Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

DDR-Wirtschaft: Ende oder Wende? | APuZ 1-2/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1-2/1990 Vom „realen Sozialismus“ zur Selbstbestimmung Ursachen und Konsequenzen der Systemkrise in der DDR Politische Opposition in der DDR Die soziale Integration von DDR-Ubersiedlern in der Bundesrepublik Deutschland DDR-Wirtschaft: Ende oder Wende?

DDR-Wirtschaft: Ende oder Wende?

Doris Comeisen

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die DDR war bisher eine „sozialistische Planwirtschaft“. Das Eigentum an den Produktionsmitteln lag überwiegend beim Staat. Er bestimmte die Ziele und Proportionen, der Wirtschaft, die Löhne, Preise und den Außenhandel. Es fehlte an Wettbewerb und den Signalen freier Preisbildung. Theoretisch galt in der DDR das Leistungsprinzip. In der Praxis herrschte aber „Gleichmacherei“. Wurden in den sechziger Jahren noch Reformen mit einem erweiterten Entscheidungsspielraum für die Betriebe begonnen, legte die Ära Honecker die Wirtschaft wieder auf vollständig zentralisierte Planung und Leitung fest. Zwar blieb die DDR-Wirtschaft in den folgenden Jahren die erfolgreichste im RWG-Raum, aber im Vergleich zur Bundesrepublik verfügte sie 1987 nur über die Hälfte der Leistungsfähigkeit: In den letzten Jahren wurde die Wirtschaft der DDR durch die seit 1984 steigende Zahl von Übersiedlern in die Bundesrepublik zusätzlich geschwächt. Nach dem Ende des SED-Regimes ist eine schnelle Umorientierung der Wirtschaft unerläßlich. Für die Bevölkerung muß es sich lohnen, in der DDR zu bleiben, dort zu leben und zu arbeiten. Freier Wettbewerb. Gewerbefreiheit, dezentrale Preisbildung und dezentraler Lohnfindungsprozeß müssen die neue Wirtschaftsform charakterisieren. Unerläßlich ist auch eine Stabilisierung der Währung. Schnelle, präzise Beschlüsse zur Wirtschaftsreform sind notwendig, doch kann sich die Bundesrepublik nicht einmischen. Sie muß aber die bisher nur vage bezeichneten Hilfs-und Kooperationsabsichten rasch in die Tat umsetzen.

Es war die erfolgreichste Wirtschaft im RGW-Raum. Die Industrie produzierte ein breites Sortiment, in den High-tech-Bereichen wurden beachtliche Leistungen erreicht. Die Landwirtschaft brachte relativ hohe und stabile Erträge bei annehmbaren Arbeits-und Lebensbedingungen. Die Bevölkerung lebte in gewissem Wohlstand. Ein sozialpolitisches Programm hatte den Bau von Wohnungen zum Kernstück gemacht, der Grundbedarf wurde zu niedrigen — subventionierten — Preisen angeboten. Arbeitslosigkeit war unbekannt. Die Partei-und Staatsführung pries ihre wirtschaftspolitische Strategie und ihre Übereinstimmung mit der

I. Die Planwirtschaft

Die DDR hat laut Verfassung (Art. 9) eine „sozialistische Planwirtschaft“. Das Eigentum an den Produktionsmitteln liegt überwiegend beim Staat, z. T. bei Genossenschaften. Die Wirtschaft basierte auf zentralen Entscheidungen über die Produktion und auf zentralen Zuteilungen der für die Produktion notwendigen Mittel. Die Betriebe erhielten ihre Plankennziffern und in Abstimmung damit die Investitionen, die Rohstoffe und Vorerzeugnisse. Der Staat bestimmte die Ziele, die Proportionen, die Löhne und die Preise und über das Außenhandels-monopol den Außenhandel. Die damit verbundenen Schwachstellen sind bekannt. Es fehlte Wettbewerb, es fehlten die Signale, die von einer freien Preisbildung ausgehen. Das bürokratische System von Auflagen und Zuteilungen sicherte nicht das reibungslose Ineinandergreifen der vielen miteinander verbundenen Produktionsprozesse. Bei den Produzenten bestand die Tendenz, sich in dem vorgegebenen Rahmen auf eine verständliche, aber gesamtwirtschaftlich verhängnisvolle Weise zu arrangieren. Die mengenmäßige Planerfüllung fiel Im Wirtschaftssystem kehrte man zurück zu den zentralisierten Methoden der Planung und Leitung. Der Bewegungsspielraum der Betriebe wurde eingeschränkt, die — in Grenzen — freie Investitionsentscheidung wieder aufgehoben, die Zahl der den Betrieben vorgegebenen Plankennziffern erhöht und ein genereller Preisstop verfügt. Dazu paßte breiten Masse der Werktätigen. Aber auf einmal war alles ganz anders. Unerwartet entlud sich die latente Unzufriedenheit der Bevölkerung. Massenhafte Ausreisen über die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Ungarn und der SSR brachten das Musterland des Ostblocks ins Wanken. Eine ganz andere Republik wurde sichtbar: Ein Land mit vernachlässigter Infrastruktur und veralteten Industrieanlagen, eine Bevölkerung voller Unzufriedenheit mit Einkommen und Versorgung. Die offizielle Selbstzufriedenheit wurde hinweggefegt, Zweifel an allem tauchten auf. Was war falsch und wie geht es weiter? am leichtesten mit dem gewohnten Produktionsprogramm. die Sicherstellung der notwendigen Ressourcen gelang am besten mit überhöhten Bedarfs-anmeldungen und umfangreicher Lagerhaltung. Wirtschaftlichkeit, Qualität, Nachfrageorientierung und insbesondere die Innovationen blieben in diesem System auf der Strecke.

Diese Defizite haben in der DDR — wie in den meisten Planwirtschaften — zu einem ständigen Experimentieren an den Instrumenten der Planung geführt. Am weitesten ging bisher in der DDR das „Neue ökonomische System“ (NÖS, später „Ökonomisches System des Sozialismus“, ÖSS) in den sechziger Jahren. Den Betrieben wurde damals ein größerer Entscheidungsspielraum gewährt. Allerdings ist der Erfolg dieser Strategie ausgeblieben; es gab zunehmende Engpässe und Ungleichgewichte. Statt das Experiment weiterzuentwickeln, wurde es Anfang der siebziger Jahre abgebrochen. Es begann die gegenwärtig so heftig kritisierte Ära Honecker.

II. Die Ära Honecker

auch die fast vollständige Übernahme der Betriebe mit staatlicher Beteiligung und der noch verbliebenen Privatbetriebe in der Industrie in Volkseigentum bis Mitte 1972. Eine „Wende“ gab es auch in der Wirtschaftspolitik. Während in der UlbrichtÄra die Investitionstätigkeit in der Rangfolge ganz oben gestanden hatte, wurde jetzt die „weitere Er-33 höhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Bevölkerung“ zur „Hauptaufgabe“ erhoben und ein sozialpolitisches Programm mit dem Kernstück Wohnungsbau entwickelt. Außerdem wurde die forcierte Förderung der „strukturbestimmenden Bereiche“ und der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ beendet und eine „planmäßige proportionale Entwicklung“ angesteuert.

Nach der Konsolidierung und einer kurzen Zeit relativ günstiger und störungsfreier Entwicklung wurde das gesamte Konzept von der weltwirtschaftUchen Entwicklung überrollt. Ende 1973 gab es den ersten Ölpreisschock, an den sich Preissteigerungen auch für andere industrielle Rohstoffe anschlossen. Für die DDR wie für alle Industrieländer verschlechterten sich die Terms of Trade (Veränderung der Exportpreise in Relation zur Veränderung der Importpreise). Auf dem Weltmarkt wurde der Konkurrenzkampf härter. Neue Technologien wurden entwickelt. Risikofreude, Kreativität und Flexibilität waren gefragt — und gerade darin ist eine Planwirtschaft unterlegen. Als Mitte der siebziger Jahre das ganze Ausmaß der weltwirtschaftlichen Veränderungen offenbar geworden war, begann wieder das Experimentieren an den Instrumenten der Planung.

Ein wichtiger Schritt wurde 1976 getan. Mit der Anpassung der inländischen Preise an die veränderten Weltmarktpreise wurden die Betriebe in der DDR mit den neuen Weltmarktbedingungen konfrontiert. Die Preise wurden seitdem jedes Jahr angepaßt, weiter gab es eine Agrarpreisreform (1984) sowie ein ständiges Herumprobieren bei den Kalkulationsrichtlinien für neue Erzeugnisse. Auf dem Gebiet der Strukturpolitik war der Beschluß der 6. ZK-Tagung der SED im Juni 1977 zur Entwicklung der Mikroelektronik eine wichtige Markierung. Die Förderung der modernen Technologie wurde nachdrücklich in die Planziele aufgenommen. 1979/80 wurde in der Industrie die mittlere Leitungsebene, die „Vereinigung Volkseigener Betriebe“ (WB) aufgelöst; es wurden durchgängig Kombinate gebildet, die man als entscheidend für die Weiterentwicklung der Planwirtschaft („Rückgrat der Planwirtschaft“) angesehen hat. Seit Beginn der achtziger Jahre wurde das „Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung“ propagiert: Kostenbewußtsein und Rentabilität sollten einen höheren Stellenwert bekommen. Es folgte das „Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel“: Die Investitionen sollten vom Gewinn abhängig gemacht werden. Außerdem wurden „Experimentierkombinate“ ausgewählt, die größere Entscheidungsfreiheit erhalten sollten.

Diese „Reform in kleinen Schritten“ ist aber nicht über den Rahmen des bestehenden Systems hinausgegangen: — Die Preise wurden immer administrativ festgelegt und die Preisbildung reglementiert. Auch nach den Veränderungen blieb die Preisstruktur willkürlich, es gab keinen Preiszusammenhang zwischen den einzelnen Ebenen. Preiserhöhungen auf der Betriebsebene wurden in vielen Fällen durch Ausgleichszahlungen des Staatshaushalts kompensiert, so daß sich ein undurchdringliches Dickicht von Subventionen und Abführungen entwickelte. — Die Kombinate umfassen meist einen ganzen Industriezweig, ihre Monopolstellung verhindert jeden Wettbewerb im Inland. Außerdem wurden die Kombinate verpflichtet, ihre „strukturbestimmenden“ Zulieferungen und ihre Investitionen selbst zu fertigen. Damit wurde der Aufbau einer differenzierten innovativen Zulieferindustrie weiter in den Hintergrund gedrängt. — Die Selbständigkeit der Betriebe blieb beschränkt. Die Ansätze der Eigenerwirtschaftung waren nur isolierte Regelungen in einem Umfeld, in dem die sonstigen planwirtschaftlichen Regelungen weiter galten. Die Zahl der Kennziffern wurde im Zug der Verfeinerungen sogar sukzessive erhöht. Anfang der achtziger Jahre galten für die Jahresplanung der zentralgeleiteten Industrie (einschließlich Unterpositionen) etwa 90 Kennziffern, zuletzt waren es rund 200. Das System der Zuteilungen („Bilanzierung“) ist überhaupt nicht verändert worden. — In Forschung und Entwicklung waren die organisatorischen und planmethodischen Änderungen ein Paradebeispiel für den „Versuch am untauglichen Objekt“. Die meisten Forschungsbetriebe wurden in die Kombinate einbezogen, später wurde eine enge Zusammenarbeit mit den Hochschulen vorgeschrieben. Kennziffern wurden entwickelt (z. B. Anteil neuer Produkte an der Produktion), gefordert wurden ausführliche Dokumente über die Forschungstätigkeit und ihre Ergebnisse (Pflichtenheft, Erneuerungspaß, ökonomische Gesamtrechnung, Jahresschlußrechnung). Als Anreiz wurden die Preisbildungsvorschriften für neue Produkte mehrfach geändert. Technischer Fortschritt ist jedoch ein Bereich, in dem Kreativität und Risiko-freude die impulsgebenden Kräfte sind. Er ist mit planmethodischen Regelungen vermutlich überhaupt nicht in den Griff zu bekommen.

III. Wirtschaftsentwicklung und Bilanz

Die reale Wirtschaftsentwicklung in der Ära Honecker ist zur Zeit mit manchen Fragezeichen zu versehen. Über viele Fakten hat die Statistik nie berichtet (z. B. über die Zahlungsbilanz und die Verschuldung aus dem Außenhandel), manches wurde bewußt verschleiert (z. B. das Defizit im Staatshaushalt), einiges wurde von der Realität widerlegt (z. B.der Index der Einzelhandelsverkaufspreise, der seit 1970 reglos bei 100 lag). Jetzt wurde eingestanden, daß die Statistik vielfach nicht korrekt war. Ein gründlich verändertes „Statistisches Jahrbuch“ ist zu erwarten.

Auch bisher konnte man aber die wirtschaftlichen Probleme der DDR deutlich erkennen:

— Das wirtschaftliche Wachstum hat seit Mitte der siebziger Jahre nachgelassen.

— Im Außenhandel kam es zunächst zu hohen Defiziten; der vor allem politisch motivierte Abbau der Verschuldung Anfang der achtziger Jahre hat das inländische Wachstum erheblich gestört.

— Die Fortsetzung des sozialpolitischen Programms (Wohnungsbau, Renten. Familienförderung) bei veränderten Bedingungen ging zu Lasten der Investitionen im Unternehmensbereich. Die Investitionsquote (produzierender Bereich) sank von 16 Prozent im Jahr 1970 auf 10 Prozent im Jahr 1988.

— In der DDR wurde ein großer Teil des Industrie-sortiments selbst produziert. Mit der Mikroelektronik wurde ein sehr kostspieliger neuer Schwerpunkt gesetzt, teuer war auch die Konzentration auf die heimische Braunkohle. Damit war das relativ kleine Land überfordert; in vielen Bereichen konnten nicht einmal die verbrauchten Anlagen ersetzt werden.

Die Bilanz der Produktionsfaktoren nach dem Ende der Honecker-Ära ist bedenklich. Arbeitskräfte sind knapp. Rund 90 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sind berufstätig. Damit ist das Arbeitskräftepotential ausgeschöpft, allerdings ist der rationelle Einsatz in vielen Fällen nicht gegeben. Arbeitskräfte behielten ihren Arbeitsplatz, obwohl sie vom Arbeitsprozeß her entbehrlich waren. Ein aufwendiger bürokratischer Apparat hat viele Arbeitskräfte gebunden. Ein positiver Faktor ist das hohe Qualifikationsniveau, drei Viertel der Arbeitskräfte verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung, allein knapp 20 Prozent über einen Hochschuloder Fachschulabschluß. Ein großer Aderlaß war die Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Von 1984 bis 1988 sind rund 150 000 Personen aus der DDR ausgewandert, davon waren etwa 60 Prozent Erwerbspersonen (= 90 000 Berufstätige). Für 1989 dürfte sich die Übersiedlung auf mehr als 320 000 Personen belaufen. bei der gleichen Quote wie in den Vorjahren wären das 190 000 Erwerbspersonen. Insgesamt hat die DDR somit rund zwei Prozent des gesamten Potentials an Erwerbstätigen verloren, in einigen Regionen und Berufsgruppen sind die Lücken sehr spürbar.

Ein ungünstiges Bild zeigt der Zustand der Produktionsanlagen und der Infrastruktur. Der Altbestand an Anlagen ist zu hoch, die angewandte Technik ist teilweise veraltet. Ein enormer Anteil der Beschäftigten wird für Reparaturen eingesetzt. Das Verkehrswegenetz der DDR genügt nicht den Anforderungen, die Bevölkerung und Wirtschaft heute stellen. Das gilt für die Eisenbahn, das Straßennetz und den innerstädtischen Nahverkehr. Das Fernmeldenetz ist völlig überlastet und veraltet. Im Wohnungsbau wird mit sieben Millionen Wohnungen (das entspricht 420 Wohnungen je 1 000 Einwohner) quantitativ eine relativ gute Versorgung erreicht. Knapp 27 Quadratmeter Wohnfläche stehen durchschnittlich je Einwohner zur Verfügung. Die Probleme liegen aber beim Altbestand, über vier Millionen Wohnungen wurden vor 1945 gebaut. In vielen Städten sind ganze Stadtzentren sanierungsbedürftig. Im Außenhandel mit den westlichen Ländern hat die DDR in den letzten Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Der Westhandel ist seit 1985 rückläufig. Der Anteil der DDR an den Importen der OECD-Länder (ohne innerdeutscher Handel) ist kontinuierlich gesunken. Eine ähnliche Entwicklung gilt für den innerdeutschen Handel. Gleichzeitig ist die „Devisenrentabilität“ der DDR-Produktion dramatisch zurückgegangen. Um 1 DM im Westhandel zu erlösen, mußten 1980 im Inland 2, 40 Mark aufgewendet werden. 1989 waren es 4. 40 Mark. Die Devisensituation der DDR ist nur teilweise bekannt. Nach westlichen Statistiken (Bank für internationalen Zahlungsausgleich BIZ, OECD, innerdeutscher Handel) belief sich die Nettoverschuldung der DDR gegenüber dem Westen Mitte 1989 auf 9, 3 Milliarden US-Dollar. Keine Informationen gibt es über die Verschuldung bei Banken, die nicht an die BIZ berichten, sowie über die bankmäßig nicht abgesicherten Lieferantenkredite.

Die materiellen Lebensbedingungen in der DDR waren schon seit längerem in eine heftige Diskussion geraten. An erster Stelle stand dabei die nicht leistungsgerechte Bezahlung. Von der Theorie her war das dominierende Prinzip der Einkommensverteilung in der DDR das Leistungsprinzip. In der Realität herrschte aber „Gleichmacherei“. Die Spanne von den unteren zu den oberen Einkommen war relativ gering. Beschäftigte mit höherer Verantwortung verdienten kaum mehr als andere. Die Prämien wurden gleichmäßig „mit der Gießkanne“ ausgeschüttet. Höhere Leistung zahlte sich nicht aus, mit allen negativen Konsequenzen für die Motivation. An nächster Stelle stand die Kritik am Angebot. Die Grundversorgung war immer leidlich gesichert, wenngleich auch hier das Einkäufen Mühe machte und die Regale in den Verkaufsstellen gegen Abend häufig leer waren. Auf höhere Ansprüche war die DDR-Wirtschaft unzureichend eingestellt. Qualität, Sortimentsvielfalt, Mode, Technik und Neuerungen wurden kaum angeboten. In der Regel gelten einheitliche, administrativ festgesetzte Konsumgüterpreise. Lebensnotwendige Waren und Dienstleistungen wie Grundnahrungsmittel, Kinderbekleidung, öffentliche Verkehrsleistungen, Leistungen der Wäschereien, Energie und Brennstoffe, Mieten werden stark subventioniert. Demgegenüber werden Erzeugnisse des gehobenen Bedarfs mit hohen Verbrauchsabgaben (indirekte Steuern) belastet. Hierzu rechnen die Mehrzahl der technischen Erzeugnisse, insbesondere langlebige Gebrauchsgüter wie Autos, Fernsehgeräte, Waschmaschinen. Ähnlich verhält es sich mit den meisten Genußmitteln.

Die DDR wendet erhebliche Mittel auf, um den Grundbedarf durch Subventionen vor Preissteigerungen zu schützen. Seit 1979 — als die Welle der planmäßigen Preissteigerungen auf der Betriebs-ebene bei den Fertigprodukten angekommen war — erhöhten sich die Subventionen für industrielle Konsumgüter. Mit der Agrarpreisreform verdoppelten sich die Subventionen für Nahrungsmittel. 1988 entfielen mit 50 Milliarden Mark fast 20 Prozent der Ausgaben des Staatshaushalts auf die Subventionierung der Verbraucherpreise. Weitere 16 Milharden Mark waren notwendig, um das niedrige Mietenniveau zu finanzieren. Die Konzentration auf den Grundbedarf ging aber offenbar an den inzwischen entwickelten Bedürfnissen vorbei. In ihrer Leistungsfähigkeit hat die DDR-Wirtschaft immer an der Spitze aller Länder im RGW-Raum gelegen. Der Vergleich mit der Bundesrepublik fällt dagegen weniger gut aus. In den „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1987“ hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung dazu eine Modellrechnung vorgelegt. Diese ergab, daß die Produktion je Beschäftigten in der DDR nur rund halb so hoch war wie in der Bundesrepublik. Ein ähnlich großer Unterschied wurde auch für den privaten Verbrauch je Einwohner errechnet. Der Eindruck eines großen, sogar wachsenden Abstands zur Bundesrepublik bestand auch bei der DDR-Bevölkerung. Dabei kümmerte es sie wenig, daß ihre Planwirtschaft im Vergleich mit den anderen Ländern des RGW noch sehr gut abschnitt.

1985 kam Gorbatschow in der Sowjetunion an die Spitze. Er setzte grundsätzlich neue Vorstellungen über die politische und wirtschaftliche Entwicklung durch. Die DDR-Führung blieb dagegen beim alten Motto: „Mit hoher Kontinuität setzen wir unseren bewährten Kurs fort.“ Als Insel der Beharrung in einer sich verändernden Welt wurde die DDR für die eigene Bevölkerung immer fragwürdiger, zumal die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht mehr zu übersehen waren. Ausreiseanträge nahmen rapide zu, bis 1989 das ganze System hinweggefegt worden ist.

IV. Reformdiskussion und Handlungsbedarf

Die Dynamik der politischen Reformen war atemberaubend, die wirtschaftlichen Reformen gibt es bisher aber kaum in Ansätzen. Die westlichen Beobachter, deren Erfahrungen durch das Funktionieren der „sozialen Marktwirtschaft“ in der Bundesrepublik geprägt sind, sehen die Marktwirtschaft als beste Lösung für alle Probleme an. Eine auf Wettbewerb aufbauende marktwirtschaftliche Ordnung schließt eine Orientierung auf gewünschte „sozialistische“ Elemente nicht aus. Existierende Marktwirtschaften sind gemischte Wirtschaften mit einem mehr oder minder großen Anteil des Sozialprodukts, über dessen Verteilung nach anderen als Marktgesetzen entschieden wird. Das betrifft besonders Lösungen im Eigentumsbereich, im Bereich öffentlicher Güter und in der Gewinnbeteiligung. Über die Produktion und Konzeption von Marktgütern wird jedoch am effizientesten im Wettbewerb entschieden.

Folgende Elemente einer Umorientierung sind danach unerläßlich:

— Der erste Baustein ist die Schaffung von Wettbewerb, Gewerbefreiheit in allen Wirtschaftsbereichen, weitgehende Entflechtung der Kombinate, Gleichbehandlung aller Eigentumsformen.

— Kernstück ist die dezentrale Preisbildung für alle am Markt gehandelten Güter. Die Unternehmen müssen unabhängig und eigenverantwortlich ihre Absatzpreise kalkulieren. Nur wenn die Preise freigegeben werden, bilden sich aussagefähige relative Preise, die über Gewinn und Verlust eines Unternehmens entscheiden und damit auch über die Tragfähigkeit seiner Produktions-und Investitionsentscheidungen. Die Konvertibilität der Mark der DDR ist ein weiterer wichtiger Baustein. Bei solchen Austauschre-B lationen wird sich erweisen, mit welchen Produkten die DDR-Unternehmen international konkurrenzfähig sind. — Als weiterer Baustein ist ein dezentraler Lohnfindungsprozeß zwischen Unternehmen und Gewerkschaften notwendig. — Die Einführung dieser fundamentalen Wettbewerbselemente muß von vielfältigen Änderungen begleitet sein, insbesondere von der Abschaffung des Außenhandelsmonopols, einer Steuerreform, einer Reform des Bankwesens.

In der DDR sind die Diskussionen über wirtschaftliche Reformen inzwischen außerordentlich lebhaft. Im Bereich der Wissenschaftler hatten sie schon vor der „Wende“ begonnen, mit den Positionspapieren zum für Mai 1990 geplanten XII. Parteitag der SED. Die Probleme einer wirksamen Anwendung des Leistungsprinzips sind mit bemerkenswerter Offenheit in der Zeitschrift „Einheit“ behandelt worden Einer der ersten Beiträge im Herbst 1989 kam von Wolfgang Heinrichs und Wolfram Krause Ein funktionierender Marktmechanismus wurde gefordert, eine andere Preisgestaltung, die differenzierte Nutzung aller Eigentumsformen. Seitdem sind die Stellungnahmen nicht abgerissen. Sie sind alle an marktwirtschaftlichen Modellen ausgerichtet, unterscheiden sich aber im Bezug auf die Rolle der staatlichen Rahmenplanung und die Frage, ob die notwendigen Änderungen schrittweise oder mit einem radikalen Schnitt erfolgen sollen

Offizielle Institutionen in der DDR haben ebenfalls ihre Vorstellungen vorgelegt, z. B. die Regierung Modrow, die Staatliche Plankommission und das Ministerium für Finanzen und Preise Auch in diesen Papieren wird der Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem herausgestellt, die Entwicklung von Märkten, verschiedenen Eigentumsformen, selbständigen Betrieben, die Reform des Geld-,'Preis-, Kreditund Versicherungssystems, der Übergang zur Konvertibilität. Einen großen Teil der Erörterungen nehmen aber die Überlegungen zu einem Stabilisierungsprogramm ein. Ausgangspunkt dafür sind die aktuellen Probleme: Die Produktion muß weiterlaufen, die Engpässe bei den Zulieferungen, beim Transportwesen sind zu bekämpfen. Der notwendige Einfuhrüberschuß muß finanziert werden, ebenso die fälligen Tilgungen und Zinsen. Freiwerdende Arbeitskräfte aus Verwaltung und anderen Organen sind einzugliedern. Die Finanzierung des öffentlichen Haushalts ist zur Zeit völlig ungeklärt. Die Versorgung der Bevölkerung muß sichergestellt werden, und das unter erschwerten Bedingungen: Nach Öffnung der Grenzen und Abschaffung des Mindestumtauschs für Westbesucher wird mit zahlreichen Touristen gerechnet, und die Angst vor einem „Ausverkauf“ der DDR geht um.

Die bisherige Praxis der Subventionierung der Verbrauchsgüterpreise gilt als überholt. Sie ist ökonomisch unsinnig, weil sie der Vergeudung Tür und Tor öffnet, außerdem ist es ziemlich unerträglich, wenn subventionierte Güter von Touristen aus anderen Staaten gekauft werden. Ein Übergang von der Objektförderung zur Subjektförderung wird vorbereitet d. h. ein Wegfall der Subventionen und ihr Ersatz durch Transferzahlungen (Wohngeld, Kindergeld, allgemeine Ausgleichszahlungen an alle Bürger). Die konkrete Ausgestaltung dieser notwendigen Änderung liegt noch nicht vor, der zu Beginn des Jahres 1990 erwartete Touristenstrom macht die Entscheidung jedoch dringlich.

Es steht außer Frage, daß die DDR Stabilisierung und Reformen nicht allein schaffen kann. Es sind massive Unterstützungen durch die Bundesrepublik notwendig. Diese Tatsache ist unstrittig, Ärt und Möglichkeiten sind auch schon vielfach erörtert worden. Es geht dabei erstens um öffentliche Hilfe zur Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen in der DDR, z. B. durch Maßnahmen im Verkehrswesen (Straßen und Eisenbahn), Modernisierung des Telefonnetzes, Verbesserungen im Umweltschutz. Zweitens sind die privaten Initiativen wichtig: Kooperationen zwischen Betrieben der Bundesrepublik und der DDR bis hin zu Joint-Ventures könnten die Produktivität der DDR-Unternehmen verbessern. Hierbei ist eine öffentliche Flankierung denkbar, z. B. über Kredite und Bürgschaften. In der DDR wird zur Zeit an den gesetzlichen Regelungen für ein Joint-Venture-Gesetz und ein Investitionsschutzabkommen gearbeitet. Die westlichen Unternehmer sind bereits unter-wegs, um nach Partnern Ausschau zu halten, Banken und Kreditinstitute sind zur Kreditvergabe bereit. Offenbar fehlt aber für eine breit angelegte Aktion der Startschuß. Abzuwarten bleibt, welche Impulse sich aus dem Kanzlerbesuch in Dresden und der im Januar beginnenden Arbeit des gemeinsamen Wirtschaftsausschusses ergeben.

Der Aufholprozeß in der DDR steht unter ungewöhnlichen Bedingungen: Jeder DDR-Bürger kann jederzeit das Land verlassen. Bisher ist der Umfang der Abwanderungen noch erschreckend hoch. Das macht die Lage brisant sowohl für die DDR, die damit Kräfte für den Neuanfang verliert, als auch für die Bundesrepublik, die bei weiteren umfangreichen Zuwanderungen vor sozialen und politischen Spannungen steht. Ein „Dahinwelken“ oder sogar ein Zusammenbruch in der DDR wäre ein deutsches und auch ein europäisches Drama, und noch dazu ein sehr kostspieliges.

Die DDR-Bevölkerung braucht eine handfeste Perspektive; sie braucht Vertrauen in die Zukunft ihres Landes, die Zuversicht, daß es sich lohnt, dort zu bleiben, dort zu leben und zu arbeiten. Schnelle, präzise Beschlüsse zur Wirtschaftsreform wären wünschenswert, aber in diese Auseinandersetzung in der DDR kann sich die Bundesrepublik nicht einmischen. Sie muß aber ihrerseits die bisher nur vage bezeichneten Absichten rasch in die Tat umsetzen. Einige unkonventionelle Vorschläge sind leider bisher nicht auf große Resonanz gestoßen. Da ist einmal der Vorschlag, bei der Kursbildung der Mark der DDR eine Kursstützung durch die Bundesbank vorzunehmen Ein stabilerWWechsel-kurs mit einem Kursstützungsabkommen in der international üblichen Form zwischen der Staatsbank der DDR und der Bundesbank wäre eine entscheidende Hilfe für den Aufholprozeß. Noch weiter geht der Gedanke, zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine Währungseinheit herzustellen In beiden Fällen wäre der Prozeß der Vertrauensbildung enorm. Schließt man diese Möglichkeit aus, so sollte angesichts der schwierigen Lage in den anderen Bereichen gehandelt werden: Wann und wo wird die bundesdeutsche Technik bei der Modernisierung der Eisenbahn eingesetzt? Wann und wo beginnt die Modernisierung des Telefonnetzes? Wann beginnt die Finanzierung aus Mitteln der Kreditanstalt für Wiederaufbau? Taten sind gefragt, und zwar rasch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. insbesondere Frank Adler, Zur stimulierenden Wirkung leistungsgerechter Entlohnung, in: Einheit, 44 (1989) 8, S. 719-724.

  2. Wolfgang Heinrichs/Wolfram Krause, Wirtschaftsreform — Element der Erneuerung des Sozialismus, in: Neues Deutschland vom 3. November 1989, S. 4.

  3. Beispielsweise Helmut Richter, Wie unsere Wirtschaft lei-ten?, in: Neues Deutschland vom 17. November 1989, S. 5; Uwe Schmidt, Die Wirtschaftsreform brisanter denn je, in: Der Morgen vom 17. November 1989, S. 3; Hans Knop/Gert Wilde, Mit Kopf auf die Füße, in: Junge Welt vom 29. November 1989, S. 3.

  4. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Statt die Preise für Kinderbekleidung zu subventionieren, sollte das Kindergeld erhöht werden. Nur dadurch wird verhindert, daß auch Käufer aus dem Ausland begünstigt werden. Diesen unerwünschten Effekt kann man sonst nur durch ein Verkaufsund Ausfuhrverbot verhindern.

  5. Vgl. Hans Modrow. Aktuelle ökonomische Aufgaben und nächste Schritte der Wirtschaftsreform, in: Neues Deutschland vom 11. Dezember 1989, S. 6; Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform der Staatlichen Plankommission der DDR, Diskussionsvorschlag für Ansatzpunkte zu einer Wirtschaftsreform in der DDR. in: Neues Deutschland vom 6. Dezember 1989. S. 6; Arbeitsgruppe des Ministeriums der Finanzen und Preise, Die Rolle von Geld, Finanzen und Preisen in der Wirtschaftsreform, in: Neues Deutschland vom 4. Dezember 1989, S. 4.

  6. Vgl. Wilhelm Hankel, Für eure „Solidaritätsabgabe DDR“, in: Handelsblatt vom 15. November 1989. S. 2; ders., Die Mark der DDR sollte direkt in das Europäische Währungssystem einbezogen werden, in: Handelsblatt vom 21. November 1989, S. 8.

  7. Vgl. Wolfram Engels. Die Gesamtdeutsche Mark, in: Wirtschaftswoche. Nr. 49 vom 1. Dezember 1989. S. 182.

Weitere Inhalte

Doris Cornelsen, Dr. rer. pol., Dipl. -Volkswirt, geb. 1933; Leiterin der Abteilung DDR und östliche Industrieländer im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (Berlin); Arbeitsgebiete: Wirtschaftssystem und Wirtschaftsentwicklung der DDR. Zahlreiche Veröffentlichungen zur DDR-Wirtschaft, vor allem in den Publikationen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.