgängen in anderen Teilen Europas unterscheiden werden. Ganz andere Probleme als die bisherigen werden dabei zutagetreten: Auseinandersetzungen über die Verfügbarkeit von Devisen als Grundlage für Reisen, über die zeitweilige Arbeitserlaubnis für DDR-Bürger und Osteuropäer in westlichen Ländern, über die Regelung der Sozial-und Rentenversicherung für Arbeitsmigranten usf. Kurz, die Zeit der frustrierenden Verhandlungen über solche Tauschgeschäfte wie menschliche Erleichterungen gegen finanzielle und ökonomische Konzessionen ist vorbei. Das Ende der politischen Verfolgungen in der DDR bedeutet auch ein Ende des Freikaufs von politischen Gefangenen. Kooperation hat nunmehr sowohl auf der diplomatisch-staatlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene ganz neue Handlungsspielräume. 3. Das ökonomische Gefalle von West nach Ost Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat auch erhebliche Folgewirkungen für den ökonomischen Bereich. Solange der Konflikt bestand, waren die Überlegungen diesbezüglich darauf gerichtet, eine ökonomische Kooperation zustandezubringen, die der Vertrauensbildung dient und dazu beiträgt, die politischen Beziehungen kalkulierbarer zu machen. Ökonomische Vernetzungen sollten potentielle politische Erschütterungen (z. B. Rückfälle in den Kalten Krieg) abfedem helfen. Im übrigen wurde unterstellt, daß sich die ökonomischen Beziehungen zwischen den vorhandenen maßgeblichen Wirtschaftssubjekten, also westlicherseits den Konzernen und östlicherseits den Staatshandelsbetrieben, abspielen würden. Östlicherseits ging man selbstverständlich von der staatlichen Reglementierung solcher Beziehungen aus (Planvorgaben, Außenhandelsmonopol des Staates). Auch diese friedenspolitische Strategie kann ad acta gelegt werden: Ein Konflikt, der nicht mehr existiert, bedarf nicht mehr der Einhegung durch ökonomische Interdependenz. Das heißt nicht, daß die künftigen Ost-West-Bezie-hungen dadurch problemlos geworden sind. Schon die Interdependenz-Strategie stieß auf erhebliche strukturelle Schwierigkeiten: Die offensichtlichen ökonomischen Probleme im Innern der Staatshandelsländer zeigten sich besonders deutlich in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen, die durch mangelnde internationale Konkurrenzfähigkeit gekennzeichnet sind. Wettbewerbsfähige Güter eines hohen Verarbeitungsgrades hatten die Staatshandelsländer in der Regel nicht anzubieten. Mit Gütern niedrigen und mittleren Verarbeitungsgrades können sich die westlichen Industrieländer aus den Schwellenländern der Dritten Welt versorgen. Damit blieben, mit Ausnahme der Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion, die Handlungsspielräume in den Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen aus strukturellen Gründen begrenzt.
Heute stellt sich eine ganz andere Ausgangslage: Das Ende des Ost-West-Konfliktes läßt das ökonomische und technologische Gefälle zwischen Westund Osteuropa erneut offen zutage treten. Erneut deshalb, weil dieses Gefälle älter ist als die Mißwirtschaft des real existierenden Sozialismus. Wirtschaftsgeschichtlich gesehen, reicht die West-Ost-Kluft in Europa (mit Ausnahme des Wirtschaftsraumes von Böhmen und Mähren) bis in das 16. Jahrhundert zurück. Nach 1950 hatte die planwirtschaftUche Programmatik zum Ziel, diese traditionelle Kluft zwischen den industriellen Vorreiter-Ökonomien Nordwesteuropas und den Nachzüglern Ost-und Südosteuropas zu überwinden („Einholen und überholen“). Dabei wurde mit dem bekannten Instrumentarium der Befehlswirtschaft gearbeitet. Dieser Weg ist gescheitert, weil sich seine Institutionen und Instrumentarien als nicht anpassungsfähig und reformierbar erwiesen. Das Ergebnis war ein allenthalben zu beobachtender Verfall ökonomischer Leistungsfähigkeit mit nunmehr sichtbaren dramatischen Folgen für die politische Ordnung.
In dieser Lage stellen sich wirtschaftliche Aufgaben. die aus den Nord-Süd-Beziehungen (die eigentlich West-Süd-Beziehungen genannt werden müßten) bekannt sind: Es gilt, ökonomische Ko-, operationsformen zu finden, die das strukturelle Gefälle von West nach Ost nicht vertiefen, sondern abmildem und ggf. langfristig überwinden helfen. Ein solches Programm hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingt, den selbstverursachten Leistungsverfall der Ökonomien Osteuropas und der Sowjetunion einzudämmen und zu überwinden mit dem Ziel, die Versorgungslage im Innern zu verbessern und zumindest in Teilbereichen auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu werden. Um ein solches Ergebnis zu erreichen, bedarf es besonderer Anstrengungen auf beiden Seiten: zum einen tiefgreifender Reformen in den bisherigen Staatshandelsländern, also mehr als nur Korrekturen am Rande, zum anderen erheblicher Konzessionen, einseitiger Präferenzen und Hilfsmaßnahmen ä fonds perdu auf westlicher Seite. Erst die Kombination beider Maßnahmen bietet eine gewisse Gewähr, daß sich die Disparitäten nicht vertiefen, sondern verringern werden. Trotz aller offensichtlicher Mängel in Infrastruktur, maschineller Ausstattung und betrieblicher sowie volkswirtschaftlicher Organisation dürften die Erfolgschancen eines Reformprozesses in Osteuropa generell besser sein als in Ländern der Dritten Welt, zumal auf einen hohen Ausbildungsstand und eine Vielzahl von Fachkräften zurückgegriffen werden kann. Einzelne ökonomische Maßnahmen, die auch schon unter dem Vorzeichen der „Vertrauensbildung in der Folge ökonomischer Interdependenz“ diskutiert wurden wie gemeinsame Unternehmen, Management-Training, eine ver33 stärkte wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, gesamteuropäische Infrastrukturvorhaben, der Ausbau des europäischen Energieverbundsystems usf., bleiben auch unter den jetzigen Bedingungen von Bedeutung; allerdings lassen sie sich nicht mehr als vertrauensbildende Maßnahmen verstehen, sondern einfach als dringend notwendige Hilfsmaßnahmen zur Sanierung und Leistungssteigerung von Volkswirtschaften, die sich grundlegend reformieren und sich tendenziell, wenngleich im Einzelfall mit unterschiedlicher Akzentuierung, .dem Typ der westlichen Ökonomien annähem müssen, wenn es zu einem Aufschwung mit breiten-wirksamen Effekten kommen soll. 4. Entleerte Prämissen der alten Sicherheitspolitik Wenn die grundlegenden politischen Positionsdifferenzen in Europa nicht mehr bestehen, wenn sich folglich die humanitäre Dimension der Ost-West-Beziehungen normalisieren wird und wenn es gelingen sollte, die Wirtschaftsbeziehungen auf den Erfolg der Reformvorhaben in Osteuropa auszurichten, was wird dann aus der herkömmlichen Sicherheitspolitik? Mehr als anderes hat Abschreckungspolitik den Ost-West-Konflikt gekennzeichnet. Sie bestand in dem Versuch, durch militärische Macht-projektion die militärischen Optionen und Gegen-optionen derjeweils anderen Seite zu durchkreuzen oder zu neutralisieren und damit den Ausbruch von militärischer Gewalt zu verhindern. Da beide Seiten, ungeachtet der jeweiligen Begrifflichkeit, eine solche Politik verfolgten, kam es zu einer anhaltenden Rüstungskonkurrenz. Ihr Ergebnis ist eine historisch beispiellose Anhäufung militärischer Potentiale. Ihnen aber liegen militärische Planungen für Eventualfälle zugrunde, die schon in der Vergangenheit relativ unwahrscheinlich waren und die unter den neuen politischen Bedingungen geradewegs undenkbar werden: westlicherseits Vorstellungen über Überraschungsangriffe mit kurzer Vorwarnzeit bzw. großangelegte und raumgreifende Offensiven des Warschauer Paktes, östlicherseits Vorstellungen über den Ersteinsatz von Nuklearwaffen durch die NATO und offensive Schläge in die Tiefe des eigenen Raumes,
Diese Sicherheitspolitik hat durch die neuen politischen Rahmenbedingungen ihre politischen Prämissen verloren. Schon in den vergangenen Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die militärische Lage in einem krassen Mißverhältnis zum erreichten Niveau der politischen Entspannung und der Kooperation zwischen Ost und West steht. Auf beiden Seiten wurden deshalb konzeptuell neue sicherheitspolitische Leitideen entwickelt: Man erkannte, daß die Militärstrukturen (Waffenmix, Logistik. Einsatzpläne) möglichst defensiv, also tendenziell angriffsunfähig orientiert sein sollten und daß die vorhandenen Ungleichgewichte abgebaut werden müßten. Sicherheit sollte auf möglichst niedrigem Rüstungsniveau erreicht werden; absehbaren militärischen Instabilitäten in Krisenzeiten (Präemptionszwängen) sollte rechtzeitig entgegen-gesteuert werden. Auch rückte die Idee in den Vordergrund, daß eine konventionelle Stabilität zu einer tendenziellen Entfunktionalisierung von Nuklearwaffen kleinerer und mittlerer Reichweite führen würde. Zusammengefaßt wurden diese Überlegungen in dem Begriff gegenseitiger bzw. gemeinsamer Sicherheit. So wurde die These, daß Sicherheit nicht mehr errüstet werden kann, in fast allen politischen Lagern in Ost und West zum Gemeinplatz. Insofern hat es zumindest auf konzeptueller Ebene einen sicherheitspolitischen Lernprozeß gegeben, dessen Folgewirkungen sich in den derzeitigen Rüstungskontrollverhandlungen in Wien und ihrer erstaunlichen Dynamik zeigen.
Allerdings stellen sich mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes in der sicherheitspolitischen Dimension weit über das Mandat dieser Verhandlungen hinausgehende Fragen: Wenn die den alten Militärplänen zugrundeliegenden militärischen Eventualfälle nicht nur ganz unwahrscheinlich, sondern sogar undenkbar werden, sind dann nicht viel weitergehendere Abrüstungsschritte möglich und erforderlich, als sie bisher in Wien verhandelt werden? Wenn sich der politische Reformprozeß in Osteuropa stabilisiert, wird dann nicht eine militärische Entflechtung in Zentraleuropa vorstellbar, über die es noch vor kurzem im Hinblick auf atomwaffen-, chemie-und panzerfreie Zonen zwar grundsätzliche, aber keine auf tagespolitische Handlungschancen ausgerichtete Debatten gab? Haben nicht in der neuen Lage die Einsatzpläne für Atomwaffen jedweder Größenordnung und Reichweite vollends an Glaubwürdigkeit verloren? Wer soll in einem Europa der Rechtsstaaten noch mit Atomwaffen abgeschreckt werden? Müssen nicht die beiden Militär-allianzen nunmehr im wesentlichen zu politischen Institutionen werden, über die der Abrüstungsprozeß mit dem Ziel, eine neue Sicherheitsstruktur in Europa aufzubauen, gesteuert wird? Wird nicht unter solcher Perspektive, was vor kurzem noch undenkbar schien, vorstellbar: langfristig die Auflösung der Militärallianzen bzw. ihre Überführung in eine neue europäische Sicherheitsstruktur? Könnte ein auf demokratischen Rechtsstaaten aufbauendes Europa erreichen, was bisher in der Geschichte als Utopie erschien: ein System kollektiver Sicherheit, das, anders als die Militärallianzen herkömmlicher Art, Sicherheit nicht gegen-, sondern miteinander organisieren würde? Diese Fragen sind von unterschiedlicher Reichweite und Aktualität. Aber sie machen deutlich, daß mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes auch der überkommene sicherheitspolitische Status quo grundlegend in Zweifel gezogen werden wird. Es ist zwar unwahrscheinlich, daß dieser Sachverhalt schnell zu dramatischen Veränderungen in der Sicherheitspolitik von Ost und West und auch in den Wiener Rüstungskontrollverhandlungen führen wird, aber das Mandat für künftige Abrüstungsverhandlungen wird sich in der Folge der politischen Dynamik, die die Ost-West-Beziehungen heute kennzeichnet, wesentlich erweitern müssen. Denn es werden Abrüstungsschritte weit größeren Ausmaßes als bisher geplant vorstellbar, und — was viel wichtiger als pure Abrüstung ist — durch die neuen Entwicklungen in Osteuropa werden Handlungsspielräume für eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur eröffnet, über die es bisher nur in akademischen Randzirkeln abstrakte Diskussionen gab.
So stellt sich heute die Frage nach der künftigen politischen Architektur Europas ganz neu. Dabei kann zum einen an alte Institutionen mit veränderten bzw. erweiterten Funktionen angeknüpft werden; zum anderen wird es neuer gesamteuropäisch orientierter Institutionen bedürfen, um ein zusammenwachsendes Europa institutionell zu verklammern.
II. Perspektiven
1. Die Chance eines dauerhaften Friedens Die umfassendste Klammer für eine auf Gesamteuropa ausgerichtete Politik wird zunächst weiterhin der KSZE-Prozeß sein, in den bekanntlich die Mitglieder der beiden Militärallianzen (einschließlich der Großmächte) sowie die neutralen und nichtblockgebundenen Staaten Europas eingegliedert sind. Die Aufgabe des KSZE-Prozesses kann aber nicht mehr darin bestehen, einen Grundkonflikt (den es nicht mehr gibt) kleinzuarbeiten und durch vielfältige Verregelungen einzuhegen. Heute eröffnet sich eine viel weitreichendere und konstruktivere Perspektive für die KSZE: Es geht darum, für ein in Entwicklung begriffenes Europa der demokratischen Rechtsstaaten eine allseits akzeptierte Struktur dauerhaften Friedens zu finden und institutionell zu verankern.
Wie soll dieses künftige Europa aussehen? Soll es auf einem Netz bilateraler Abkommen aufbauen oder sich in einem multilateral-kollektiven Rahmen entfalten? Wenn ein gemeinsam ausgehandelter Rahmen das Ziel ist, wird man sich dann mit einer lockeren Vertragsgemeinschaft begnügen, also mit regelmäßigen Konferenzen der Regierungschefs, mit Regierungsausschüssen zur laufenden Konsultation, mit Fachausschüssen in naheliegenden Politikfeldern (Umwelt, Energie, Gesundheit), mit gemeinsamen parlamentarischen Gremien usf.? Oder könnte man schon frühzeitig an eine vertiefte Vertragsgemeinschaft im Sinne einer stärkeren Institutionalisierung supranationaler Foren und einer bereichsspezifischen Übertragung von Souveränitätsrechten auf gemeinsame Institutionen denken („konföderative Kooperation“)?
Um solche und auch noch darüber hinausgehende Fragen zu klären, wird sich der KSZE-Prozeß thematisch erweitern und organisatorisch verstetigen müssen. Nicht unklug wäre es, unter diesem Gesichtspunkt eine Helsinki II-Konferenz mit dem Ziel einer neuen Schlußakte (die dann allerdings eher als Zwischenakte zu verstehen wäre) anzustreben. In ihr sollten die ersten institutionellen Umrisse einer gesamteuropäischen Friedensordnung fixiert werden. Das wäre ein wichtiger, wenngleich noch tastender Schritt in Richtung auf eine langfristig anzustrebende Friedensverfassung für das gesamte Europa. In einem solchen Prozeß wäre auch die deutsche Friedensvertragsproblematik aufgehoben. Allein bei diesem ersten Schritt würde es sich um eine mehrjährige Aufgabenstellung handeln. Durch sie könnte der jetzt drohenden konzeptuellen Entleerung des KSZE-Prozesses entgegengewirkt werden.
Dem KSZE-Prozeß werden auch neue Aufgaben in der sicherheitspolitischen Dimension zuwachsen. Ein Europa der demokratischen Rechtsstaaten ermöglicht eine neue Sicherheitsstruktur, die sich langfristig nicht mehr in erster Linie der Existenz zweiter antagonistischer Militärallianzen verdankt, sondern neuen Institutionen kollektiver Sicherheit. Je erfolgreicher die jetzigen Wiener Verhandlungen sind und je weiter die Abrüstung voranschreitet, um so eher wird sich diese neue Aufgabe stellen. Allerdings werden noch auf absehbare Zeit die überkommenen Militärallianzen erforderlich sein, wenngleich ihr militärisches Gewicht ab-und ihre politische Rolle zunehmen wird. Denn in der Sicherheitspolitik sind abrupte Strukturübergänge nicht wahrscheinlich; vorstellbar und wahrscheinlich ist jedoch ein schrittweises Übergleiten von der jetzigen in eine neue Struktur. Der KSZE-Prozeß sollte als eine Plattform zur Steuerung eines solchen ein bis zwei Jahrzehnte dauernden Übergangs begriffen werden.
Demgegenüber werden andere, bisherige Aufgaben des KSZE-Prozesses gegebenenfalls auf schon bestehende europäische Institutionen übertragen. Beispielsweise ist vorstellbar, daß die demokratisch verfaßten Rechtsstaaten Osteuropas bald Mitglied des Europarates werden. Damit würde insbesondere der Geltungsbereich der in Westeuropa existierenden Institutionen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf Osteuropa ausgedehnt. Viele der im Rahmen des Europarates verhandelten Konventionen könnten von den osteuropäischen Ländern nachträglich ratifiziert werden. Darüber hinaus ist es allerdings unwahrscheinlich, daß es angesichts des politischen und wirtschaftlichen Gewichts der Europäischen Gemeinschaft auch zu einem Rollen-und Funktionszuwachs der UNO-Wirtschaftskommission in Europa (ECE) mit Sitz in Genf kommen wird. Auch die wirtschaftliche Komponente im KSZE-Prozeß wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht an Gewicht gewinnen: Zu erwarten ist, daß im Rahmen der ECE und des KSZE-Prozesses allgemeine Richtlinien für die Ost-West-Wirtschaftsbeziehun-gen formuliert, die substantiellen Übereinkünfte jedoch mit Hilfe der Europäischen Gemeinschaft gefunden werden. 2. Der Bedeutungszuwachs der Europäischen Gemeinschaft Damit ist der zweite Pfeiler einer künftigen politischen Architektur Europas angesprochen: die Europäische Gemeinschaft. Schon in den vergangenen Jahren erwies sich die EG sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht als ein relativ stabiler Faktor. In der Folge der politischen Umbrüche in Osteuropa und des Verfalls der dortigen Ökonomien hat die Europäische Gemeinschaft wider Erwarten und ohne eigenes Zutun zusätzlich an politischem Gewicht gewonnen. Deshalb ist heute eine politische Architektur Europas ohne EG-Komponente gar nicht mehr vorstellbar. Für diese These sprechen die folgenden Beobachtungen: 1. Nach einer Phase der Stagnation hatte die EG in den vergangenen Jahren erneut an politischer Dynamik gewonnen: Die Vorbereitungen für den gemeinsamen Binnenmarkt ab 1993 machen plangemäße Fortschritte; trotz erheblicher Divergenzen werden weitere Schritte in Richtung auf eine politische Union heute ernsthafter diskutiert als noch vor wenigen Jahren. 2. Über die einzelnen Mitgliedsländer hinaus wird die EG insgesamt für die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder zu einem wichtigen Partner bei der Sanierung der eigenen Ökonomien. Dabei erscheint denkbar, daß bisherige Restriktionen auf westlicher Seite, wie beispielsweise die CO-COM-Liste, abgebaut werden und dadurch der Technologietransfer von Westeuropa nach Osten erleichtert wird. Viele dieser Restriktionen reflektieren noch den Geist des Kalten Krieges und lassen sich in einer Situation, in der der Ost-West-Konflikt zu Ende ist, nicht mehr begründen. Es bedarf wahrscheinlich der EG als Kollektiv, um einen solchen Abbau gegen möglicherweise in den USA noch vorhandene, inzwischen jedoch abnehmende Widerstände durchzusetzen. 3. Von großer Bedeutung wird sein, daß sich die EG nicht um eine militärische Komponente erweitert. Im Gegenteil, die EG wird vor allem durch ihr wachsendes politisches und ökonomisches Gewicht zu einem entscheidenden sicherheitspolitischen Faktor in Europa und zum eigentlichen Gegengewicht zur Sowjetunion als einer euro-asiatischen Weltmacht. Eine erneute militärische Polarisierung in Europa ließe sich dadurch verhindern. Auf solchem Hintergrund eröffnen sich erhebliche Handlungsspielräume für weitgehende Abrüstungsschritte in Europa, da in der Tendenz Sicherheit als Folge effektiver politischer Integration an die Stelle militärischer Rückversicherung nach traditioneller Art treten würde. Eine auf demokratischen Rechts-staaten aufbauende Europäische Gemeinschaft ist selbst nicht angriffsfähig, und sie würde auch nicht das Objekt militärischer Aggression, wenn alle Länder Europas in ein System kollektiver Sicherheit integriert wären. 4. In eine EG, deren politische und wirtschaftliche Integration sich vertiefte, wäre die Bundesrepublik wie auch möglicherweise eine Konföderation zwischen der Bundesrepublik und der DDR institutionell eingebunden. Damit wäre die deutsche Frage in einem westeuropäischen Kontext aufgehoben; die Gefahr „deutscher Sonderwege“ bestände nicht mehr. Das Problem einer Neutralisierung der Bundesrepublik und der DDR bzw.der Neutralisierung eines konföderierten oder föderalistischen Deutschlands würde sich damit nicht mehr stellen. Eine Neutralisierung wäre ohnehin ein absurder Rückfall in eine obsolete Nationalstaatlichkeit. Hingegen könnte durch eine solche Einbindung Deutschlands den bekannten Sicherheitsbedürfnissen seiner europäischen Nachbarn verläßlich Rechnung getragen werden. Im übrigen würden dadurch auch die irrationalen Ängste vor einer „neuen deutschen Machtpolitik“ und einer „Wirtschaftsmacht von 80 Millionen Deutschen“ an Boden verlieren. Irrational sind diese Ängste deshalb, weil Handels-staaten wie die Bundesrepublik auf Interdependenz angewiesen sind. Deren heute schon bestehendes Ausmaß ist den meisten Beobachtern kaum bewußt: So wurden 1988 86 Prozent des Außenhandels der Bundesrepublik mit anderen hochindustrialisierten Ländern des Westens abgewickelt. Die Werte in anderen außenwirtschaftlichen Dimensionen sind gleich hoch. Auch läßt sich in einem interdependenten Zusammenhang Wirtschaftsmacht nicht in entsprechenden politischen Einfluß übersetzen. 5. Wie heute schon absehbar, werden sich die Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Ländern der Europäischen Freihandelszone (EFTA) kollektiv oder je bilateral vertiefen. Einem solchen Vorgang stehen keine ökonomischen Hindernisse im Wege, da die Länder der EG und der EFTA gleiche Wirtschaftsstrukturen besitzen und die EFTA-Länder heute schon den größten Anteil ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen mit der EG abwickeln. Die politische Zuordnung einzelner EFTA-Länder zur Politischen Union der EG wird sich von Fall zu Fall regeln, wobei eine stufenweise Vollintegration ebenso vorstellbar ist wie die Aufrechterhaltung der bisherigen nationalen Souveränität.
6. Die Probleme zwischen den westlichen Industrie-ländern und den Mitgliedern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) liegen nicht auf Seiten der EG bzw. EFTA, sondern auf Seiten der RGW-Länder selbst. Gelingen die Reformprozesse in absehbarer Zeit, kann es zu einem fruchtbaren ökonomischen Austausch zwischen diesen und der EG bzw. EFTA kommen. Unter optimalen Bedingungen könnten sie einen gleichberechtigten ökonomischen Status erreichen, der beispielsweise den Beziehungen zwischen EG und EFTA zugrunde liegt: In ihnen bestehen auf beiden Seiten leistungsfähige Volkswirtschaften, zwischen denen es zu einem Austausch in allen Sparten (Landwirtschaft, Fertiggüter, Maschinenpark, Technologie, Blaupausen) kommt. Scheitern die Wirtschaftsreformen in Osteuropa oder kommen sie nur halb zustande, wird allerdings ein chronisches Zentrum-Peripherie-Gefälle entstehen.
Dabei ist die heute vielerorts diskutierte Gefahr einer „Kolonisierung“ der DDR und Osteuropas durch westeuropäisches Kapital weit weniger akut als meist unterstellt: Die Investitionsströme westlicher Industrieländer sind, anders als eine gängige These besagt, im wesentlichen auf Hochlohnländer mit stabilen politischen Rahmenbedingungen, mit einer guten Infrastruktur sowie mit kaufkräftigen Märkten gerichtet. Mehr als 90 Prozent aller Direktinvestitionen der Bundesrepublik fließen in andere Industrieländer und weniger als fünf Prozent in Länder der Dritten Welt, vor allem in solche mit großen und wachsenden internen Märkten (wie Brasilien, Mexiko usf.). Für große Investitionsströme privaten Kapitals nach Osteuropa gibt es derzeit dort keine günstigen Voraussetzungen. Das wird einzelne Investitionen nicht ausschließen, aber ihre Summe zu einer weder für die westlichen und noch für die östlichen Volkswirtschaften gewichtigen Größe anwachsen lassen. Im übrigen muß angesichts euphorischer Hoffnungen auf große Investitionschancen, aber auch von Angstbekundungen über den „drohenden Ausverkauf der DDR und Osteuropas“ daran erinnert werden, daß es mit Beginn der chinesischen Wirtschaftsreform nach 1978 und der sowjetischen Diskussion über Perestroika seit 1985 ähnlich euphorische Einschätzungen für mögliche Wirtschaftsaktivitäten westlicher Länder in China bzw.der Sowjetunion gegeben hatte, wie sie heute erneut hinsichtlich Osteuropas zu hören sind, ohne daß entsprechende Aktivitäten folgten.
Da der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) noch nie eine einflußreiche, finanzkräftige Organisation war und inzwischen praktisch funktionslos geworden ist, werden sich die einzelnen osteuropäischen Länder je nach eigener Interessenlage mit der Europäischen Gemeinschaft arrangieren:
Die DDR wird ihren Sonderstatus, den sie aufgrund der innerdeutschen Beziehungen seit langem hat, vertiefen wollen; in Ungarn wird ein Antrag hinsichtlich einer Aufnahme des Landes in die EG erwogen; für Polen ist ein Sonderhilfsprogramm der EG zustandegekommen usf. Im großen und ganzen wird Osteuropa auf absehbare Jahre weniger ein attraktives Feld für gewinnträchtige Investitionen sein als vielmehr ein Raum, der der anhaltenden Hilfe und Alimentierung bedarf.
7. Vorstellbar ist, daß viele der bisher auf Westeuropa und den EG-Raum begrenzten funktionalen Organisationen wie beispielsweise die Europäische Patentorganisation ihren Geltungsbereich auf das gesamte Europa erweitern, wenn dies von Seiten der osteuropäischen Länder gewünscht wird. Solche Erweiterungen betreffen auch EG-Programme wie EUREKA, EUROTEC, ESPRIT, RACE.
DRIVE, FAST usf. Diese Organisationen und Programme sollten entsprechende Kooperationsangebote an die osteuropäischen Länder machen, die diese dann akzeptieren oder verwerfen.
Eine sich politisch integrierende und stufenweise erweiternde Europäische Gemeinschaft wird also zu einem gewichtigen Faktor für die künftige Architektur Europas. Allerdings wird die Europäische Gemeinschaft eine über ihren jetzigen Wirkungsbereich hinausgehende Bedeutung nur gewinnen, wenn sie keinen militärischen Einfluß sucht und wenn sich eine neue kollektive Sicherheitsstruktur in Europa herausbildet.
Auf welche Weise sich eine gesamteuropäische Friedens-und Sicherheitsstruktur als Ergebnis des weiteren KSZE-Prozesses und eine an Kompeten-zen. Aktivitäten und Reichweite expandierende Europäischen Gemeinschaft harmonisieren lassen, gehört zu den unverhofft neuen Problemstellungen europäischer Politik, für die es bisher noch kein ausreichendes Problembewußtsein, geschweige denn fertige Antworten gibt.
III. Zukünftige Probleme
Noch bis vor kurzem konzentrierte sich die Auseinandersetzung um die politische Architektur Europas auf die Frage, ob es eine stabile Koexistenz von Gesellschaften mit unvereinbaren politischen und sozialen Ordnungen („antagonistische Kooperation“) geben könne. Diese Frage stellt sich heute nicht mehr, denn ein auf demokratischen Rechts-staaten aufbauendes Europa wird eine andere Architektur haben. Die Annäherung der politischen und gesellschaftlichen Ordnungen wird Kontakte, Kommunikation und Austausch erleichtern. Im übrigen wird es zu unreglementierten Austauschprozessen auf allen Ebenen kommen. Neue gemeinsame Institutionen werden entstehen. Wechselseitige Abhängigkeiten werden sich einstellen. In dieser Lage gibt es Chancen, aber auch große Probleme:
Die zentrale Chance besteht in der schrittweisen Entwicklung einer neuen europäischen Friedensordnung und Sicherheitsstruktur, aufbauend auf demokratischen Rechtsstaaten auch in Osteuropa. Die große Herausforderung besteht darin, das ökonomische Gefälle zwischen West-und Osteuropa zu überwinden. Dabei stellt sich in West-und Osteuropa gleichermaßen die Aufgabe, die Ökonomien auf ein ökologieverträgliches Wirtschaften hin um-zupolen. Die Beseitigung von Umweltschäden sowie der sorgsame Umgang mit Natur und Rohstoffen sollten zu zentralen Anliegen europäischer Politik werden: In der Folge einer Veränderung politischer Strukturen in Europa kann die Orientierung auf ökologische Sicherheit die alte Fixierung auf militärische Sicherheit ablösen.
Ob diese Projekte von historischer Bedeutung gelingen werden, hängt auch davon ab, ob sich gravierende politische Probleme in angemessener Zeit bewältigen lassen: 1. In Osteuropa findet derzeit ein revolutionärer Prozeß statt: Es geht um die Neubegründung politischer Ordnung — ein grundlegender Vorgang von erstrangiger Bedeutung, dessen Gelingen nicht von vornherein feststeht. Angesichts der aufgestauten Probleme verlangt er sowohl eine rasche Einigung vieler neuer politischer und gesellschaftlicher Kräfte auf neue Spielregeln des politischen Lebens als auch in besonderem Maße die Fähigkeit zu politischem Kompromiß. Erschwert wird dieser Vorgang durch die Tatsache, daß eine sich emanzipierende Gesellschaft auch neue ökonomische und soziale Ansprüche anmeldet, während gleichzeitig aufgrund der ökonomischen Leistungsschwäche Verteilungsspielräume nicht existieren. Es droht also die Gefahr, daß sich politische und ökonomische Konflikte wechselseitig verschränken und hochschaukeln. Darin begründet sich auch die Gefahr des Entstehens neuer autoritärer politischer Regime, für die es in der osteuropäischen Geschichte vielfältige historische Vorläufer gibt. 2. Der jahrzehntelang verdrängte und nunmehr wiederauflebende Nationalismus gehört ebenso zu den zentralen politischen Problemen. Wie die Entwicklung an der Peripherie der Sowjetunion, aber auch in Jugoslawien zeigt, sind bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen nicht mehr auszuschließen. Auf fatale Weise würde nunmehr aus innenpolitischen Gründen das Sicherheitsbedürfnis wieder an Boden gewinnen und entsprechende militärische Vorkehrungen getroffen werden, während gleichzeitig die internationale Lage Abrüstung und Entmilitarisierung ermöglichte. Die Nationalismus-Problematik ist von erheblicher internationaler Bedeutung, weil sie über die jeweilige innenpolitische und zwischenstaatliche Lage hinausgehend unmittelbar Rückwirkungen auf den gesamteuropäischen Prozeß zeitigt. 3. Besondere Probleme entstehen, wenn insbesondere der ökonomische Reformprozeß nach anfänglichen Korrekturen stecken bleibt. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird dies der Fall sein, wenn sogenannte „dritte Wege“ begangen werden. Denn nachweisbar haben sich „dritte Wege“ nicht weniger als eine sozio-ökonomische (und daraus resultierend: politische) Sackgasse herausgestellt als der kompromißlose Entwicklungsweg der stalinistischen Kommandowirtschaft. Es ist nicht polemisch gemeint, wenn in diesem Zusammenhang vor einer „Jugoslawisierung" Osteuropas gewarnt wird: Ju-B goslawien repräsentiert in klassischer Weise den dritten Weg — sowohl ordnungs-als auch außenpolitisch. Das Ergebnis dieser Position zwischen West und Ost besteht in einer tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Strukturkrise sowie in der Gefahr einer sozialen Verelendung weiter Bevölkerungsteile. Vergleichbare Versuche andernorts (Algerien usf.) waren ähnlich erfolglos.
Was ist daraus zu schließen? Für die Länder Osteuropas gibt es nach allen Erfahrungen keine Alternative zur Kombination von demokratischem Rechtsstaat und einer ökologieverträglichen sozialen Marktwirtschaft, wobei die Erfahrungen in den westlichen Industrieländern der Nachkriegszeit zeigen, daß es eine erhebliche Bandbreite in der sozial-staatlichen Ausgestaltung der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Ordnung gibt. Es nützt den osteuropäischen Reformprozessen nicht, wenn maßgebliche politische Kräfte hierzulande als auch vor Ort sich auf eine gesellschaftspolitische Option festlegen, die es nur als deklamatorische Möglichkeit gibt, nicht aber als praktisches Programm mit Aussicht auf Erfolg.
IV. Schlußbemerkung
Auf dem Wege zu einer neuen politischen Architektur Europas gibt es viele Unwägbarkeiten. Einige von ihnen wurden schon angesprochen. Nur noch zwei seien abschließend noch erwähnt: das Schicksal des Reformkurses in der Sowjetunion und die ökonomische Entwicklung der westlichen Industrieländer. Es steht außer Zweifel, daß ein Scheitern von Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion Rückwirkungen auf die Entwicklungschancen Osteuropas hätte, wenngleich ein solches Scheitern keineswegs das Ende der politischen und ökonomischen Reformprozesse außerhalb der Sowjetunion nach sich ziehen müßte, und es auch nicht sicher ist, daß die sowjetische Außenpolitik in alte Schemata zurückfallen würde.
Darüber hinaus gehen die meisten politischen Überlegungen derzeit wie selbstverständlich von einer relativ krisenfesten Weiterentwicklung der westlichen Ökonomien aus, was die Bearbeitung der sozialen Konflikte in diesen Gesellschaften erleichtert und die öffentlichen Hilfsmaßnahmen für Osteuropa erst ermöglicht. Auch dieses Datum ist nicht unverrückbar: Es kann zu Konjunktureinbrüchen kommen, die die politische Lage im Innern dieser Gesellschaften, aber auch das Verhalten nach außen erheblich verkomplizieren könnten.
Auf jeden Fall kann man erwarten, daß ein anhaltender Reformprozeß in der Sowjetunion und eine weiter günstige ökonomische Entwicklung in den westlichen Industrieländern förderliche Rahmenbedingungen für den Versuch sind, eine neue politische Architektur für Europa zu gestalten. Der Politik sollte deshalb daran gelegen sein, Gorbatschows Kurs flankierend zu stützen — z, B. durch erhebliche Abrüstungsschritte — und die Koordination der Wirtschaftspolitiken im OECD-Verbund nicht zu vernachlässigen.